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DER TAKTIKER Murat Yakin, Nati-Trainer, im Interview
Am 9. August 2021 übernahm Murat Yakin die Position als Cheftrainer der Schweizer Nationalmannschaft. Unter seiner Führung qualifizierte sich die Nati für die Weltmeisterschaft 2022 in Katar und konnte bereits zahlreiche Erfolge feiern. Yakin gilt als Taktikfuchs, hört auf sein Bauchgefühl und trifft seine Entscheidungen instinktiv. Der Basler und seine Spieler sind in Bestform und bereit, bei der Weltmeisterschaft in dem arabischen Emirat alles zu geben.
Interviewpartner: Murat Yakin und Adrian Arnold Autorin: Isabelle Riederer
PRESTIGE BUSINESS: Herr Yakin, bevor
wir zu den sportlichen Aussichten kommen, vielleicht ein Wort zum Ausrichtungsort Katar: Es gibt Berichte über das Fehlen von Infrastruktur, die Verletzung von Menschenrechten und dass die neu errichteten Stadien auf längere Sicht nicht ausgelastet werden können. Wie stehen Sie dazu?
Murat Yakin: Dazu möchte ich das Wort gerne direkt an unseren Kommunikationschef Adrian Arnold übergeben.
Adrian Arnold: Wir haben eine klare Aufgabenteilung zwischen Verband und Mannschaft. Bereits Ende 2020 haben wir gemeinsam mit der Mannschaft beschlossen, diese Themen im Verband sehr proaktiv anzugehen, damit sich Spieler und Coach auf den Sport konzentrieren können. Wir haben eine Arbeitsgruppe Menschenrechte aus Vertretern verschiedener Nationalverbände und NGOs wie Amnesty International gegründet, die sich aktiv mit den Geschehnissen auseinandersetzt und die Mannschaft regelmässig informiert. So haben wir zum Beispiel auch bei der Wahl des Mannschaftshotels in Katar auf soziale Kriterien geachtet und mittels eines Verfahrens überprüft, ob die Rechte der Arbeitnehmer im Hotel gewährt und respektiert werden.
Ihr Terminkalender ist vermutlich prall gefüllt. Haben Sie überhaupt genügend Zeit, sich Gedanken über Ihre Mannschaft und den WMKader zu machen?
Murat Yakin: Es ist ein ständiger Prozess, auch wenn wir noch etwas Zeit haben, bis die WM in Katar startet. Wir machen uns täglich Gedanken über unsere Gegner und unsere Spieler und beobachten sehr genau. Es gibt Spieler, die international spielen und sehr viel Präsenz haben, und es gibt Spieler, die sich in den letzten Monaten durch herausragende Leistungen sehr prominent positioniert haben. Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, dass man ständig bereit sein muss, falls sich ein Spieler verletzt, um zu wissen, wen man in diesem Fall nachnominieren könnte.
Bevor es in Katar losgeht, stehen noch zwei Spiele in der Nations League an. Wie wichtig sind diese Spiele?
Murat Yakin: Diese Spiele sind sehr wichtig und wir wollen unbedingt in der Gruppe A bleiben. Ein Sieg gegen Spanien wäre sicher ein Highlight und ein Sieg gegen Tschechien vor heimischem Publikum wäre ebenfalls grossartig. Meine Mannschaft ist bereit dafür. Der Teamspirit untereinander ist unglaublich und die Vorfreude, dass wir bei der WM in Katar dabei sein dürfen, ist riesig.
Aber ist die Nations League überhaupt sinnvoll?
Murat Yakin: Absolut! Natürlich könnte man jetzt über den Zeitpunkt diskutieren, aber grundsätzlich macht die Nations League durchaus Sinn. Es ist ein gutes Turnier, da man sich einerseits mit anderen Mannschaften messen kann, und andererseits ist es aus wirtschaftlicher Sicht auch für den Verband wichtig. Und vor allem macht es auch den Zuschauern mehr Spass, wenn sie Länderspiele mit attraktiven Gegnern mitverfolgen können.
Die WM in Katar konkurriert heuer mit dem Vorweihnachtsgeschäft. Fussball und Weihnachten – für viele passt das nicht zusammen. Wie sehen Sie das?
Murat Yakin: Ich bin überzeugt, dass diese Weltmeisterschaft rein sportlich die qualitativ beste Weltmeisterschaft wird. Für die Spieler selbst spielt der Zeitpunkt in der Regel keine grosse Rolle – ob sie im Sommer oder Winter spielen, macht kaum einen Unterschied. Dass die WM in Katar im November und Dezember stattfindet, hat aber für die Spieler und das Spiel selbst durchaus Vorteile, da sie direkt von der heimischen Fussball-Saison kommen und somit ohne Unterbrechung bei der Weltmeisterschaft weiterspielen können. Die
Spieler sind somit in Topform und bereits im Flow, das sind gute Voraussetzungen. Ich glaube, es sind vor allem die Zuschauer, für die es vielleicht eher ungewöhnlich ist, dass die WM dieses Jahr im Winter stattfindet. Wir freuen uns, dass wir dabei sein dürfen, und es wird für alle eine einmalige Erfahrung sein.
Kommen wir zu Ihren ersten WM-Gegnern – da wartet unter anderem Brasilien auf die Schweizer Nati. Sicher ein Highlight, oder? Murat Yakin: Natürlich ist es ein Highlight, gegen Brasilien im Rahmen einer Weltmeisterschaft anzutreten. Dennoch sollte man sich davon weder einschüchtern noch beeinflussen lassen. Wir bereiten uns auf jeden unserer Gegner fokussiert vor und analysieren sein Spiel. Bei einem Gegner wie Brasilien ist die Analyse des Spiels sicher einfacher als bei unserem ersten Gruppenspiel gegen Kamerun. Die Schweizer Nati muss sich aber nicht verstecken. Wir haben uns in den letzten Jahren durchaus einen Namen als ernst zu nehmende Mannschaft gemacht und ich bin mir sicher, dass auch die anderen Nationalmannschaften ihre Hausaufgaben machen und sich Gedanken über unsere Stärken und Schwächen machen.
Was braucht es, damit die Schweiz gegen Brasilien gewinnt?
Murat Yakin: Wir sind eine starke Mannschaft und können selbstbewusst auftreten. Wir werden gut vorbereitet in die WM-Vorrunde starten.
Die Schweizer Nationalmannschaft setzt sich fast ausschliesslich aus Legionären zusammen. Wie schaffen Sie es, den so wichtigen Nationalstolz in die Herzen der Spieler zu bringen?
Murat Yakin: Das hängt sicher auch mit der neuen Generation an Spielern zusammen, die vielleicht in einem anderen Land geboren ist, sich aber heute zu 100 Prozent mit der Schweiz identifiziert. Das macht meine Arbeit einfacher, weil man diese Spieler nicht mehr überzeugen muss. Früher war das noch ein wenig anders, da gab es doch einige Spieler, die zwischen ihrem Herkunftsland und der Schweiz hin- und hergerissen waren. Für die aktuellen Spieler ist die Schweiz ihre Heimat, sie sind hier aufgewachsen und sie sind Schweizer mit ganzen Herzen. Ich kenne das auch, ich bin mit verschiedenen Kulturen aufgewachsen, sowohl auf dem Fussballplatz als auch auf dem Pausenhof. Doch als Mannschaft waren wir immer eins und sind für die Schweiz angetreten. Und heute ist das noch ausgeprägter, alle Spieler sind stolz, für die Schweiz zu spielen.
Haben Sie eigentlich ein Trainer-Vorbild?
Murat Yakin: Da gibt es bestimmt einige. Ich hatte viele tolle Trainer, die einen grossen Einfluss auf meine Entwicklung und meine Karriere hatten.
Wie beschreiben Sie den Schweizer Fussball?
Murat Yakin: Sehr komplex! Ein Schweizer Trainer – zum Beispiel – muss sich mit verschiedenen Komponenten des Fussballs als komplexem System auseinandersetzen. Ein Schweizer Fussballtrainer muss Erfolge und einen attraktiven Fussball liefern, er muss wirtschaftlich mitdenken und junge Spieler fördern. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist eine grosse Aufgabe für einen Schweizer Fussballtrainer. Hinzu kommen dann auch pädagogische und psychologische Momente und natürlich die fachliche und soziale Kompetenz.
Ein Wort noch zu den Frauen: Die Fussball-EM der Frauen war ein grosser Schritt mit grossartigem Fussball. Wie sehen Sie hier die Perspektiven, auch in Bezug auf die Bezahlung?
Murat Yakin: Ich freue mich immer, wenn Fussball gespielt wird, unabhängig vom Geschlecht. Die Entwicklung des Frauenfussballs finde ich gut, und es ist bemerkenswert, wie schnell sich der Frauenfussball zuletzt sportlich und ökonomisch weiterentwickelt hat. Es braucht sicher noch etwas mehr Zeit, bis der Frauenfussball vor allem auch wirtschaftlich auf dem gleichen Level ist wie der Männerfussball. Ich unterstütze es, wenn sich der Verband und die Sponsoren für die Gleichberechtigung im Fussball einsetzen. Wenn sich jemand für den Frauenfussball einsetzen möchte, ist das für den gesamten Fussball wichtig und hilfreich. Am Ende entscheiden aber immer auch die Fans und der Markt.
Sie haben zwei Töchter zu Hause, spielen sie auch Fussball?
Murat Yakin: Die eine Tochter hat Potenzial, aber ich glaube nicht, dass sie gleich Fussballspielerin werden möchte.
Zum Abschluss die alles entscheidende Frage: Wird die Schweiz Fussball-Weltmeister 2022?
Murat Yakin: Man muss immer auch realistisch sein. Aber wir haben eine intakte Mannschaft und wenn alle Spieler mit an Bord sind und das Momentum stimmt, dann können wir durchaus für eine positive Überraschung gut sein.