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COCOONING Der alte neue Wohntrend

LI VI NG LI VING

COCOONING

ALTE NEUE DER

WOHNTREND

COCOONING IST NICHT WIRKLICH NEU, ABER ES IST EINE IRONIE DES SCHICKSALS, DASS IM VERGANGENEN JAHR EIN LÄNGST VERGESSENER WOHNTREND ZURÜCK IN UNSERE VIER WÄNDE FAND.

Halvorsen Autorin_Lone K. Cocooning–im ursprünglichen, biologischen Sinn bezeichnet der Begriff das Verpuppen von Insekten, indem die Larven um sich herum einen Kokon spinnen. In diesem Kokon können die Insekten im Übergangsstadium zwischen der Insekten-Larve und dem geschlechtsreifen Vollinsekt geschützt überleben. Der Begriff eignet sich daher bestens als Metapher für die Abschirmung von Menschen gegen Einflüsse der Umwelt. Von Trendforschern wird der Begriff seit den späten 1980er Jahren verwendet, um die Intimität und Gemütlichkeit in den eigenen vier Wänden zu beschreiben – und gerade in Krisenzeiten verkörpert Cocooning genau das, was sich viele wünschen. Es ist jedoch nicht nur ein Einrichtungstrend, es spiegelt zudem auch eine gewisse Weltanschauung in Form von Wohnen, Leben und Denken wider. Zahlreiche Forscher haben feststellen können, dass gerade in unruhigen Zeiten die Menschen sich vermehrt ins Private zurückziehen, denn hier ist die Welt noch in Ordnung. Fast könnte man behaupten, dass Cocooning die vormals verpönte Spiessigkeit salonfähig gemacht hat.

DER POPCORN-REPORT Die US-Trendforscherin Faith Popcorn war die Erste, die das Wort Cocooning in Zusammenhang mit den menschlichen Bedürfnissen und das «sich zurückziehen» in die eigenen vier Wände verwendet hat. In ihrem Buch «The Popcorn Report» definierte sie Cocooning als einen «Impuls, sich ins Innere zurückzuziehen, wenn es draussen hart und erschreckend wird». Es geht darum, einen Sicherheitspanzer anzulegen, sodass man nicht mehr einer niederträchtigen, unberechenbaren Welt ausgeliefert sei. Popcorns Vorhersage zur Entwicklung des menschlichen Lifestyles basiert auf dem, was sie täglich sah: Statt überfüllter Restaurants oder überfüllter Clubs waren mehr Menschen in den Möbelgeschäften auf der Suche nach einem bequemen Sofa oder etwas Dekorativem für die eigene Wohnung. Dass der Rückzug ins Private auch im sprachlichen Bereich gegenwärtig sehr aktuell ist, beweist das dänische Wort «Hygge». Das Wort erlebte förmlich einen Boom und drückt ebenso den Wunsch nach einem gemütlichen Zuhause aus. Parallel dazu hat sich der Begriff «Heimeligkeit» auch eingebürgert – man bedenke: Das Wort gab es bis 1996 nicht im Duden. Später verlor der Begriff Cocooning den Touch des «Von der schnöden Welt nichts wissen Wollens» und entwickelte sich hin zu etwas Positiverem. Mit der Entwicklung der zunehmend virtuellen und schnellen Welt stieg synchron auch die Sehnsucht nach authentischem Kontakt mit Freunden und Familie in einer ungezwungenen Atmosphäre. Somit bekam Cocooning mit dem Rückzug in die eigenen vier Wände eine neue, offenere und flexiblere inhaltliche Qualität. Als Welt und Menschen zugewandter Oberbegriff stand er nun dafür, es sich und anderen in seinem Zuhause schön und gemütlich zu machen.

Um den Räumen Nüchternheit und Kälte zu nehmen, helfen natürliche Materialien wie Stein und Holz sowie grosse Kissen und Kerzenlicht.

GEMÜTLICHKEIT MIT FREUNDEN Der Wohn- und Lifestyle-Trend Cocooning ist angelehnt an den «Hygge-Stil», denn schliesslich geht es auch hierbei um Gemütlichkeit. Der Stil gibt durchaus die nordische Richtung vor mit offenen Raumkonzepten, wenngleich die Räume hier etwas mehr individualisiert sind. Im Mittelpunkt stehen natürliche Farben und Materialien wie Wolle, Stein, Holz und auch Leder sowie nicht-synthetische Stoffe wie Baumwolle oder Leinen. Mit Akzenten wie einer warmen Lichtquelle, grossen Kissen, kuscheligen Decken, flauschigen Teppichen oder einzelnen originellen Möbel- und Deko-Objekten kann man so ein einladendes und gemütliches Umfeld schaffen, wo jeder sich wohl fühlt. Damit Platz für Gemütlichkeit ist, verändern sich auch die Möbel. Die Küche ist bekanntlich ein beliebter Treffpunkt. Wenn Freunde zu Besuch kommen, spielt sich hier das Leben ab. Wenn möglich dürfen daher die Küche und der Esstisch gross ausfallen. Der Tisch muss Platz bieten für Freunde, die zum Essen kommen, und bequem sitzen tut man am besten in einem Ess-Sessel, einer Mischung aus Sessel und Stuhl. Um im Schlafzimmer der hektischen Aussenwelt zu entfliehen, sollte dieses nicht nur zum Schlafen, sondern ebenso zum Abschalten und Geniessen eingerichtet werden. Ein grosses gemütliches Bett eignet sich hierfür hervorragend – ob im skandinavischen Stil oder ein opulentes Polsterbett. Als Nachttisch keinen 08/15-Tisch, stattdessen würde eine umfunktionierte Kiste vom Brockenhaus dem Stil entsprechen – dekoriert mit Blumen und Büchern. Die Bettwäsche darf locker – und nicht gebügelt – aufgelegt sein. Im Wohnzimmer zieht nun die einfache Couch aus, und eine ganze Wohnlandschaft mit Liegeflächen, Lounge- und Sitzecken zieht ein. Schliesslich muss nun ein Sofa den verschiedenen Anforderungen gerecht werden. Hier verbringt man Zeit beim Lesen, Filme schauen, Schlafen oder ungezwungen im Kreis seiner liebsten Freunde. Der Stil lebt davon, im Haus bleiben zu können und gemütlich Freunde und Familie in entspannter Atmosphäre zu empfangen, denn das soziale Leben hat sich in die Wohnung verlagert. CO(R)COONING IN AUSSERGEWÖHNLICHEN ZEITEN Gesetzliche Restriktionen und die Angst, sich anzustecken, führten dazu, dass aus Cocooning ein Corcooning-Jahr wurde. Während in vielen Ländern über die Balkone hinweg gesungen wurde, suchten wir hierzulande während der Zeit den Weg in den OnlineMöbelhandel. Man hatte wieder Zeit, sich um die Wohnung zu kümmern und es sich dort gemütlich zu machen, wo man nun ohnehin viel Zeit verbringen sollte. Es wurde gekauft, gestrichen, gekocht, gelesen–und vor allem: Es wurde neu eingerichtet. Zudem hat die verstärkte Home-Office-Situation die Grenzen zwischen Privatleben und Beruf verschwimmen lassen. Dazu gehörte auch die vormalige Trennung von Küche, Arbeits- und Wohnzimmer. Räume und Möbelstücke wurden auf einmal multifunktional, und letztlich stellte man sich die Frage: Muss ein Bürostuhl tatsächlich auch wie ein Bürostuhl aussehen, um seine Funktion zu erfüllen? Das eigene Zuhause wurde auf einmal für viele zum Projekt, das im eintönigen Pandemie-Alltag wieder Schönheit und Struktur versprach.

EIN TREND, DER BLEIBT? Waren wir früher stets «on the go», wurde dies 2020 schlagartig passé, und nun stellt sich die Frage, ob Cocooning gekommen ist, um zu bleiben? Mit einer zunehmenden Aufmerksamkeit, die nach innen gekehrt ist, auf uns selbst, auf die Orte, Räume, in denen wir leben, und auf die Objekte, mit denen wir unsern Lebensraum formen. Experten schätzen, dass der Cocooning-Trend nicht nur von kurzer Dauer sein wird, denn schliesslich haben viele die Liebe zu ihrem Zuhause neu für sich entdeckt. Und mit dem Cocooning gewann die Bedeutung von «Social Cocooning» immer mehr an Relevanz, da ein soziales «Wir» gelebt werden möchte. Wir werden uns zwar weiterhin in unseren Kokon zurückziehen, aber eben nicht mehr alleine, sondern mit guten Freunden und der Familie. Die gemeinsame Zeit wird in einem geborgenen und sozialen Umfeld verbracht. Der Lebensstil sollte nicht im Sinne von «Augen zu» und alles ignorieren, was vor der eigenen Haustür passiert, gelebt werden, sondern im Gegenteil – die Welt wird zu einem besseren und gemütlicheren Ort gemacht. Hierzu gehören auch Attribute wie Nachhaltigkeit und ökologische Achtsamkeit. Somit steckt am Ende hinter Cocooning nicht ausschliesslich ein Einrichtungsstil, sondern vielmehr eine philosophische Ausrichtung.

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