De:Bug 176

Page 1

überstunden

10.2013

am ich Volkssport Selbstoptimierung

Elektronische Lebensaspekte Musik,Medien,Kultur&Selbstbeherrschung

Schöner hören

FKA twigs, Jessy Lanza, Laurel Halo, Machinedrum, DJ Rashad

Besser sehen

TV-Serien: Internet macht die Fernsehfehler, nur besser

Weiter gucken

Finsterworld: Frauke Finsterwalder und Christian Kracht fürchten Deutschland

176

COVER: rachel de joode

D 4,- € AUT 4,- € CH 8,20 SFR B 4,40 € LUX 4,40 € E 5,10 € P (CONT) 5,10 €

dbg176_cover.indd 1

24.09.13 12:49


*TRAKTOR DJ-App ist nicht enthalten. iPad und iPhone sind Marken von Apple Inc., registriert in den USA und anderen Ländern.

KONTROL IT ALL

und S2 wurden überarbeitet zur optimalen Kontrolle der enthaltenen DJ-Software TRAKTOR PRO 2 – und bieten jetzt Plug-and-play mit TRAKTOR DJ für iPad und iPhone*. Die neuen Jog-Wheels mit griffiger Aluminium-Oberfläche erlauben noch präziseres Scrolling, Nudging und Scratching. Mit neuen RGB-Buttons haben Sie Ihre Tracks auch bei schwierigen Lichtverhältnissen im Club immer im Griff. Effekte und dedizierte Flux-Mode-Buttons sorgen für mitreißende DJ-Sets. Egal ob Sie mit Laptop, iPad oder iPhone auflegen: Mit TRAKTOR KONTROL S4 und S2 steuern Sie Ihre Musik direkter als je zuvor. www.native-instruments.com/traktor

db_mstr_anzeigen_2010.indd 2

19.09.13 17:07


bild Franz Grünewald

176 — bug1

LIEBE USERINNEN, LIEBE USER, wer die Welt verbessern will, muss beim eigenen Ich anfangen - sich ausrechnen, zerlegen, neu kartografieren und mit Nummernschildchen behängen. Vorsprung durch Technik? Heute ist so einiges möglich. Wie das geht, wenn man es so richtig ernst meint, zeigt die immer größer werdende Quantified-SelfBewegung. Diese Selbstoptimierer betreiben anhand der neuesten Gadgets radikale Nabelschau. Schneller rennen, schneller nach vorne kommen. Auch ihre Kinder tracken die eigenen Körper direkt nach der Geburt. Devise: Move your ass and the world will follow. Dahinter verbirgt sich ein ganzer Gesellschaftsgeist. Da machen wir aber nicht mit. Wir wollen uns verbessern, aber die Richtung lieber selbst vorgeben. Und deshalb schreiben wir genau darüber: über Menschen, die besseren Varianten ihrer selbst hinterher laufen, über Idioten, die sich im Verdauungstrakt der Gesellschaft quer stellen und über die Normalos, die den Kampf fortführen, in dem sie einfach aufgeben. Selbstverwirklichung ist voll Thema. Auch bei den überzeugenden R&B-Acts, die diesen Herbst zur Wiederbelebung nutzen: Wir lassen Kelela, FKA twigs oder Jessy Lanza stellvertretend für den neuen Future R&B sprechen. Wie geht das nach Timbaland? Sogar sehr gut! Er klingt nur ein bisschen traurig. Also toll. "Beats, die wie ein morsches Holzhaus zusammenbrechen, um sich transformergleich noch im Sturz neu zu formieren", schreibt Oliver Tepel über FKA twigs. Im Fallen bereits neu erfinden. Und sonst? Ganz viel Visuelles: Mastermind Sascha Kösch hat TV geguckt und herausgefunden: Das Internet ist nicht mehr der Feind der Fernsehsender, sondern mittlerweile ihr bestes Marketing-Argument. Mit dem Film Finsterworld reiben sich Frauke Finsterwalder und Christian Kracht am Eskapismus auf und das Computerspiel GTA V entdeckt die späten Neunziger. Musikalisch geht es drunter und drüber: Prärie-House, Maschinedrum und natürlich die unglaubliche Laurel Halo. Wie das alles zusammengeht? DJ Rashad meint: "I dont give a fuck." Wir schon! Suchet und findet, die Redaktion

www.franzgruenewald.de

dbg176_02_07_start.indd 3

3

24.09.13 12:35


176 — index

Überstunden am ich

08

Mitmachen, besser machen, optimieren. Menschen, die sich rund um die Uhr mit neuester Technik selbst überwachen, sind auf dem Vormarsch. Wir folgen den Spuren der exzessivsten Selbstvermesser. Um diese hat sich einerseits eine eigene hippe Ökonomie aufgebaut, andererseits nimmt die Bewegung der gar nicht so hippen Kontrollgesellschaft den negativen Wind aus den Segeln. Was ist denn da los?

22 DJ Rashad: Footwork überall

42 TV 2013: Die Grenzen fallen

46 GTA V: Highspeed Abtauchen

Juke sucht wieder Mal den Weg raus aus der Box. Und mit Rashad als aktueller Gallionsfigur wird das auch was. Denn wer global denkt - wie Rashad -, kann nicht nur überall auflegen, sondern auch noch lokal was dazulernen. Sein neues Album beweist das.

Das Internet ist nicht mehr der Feind der Fernsehsender, sondern die Piraterie mittlerweile das beste Marketing-Argument. Und dafür verantwortlich, dass gerade US-Serien immer öfter weltweit an den Start gehen. Tops, Flops und Grundsätzliches dieses Herbstes.

800 Millionen US-Dollar hat der fünfte Teil von Grand Theft Auto in nur 24 Stunden eingespielt: Von solchen Summen träumt Hollywood. Xbox und PS3 schwitzen derweil unter der größten virtuellen Welt aller Zeiten die Gamer haben mehr Möglichkeiten denn je.

4

dbg176_02_07_start.indd 4

22.09.13 20:28


176

index STARTUP 03 − Bug One: Editorial SUPERSELFIES 08 − Selbstverbesserer: Überstunden am Ich 14 − Morgen werde ich Idiot: Querstellen mit Hans-Christian Dany 17 − Bis hier hin joggen und nicht weiter: Gegen Optimierung 18 − Die Killer-Apps: Stechuhr in der Hosentasche Future R&B 28 − Phänomene: Die Wiederbelebung der 90er 32 − FKA twigs: Nebel im Fliederduft 34 − Jessy Lanza: Ein Generationending

28 future R&B Eine junge Generation von Künstlerinnen nimmt sich den R&B vor. Selbstbestimmt, experimentell und mit neu errungener künstlerischer Freiheit krempeln sie die Zukunft des maroden Genres im eigenen Schlafzimmer um.

»Berge sind immer Orte der allergröSSten Verzweiflung. Das erklärt auch ihr Nichtvorhandensein in Finsterworld: Der Film ist im Grunde ein Versuch, nicht zu verzweifeln.« 41 − Frauke Finsterwalder und Christian Kracht über ihren Film Finsterworld

MUSIK 20 − Huerco S.: Prärie-House mit Gründer-Spirit 22 − DJ Rashad: Auf der Meta-Ebene des Breaks 24 − Machinedrum: Orientierung in der REM-Phase 26 − Nicolas Jaar: Die dritte Welt heißt Darkside 36 − Laurel Halo: Kunst gegen Echt 40 − Oswald/Molvaer: Freiraum mit Horizonten TV & FILM 42 − TV 2013: Die Networks lernen von den Piraten 45 − Serienüberblick: Tops und Flops für den Winter 48 − Finsterworld: Frauke Finsterwalder & Christian Kracht GAMES 46 − GTA V: Über die Grenzen WARENKORB 51 − Buch: Tao Lin − Taipei 52 − Buch: Shintaro Miyazaki − Algorhythmisiert 53 − Mode & E-Bike: Converse vs Margiela & Gocycle 54 − IFA Special: Die geilsten Gadgets für den Herbst MUSIKTECHNIK 58 − BerMuDa & DE:BUG Musiktechniktage 60 − Studiobesuch: Arovane 64 − Korg Volcas 66 − Koma RH 301: Die neue Uhr im Studio 67 − Numark Orbit: Gamepad als Controller SERVICE & REVIEWS 68 − Reviews: Neue Alben und 12“s 72 − Mimu: Minne und Krieg 78 − Abo, Vorschau, Impressum 80 − DE:BUG präsentiert: Die besten Events im Oktober 82 − A Better Tomorrow: Der Letzte macht das Gesicht aus

5

dbg176_02_07_start.indd 5

22.09.13 20:34


176 — stream

wir tanzen den untergang Wenn dieses Bild sprechen könnte, würde es trotzdem nichts sagen. Die Welt ist ein Ort unter vielen. Voller Dinge in ungleichmäßiger Verteilung. An jenem Augustnachmittag, an dem Medienkünstler Aram Bartholl irgendwo in Deutschland auf den Auslöser drückte, war das auch nicht anders. Es war Wahlkampf, im gestrandeten Einkaufswagen hat sich ein wenig Papier verfangen und die schwarze SprayerFarbe war schon getrocknet. Eine Familie denkt im Auftrag anderer über die Miete nach und zwei Tauben gurren oder schweigen, so genau ist das auf dem Bild nicht zu erkennen. Das Wetter war schön, nur ein paar Wolken waren zu sehen. Wenn der Sommer vorbei ist, kommt Winter und dann irgendwann wieder Sommer. Dieses Bild wird es dann nicht mehr geben. Bild: Aram Bartholl www.datenform.de

6

dbg176_02_07_start.indd 6

22.09.13 20:29


176

7

dbg176_02_07_start.indd 7

22.09.13 20:29


176 — superselfies

fotos rachel de joode

Ăœberstunden am Ich trendsport

selbstverbesserung

Foto: Rachel de Joode Styling: Timo Feldhaus Maske: Stella von Senger und Etterlin Model: Emiliano by Izaio Produktion: Feldhaus /De Joode Vielen Dank an Ergosedia Office GmbH

8

dbg176_8_19_superselfies.indd 8

22.09.13 20:52


176

Cappy & Hemd: Cleptomanicx Fitness-Tracker: Jawbone UP Bluetooth Headset: Jawbone Tastatur: Rapoo

Sie überwachen sich, tracken all ihre Regungen und rennen Tag und Nacht einem perfekteren Ich hinterher. Die Selbstverbesserer sind wie wir, aber sie wollen erfolgreicher, sinnvoller und maximaler sein. Wir sind den Spuren der exzessivsten Selbstvermesser gefolgt. (S.10) Über die gesellschaftlichen Bedingungen von Kybernetik und Kontrollgesellschaft hat uns der Autor Hans-Christian Dany erzählt. (S.14) Inmitten des vernetzten Apparate-Kapitalismus träumt er von einem Weg, den Feedback-Loops ein Schnippchen zu schlagen. Denn was passiert, wenn man Selbstoptimierung mal in die andere Richtung denkt: weniger Leistung, kaputtere Performance. Könnten die Fitnessarmbänder und Gamification-Tools gar subversiv eingesetzt werden? (S.16) Die lohnendsten Apps haben wir zuletzt in einen Topf geworfen. (S.18) Soll doch jeder das Beste aus sich machen.

9

dbg176_8_19_superselfies.indd 9

24.09.13 12:16


Text timo feldhaus

F

Früher waren wir Gammler. Wir lagen gemeinsam in Ecken, stopften große Mengen Gras in eine Glasbong und taten nichts, als in stiller Askese über Verschiedenes nachzudenken. Alles, was mit Leistungssteigerung oder auch nur Mitmachen zu tun hatte, lehnten wir ab. Es war verdächtig, in der Schule seine Hand zu heben und etwas beizutragen. Es war verdächtig, einen Job in Aussicht, interessante Hobbys, vermittelbare Interessen oder ein Ziel vor Augen zu haben. Sport ging gar nicht. Das Internet wurde damals erst erfunden. Wir waren Figuren, die auf dem Weg ins 21. Jahrhundert verloren gegangen sind. Im letzen Jahr fragte der ehemalige Astrophysiker und heutige Informatiker Larry Smarr in dem Magazin The Atlantic: "Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie informationsreich ihr Stuhl ist?" Der vergnügte Smarr löste die rhetorische Frage direkt auf und spricht von einer Datenkapazität von 100.000 Terabyte pro Gramm menschlicher Kacke. "Das sind mehr Informationen, als etwa im Chip eines Smartphones oder PCs. Ihr Kot ist also viel interessanter als ein Computer." Larry Smarr hat nichts zu verbergen. Er ist Hypochonder und hatte die Idee, dass er die Daten in seinem Körper nur auf Unregelmäßigkeiten untersuchen, und bei einer Ausschreitung zum Arzt gehen müsse. Er hatte recht - und fand bei sich eine Krankheit, bevor sie ein Arzt je hätte diagnostizieren können. Larry Smarr ist ein moderner Mensch. Und das bedeutet: Er will ein besserer Mensch sein, und ein noch viel besserer werden. Larry Smarr ist nicht allein. Er ist Teil einer Bewegung, die sich Selbstverbesserer nennen: aktive, motivierte Männer und Frauen; sie lachen mit einem Strahlen. Sie beobachten und analysieren pausenlos ihre Körper, ihre Frequenzen und Stimmungen, Ernährung und Verbrauchergewohnheiten - so viele Routinen wie möglich, alle eigenen Zuckungen. Florian Schumacher, Schirmherr von "Quantified Self - Self Knowledge Through Numbers" in Deutschland, weiß: "Auch Alltägliches wie Emailverkehr, die Telefonnutzung oder die Häufigkeit von Meetings rücken in den Fokus der Analyse. In Verbindung mit Gamification hat es den Anspruch Verhaltensänderungen und eine bessere Lebensweise voranzutreiben." Man merkt immer auch: Es geht darum, sich sauber zu halten. Sein Blut, seine Zellen, seine Biographie, sein Leben. Smartphone-Apps, StatistikSoftwaredienste wie Daytum, unzähliger Fitnessprodukte wie Fitbit, Runkeeper oder Nike+Active (plus "power songs", wenn du mal schlapp machst), vernetzte Vitalitätssensoren in Waagen, Blutdruckmessgeräten oder Schrittzählern

10

dbg176_8_19_superselfies.indd 10

22.09.13 16:32


176 — superselfies

»Die Avantgarde der Einbildvonsichmacher. Aber: Selbstoptimierer sind ständig ungenügende Versionen ihrer selbst.«

scheinen in den letzten zwei Jahren ein Sprung gemacht zu haben. Runtastic gab gerade die Marke von 25 Millionen mobilen Nutzern bekannt. Die Google-Brille kommt, Apples Uhr wird toll. Fast lebendige Armbänder wecken diese Menschen, wann es gut für sie ist. Selbstvermesser essen mit intelligenten Gabeln, die beobachten, wie schnell sie essen, putzen ihre Zähne danach mit intelligenten Bürsten, die sich merken, wie oft sie ihre Zähne putzen, schlüpfen in schlaue Schuhe, die signalisieren, wann sie zum Schuster müssen und bezahlen aus Portemonnaies, die das Geldfach bei rotem Kontostand automatisch verengen. Und wenn es nachmittags regnet, erzählt ihnen der Regenschirm schon am Morgen davon und bittet darum, ihn doch besser mitzunehmen. Dieser Guy, das bin nicht ich 2007 wurde die Website quantifiedself.com von den amerikanischen Wired-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly ins Leben gerufen. Am 10. Oktober findet in San Francisco wieder die jährliche "Quantified Self. Global Concerence" statt. Dort treffen sich die eifrigsten Selbstvermesser, um die Studien am eigenen Ich in kurzen Präsentationen vorzustellen. Es ist die TED-Konferenz der Superselfies, der exzessivsten Einbildvonsichmacher. Bill Schuller wird da sein. Er ist Selbstoptimierer, seine Frau auch, und sein Sohn Luca, fünf Jahre alt, ist es auch. Luca quantified seit er zweieinhalb Jahre alt ist. Schullers Tochter ist zwei, und dabei seit sie eins ist. Bei den Schullers zuhause werden die Windeln getrackt. Sehr hilfreich, sagt Schuller. Und die Kinder - die wollen das halt, sie benutzen jeden Tag mit viel Freude die Wif-Scale. Die Waage sage nicht nur wie schwer du bist, sondern wer du bist. Schuller hat dann ein Spiel entwickelt, die Kinder lieben das. Auch harmlose Abnehmer wie Matthew Ames werden dabei sein, der durch intensives Self-Tracking beträchtlich an Gewicht verlor. Während seiner Präsentation spricht er immer über diesen guy, den man dort auf dem Foto sehe, der aber ja zum Glück schon lange nicht mehr existiere. Er meint damit sich selbst, in dick. Das wichtigste sei, dass man, bevor man morgens mit irgendjemandem, auch mit seiner Frau spreche, auf die Waage springt. Er erwähnt das sehr oft. Anfang nächsten Jahres erwartet seine Frau ein Kind. Ames spricht darüber, als wäre es das Ergebnis des Self-Trackings, als wäre es das alles wert gewesen. Die amerikanischen Männer, die auf diesen Konferenzen sprechen, machen zumeist einen etwas zu glücklichen und dadurch verrückten Eindruck. Selbstoptimierer sind ständig ungenügende Versionen ihrer selbst, sie leben im immer währenden Bewusstsein, schlauer zu werden, gesünder und dadurch länger zu leben und vor allem: Stets das absolute Maximum herauszuholen. Es gibt Leute, die das alles für keine gute Idee halten. Evgeny Morozov ist so einer.

dbg176_8_19_superselfies.indd 11

Krawatte & Hemd: Tiger of Sweden Brille: Stylist Own Telefon: Huawei Ascend Mate Fitness-Tracker rechte Hand: Nike Fuel Fitness-Tracker linke Hand: Jawbone UP Hose: adidas Originals x Opening Ceremony Laufschuhe: Nike Free Flyknit

11

22.09.13 18:02


176 — superselfies

Work, work, work, work. Work, work, work, work. Work, work, work, work. Work, work, work, work. Work it out, work it out, work it out, work it out. Work it out, work it out, work it out, work it out. Work it out, work it out, work it out, work it out. Work it out, work it out. You better work bitch. You better work bitch. Britney Spears, "Work Bitch", 2013 Dieser Tage erscheint sein jüngstes Buch in deutscher Übersetzung: "Smarte neue Welt - Digitale Technik und die Freiheit des Menschen". Der 1984 in Weißrussland geborene, inzwischen in Amerika lebende Publizist sagt, er wohne in einem Land, das Angst hat, zuzugeben: "Mein Name ist Amerika, ich bin ein Dataholic." Er sagt, die NSA brauche keine Überwachungskamera mehr, denn sie wisse bald alles von der Zahnbürste. In der FAZ erklärte er kürzlich: "Bei dem Startup Miinome kann man sogar Geld verdienen, indem man seinen genetischen Code online veröffentlicht. Jedes Mal, wenn ein drittes Unternehmen diese Informationen nutzt (etwa zu Werbezwecken oder für einen Big-Data-Versuch), wird Ihnen ein kleiner Betrag überwiesen." Morozov warnt: Sensoren und umfassende Konnektivität schaffen neue, flexible Datenmärkte, auf denen Selbstüberwachung zu Geld gemacht werden kann. Die Selbstverbesserer werden aktuell allerorten zu Spinnern erklärt - die perfide Avantgarde einer Gesellschaft, die verrückterweise freiwillig dazu beiträgt, auf Grundlage neuer Technik eine entfesselte kommerzialisierte Kontrollgesellschaft entstehen zu lassen - nebenbei füttern sie die Werbeindustrie, Versicherungen und Kreditinstitute mit Material, das danach gegen sie verwendet wird. Die Jungle World erinnert jüngst an die religiösen Bezüge der Bewegung: "Eifrige Selbstquantifizierer beichten wie die Frühchristen vor der Gemeinde, allerdings täglich und ohne Aussicht auf Absolution." Nachdem alle Ideologien ausgedient hätten, so stand es in der "Zeit", bleibe dem freien Menschen bloß mehr die eine große Metaidee: Mach das Beste aus dem eigenen Leben.

12

dbg176_8_19_superselfies.indd 12

Dieses neoliberale Selbst - das nun auch sein eigener Doktor sein soll - findet wohl in der Figur des Francis J. Underwood in "House of Cards" aktuell seine stylistischste Gestalt. Gerade, wenn er nach dem 20-StundenJob im Keller auf dem hölzernen, archaisch anmutenden Trimmer seinen alternden Körper trainiert. Allein, hat dieser von Kevin Spacey so genial gespielte "Frank" auch genug Spaß? Die Selbstverbesserer jagen einer alten Idee hinterher. Selbstoptimierung als Vervollkommnung war bereits in der antiken Philosophie präsent und entwickelte sich in der Aufklärung zu einem Leitgedanken. Auch Goethe hatte einen harten Zwang zum täglichen Protokoll. Heute allerdings, gibt der Soziologe Zygmunt Baumann zu bedenken, ergäbe sich eine Gefahr, wenn der Mensch nicht mehr nur die Aufgabe habe, eine Ware zu werden, sondern sich selbst zu einer zu machen. Gesichert scheint: den Körper, als Rohmaterial begriffen, selbst zu durchleuchten und durch die folgende Optimierung einen effektiveren Mehrwert aus dem menschlichen Organismen zu ziehen, nur um sich im Do-it-yourself-Kapitalismus besser zu verkaufen - das ist relativ neu. Die entgrenzte Arbeit, die Kolonialisierung des Körpers. Womöglich bezeichnet das den zeitgenössischen Pakt mit dem eigenen Teufel. Klappt nicht Doch scheint das Geschrei der aufgescheuchten Moralapostel nicht etwas laut, angesichts ein paar topmotivierter Freizeitirrer mit Digitalband um den Kopf? Sollen sie doch ihre Liegestütze machen. Wenn sie sich dabei, die Nasenspitze zum Zählen stets auf das in Kopfhöhe am Boden liegende iPhone stubsend, von diesem noch anschreien lassen, bitte sehr. Wenn einen aber das Gefühl ereilt, dass mittlerweile alle verrückt geworden sind, dann hilft Nik Kosmas. Seit 2006 wohnt der Amerikaner in Berlin, er war Teil des just aufgelösten Künstler-Duos Aids-3D, die sich

mit Fragestellungen am Kreuzungspunkt von Technologie, Ökologie, Ökonomie und sozialem Aktivismus beschäftigten und zu den prägenden Figuren einer Bewegung gehören, die Netzkunst in etwas verwandelt haben, das mit dem umstrittenen Namen "Post-Internet" nur schwer zu fassen ist. Sie drückten einer Alien-Statue einen USB-Stick mit seinen eigenen Daten in die Hand, bauten Wandobjekte aus Solarpanelen oder bastelten einen "OMG-Obelisk", der es schon in eine Ausstellung im New Yorker New Museum geschafft hat. Nik Kosmas trägt heute einen schwarzen, selbst-designten Sweater mit ganz vielen, sehr großen weißen Logos darauf, unter anderem vieler Müslisorten. Von Kunst möchte er aktuell nicht sprechen, Kosmas hat gerade seinen Fitnesstrainer-Schein gemacht. Während die Aussagen der Selbstverbesserer sich wie von selbst in diesen Text weben - aufgrund ihrer Programmiertheit und passgenau ausgefeilten Keynotes in Netzvideos erstarb jegliche Motivation ein persönliches Gespräch zu führen im aschefarbenen Nichts - führt das Gespräch mit Kosmas in ungeahnte Weiten, mäandert ziellos und macht Spaß. Denn seine Wörter leben. Kosmas hat mit diesen Menschen gesprochen, er hat ihre Erfindungen ausprobiert, und war auf den dazugehörigen Sportmessen. Er sagt: "Ich versuche, ein ganzheitliches Leben zu führen, den Vorgängen in meinem Körper gewahr zu werden, vom Hirn, durch die Wirbelsäule, in meine Eingeweide. Es kann nicht unnatürlich sein, mehr über diese Vorgänge zu erfahren, schließlich sind sie ein Produkt meines Lebens." Aber er sagt auch: "Es gibt viel aufregende Hardware für Selbst-Quantisierer, aber die Software, die Analyse, das Sinn-Schöpfen aus den Daten ist immer noch weit hinten dran. Für einen User, der selbstbewusst relativ subjektive Interpretationen der Daten unternimmt, gibt es nicht viel Spielraum. Niemand wird verhaltensverändernde oder lebensverändernde Entscheidungen anhand von kleinen Graphen treffen." Kosmas glaubt, so

22.09.13 15:37


176

lange es die Apparate nicht schaffen, dem Menschen ehrliche, natürliche Anweisungen zu geben, wird es nicht funktionieren. Man wird sich nicht verändern, man wird nicht besser. Trotzdem arbeitet er selbst seit einem Jahr an einer Fitness-App für Intervall-Training: "Ein Routine-Planner, der neue Workout-Pläne für jede Trainings-Session erstellt. Eine Umfrage nach jedem Workout erlaubt den Usern, entweder das Workout oder jede einzelne Übung zu beurteilen. Anhand dieses Feedbacks verändert die App zukünftige Workouts. Für mich ist an diesen Daten-Tools interessant, dass sie ganz einfach Werkzeuge sind, mit denen das kollektive Wissen für bessere Trainingspläne angezapft werden kann." Auf die Frage nach seinen eigenen Selbstoptimierungstools, antwortet er: "Schwierige Frage. Ich benutze aktuell eine Nike Sport-Watch, um während des Trainings meine Herzfrequenz zu messen. Ich lerne Schach und gehe zum Psychotherapeuten. Man kann Selbstverbesserung nicht so einfach herunterbrechen, ich kenne viele glückliche Dicke. Ich strebe danach, von meinen Fehlern zu lernen, ein guter Freund zu sein und mich konstant weiterzubilden - nicht nur mit oberflächlichem Wissen, sondern tatsächlich meine Expertise zu vertiefen." Sorge um sich Auf dem Weg zurück in die Klause denke ich an Gary Wolf, den Gründer von Quantified Self, und den Narcissistic Personality Index (NPI), der sich in einigen Apps aus subjektiven Eigenangaben ergibt - man überlegt sich anhand eines mood trackings, wie es gerade so läuft. Man drückt einen Smiley, vielleicht nur, um nach dem Lauf gut in den Tag zu kommen. Wolf bezeichnet das Erfassen von Daten

»Die entgrenzte Arbeit, die Kolonialisierung des Körpers. Womöglich bezeichnet das den zeitgenössischen Pakt mit dem eigenen Teufel.« über sich selbst als Spiegel, in dem man sich selbst erkennt. Mir schwant: Was uns schlaffe Kiffer damals interessierte, war im Initiativmoment nichts anderes: Selbstreflexion. Wir nahmen bewusstseinserweiterte Drogen auf, um durch diesen Reiz noch tiefer in uns einzutauchen und sich intensiver mit uns selbst auseinanderzusetzen. Wir hatten damals Foucault im Kopf, aber nicht seine Schriften zum Panoptikum, auch nicht die zum unternehmerischen Selbst, sondern den kleinen Text "Sorge um sich". Darin beschreibt der französische Denker die allgemeine Bedeutung der "Selbstsorge" in der Ethik der griechisch-römischen Antike, die er als zentrales Motiv der antiken Freiheitspraktiken erkennt. Die Selbsterkenntnis war kein Selbstzweck, sondern sollte das Erlernen von Techniken des Selbst ermöglichen und so dem Einzelnen erlauben, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer, eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen. Mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.

Natürlich verstanden wir nichts davon. Wir lagen da, dem narzisstischen Rausch des THC erlegen, und versuchten, Foucaults genialen Gedanken mit grobem Besteck in unsere vernebelten Hirne zu löffeln. Wenn wir nur besser werden, dann wird es auch die Welt. Nur wer sich um sich selbst sorgt, kann auch den anderen darin einschließen. Wir schauten in unsere Patmos-Kinderbibel und lasen sogar dort eben nicht "Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst", sondern "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Und am Ende dachten wir dann eigentlich immer: Ist doch eh scheißegal, im Grunde geht es doch nur um Happiness, darum, in Ruhe seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Und genau in diesem einen Moment hätten uns die Selbstverbesserer verloren. Dann nämlich, als Matt Killingsworth seine App "Track Your Happiness" vorstellte. Mit dieser erfasst er in Echtzeit die Gefühle der Nutzer und präsentiert ein überraschendes Ergebnis: Wir sind am glücklichsten, wenn wir uns ganz auf das Jetzt konzentrieren. Tagträumen dagegen macht furchtbar unglücklich. 650.000 Echtzeit-Meldungen von mehr als 15.000 Menschen hat er analysiert, danach meint er zu wissen: Unglücklicher sind die Menschen, wenn sie gedanklich abschweifen. Fokussiert sein auf seine Arbeit: macht zufrieden. Selbst wenn man an etwas Schönes denkt, sich an einen besseren Ort tagträumt, ist man unglücklicher als wenn man sich konzentriert. Diese Aussicht, dass Mind-Wandering Unsinn ist, hätte uns verwirrt. Sie wäre trotz der Idee der Selbsterkenntnis, der Selbstfindung mit Hohn bestraft worden. Diesen Killingsworth, wir hätten ihn, auch aus Angst, ausgelacht. Doch Killingsworth kann das egal sein, denn die Figuren, die wir waren, gibt es bereits nicht mehr.

OUT NOW!

25.10.2013

dbg176_8_19_superselfies.indd 13

OUT NOW!

OUT NOW!

25.10.2013

08.11.2013

22.09.13 15:37


Interview Nina Franz

Morgen werde ich Idiot

Hans-Christian Dany über Kybernetik & Kontrollgesellschaft

Als Buckminster Fullers riesige geodätische Kuppel in Montreal Mitte der 70er-Jahre abbrannte, verrauchte gerade auch der Mainstream-Appeal einer TechnoUtopie, für die sie vielleicht eine Art Sinnbild war: die von Systemen, die sich selbst optimieren, dabei Hierarchien vermeiden und nebenher die Welt retten - all watched over by machines of loving grace. Doch kybernetische Theorien wirkten fast ein halbes Jahrhundert lang kaum bemerkt weiter unter den Oberflächen von Kommunikationsnetzwerken, Managementphilosophien und Organisationstheorien. Auf deren Spur begibt sich der Hamburger Künstler und Autor Hans-Christian Dany, der sich in der Reihe "Nautilus Flugschriften" zuletzt mit einem Buch über Speed Gedanken über die leistungssteigernde Wirkung der ehemaligen Wehrmachtsdroge machte. Sein jetzt ebenda erschienenes "Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft" ist ein schön erzähltes, teils biographisches, teils literarisches Geschichtsbuch über "die Kunst des Steuerns", ihre Wurzeln und ihre Widergänger im Zeichen der neoliberalen Selbstverbesserung. Inmitten des vernetzten Apparate-Kapitalismus träumt Dany von einem Weg, den Feedback-Loops ein Schnippchen zu schlagen.

In Kalifornien gibt es seit einiger Zeit die "Quantified Self"-Bewegung, sie verspricht Menschen ein besseres Leben, bessere Körper, mehr Lebenssinn durch vernetzte Self-Tracking-Tools. Was ist eigentlich so schlimm an Selbstoptimierung? An sich zu arbeiten finde ich das Gegenteil von schlimm, Selbstzufriedenheit ist meist wesentlich unangenehmer. Was hier Selbstoptimierung heißt, zielt aber recht eng auf Funktionalität und meist auf das Funktionieren in falschen Verhältnissen, wie denen entfremdeter Arbeit oder ähnlichen Zeitverschwendungen. Ich führe das auf ein Missverständnis der frühen Kybernetik zurück. Was hinter der aktuellen Diskussion um Selbstoptimierung in den Hintergrund tritt, sind deren Potentiale. Die Selbsterfindung, also sich dem Ort oder dem Körper zu verweigern, an dem oder in den man geboren wurde, ist ja eine berechtigte Form des Widerstandes. Warum sollte man diesen zugewiesenen Platz annehmen? Seit einigen Jahren gibt aber so eine seltsame Verwässerung, bei der queere Strategien, die einmal subversiv gemeint waren, seltsam neoliberale Flexibilisierungen und Optimierungen der Arbeitskraft legitimieren. Da sich Verflüssigungen meist schlecht aufräumen lassen, müssen dafür wohl andere Umgangsformen gefunden werden.

Dein Buch beginnt mit einer persönlichen Erinnerung an eine Insel in der Elbe, auf der ein neuartiges Zuchthaus stand. Dein Urgroßvater war der Erfinder dieses Gefängnistyps, der, statt die Gefangenen zu bestrafen, durch Selbstkontrolle und persönliche Gespräche bessere Menschen aus ihnen machen sollte. Mein Urgroßvater, der Jurist war, hat nach dem Ersten Weltkrieg die Gefängnisinsel Hahnöfersand reformiert, also zunächst das Sprechverbot und die körperlichen Strafen aufgehoben, später wurden sehr viele Psychologen eingesetzt. Alles wurde immer beobachtet, die Gefangenen arbeiteten so an ihrer eigenen Verbesserung und lernten, über die Stütze des Therapeuten, tugendhafte junge Menschen zu werden. Heute ist man umgeben von Menschen, die sich von Therapeuten oder Tools dabei helfen lassen, funktionaler zu werden. Diese Insel als Ganzes war eigentlich eine große Selbstoptimierungsmaschine. Von dieser Insel, also von dieser Vorstellung, dass Gefängnis zur Besserung führt, lässt sich ganz gut eine Brücke schlagen zum Panoptikum von Jeremy Bentham, als einem ganz frühen liberalen, fantastischen Modell, wo auch durch Beobachtung Besserung stattfinden sollte. Bentham schwebte ja einerseits ein Gefängnis vor, das ökonomischer funktioniert, aber auch durch Beobachtung bestraft und diszipliniert. Andererseits steckt darin aber auch schon die Idee für die gesamte Gesellschaft, dass man sie produktiver machen kann, wenn man die Dinge durchleuchtet und sichtbar macht.

14

dbg176_8_19_superselfies.indd 14

In deinem Buch geht es um die Methoden von Feedback und Rückkoppelung, also Formen von quasi-automatischer Selbstoptimierung. Wie werden daraus Methoden der Kontrollgesellschaft? Mich interessiert, wie in der frühen Kybernetik aus dem Phänomen der Feedbackschleifen, das man in der Natur beispielsweise in Schwärmen beobachten kann, ein anwendbares Konzept entwickelt wurde. Diese Ideen wurden durch Stafford Beer auf die Managementphilosophie übertragen. Der Managementkybernetik geht es dann nicht mehr um den Schwarm als solchen, sondern um die Frage, wie dieser sich lenken lässt. Die ursprüngliche Idee der Selbstregulation als einer selbstgenügsamen Homöostase wird umgewandelt in neue Formen der Steuerung. Etwas organisiert sich selbst, bewegt sich dabei aber immer im Schatten eines interessierten Dritten, für den es meist einen gar nicht mehr natürlichen Mehrwert abwirft. Nicht, dass ich zurück zur Natur wollte, die ist mir oft zu grausam. Aber mich interessiert, wie sich Selbstregulation und -organisation, also Kybernetik wieder getrennt von ihrer marktwirtschaftlichen Vereinnahmung denken lässt. Gegen die Ordnung, die alles in Bits und binären Unterscheidungen beschreibt, setzt du das Rauschen, zum Bespiel die Verlockungen der zufällig schillernden Brauntöne in deiner Kaffeetasse. Das klingt sehr romantisch. In Wirklichkeit gibt es schon längst Leute, die über eine neuronale Schnittstelle im Gehirn mit dem Cursor auf ihrem Computerbildschirm verbunden sind.

22.09.13 13:43


176 — superselfies

»Mich interessiert, wie sich Kybernetik wieder getrennt von ihrer marktwirtschaftlichen Vereinnahmung denken lässt.«

Hans-Christian Dany, "Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft", ist im Naultilus Verlag erschienen.

Mag sein, aber bei weitem nicht so viele, wie einem noch vor zwanzig Jahren versprochen wurde. Es kann ja sicherlich auch gut sein, sich ab und zu über neuronale Schnittstellen mit Computern zu verbinden. Meist bekommt man aber nur ein fades, arg abgestecktes Werkzeug, das gar nicht so viel kann und mit dem sich nur die Arbeit erledigen lässt, die bei genauere Betrachtung gar nicht nötig wäre. Getan wird sie vor allem um ein ökonomisches Systemprinzip zu erhalten, dass sich schon lange nur noch durch Überproduktion erhält. Es geht mir aber gar nicht darum, Technik zu vermeiden, sondern zu begreifen, was der Technologie abhanden gekommen ist. Das Modem, das man sich in den 90ern kaufte, enthielt noch ein anderes Versprechen, die Möglichkeit, Beziehungen anders zu gestalten, neue Formen des Teilens und der Gemeinschaft, das ist der Technologie abhanden gekommen. Ich würde diesen Bruch an den Geräten von Apple und ihrer Rückkehr zum Braun-Design der 60er Jahre fest machen – Geräte, die Zukünftigkeit repräsentieren ohne zukünftig zu sein. In den 40ern und 50ern trafen sich auf den MacyKonferenzen Menschen aus allen Fachrichtungen um über Kybernetik zu sprechen. Damit verband sich das Versprechen einer neuen Universalwissenschaft, an der alle Disziplinen beteiligt sind und deren Modelle auf nahezu alles - Organismen, psychologische Vorgänge, soziale und ökonomische Systeme genauso wie Computernetzwerke - übertragen werden könnten. Du nennst Salvador Allende, der, kurz bevor der Putsch diesen Plänen ein Ende setzte, in Chile ein kybernetisches Modell zur Staatslenkung installierte. Dann wurde es still um die Kybernetik und bis auf ein paar Netzkünstler in den 90ern interessierte sich nur eine sehr beschränkte Öffentlichkeit dafür. In letzter Zeit scheint sich das zu ändern, kybernetische Ideen werden mit dem Finanzcrash von 2007 in Zusammenhang gebracht, mit den Ursprüngen der Ökobewegung und dem Erfolg der kalifornischen Hippie-Entrepeneure. Auch dein Buch ist voller Beispiele, die den versteckten Einfluss dieser Theorien erkennbar machen. Gibt es eine kybernetische Verschwörung? Mir kommt die gerade wieder so beliebte Rede von den dunklen Mächten, die angeblich irgendwo die Strippen ziehen, wie eine Ablenkung von den strukturellen Problemen vor, die sich mit einer wieder entschlackten Kybernetik ganz gut beschreiben lassen. Noch kontrollieren wir uns als pervertierte Kybernetiker vor allem selbst, eben auch in den Gewändern der Selbstoptimierung. Das Theater um die NSA lenkt uns vor allem davon ab, uns dieser Selbstkontrolle zu entledigen. Gegen diese Vermeidungsstrategie, die Freiheit zu genießen, entwerfe ich für die Optimierung meines Lebens den Idiot. Der kommuniziert zunächst nicht mehr, um den Anknüpfungspunkten der Kontrolle ins Leere laufen zu lassen. Er isoliert sich auch nicht, sondern verbindet sich mit den anderen Idioten. Er geht auch nicht weg, sondern bleibt mitten im Getümmel als idiotische Störung präsent, allein um noch mehr Menschen in die idiotische Asozialität zu verführen.

Bluetooth Headset: Jawbone Fitness-Tracker: Jawbone UP Jacke: Stone Island Hemd: adidas Y-3 Hose: adidas by Tom Dixon Schuhe: Pointer Ergonomischer Bürostühl: Hag Capisco 15

dbg176_8_19_superselfies.indd 15

22.09.13 13:43


176 — superselfies

»Das ist kein Rückzug, nicht einmal affirmative Subversion, sondern ein dritter Weg: dass man sich der Norm hingibt, die inneren Prozesse befreit und schließlich das Außen neutralisiert.«

T-Shirt: adidas by Tom Dixon Fitness-Tracker: Nike Fuel Bluetooth Headset: Jawbone Hose: Puma by Mihara Schuhe: Rick Owens for adidas

16

dbg176_8_19_superselfies.indd 16

22.09.13 16:30


text Felix knoke

176

Bis hier hin joggen und nicht weiter

Gegenoptimierung durch Profillosigkeit

Wenn über Selbstvermessung geredet wird, dann meist über Optimierung. Aber warum nicht mal in die andere Richtung denken: weniger Leistung, kaputtere Performance. Vielleicht könnten die Fitnessarmbänder und Gamification-Apps ja subversiv eingesetzt werden - und sich so neue Identitäten stricken lassen? Es gibt grundsätzlich drei Strategien, mit dem Druck zur Selbstkontrolle und -überwachung umzugehen: Die zwei bekanntesten sind das Einverständnis und der Dissens. Entweder man gibt dem Druck nach, vermisst sich selbst, schließt sich an die Kontrollmaschinen an und folgt den Optimierungserwartungen der Gesellschaft. Oder man stellt sich quer, sabotiert das System durch Ungehorsam. Variante Zwei hat Hans-Christian Danys anhand seines Idioten dargestellt. Dieser Idiot unterläuft die Regulationsmechanismen der kybernetischen Gesellschaft, anstatt vor ihnen wegzulaufen. Eine Störung, "allein um noch mehr Menschen in die idiotische Asozialität zu verführen", wie der Autor im Interview (S. 14) sagt. Doch Danys Idiot ist eine gefährliche Strategie, sie wird sanktioniert, da sie zersetzend ist und sie ist ständig unter Beschuss, da der Idiot sein Nicht-verstanden-Werden gegen einen ständigen Verständnisversuch behaupten muss. Der Idiot ist leider auch deshalb keine besonders kluge Strategie, da sie Innen- und Außenleben gleichmacht und damit neue Angriffspunkte für ein System bietet, das bislang ja doch noch alles gefressen hat. Und warum überhaupt immer nur ans Außen denken?! Ein dritter Ansatz wäre deswegen, und der ist seltsamerweise reichlich unterdiskutiert, dass man sich gleichschaltet und durch Überanpassung mitten im System versteckt. Dass man also die Normalitätsmaßstäbe des Systems gegen es selbst richtet, in dem man lesbar wird, es aber nicht viel zu lesen gibt. Man wird langweilig und vorhersehbar - und kann dafür einen inneren Raum eröffnen, der nicht von den Regelungssystemen erreichbar ist. Ab in den Mainstream, du neue Nische. Ab in die Spiritualität. Die Idee ist, das Normale zu identifizieren und die Selbstoptimierungswerkzeuge dafür zu benutzen, es zu erreichen. Zum Glück ist das, was als normal gilt, längst von Markt- und Werbeforschung, Demographie und Gesellschaftsforschung ausformuliert. Dies sind die Kennzahlen, die optimiert werden müssen, nach denen der private Konsum, das öffentliche Auftreten, der Geschmack, die Fehler und Missstände ausgerichtet werden können. Zum Glück ist das Normale ein Nullpunkt und damit einfacher zu erreichen, als die ständig erweiterten Maxima. Das Ziel ist, möglichst normal zu werden, also möglichst wenig vom Durchschnitt abzuweichen. Dass man also zu genau

dem Phantom wird, das dieser in der Realität ja (praktisch) nie anzutreffende Durchschnitt ist. Denn das Individuum wird durch Abweichung gekennzeichnet. Man ist all das, was man nicht ist. Die ungleichmäßige Verteilung dessen ist das persönliche Profil. Profillosigkeit bedeutet in der überwachten Datenwelt Unsichtbarkeit, der Nullpunkt als der nicht beobachtete Ort. Die Profillosigkeit wächst, wenn möglichst viele Menschen diesem Mittelpunkt zustreben. Das Ideal wäre eine Null-Gesellschaft, äußerer Stillstand, die völlige Gleichheit und Ausdruckslosigkeit. Der Zufall wäre Gott. Statt sich zu differenzieren, also seine spezifischen Werte und Eigenschaften zu extremisieren, könnte man sich entdifferenzieren, also seine Ausreißer minimieren. Gewicht rauf, statt runter. Arbeitskraft runter, statt rauf. Ganz normal Internet, Waren, Kultur konsumieren. Äußerungen ausbluten lassen, Exzesse verhindern, das soziale Umfeld beschränken. Die Fitnessarmbänder, Smartwatches, Gamification-Tools und Kontrollwagen wären dann nicht mehr die Peitschen, die einen zu noch mehr Leistung und Individualität antreiben, sondern Warnsignale: bis hier hin joggen und nicht weiter. Ohne Eitelkeit gleiten die subtilen Überwachungs- und Kontrollmechanismen an einem ab. Diese blanke Hülle verhüllt eine innere Freiheit. Ein spiritueller oder ideeller Raum, der nicht durch die üblichen, kurzfristig wirksamen Werkzeuge erreicht werden kann. Die Verdunklung der Seele, das Hegen von Geheimnissen, die Verschleierung der Gedanken - auch vor sich selbst - wird dem Offenbarungszwang der aktuellen Informationsgesellschaft folgen. Das ist kein Rückzug und keine innere Emigration, nicht einmal eine affirmative Subversion sondern vielleicht ein echter dritter Weg: dass man sich letztlich tatsächlich der Norm hingibt, das Innen gegenüber dem Außen maximiert, die inneren Prozesse befreit und schließlich das Außen neutralisiert. Dafür müsste man sich eingestehen, dass Individualismus-Ansprüche und Selbst-Zersplitterung keine Gegensätze sind, sondern in einem neuen Verständnis aufgehen können: dass man Masse sein kann. Eine Marionette ohne Fäden, bewegungslos im Glück. Die Gesellschaft, der Mainstream nicht als Angriff, sondern als neutrale Zone, als Freund. Denn nur dort, im Land des uniformen Rauschens, können Innen und Außen irgendwann entkoppelt voneinander existieren. Das muss das Paradies sein, Frieden. Es muss Haßloch werden, überall.

dbg176_8_19_superselfies.indd 17

17

ElEctronic BEats FEstival

DrEsDEn Alter SChlAChthof 10.11.2013

WooDkiD SizArr spEcial GuEst

ElEctronicBEats.nEt 22.09.13 13:45


176 — superselfies

Runkeeper / Runtastic

23andme

Brainscanner

An d

Tec

mit d Bese

Nike+

Der M essie Weit

Office Yoga

Aufg lich d Stud che tech scha

18

dbg176_18_19_superapps.indd 18

22.09.13 14:01


176

Stechuhr in der Hosentasche die killer-apps

Was ist ein ordentlicher Selbstverbesserer ohne eine Handvoll Killer-Apps und Gadgets? Deshalb hier eine Vorstellung der (gelegentlich unfreiwillig skurrilen) besten Tools für die Körper- und Geist-Kontrolle. 80 Bites Wir essen zuviel. Unser Magen muss dringend optimiert werden. 80 Bites ist eine Art BPM-Zähler für Mahlzeiten, bei jedem Bissen tippt man (nicht sonderlich Kalorienverbrauchend) ein Mal auf das Ding. Wer eine genauere Analyse des eigenen Essverhaltens, jenseits der Menge an Happen, die man nun gegessen hat, haben will, zahlt für's Abo. Herrlich, Win-Win! Wer mehr für sein Abo zahlt, hat auch weniger zu Essen. PS: Für die Wasseraufnahme gibt es eine SnapshotApp namens Waterlogged. Meal Snap Für den kalorienbewussten, und nicht so Magentraining-orientierten Nahrungsmittelselbstüberwacher gibt es ein paar Apps, die auf Schnappschuss mit einer Kalorien-Info zum zu verspeisenden Zeug kommen. Klingt wie pure Magie, vor allem wenn man bedenkt, dass man eh oft genug schlimm unidentifizierbares Kuddelmuddel in sich reinsteckt. Aber hey, nichts was ein paar mechanische Türken (no offense) nicht regeln könnten. Runkeeper / Runtastic Lauf dir den Schweiß von der Seele. AGPS weiß eh, wo du bist. Und nichts motiviert einen mehr, als ein paar Freunde auf der

Timeline, die deine Galopp-Orgien gleich mittracken. Die Hardware-Orgie folgt natürlich auch, und ja, neue Smartphones werden auch immer genauer im Verfolgen selbst der kleinsten Bemühungen, die Wampe wegzuschmelzen. Die bekommen sogar eigene stromsparende Chips dafür (Moto X, iPhone 5S). Selbst ein lahmer Lauf zeigt immer noch, dass man bereit ist, sich und seine ganz persönliche Defiguration dem Schampranger der Bemitleidung zu stellen, selbst das bringt soziale Punkte. Nike+ Der Klassiker unter den Lauf-App-HardwareKonstellationen. Laufen mit App- und Schuhfeedback, Gamification für alle, NikeFuel-Boni, elf Milliarden verbrannte Kalorien weltweit und jetzt auch mit Kinect für das perfekte Indoor-Training in Kombination mit XBox 360, die selbst das Wohnzimmer zur globalen Sportarena macht. Persönliche Trainer in 3D sind obendrein eine wahre Augenweide. Dagegen waren Jane Fondas Aerobic-Videotapes echt lame. Und nach der erfolgreichen Stunde Nike+ Kinect-Fitness kann man dann auch nahtlos den Rest der Nacht mit gutem Gewissen vor Halo 5 verbringen. Lift Klingt schon so optimistisch. Lift ist der Allrounder unter den "Härter, schneller, weiter"-Apps. So eine Art Mischung aus Aufgaben-Kalender und Gamification nebst hübscher Datenvisualisierung selbst für Dinge wie: Oma schon angerufen? Natürlich

mit Überwachung durch Peerpressure und Experten. Irgendwie GTD, irgendwie Spiel, irgendwie alles. Was will man mehr? Der Claim jedenfalls - "Succeed at everything" - ist unschlagbar. Sleep Cycle Gesundschlafen statt mit ständig neuen Aufgaben der unüberschaubaren Selbstverduftungs-Apps noch mehr Stress erzeugen? Mit Sleep Cycle kein Problem. Die App analysiert die Schlafzyklen. Befindet man sich außerhalb der REM-Phase (Rapid Eye Movement), in der das Aufwachen für den Körper am besten ist, weckt sie einen. Aber jetzt seid ihr bestimmt schon selber eingeschlafen. 23andme Der Witz von den inneren Werten geht ja in etwa so, dass man bei OKCupid auch keine Röntgenbilder von sich veröffentliche. Für die potenzielle Partnerwahl viel aussagekräfter wären die Gen-Wettscheine, die einem 23andme ausstellt, nachdem man ihnen eine Speichelprobe und 100 Dollar schickt. Denn mit dem eigenen Genom ist nicht zu spaßen. emotive insight 200 Dollar und wir können unseren Hirnströmen beim W obbeln zuschauen. Das ist das Versprechen dieses Low-CostHirnscanners. Die Demokratisierung der Hirnforschung, nennt das Erfinderin Tan Le. Die Scientifizierung der Ausredenerfindung, vermuten wir: Kann nicht, hab Beta-Chaos.

Office Yoga Der Spaß für das ganze Büro. Nichts ist amüsanter als Menschen im Büro dabei zuzusehen, wie sie ihren Stress mit 75 Yogaposen selbst während dem Telefonieren auf ein meditatives Level runterschrauben. Lang lebe der sterbende Schwan. Oder sind wir im falschen Ausdruckstanz-Genre? Selfcontrol Dein Feind ist nicht dein lümmelnder Körper, sondern das Internet? Kein Problem. Selfcontrol lässt einen verführerische Webseiten für eine bestimmte Zeit sperren, bis man endlich den ganzen anderen Kram erledigt hat. Nur für PCs, aber Open Source, das heißt die App fürs Smartphone könnt ihr euch selber coden, aber nur wenn ihr unseren letzten Tipp beherzigt. Codeacademy Lasst euch nichts einreden. Es gibt zehn Milliarden Hirnverbesserungs-Apps. Die einzige, die was taugt, ist nicht mal eine App, sondern eine Website und heißt Codeacademy. Hier kann man lernen, wie man Apps selber programmiert. Nichts ist besser fürs Gehirn (und den von Selbstverbesserungs-Apps geschröpften Geldbeutel) als das.

An der Universität der Künste Berlin ist im Zentralinstitut für Weiterbildung (ZIW) folgende Stelle zu besetzen:

Technische/r Beschäftigte/r

– (Studiotechnologie), Entgeltgruppe 9 TV-L Berliner Hochschulen – mit der Hälfte der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit (zurzeit 19,5 Std.), befristet auf 24 Monate Besetzbar: schnellstmöglich Kennziffer: 10/1068a/13 Der Masterstudiengang Sound Studies ist ein Studienangebot für alle an Klang interessierten Personen. Sound Studies befassen sich mit der modernen auditiven Kultur. Weitere Informationen unter www.udk-berlin.de/soundstudies. Aufgabengebiet: Beratung und Einweisung der Lehrenden und Studierenden bezüglich der technischen Ausstattung; aktive Mitarbeit, Koordinierung und Steuerung der Studiotechnologie bei Projekten, Sonderveranstaltungen des Studiengangs (öffentliche Masterpräsentation, Ausstellungen u. a.); Planung, Aufbau und Koordination der technischen Ausstattung des Studiengangs Sound Studies inkl. Recherche zur Anschaffung größerer technischer Konzeptionen und deren Umsetzung; Schulung der

dbg176_18_19_superapps.indd 19

Studierenden in audiospezifischer Software und ihrer Anwendung und im Umgang mit audiospezifischer Technik; Betreuung und Überwachung der Technikausleihe durch die Studierenden; ferner Wartung und Pflege der Audiotechnologie und sonstigen technischen Ausstattung (Erhaltung des technischen Standards/Pflege der Geräte, auch Unterstützung bei PC- und Macintosh-administrativen Fragen). Der ausführliche Ausschreibungstext ist unter www.udk-berlin.de zu finden. 19 Ihre schriftliche Bewerbung richten Sie bitte mit aussagefähigen Bewerbungsunterlagen unter Angabe der Kennziffer bis zum 18. Oktober 2013 an die Universität der Künste Berlin – ZSD 1 –, Postfach 12 05 44, 10595 Berlin.

22.09.13 14:05


Text Bjørn Schaeffner

H u e r c o S . So wie die Erde Brian Leeds folgt auf seinem Debütalbum "Colonial Patterns" dem Ruf der Heimat Kansas City und lässt dabei so etwas wie Prärie-House gedeihen: enturbanisiert, rau, unglamourös. Im Interview spricht der 22-Jährige über sein abgebrochenes Kunst-Studium, Gründerspirit und Loop-Finding vor den Zeiten von Christoph Kolumbus. Der Werdegang ist typisch für einen Protagonisten dieser jungen amerikanischen House-Generation: Als 16-Jähriger spielt Huerco S. in Hardcorebands, später entdeckt er via Drum and Bass dann House. Weniger typisch ist, dass Brian Leeds in Kansas City im US-Bundesstaat Missouri auf den Geschmack von Theo Parrish, Omar-S und Ron Hardy kommt. Mitten im Mittleren Westen, in der konservativen Provinz, weit weg von jeglichen relevanten Clubströmungen. Huerco S. verortet sein Album "Colonial Patterns" als Hommage an seine Heimatregion um Kansas City. Gleichsam will es Geschichte atmen: Kontextualisiert wird gemäß der liner notes das Amerika vor seiner Entdeckung und während der anschließenden Kolonialisierung. Und noch eine Referenz gibt es: die pyramidenhafte Hügelstadt Cahokia, die einst die Ureinwohner errichtet hatten. Und noch eine: die Theorie der "Arkology" des Architekten Paolo Soleri, die eine Fusion zwischen Architektur und Ökologie beabsichtigt. Raunt da etwas viel Konzeptwirken durch den Äther? Ist Huerco S. ein übereifriger Kunstdebütant, der sich vor lauter Referenzentum verdaddelt? Natürlich hätte etwas Zurückhaltung nicht schaden können. Aber am Ende ist das doch ziemlich sekundär, weil nämlich die Musik gut ist. Und so kann man den amerikanischen Frontier-Geist dieses Youngsters nur begrüßen. Blame it on the Optimismus. Als Talent hat sich Brian Leeds spätestens mit seiner EP als Royal Crown of Sweden auf dem Label seines Freundes und Upstarters Anthony Naples angekündigt. Und zuletzt demonstrierte Huerco S. auf dem Washingtoner Label Future Times mit "Apheleia's Theme" vollendetes DubhouseKönnen. "Colonial Patterns" wird vom Brooklyner Label Software veröffentlicht, wo auch schon Leeds' Vorbild Oneohtrix Point Never Platten machte. Allgegenwärtig ist der Nebel, durch den man als Hörer auf "Colonial Patterns" watet. Tracks wie "Prinzif" erinnern an frühe Theo-Parrish-Produktionen, mit einem grandiosverschlingerten Bläsermotiv. "Skug Commune" klingt wie Microhouse à la Akufen. Industriell gebleicht sind Tracks wie "Plucked from the Ground towards the Sun" und "Quivira". Loops mäandern immerzu auf und ab, speziell auf Nummern wie "Canticoy" oder "Anagramme of My Love". Die Platte? Nennen wir sie eine ziemlich verstrahlte Endzeitschönheit.

20

dbg176_20_27_musik.indd 20

19.09.13 16:10


176 — musik

Delroy und ich machen, ist doch etwas komplett anderes.

Huerco S, Colonial Patterns, ist auf Software/Alive erschienen.

Inwiefern siehst du dich in der Tradition von House und Techno, Musikrichtungen, die ja im Mittleren Westen entstanden? Mich beeindruckt vor allem dieser Gründerspirit. Das Entdeckertum, das die frühen Produzenten in Chicago oder Detroit an den Tag legten. Wenn sich bei denen etwas gut anfühlte, gingen sie auch Risiken ein. Sie kannten keine Angst vor Experimenten. Das versuche ich mit meiner Musik ähnlich zu halten. Brian, du bist vor ein paar Tagen nach Brooklyn umgezogen. Aus den offenkundigen Gründen für einen jungen amerikanischen Produzenten und DJ? New York ist als Basis natürlich ideal, einerseits, weil man hier im Unterschied zu Kansas City tatsächlich Gigs spielen kann, andererseits, weil man gut mit dem Rest der Welt verbunden ist. Dann kommt hinzu, dass ich mein ganzes Leben in Kansas City verbracht habe. Es war der richtige Zeitpunkt, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Gibt es in Kansas City überhaupt so etwas wie eine elektronische Szene? Nein, überhaupt nicht. Zwar gibt es ein paar Leute, die ähnlichen Sound hören wie ich, aber das sind alles Freunde von mir. Klar, manchmal stellen wir Plattenspieler auf und legen gemeinsam auf. Aber das sind keine richtigen Partys. Es gibt aber Raves in der Gegend. Da läuft dann sicher Dubstep à la Skrillex? Genau. Und Trance ist groß. Dort treffen sich die Raverkids mit pelzigen Stiefeln, Hulla-Hoops und Leuchtstiften. Die typischen Vertreter der amerikanischen Ravesociety. Seriösen House oder Techno hört eigentlich niemand.

Dein Album "Colonial Patterns" hast du ausschließlich in Kansas City produziert. Dein Label behauptet, das würde man auch hören. Hier aufzuwachsen, unweit der Natur, inmitten dieser Prärien, hat mich schon stark geprägt. Auch die Sounds aus der Gegend. Normalerweise ist Clubmusik ja eine sehr urbane Musik. Präzise und strukturiert. Sie ist wie die Großstadt, neu und aufregend. Ich fand es spannend, Clubmusik in einen anderen Kontext zu stellen. Wo sie dreckig wird. Wie die Erde selbst. Ländlich. Wo die organischen Teilchen ins Extreme gesteigert werden, um einen Flow zu erzeugen. Viele der Tracks habe ein mäanderndes Wesen. Ich habe viel mit mit Loops experimentiert und wollte ein ritualistisches Feeling erzeugen. Inspiriert hat mich da die Hügelstadt Cahokia, die einzige prähistorische Stadt Nordamerikas. Ich habe mir vorgestellt, wie die Ureinwohner diese pyramidenmäßigen Hügel errichtet haben. Wie die Arbeiter immerzu Erde ausgegraben und aufgeschüttet haben. Immer wieder aufs Neue.

» Hey, ich muss die Leute ständig daran erinnern, dass House und Techno ja amerikanische Erfindungen sind. «

Du hast in Kansas City Installationskunst und Keramikdesign studiert, später aber das Studium abgebrochen. Warum? Auf dem College begann ich, meine Installationen immer häufiger mit Sound zu ergänzen. Musik wurde einfach immer wichtiger. Und finanziell wurde mir die Belastung zu groß. Ein Studium in den USA kostet ein kleines Vermögen! Dann hast du am Ende deinen Kunstabschluss, gut und schön, aber du hockst auf einem Schuldenberg von 100.000 Dollar. Und für einen Künstler sind die Aussichten auf dem Stellenmarkt besonders düster. Du bist eigentlich vom Anfang an doomed! Du schaffst es auch allein, ohne diesen Fetzen Papier, davon bin ich fest überzeugt. Dein Name fällt öfter im Zusammenhang mit dem unglücklichen Label "Outsider House". Schon den Begriff finde ich befremdlich. Es gibt diese Tendenz, die Freaks labeln zu wollen. Experimentelle, leftfield Clubmusik ist ja nichts Neues. Ich finde es schwierig, wenn man jetzt versucht, uns unter diesen gemeinsamen Tag fassen zu wollen. Kürzlich wurden Delroy Edwards als typische Vertreter des Outsider House bezeichnet. Vielleicht haben wir ähnliche Musikinteressen und einen vergleichbaren Background, das mag ja sein. Aber das, was

Glasser das neue Album „Interiors“ ab 04.10. als CD/LP/DL

Du verortest dein Album im Amerika vor der Entdeckung durch Christoph Columbus. Weshalb? Ich habe mich immer schon stark für Geschichte interessiert. Gerade dieses Zeitalter vor der europäischen Invasion fasziniert mich. Und wie die eingeborenen Stämme später gen Westen vertrieben wurden. Darum heißt das Album auch "Colonial Patterns".

Das Debütalbum der neuen Band von Nicolas Jaar und Dave Harrington ab 04.10. als CD/LP/DL

Body/Head

Von wegen Invasion: Nimmst du EDM auch als eine Bewegung wahr, die House und Techno in den USA verdrängt? EDM stellt hier tatsächlich eine Konkurrenz zum native House und Techno dar. Das ist aber auch eine Chance: EDM zwingt die Produzenten dazu, noch kreativer zu werden. Sich neu zu erfinden. Und es ist schon interessant, wie House und Techno hier als etwas europäisches angesehen werden. Hey, ich muss die Leute ständig dran erinnern, dass das ja amerikanische Erfindungen sind.

Coming Apart 21

Erster Longplayer des Duos Kim Gordon und Bill Nace als CD/LP/DL out now

dbg176_20_27_musik.indd 21

beggars_group_darkside_debug.indd 1

03.09.2013, 08:23 19.09.13 16:18


176 — musik

D J R a s h a d Chicago footworkt weiter um die Welt

22

dbg176_20_27_musik.indd 22

DJ Rashad, Double Cup, erscheint Ende Oktober auf Hyperdub/Cargo.

24.09.13 12:37


176

Text Wenzel Burmeier

Irre schnelle Musik voller Hass und sturer Einfachheit - aber ihr Erfinder, DJ Rashad, möchte sie, bitte schön, im Radio hören. Wir haben das Juke-Mastermind aus Chicaco getroffen und gemerkt: So verrückt ist der gar nicht. Als Kind fängt Rashad wie selbstverständlich mit dem Tanzen an: "Das war damals einfach Sport für uns. Jeder hat getanzt, egal ob du sonst Football gespielt oder an den Drums gesessen hast." Dabei lernt Rashad auch seinen treuen Weggefährten Spinn kennen - die beiden gibt es seitdem nur noch im Doppelpack, konsequenter Weise auch in unserem Gespräch. Ständig fangen sie an zu lachen, wenn sie aus ihrer Kindheit erzählen und sich in Erinnerungen verlieren - an ihre ersten DJ-Gigs zum Beispiel, damals mit vierzehn auf der Rollschuhbahn. Oder an die ersten Partys, auf denen ihre Vorliebe für Ghetto House wuchs. "DJ Deeon, DJ Milton, Traxmen, DJ Funk, Jammin Gerald, diese ganzen Typen auf Dance Mania Records, die Ghetto- und Booty-House gemacht haben - das war unser Sound", erzählt Rashad. "Und Juke war der unabdingbare nächste Schritt im Chicago-Kontinuum." Um die konsequente Fortschreibung des Tempos und der Rohheit von Ghetto House geht es den Jungs also. Um die Reduzierung auf nicht viel mehr als HiHats, Toms und explizite Vocal-Schnipsel, platziert in einem triolischen Bassdrum-Gewitter, das von anfänglichen 130 bpm schnell auf 160 heranwächst und die hektischen Tänzer mit jedem Track aufs Neue herausfordert. Fokussiert auf die hiesige Szene kommt Rashad und Kollegen kaum in den Sinn, ihren Sound einmal quer über den Atlantik zu tragen. Bis sich dieser gewisse Herr Paradinas 2010 durch halb Chicago telefoniert, um seine gesammelten YouTubeFavoriten auf der zweiteiligen "Bangs & Works"-Compilation zu platzieren - und Juke via Planet Mu zum kleinen Exportschlager zu machen. "Wir hatten ja keine Ahnung, dass das mal so groß werden würde", kommentiert Rashad den plötzlichen Erfolgszug des einst lokalen Phänomens. Bei seiner Weltreise hat der Sound aus Chi-City an den unterschiedlichsten Haltestellen angedockt, um seine ganz eigene Mutation zu vollziehen. Machinedrum, Africa Hitech, Pearson Sound, Kode9 nur einige der Namen, die von dem stoischen 808-Gewitter und den repetitiven Sample-Schnipseln so hypnotisiert waren, dass sie diese Ästhetik in ihren eigenen Entwürfen unterbrachten, irgendwo zwischen UK Garage, Jungle und Dubstep. Eine Enwicklung, über die sich Rashad und Spinn offensichtlich Gedanken gemacht haben: "Ich begrüße es, wenn jemand seinen eigenen Input hinzu gibt und daraus einen neuen Sound kreiert", sagt Rashad. "Im

dbg176_20_27_musik.indd 23

Gegensatz zu Leuten, die den Style einfach nur kopieren und manipulieren, ohne dabei zu wissen was zur Hölle sie tun", fügt Spinn sichtlich verärgert hinzu. Rashad hält einen Moment inne, nickt schließlich mit dem Kopf und pflichtet bei: "In Chicago gibt es wirklich genügend Leute, die einfach nur Tracks stehlen oder deinen Beat komplett nachbauen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Deswegen wissen wir das umso mehr zu schätzen, wenn jemand Juke auf seine eigene Art und Weise aufgreift. Es sollte halt niemals eine Kopie sein." In der Entwicklung von Juke wächst London zu einem Dreh- und Angelpunkt heran. In dieser Stadt spielt Rashad nicht nur seine ersten Gigs außerhalb der Staaten, hier sitzt vor allem auch seine neue LabelHeimat Hyperdub. "Der Kontakt zu Kode9 kam über ein paar Radio-Shows, die wir mit ihm bei Rinse FM gespielt haben", erzählt er. "Ich habe ihn damals gefragt, ob

» Rashad unterzieht auch den klassischen Breakbeat seiner Juke-Ästhetik - die Meta-Ebene des Breaks wäre dann soweit. « ich nicht eine EP auf seinem Label releasen könne und er war total begeistert. Ich wollte da eigentlich gar kein Album anschließen, weil das in erster Linie eine Menge Arbeit bedeutet (lacht). Als er dann vor ein paar Monaten aber auf mich zukam, war das eine riesige Chance, unsere Crew zu repräsentieren. Und wir konnten da wirklich unser Ding machen, ganz anders als bei einigen Labels, die ich bis dahin kannte." Diesen Spielraum scheint Rashad nicht nur dafür zu nutzen seine ganze Teklife-Crew unterzubringen, sondern mit "Double Cup" vor allem auch mit den erwarteten JukeParametern zu brechen. Da tauchen auf einmal Verweise auf Drum and Bass auf, die sich erst durch das viele Reisen ergeben haben, wie Rashad erzählt: "Wir nehmen auf Tour unglaublich viele Einflüsse auf. Die Leute nehmen sich Zeit um uns beizubringen, was qualitativ ist und was nicht. Natürlich haben wir früher schon mal von Drum and Bass gehört, aber wir hatten keine Ahnung von der ganzen Geschichte dahinter." Also wagt sich DJ Rashad für "I'm Too High" nun auch an einen klassischen Breakbeat, den er im Handumdrehen seiner Juke-Ästhetik unterzieht, sprich: in

kleinste Schnipsel zerhäckselt und triolisch loopt - die Meta-Ebene des Breaks wäre dann soweit. Diese Praxis kündigte sich übrigens schon mit dem absoluten Snare-Wahnsinn "Drums Please" an, dem heimlichen Highlight auf Rashads erster EP für das Londoner Label, die Anfang des Jahres erschien. Besagtes Release legte außerdem den Grundstein für Rashads Hyper-Soul, der auf "Double Cup" konsequent fortgeführt wird. Soul-Samples aus seiner Kindheit werden hier auf ihre eingängigsten Kleinteile heruntergebrochen und geloopt, sodass sie sich schneller ins Gedächtnis brennen als je eine MotownCatchphrase dazu im Stande war. Man vergleiche "Show U How", "Only One" und "Every Day of My Life" - wozu eigentlich noch ganze Strophen, geschweige denn vollständige Sätze singen? Na gut, ein paar Sätze und sogar Reime finden sich auch auf "Double Cup". Auf "She A Go" und dem Titeltrack zum Beispiel, für die sich Rashad an der gescrewten Hustensirup-Ästhetik von SüdstaatenRap bedient. Auch die begleitende Kombination aus Halftime-Drums und hektischen HiHats macht diese Referenz auf. Keine Neuerfindung, aber eine stimmige Verbindung zweier gar nicht so weit entfernter und so bislang doch nicht gekreuzter Welten - und eben keine Kopie. Bei all den Entwicklungen im Sound muss man sich aber kaum um den Verlust Rashad typischer Drum- und SamplePatterns sorgen. Immerhin wird mit "I Don't Give A Fuck" ein Exempel der Stärke von Juke statuiert, die ohne Zweifel in dessen eigensinnig reduzierter und ungeschönter Ästhetik liegt. Das wird spätestens deutlich, wenn der Hass-Monolog des Intros mit dem Satz "I don't give a fuck" endet und plötzlich diese brutal herunter gepitchte Kick einsetzt, die von nicht viel mehr als einem grässlich dünnen, zuckenden LeadSynthie begleitet wird - und dem Vocal: "I don't give a fuck about you/I don't give a fuck about myself". Man hat schon viel düstere Musik voller Hass gehört, aber in solcher Einfachheit? "In Chicago ist Juke eigentlich immer noch underground, obwohl das mittlerweile viel größer sein müsste", erzählt Rashad zum Ende unseres Gesprächs und das erste Mal kann ich nicht so wirklich nachvollziehen, was bei ihm vorgeht. In was für einer Welt lebt dieser Rashad eigentlich? Einer Welt, die diesem skurrilen Sound selbstverständlich Radio-Airplay bietet? Ich bitte wirklich um ein Ticket und zwar genau dorthin.

23

22.09.13 13:18


Text Multipara

Mit "Room(s)" vermählte Machinedrum die Rhythmik von Footwork und Drum and Bass mit der Emotionalität von R&B und der Intensität flächiger Elektronik. Auf der neuen Heimat Ninja Tune ist ein mehrere Alben umspannender Entwurf seiner Traumlandschaften geplant, wie Travis Steward im Gespräch erzählt. Den Anfang macht "Vapour City" - ein Stadtplan im Albumformat. Man muss glatt zwei Mal hinhören, um wirklich zu erfassen, dass es sich bei der rhythmischen Heimat von Machinedrums neuem Album "Vapor City" um Drum and Bass und Jungle handelt. Ein Kreis, der sich schließt, denn die Erzählung dahinter geht so: Travis Stewarts Projekt, noch auf der Highschool in North Carolina gegründet, sollte die polyrhythmische Komplexität und Energie von Drum and Bass via Edits aufs Gerüst von Hiphop übertragen – seine EPs und Alben auf Merck, erschienen in den frühen 2000ern, wurden zu Klassikern des Glitch-Hop. Nach zahlreichen Releases und Aufträgen als Producer in New York überraschte das Album "Room(s)", erschienen 2011 auf Planet Mu, mit umgekehrten Vorzeichen: halsbrecherische FootworkBeats jagen durch schwerelos driftende Traumbilder, durchweht von Schatten regennasser R&B-Vocals. Der rote Faden, der die Ansätze von damals und heute verbindet, ist die Faszination an der Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen, einer langsamen und einer schnellen, deren Zusammentreffen im Gefühl einer Zeitentrückung resultiert. Trotz der Konstanten in Stewarts Musik, ob griffige Ideen als Track-Ansätze oder Gitarrenpickings als Ruhepole, der emotionale Kern seiner Musik ist heute ein ganz anderer. Vorzeichenumkehr eben. Mit "Room(s)" kam der Umzug nach Berlin als Basis für ein Leben auf Tour, ob allein, mit Praveen als Sepalcure oder mit Jimmy Edgar als JETS: immer in Bewegung. Die Produktion findet meist in Hotelzimmern statt, an Laptop mit Controller und Kopfhörer. In den Monaten vor und nach dem Umzug schlug sich das nachts in häufig wiederkehrenden Träumen nieder, in denen sich Stewart in einer riesigen Stadt wiederfand, die immer deutlichere Gestalt annahm, in der sich sukzessiv Bezirke konkretisierten, die fast ein drittes Zuhause wurde. Es entstand die Idee diesen Bezirken Tracks zuzuordnen, daraus ein Albumthema zu formen, als Soundtrack. Mit der Unterschrift bei Ninja Tune im März diesen Jahres kam die Möglichkeit, daraus mehr zu machen als das nächste Album: "Vapor City" erscheint als Initial eines ganzen Geflechts

24

dbg176_20_27_musik.indd 24

aus kollektivem Traum, an dem die umsetzenden Videokünstler und Coverdesigner ebenso Anteil haben wie die interpretierenden Remixer und schließlich das Publikum selbst. Ein Konzept auch, dessen erste Blüten zeigen, dass es von dieser produktiven Offenheit lebt: das aufwändige Artwork, das Dominic Flannigan (regulärer Kollaborateur seit seinen Releases auf Lucky Me) und Eclair Fifi dem Album und der ersten von vielen EP-Auskopplungen verpasst haben, das Video zu letzterer von Weirdcore, und wir zählen hinzu auch das herausstechende Sounddesign von Richard Devine auf dem letzten Albumtrack . Der letzte Zugang zu Stewarts Traumstadt bleibt anderen ja verschlossen – und was wäre durch ihn auch gewonnen? Travis Stewart: Das gehört definitiv zu den Dingen, die verständlicher werden, wenn man die Live-Show, die Webseite, die Videos und District EPs und all die anderen Projekte um "Vapor City" sehen und hören wird. Mir ist mit der Zeit auch bewusst geworden, dass die Kohärenz der Stadt, die Wahrnehmung ihres einheitlichen Aussehens, in erster Linie ein Gefühl war. Es macht Spaß, sie mit anderen zusammen visuell auszugestalten, auch Teile zu entwickeln, die es so in den Träumen nicht gab. Dem Gefühl der Stadt am nächsten kommt man aber durch die Musik. Es ging nicht um eine buchstäbliche Rekonstruktion der Träume, ich wollte nicht nur den Künstlern sondern auch den Hörern Freiraum lassen, sich ihr eigenes Bild zu machen.

mit anderen Mitteln, durch die Öffnung für Input anderer Künstler. Stewart: Genau das ist es: Ein Gefühl unbedingter Vertrautheit im Traum, und das gegensätzliche Gefühl der Verwirrung und Desorientierung nach dem Aufwachen. Das Seltsame ist ja, dass man spürt, an einem vertrauten Ort zu sein, ohne das auf Anhaltspunkte zu stützen. Man erinnert sich nicht konkret, sondern erlebt sich als erinnernd. Aber der Grund für das Konzept war letzten Endes einfach der Wunsch, eine neue Art der Erfahrung eines Albums zu schaffen. Man kann die Musik genießen, ohne das Konzept zu kennen, aber wenn man will, auch tief darin eintauchen. Es ging außerdem um die Möglichkeit, eine Plattform für Inhalte zu schaffen, die nicht reine Promotion sind. Als Kind wollte ich unbedingt Videospiele entwerfen, Rollen- oder Simulationsspiele, alles was mit Maps zu tun hatte; meine Grundschulhefte sind voll mit Entwürfen solcher imaginären Welten. Näher als mit "Vapor City" werde ich an diesem Kindheitstraum wohl nie kommen. Schleichend hat in den letzten Jahren eine neue Schar von Produzenten Drum and Bass für sich wiederentdeckt – in England, aber vor allem auch in den Staaten. Dass der Schritt von Footwork zu Drum and Bass dank Tempoaffinität und verwandter Kicksetzung auch in Chicago durchaus naheliegt, lässt sich etwa an DJ Rashads neuem Album auf Hyperdub (S. 22) verifizieren. Bevor in "SeeSea" schließlich unter strömendem Surf-Folk-Vocalgranulat der Juke-Puls wiederkehrt, herrschen auf "Vapor City" vertraute und doch in ihrer freundlichen Leichtigkeit wie neugeborene Beatstrukturen, als hätte es Techstep oder Breakcore nie gegeben.

» Als Kind wollte ich unbedingt Videospiele entwerfen, Rollen- oder Simulationsspiele, alles was mit Maps zu tun hatte; meine Grundschulhefte sind voll mit Entwürfen solcher imaginären Welten. «

Hin und wieder träume ich von der Rückkehr in seltsame Wohnungen, in denen ich real nie gelebt habe. Die Träume sind nostalgisch, aber auch unangenehm und ich frage mich, ob es in der Arbeit an "Vapor City" um Exorzismus ging, oder um eine Art des Weiterträumens

Stewart: Meiner Ansicht nach lag der Niedergang von Drum and Bass an diesem Druck, dass alles Formeln genügen musste: 170 bpm, eine bestimmte Art von Snare-Sound, ein bestimmter Aufbau, eine bestimmte Art von Synths und so weiter. Man weiß zwar, was einen auf einer Party erwartet, aber irgendwann gibt es keinen Raum mehr für Entwicklung.

Labels wie Exit oder Astrophonica experimentieren jetzt mit Fusionen in Richtung Juke und Dubstep, und diesen frischen Ansatz finde ich aufregend. Meine Anfänge waren ja auch, dass ich Hiphop und Jungle/ Drum and Bass zusammenbringen wollte. Gerade bei Drum and Bass, das schon so lange festgefahren ist, ist es sehr inspirierend, heute andere Künstler zu hören, die versuchen, Elemente unterschiedlicher Genres zu verbinden. Was ziehst du aus deinen eigenen Kollaborationen? Stewart: Das ist immer eine Lernerfahrung, nicht nur über die Arbeitsweise anderer Musiker, sondern auch über meine eigene, wenn mir jemand über die Schulter sieht, den ich schätze; wir versuchen einander zu beeindrucken und geben deshalb unser Bestes. Es macht aber auch Spaß, weil man mit Genres oder Ansätzen konfrontiert wird, mit denen man nicht unbedingt von sich aus umgegangen wäre. Und man kommt viel schneller voran, weil man oft die Rollen tauschen kann, wenn der eine die DAW übernimmt während der andere etwa eine Idee an einem Synth entwickelt. Der hohe Grad an Wiedererkennbarkeit des Sounds von Machinedrum, etwa in Gestalt seiner via Noisegate in Vibration versetzten Ambient- und FieldrecordingRäume, verdankt sich nicht zuletzt auch einer Beschränkung der verwendeten Mittel – früher in fitzeliger Kleinarbeit am Tracker, mittlerweile in stromlinienförmig optimiertem Workflow an einem StandardSequencer. Eine Qualität, die von Stewart in Interviews immer wieder als positiv und willkommen bewertet wird. Würdest du sagen, einen persönlichen Sound zu entwickeln sei für einen Künstler ein erstrebenswertes Ziel? Wie denkst du über die Ansicht, dass es für den Künstler vor allem darum gehen sollte, an der Erweiterung des eigenen Horizonts und der eigenen Fähigkeiten zu arbeiten, weil die persönliche Identität sich ohnehin und von ganz allein ihre Bahn bricht? Stewart: Ich halte nichts davon, vorgegebenen Regeln zu folgen, wenn es darum geht Musik zu machen, oder den eigenen Sound zu finden. Stell deine eigenen Regeln auf. Wenn ich meine Arbeitsweise beschreibe, dann ist sie genau das: meine. Jeder hat seinen ureigenen Zugang zur Kunst, es gibt keinen speziell richtigen oder falschen. Für mich persönlich ist die Beschränkung wichtig, je weniger Optionen an Synths, Effekten und Gizmos ich habe, desto fokussierter werden meine Ideen. So viel Musik aufzusaugen wie ich kann und mein Handwerk so gut zu erlernen wie möglich, das ist für mich als Künstler Pflicht.

19.09.13 16:34


176 — musik

M a c h i n e d r u m Konkretisierte Bezirke

Machinedrum, Vapour City, ist auf Ninja Tune/Rough Trade erschienen.

dbg176_20_27_musik.indd 25

25

19.09.13 16:34


176 — musik

Text Lea Becker

N icol asJa ar wirdDarkside "Aliens können nicht nein sagen"

"Psychic", der Titel eures gemeinsamen Albums, bedeutet so viel wie Medium oder Hellseher. Was hat es damit auf sich? Nicolas Jaar: In New York gibt es viele dieser sogenannten "Psychic Shops". Das sind Läden von Wahrsagern, die meistens ziemlich schäbig aussehen und dir für fünf Dollar aus der Hand lesen. Natürlich ist das fauler Zauber, aber gleichzeitig ... Dave Harrington: ... kann es auch große Auswirkungen haben.

Gemeinsam mit seinem langjährigen Tour-Gitarristen Dave Harrington hat Jaar das Album "Psychic" aufgenommen. Damit scheint das Thema für ein kurzes Tête-à-tête gesetzt. Im Interview erzählen die beiden von lebensverändernden YouTube-Videos, spirituellen Drumcomputern und ehrlichen Außerirdischen.

Wart ihr mal in einem dieser Läden? DH: Ich glaube, ich könnte damit nicht umgehen. NJ: Nein, ich auch nicht. Aber verstehst du, worauf ich hinaus will? Es ist so echt, aber gleichzeitig auch so artifiziell. Ich glaube, das ist die heutige Form der Spiritualität. Möglicherweise schaust du dir ein YouTubeVideo an und das verändert dein Leben. Wie unromantisch! Heute ist alles bloß ein "Psychic Shop". Welches YouTube-Video hat denn dein Leben verändert? NJ: Keins, aber ich könnte mir vorstellen, dass es das gibt. Oder sogar noch schlimmer: Jemand will etwas bei Google suchen, vertippt sich und stößt dadurch auf etwas, das sein Leben verändert. Das sind die Zeiten, in denen wir leben. Der Gedanke, so sehr mit Technologie verwoben zu sein, ist traurig. Trotzdem kann man eine echte spirituelle Verbindung dazu haben. Das ist eine ganz merkwürdige Dichotomie.

Vokabulars, seit ich sie zum ersten Mal gehört habe. Wenn Nico und ich miteinander arbeiten, dann tauchen solche Sachen plötzlich auf. NJ: Darkside ist anders als die Musik, die ich alleine mache. Dave hat seine eigene Welt und ich meine. Wenn sich das kreuzt, schaffen wir etwas Drittes, das ist Darkside.

Das Stück "Freak Go Home" beginnt mit Trommeln. Ich habe mich gefragt, ob das Voodoo-Trommeln sind. DH: Ich liebe haitianische VoodooTrommeln. Ich selbst hatte diese Assoziation zwar nicht, aber ich finde sie toll. Diese Trommeln sind Teil meines musikalischen

Worin liegt der Unterschied? NJ: Meine Musik ist interessiert an Frauen, am Tanzen und daran, einen Raum zu schaffen, einen Raum der Liebe könnte man sagen. Wenn wir gemeinsam Musik machen, geht es um Krach und Aggression und Sonne und Voodoo.

26

dbg176_20_27_musik.indd 26

Glaubt ihr an das Übernatürliche? DH: Ich glaube an Zauberei. NJ: Ich auch. Es gibt Dinge, die du nicht sehen kannst, Dinge, die du nicht weißt. Du könntest ja auch ein Alien sein. Bist du eins? Nein. NJ: Wenn man Aliens fragt, ob sie Aliens sind, dann sagen sie nicht nein. Das können sie nämlich nicht. Ich habe zu Leuten gesagt: Wenn du kein Alien bist, dann sag doch einfach nein. Sie konnten nicht. Aber wir schweifen ab. Das Übernatürliche an unserer Musik jedenfalls sind die kleinen Welten, die wir geschaffen haben. Kannst du diese Welten beschreiben? NJ: Die ersten vier Minuten zum Beispiel

klingen wie ein kaputter, stotternder Synthie. Da ist eine Maschine, die versucht, einen normalen Sound zu erzeugen und scheitert. DH: Wenn etwas kaputt ist, beginnt es ein Eigenleben zu führen. Ich habe ein Keyboard, das ich aus dem Müll gefischt habe. Man muss den Power-Knopf die ganze Zeit gedrückt halten, deshalb kann man nur mit einer Hand spielen. Außerdem hat jemand das ganze Ding mit weißer Farbe angemalt, so dass man nie genau weiß, welcher Ton herauskommen wird. Man muss damit kämpfen. Mögt ihr Geistergeschichten? DH: Mich interessiert Geisterfotografie, Bilder von schwebenden Frauen. Es gab dazu mal eine tolle Ausstellung in New York. Einige Bilder waren offensichtlich inszeniert, man konnte sogar die Schnüre sehen. Aber es gab auch andere Fotos, die mich echt schockiert haben. Wenn du unvoreingenommen genug bist, um solche Sachen überhaupt für möglich zu halten, kann das sehr eindrucksvoll sein. NJ: Aber das Wort "Psychic" umfasst ja noch viel mehr als die Kommunikation mit Geistern. Hellseher sagen dir vor allem die Zukunft vorher. So ähnlich soll unsere Musik auch funktionieren. Sie soll von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen. Was erzählt sie denn über die Zukunft? NJ: Das ist weniger interessant als der Weg, den das Album von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft geht. Das ist eine Geschichte. Es sind fünfzig Minuten, die mit einem kaputten Synthie beginnen und mit nichts als Stimmen enden. Der letzte Song besteht nur aus Stimmen, die nichts sagen, nur schreien. Es beginnt mit einer Maschine und endet mit der Stimme, das ist die Geschichte.

Darkside, Psychic, ist auf Matador/Indigo erschienen.

19.09.13 16:35


bermuda-berlin.de

bermuda-berlin.de

O6. 1O. NOV BerMuDa IST DAS FESTIVAL FÜR DIE SZENE AUS DER SZENE!

Wir interessieren uns nicht dafür, wie attraktiv oder innovativ wir sind im Vergleich zu Paris, London, oder Hintergarchel-Neuzassingen.

BerMuDa DAYS – Das sind die Tagesveranstaltungen. Die Konferenz, die Lesungen, der Fashionmarkt und vieles mehr in den Clubs der Stadt.

Uns interessiert die lokale Musikkultur, in der wir Leben und Arbeiten. Im November werden wir euch zeigen warum wir in Berlin nicht Ibiza oder Miami werden, sondern Berlin bleiben!

BerMuDa CONFERENCE – Das sind die De:Bug Musiktechniktage und das BerMuDa LAB im Ritter Butzke, bei justmusic und bei noisy.

2O13 dbg176_20_27_musik.indd 27

BerMuDa BOOKS – 5 Bücher in 5 Bars. Literatur zu elektronischer Musik und Berliner Clubkultur, gelesen von den Authoren. BerMuDa NIGHTS – Das sind die Nächte in Berlin. Das sind die Labelshowcases und Clubnächte, die Konzerte und Afterhours. BerMuDa CONCERTS – Konzerte mit elektronischem Einschlag in den teilnehmenden Clubs und Veranstaltungsorten - wir haben Großes vor!

19.09.13 16:35


176 — Future R&B

FutureR&B Auf den Spuren der gebrochenen Beats

28

dbg176_28_35_femrnb.indd 28

22.09.13 17:37


Text Wenzel Burmeier

Kelela

dbg176_28_35_femrnb.indd 29

Sie heißen FKA twigs (S.32), Jessy Lanza (S.34), Kelela und SZA. Sie vereint die Liebe zu Soul und seiner Dechiffrierung. W ir s te lle n eine neue Generation von Künstlerinnen vor, die, dem zwanzigjährigen Modezyklus folgend, auf den Spuren von Timbaland & Aaliyah wandeln und im eigenen Schlafzimmer experimentellen R&B mit modernster Soundästhetik machen. Drake und Frank Ocean schubsen sie dabei locker vom NewSoul-Thron. Mit Hang zum großen Pathos, super selbstreflektier t, jeder Menge Eklek tizismus und ohne Angst vor dem Mainstream. Nach über einem halben Jahrhundert aggressiver Körperlichkeit materialisiert sich ein neuer R&B als Nebel im Fliederduft.

176 — musik

A Als die millionenschwere R&B-Prinzessin Brandy die Bühne betritt, hat sie so wenig Publikum vor sich wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Als wären die neunzigtausend Besucher des "Nelson Mandela Sport and Culture Day" geflohen, vor den großen Scheinwerfern des Stadions, hinaus in die kalten Straßen von Soweto. Allein vierzig Leute stehen an diesem Abend im August noch vor der Bühne, sie sind wohl die einzigen, die über den Special Guest des Abends informiert wurden. Brandy muss über zwei Tracks lang dabei zusehen, wie sich die schillernde Popwelt früherer Tage vor ihren Augen auflöst. Nach zehn Minuten reicht es ihr und sie geht. Brandy gehört zu der Gruppe von Sängerinnen, die in diesem Jahr von ihrer eigenen musikalischen Vergangenheit überholt wurden. Sie ist ein Kind der 80er, aufgewachsen mit Gospel im Elternhaus, HipHop auf dem Pausenhof und schwarzem Pop à la Marvin Gaye, Michael Jackson und Sade auf den ersten HighschoolPartys. Den Status "Star" fest im Blick, machte sie sich mit Kolleginnen wie Aaliyah und Mary J. Blige Mitte der 90er-Jahre auf, um die amerikanischen Hitlisten zu erklimmen. Ihr Erfolgsrezept hieß R&B, ein Konglomerat aus HipHop und Soul, das auf beiden Seiten gleichermaßen verschmäht wurde, der Schwarzen Musik jedoch einen riesigen kommerziellen Höhepunkt bescherte. Nicht ganz ohne Nebenwirkungen wohlgemerkt. Schon der Namensvetter Rhythm & Blues aus den 40er-Jahren war kein gutes Omen - schließlich sah sich der junge Ray Charles mit dem Vorwurf konfrontiert, Gospel mit Hilfe von blasphemischer Erotik zu verunstalten. Die Anklage gegenüber der 90er-Generation lautete nun, die afroamerikanische Popmusik endgültig korrumpiert - ihr den letzten Rest Soul entzogen, in glitzernde Schale geworfen und billig verscherbelt zu haben. Neues Selbstbewusstsein Inzwischen ist die nächste Generation herangewachsen. Sie weiß wie es um R&B wirklich steht. Sie ignoriert die ewig gleiche Kritik am Soul von der Stange, denn sie kennt das Potential des Pathos von Brandy und Co. Schließlich ist sie damit aufgewachsen, es ist für sie fester Bestandteil einer identitätsbildenden Popkultur. Vor allem aber weiß sie um das eigentliche Problem ihrer Vorgängerinnen, das weniger das fehlende Gesangstalent als vielmehr die fehlende Selbständigkeit war, die das große Pop-Business

29

24.09.13 12:17


176 — Future R&B

»Kelela ist im großflächigen Black-Music-Club etwa so gut aufgehoben wie David Guetta in der Panoramabar. Ihr Sound ist eine Symbiose aus Witch-House, Grime, UK Bass und souligen Vocals. Und genau die atmen den Geist von Ella Fitzgerald und Aaliyah.«

ihnen einfach nicht bieten wollte. Zu häufig waren Künstlerinnen weniger Künstlerinnen denn austauschbare Puppen, die dem Track eines Produzenten als Hülle dienten. Selbst im Fall der posthum zur "Queen of R&B" gekrönten Aaliyah ist es letztlich die Hand von Über-Produzent Timbaland, die ihrer Musik bis heute zu hohem Ansehen verhilft. Die fehlende künstlerische Freiheit also ist der Feind, um den die R&B-Jüngerinnen wissen. Also nehmen sie sich nun dem Erbe ihrer Vorgängerinnen an. Um das fortzuführen, was Frank Ocean und The Weeknd vor zwei Jahren bereits losgetreten haben: das marode Genre im eigenen Schlafzimmer unter den Vorzeichen einer selbstreflektierten - wenn auch nicht immer heiteren - Zukunft einmal kräftig umzukrempeln. Dabei sollen aber nicht die letzten brauchbaren Essenzen des R&B auf ironisch reflektierte Art und Weise herausgefiltert und für einen eingeweihten Kreis an Kulturkritikern aufbereitet werden. "Fuck the underground!" brüllte Kelela kürzlich im Guardian. Kelela Mizanekristos ist vor drei Jahren ihrer Heimat, den Suburbs von Washington DC entflohen, um in Los Angeles nach einem Jahr Selbstzweifel zuerst im Studio der hocherotischen R&B-Brüder Inc. und anschließend auf dem aktuellen Album von Teengirl Fantasy zu landen. Nun steht Kelela an der Front dieser neuen Girlpower im R&B, die ein ziemlich schizophrenes Verhältnis zur Massenkultur pflegt. Zusammen mit ihren Produzenten - oder besser: Kollaborateuren - aus dem "Fade To Mind"-Umfeld aus Los Angeles bastelt Kelela an Tracks, die im großflächigen Black Music Club etwa so gut aufgehoben sind wie David Guetta in der Panoramabar. Ihr Sound ist eine Symbiose von Witch-House, Grime, UK Bass und souligen Vocals letztere gingen bei Ella Fitzgerald und Aaliyah gleichermaßen in die Schule und bilden die Antithese zu den glitchigdüsteren Produktionen von Nguzunguzu, Kingdom, Fatima Al Qadiri, Bok Bok und Co. Ähnlich eklektisch und weird ist auch der Entwurf von Solana Rowe alias SZA, der 23-jährigen Sängerin aus New Jersey: dunkle, verhallte Bass-Monster mit dreckigen Südstaaten-HipHop-Drums treffen bei ihr auf schmierige Flächen und zuckersüße Vocals. Future-R&B, für den nun passenderweise auch noch Clams Casino und der gesichtslose Tri-Angle-Produzenten Holy Other angeheuert wurden.

Dass ihr Sound obskur ist, ist den beiden Damen bewusst. Wenn sie den Leuten im Club damit vor den Kopf stießen, mache sie das erst so richtig glücklich, erzählte Kelela kürzlich in einem Interview mit Radiohost Benji B. Und wenn das letztendlich gar nicht so viele fühlen? Auch egal. Aber indie sein? Auf gar keinen Fall! Das Ende des Underground Womöglich ist es der längst überholte Mythos des Undergrounds, den die selbstbestimmten Sängerinnen entlarvt haben. Lange schon sind auch die kleinsten Ausformungen der großen Spielarten, die einmal als Subkulturen verstanden wurden, in einem feingliedrigen Netz der Industrie aufgegangen und kommerziell erschlossen. Anders gesagt: Die Subkultur ist eh der viel bessere Mainstream. Die neue Generation hat das erkannt. Eine Abgrenzung vom Pop für die Massen haben sie überhaupt nicht nötig. Da pflichtet auch die Kanadierin Jessy Lanza bei. Sie verabscheut den Begriff "Indie R&B" und das, obwohl sie gerade erst bei der britischen Trendmaschine Hyperdub untergekommen ist. Dass auch Lanza die große Öffentlichkeit eher sucht als scheut, macht sie nun mit ihrem Debüt "Pull My Hair Back" deutlich - glatter und offensiver Pop, der das Morgen aberwitziger Weise aus der großen Retrospektive schöpft. In Zusammenarbeit mit Jeremy Greenspan von den Junior Boys vermählt sie 70er-Disco, 80er-ElectroFunk, House und Dubstep mit dem R&B der späten 90er und läutet selbstbewusst dessen Zukunft ein: "Ich möchte, dass Leute mein Album als R&B-Platte wahrnehmen. Aber eher als Fortsetzung, nicht als Revival", sagt sie im Guardian-Interview. Wesentlicher Bestandteil von Jessy Lanzas Zukunftsentwurf ist ihre künstliche Inszenierung. Während Kelela und SZA ihren verschrobenen Sound mit geradezu Erykah-Badu-artiger Natürlichkeits-Attitüde präsentieren, ist das Bild der Lanza weitaus diffuser. Als verhalltes Säuseln schwebt ihre Stimme über das ganze Album hinweg, nur schemenhaft zeigt sich die Sängerin, häufig bleibt sie im Hintergrund, wie ein Geist, der über die Produktionen fliegt. Dazu kommt das Auftreten der Kanadierin, die in ihrem herauspolierten Kleidchen und der perfekt anliegenden Dauerwelle geradezu gecastet wirkt. Diesem "Florence + the Machine"-Verschnitt würde man das große Erbe der schwarzen Musiktradition nun wirklich nicht freiwillig anvertrauen.

Wenn Lanza also gar die identitätslose R&B-Puppe ist, die in ihrem geisterhaften Moment den längst fälligen Kommentar zur Industrialisierung der Frauen im R&B liefert, dann darf sie auf Unterstützung von FKA twigs bauen. Die neueste britische Hoffnung aus dem Hause Young Turks ist schließlich die Inszenierung in persona. Eine zierliche Puppe, glaubt man dem Video zu "Water Me" - der Nahaufnahme ihres hin und her wippenden Kopfes mit den filigran geflochtenen Zöpfen, den Hasenzähnen, den knallroten Lippen ihres viel zu kleinen Mundes und den hochgeschlagenen Wimpern ihrer viel zu großen schwarzen Augen, denen eine diamantene Träne entrinnt. Dazu gibt es ein paar Textzeilen über das Verhältnis von Materialität und Liebe, die schon in ihrer gleichmäßigen Wiederholung total surreal wirken. Spätestens mit dem Einsatz der mehrfach gedubbten und gepitchten Stimme von twigs sind die Vocals an Künstlichkeit kaum noch zu übertreffen. Serviert wird das ganze auf einer dunklen und schleppenden Produktion von Arca, der zuletzt durch seine Mitarbeit an Kanye Wests krankem Album "Yeezus" auffällig geworden ist. Für twigs' neue EP hat er bei Massive Attacks "Mezzanine" mindestens genau so gut hingehört wie bei Janet Jacksons "Velvet Rope". Es ist die spielerische Gradwanderung zwischen funktionellem Pop und noisy Produktionen, die in twigs' Musik so zentral ist und die R&B seinen Weg in eine selbstbestimmte Zukunft ebnet. Diese ganze Generation reflektiert ihr musikalisches Erbe, sie nimmt den Überkitsch ernst und weiß im gleichen Moment so spielerisch damit umzugehen, dass den Grazien der 90er-Jahre schwindlig werden dürfte. Diese Frauen haben von Beyoncé gelernt. Sie greifen nicht nur ihre moderne Version von Soul auf, sondern bieten vor allem auch ihrem feministischen Engagement eine würdige Fortsetzung. Während Beyoncé als Ehefrau und Mutter in einer HBO-Reality-Show nämlich auf erschreckende Weise in den konservativen Strukturen der Unterhaltungsindustrie aufgeht, nehmen sich diese Frauen ihrer Inszenierung selbstbestimmt an. Sie alle entwerfen ihr ganz eigenes Future-R&B-Hybrid und wissen dabei aus den glitzernden Pop-Momenten ihrer Vorgängerinnen zu schöpfen, ohne dem industriellen Marionettenspiel auf der großen Bühne zu verfallen. Der R&B der Zukunft braucht keine neunzigtausend Zuschauer. Er ist in seiner selbstbewusst inszenierten Pose schon so groß, dass er auf die vielen grellen Scheinwerfer getrost verzichten kann.

30

dbg176_28_35_femrnb.indd 30

22.09.13 17:37


176

SZA

dbg176_28_35_femrnb.indd 31

31

22.09.13 17:38


Text Oliver Tepel

Sie singt traurige Lieder, über deren Befindlichkeiten man sich gerne in Zwischenwelten mit Wölfen und Fledermäusen austauscht. Oliver Tepel zeichnet Fluchtbewegungen von Wave-Muff über Massive Attack zu einer Aaliya, der dieser neue Sound sehr gut gefallen hätte. Die Spannung im klingenden Federwerk versiegt, mit ihr erstirbt das Ticken der Uhr. "I found another way to caress my time", seufzt eine Stimme als letzte Botschaft für eine verlorene Affäre. So lernten wir twigs kennen. Nicht im Club, sondern irgendwo im Netz, der Track "Hide", ihr erster Upload. Dass sie nicht gerne ausgeht, davon hat die 25-jährige Wahllondonerin seit dem berichtet, auch von ihrer Tanzausbildung weiß man und steht mit den Wissen dumm da. Der hippste und stylischste Star in the Making als Eigenbrödlerin? Anders als die ganz junge Kate Bush hat twigs keine Zeit bekommen, ein Landmädchen-Image zu erschaffen. Man sieht sie nicht in einem holzvertäfelten Bauernzimmer auf ihrem Bett den eigenen Gedanken von charmanten Wölfen, naseweisen Fledermäusen und rätselhaften Zwischenweltwesen nachhängen. Stattdessen prangt sie Ende August 2012 direkt auf dem Cover der "Just Kids Issue" von i-D. "Love" haben die Stylisten aus ihren Haaren auf ihre Stirn modelliert. Und ja, "Love is the Message", zweifelsohne - doch eine Liebe, über deren Befindlichkeiten man sich vielleicht doch gern mit Wölfen und Fledermäusen in Zwischenwelten austauscht. Was haben die aber bitte im R&B zu suchen? Ende 2012 begann sich ein neuer R&B als graue Wolke oder Nebel im Fliederduft zu materialisieren. Nach über einem halben Jahrhundert aggressiver Körperlichkeit - was blieb ihm auch sonst übrig? Sein letzter Entwicklungsschub in den späten 90ern eroberte weltweit die Charts und verkümmerte doch alsbald zur trällernden Beyoncé-Operette. Doch die Errungenschaften des Cyber-R&B, die ungeraden Beats und manieristischen Gesangsstile sind nun alt genug, um weitergereicht zu werden. Irgendwie scheint sich der Kreis zu schließen, den Aaliyah einst zog, als sie, so die Legende, aus London heimgekehrt und ihrem Kumpel Timbaland die Breakbeats der dortigen Clubszene nahebrachte. Wie gut, dass alle Assoziationsspiele mit "futuristisch" längst in seinem und Missy Elliotts Werk durchdekliniert wurden - damals, in den späten 90ern, als Aaliyah erstmals der Körperlichkeit des R&B Gesangs entsagte. Langsame Beats zu verhangenen, fast ambienten Sounds, sie retten HipHop und stehen Pate, wenn atemnahe oder echoferne Stimmen den R&B in etwas Neues verwandeln. Dieses Neue sucht keine feste Substanz. twigs' erste, selbstherausgebrachte EP beeindruckte mit eisblumiger Fragilität und Transparenz, nur sporadisch von DubstepBässen an den Rand einer Tanzfläche geführt. Nein, sie will sich nicht materialisieren. Für ihre zweite EP, die kürzlich auf Young Turks erschien, nennt sie sich FKA twigs - formerly known as - rätselhaft, doch zugleich profan: Ein anderer hatte den Namen "Twigs" schon okkupiert. Dabei passt es: Ihre membrandünne, leicht gelispelte, aber nie scharfkantige Stimme scheint sich fortwährend aufzulösen. Wenig lässt erahnen, wie sie als Teenie für HipHop-Freunde Refrains eingesungen hat. Nun haucht sie Ansätze zartester Melodien über plastische, zugleich kaum bewegliche Soundflächen, dazu

32

dbg176_28_35_femrnb.indd 32

FKA twigs Mechanische Melancholie

FKA twigs, EP2, ist auf Young Turks erschienen.

wieder diese Rhythmen der Alltagsgeräusche, gleich einem Ticken der Uhr. Das Knarzen einer Tür, ein Stakkato-Prasseln wie von Ping-Pong-Bällen oder das Klackern eines zum Teil auf dem Tisch aufliegenden, zum anderen Teil frei schwingenden Messers. Nervgeräusche, solche, in die sich im Allgemeinen kleine Jungs verlieben. Zumindest auf "Water me" ist wirklich ein junger Mann auszumachen: Alejandro Ghersi aka Arca aus Caracas. Der längst in Brooklyn lebende Venezuelaner hat sich mit Produktions-Credits auf der neuen Kanye West einen Namen gemacht: Beats, die wie ein morsches Holzhaus zusammenbrechen um sich transformergleich noch im Sturz neu zu formieren. Plötzlich rattern sie los und überholen kurz alle Ideen von einem Song bis sie sich beruhigen. Da ist es wieder, das Ticken von "Hide", es beschreibt nun die genau umgekehrte Situation: "He won't make love to me now - Not now I've said the thing". Im Clip

zu "Water me" wackelt FKA twigs Kopf gleich einem traurigen Metronom. Rote Lippen, goldener Schmuck und ellenlange Wimpern als mechanischer Apparat? Oder das Geschöpf eines mitleidenden de Sades, vielleicht ein Alien, dessen Augen, nachdem sie eine kristall'ne Träne weinten, ins riesenhafte anschwellen. Oder doch nur das etwas einsame Mädchen aus Gloucestershire? Dabei steht sie nicht allein. Die Wave-Veteranin, gar ehemalige Grungerin, Alice Cohen verknüpft R&B mit der Giallo-Horror-Romanik Goblins und lässt sich vom hippen Alternative-R&B-Darling Autre Ne Veut begleiten. Andy Stott vertraut der Stimme seiner ehemaligen Klavierlehrerin Alison Skidmore und schafft mit ihr schwebend-abstrakten R&B. Noch zarter, zugleich etwas näher am HipHop sind die Stücke von Paco Sala mit Leylis, somnambul schwelgender

22.09.13 17:38


176 — Future R&B

»Keiner wagt sich derzeit so weit in das Unbekannte wie die schüchterne Tänzerin aus der Provinz.«

Gesang. Düsterer wieder erscheint der Experimental-R&B des kanadischen Duos Evy Jane. Ein ganzer Fächer neuer Sounds, der sich in den letzten Monaten mit jedem neuen Stück von Jessy Lanza, Kid A oder SZA weiter aufspannt. Der Österreicher Sohn, eine der wenigen Aufsehen-erregenden männlichen Stimmen dieses neuen R&B wurde von 4AD gesignt. Wink mit dem Zaunpfahl? Gothic + R&B - ein konfliktreiches aber beharrliches Zusammentreffen. Von DiscoGesten bei Bauhaus über die vor Kraft strotzenden, aber oft etwas ungelenken Sounds der "Funky Alternatives", bis zur groovenden Leichtigkeit, welche 400 Blows oder Colourbox irgendwann hinbekamen. All das waren Fluchtbewegungen aus dem Wave-Muff. Jene, die in This Mortal Coils elegischer Schwermut verharrten, die ewigen Nachtgespenster, wurden zurückgelassen. Dann klopften sie wieder an und bekamen bei Massive Attack und Tricky endlich auch ihren Beat. Nun sind sie erneut zurück, um dem ausgezehrten R&B etwas zu geben. Leben? Bodenhaftung? Wie seltsam. Aber irgendwo dort in der Twilight Zone müssen wir uns wohl aufhalten, wenn FKA twigs "How's that feel?" fragt und mit den Sounds durch die Dunkelheit zieht. "That feels good, so so amazing" schwärmt sie, sich verliebt irgendwo niederlassend, nur einen Moment. Keiner wagt sich derzeit so weit in dieses Unbekannte wie sie, die schüchterne Tänzerin aus der Provinz. Sie bittet: "Won't you pacify my love?" - schöne Widersprüche, unauflösbare Dramen. Am anderen Ende des Spektrums finden wir Jhené Aiko, die sich Schritt für Schritt vom routinierten R&B entfernte, wenig mit FKA twigs gemein hat, außer einem fragilen, sehr persönlichen Ton aus Ängsten, Zweifeln und Wünschen, die sich nicht mit Geld erfüllen lassen. Es war wohl einfach an der Zeit für diesen neuen Klang, der heute weit radikaler scheint, als das oftmals zu eindimensionale "consciousness" Gepose des Retro-Souls der 90er. Den Reiz, etwas nicht erreichen, nicht besitzen zu können. Kurzum eine komplette Pop-Antithese. Vielleicht ist es das, was FKA twigs ausmacht: Es ist nicht mal klar, was sich verflüchtigt, das Ziel oder sie selbst. Aaliyah, nicht nur als Vampirin Akasha in "Queen of the Damned", würde all das sicher sehr gut gefallen.

dbg176_28_35_femrnb.indd 33

22.09.13 17:38


176 — Future R&B

bild Tim Saccenti

Jessy Lanza "Das ist ein Generationending"

interview Bianca Heuser

Das Debütalbum von Jessy Lanza auf Hyperdub verbindet sexy R&B mit tanzbarer Elektronik, und hat dabei genauso wenig Angst vor Pop wie davor, dessen Potential nicht komplett auszuschöpfen. In neun sanften, starken, hypnotisierenden Stücken funkelt die Vielseitigkeit der Kanadierin und ihrer klaren, schönen Stimme. Nach dem Studium des Jazzklaviers in Montreal und etwas Zeit in Toronto zog Jessy Lanza in ihre Heimatstadt Hamilton zurück, die anstelle horrender Mieten ein überschaubares, aber inspirierendes Netz von Künstlern und Musikern bietet. Teil dessen ist unter anderem ihr alter Freund Jeremy Greenspan, besser bekannt als eine Hälfte der Junior Boys, mit dem sie zwei Jahre an "Pull My Hair Back" arbeitete. Lass uns über dein Jazzklavierstudium sprechen. Was ich hauptsächlich daraus mitgenommen habe, ist die Fähigkeit, anderer Leute Lieder zu lernen. Einen Song hören und auseinander nehmen zu können, die Akkorde zu erkennen: Das hilft mir selbst sehr beim Schreiben. Wenn ich eine Schreibblockade habe, spiele ich ein paar Akkorde, die ich schon kenne, und entwickle daraus etwas Neues. Es ist auch cool, einem Song so anhören zu können, was ihn wirklich gut macht. Meistens ist es ein lächerlich einfaches Detail, das man schon aus 100 anderen Songs kennt, zu denen es nie so gut gepasst hat. Das beste Songwriting ist für gewöhnlich auch das einfachste. Wegen seiner Einfachheit ist Pop schließlich auch so beliebt. Oder R&B. R&B höre ich schon mein ganzes Leben. Die ersten Tracks, an denen Jeremy und ich zu Beginn arbeiteten, waren eher Dance-Tracks. Es hat ungefähr ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, dass wir eigentlich R&B machen wollten. Und dann zwei Jahre um das Album zu schreiben. Aber genau diese Musik höre ich wirklich am liebsten. Ich freue mich, dass mein Album das nun auch widerspiegelt. Woher kommt diese Vorliebe? Ich glaube, die rührt aus meinem Jazzstudium. Die Akkordfolgen sind im R&B sehr ähnlich. Außerdem waren R&B-Sänger immer meine Lieblingssänger. SWV oder New Edition: Das gefiel mir vor allem auch wegen dieser beeindruckenden, einnehmenden Stimmen. Und der inhaltlichen Simplizität ihrer Vocals? Gefühle sind im R&B recht überschaubar: Liebe, Sex, Traurigkeit. Diese Einfachheit finde ich sehr anziehend. Wie schreibst du eigentlich deine Texte? Ich persönlich tue mich damit eher schwer. Wenn ich etwas Bedeutungsvolles schreiben möchte, klingt das am Ende ziemlich erzwungen oder gekünstelt. Darum nehme ich meist viele Takes auf, und füge die am nächsten Tag in einer Art Cut-Up zusammen. Das ergibt meistens textlich nicht viel Sinn, dafür gefällt mir der Klang besser. Den Klang von ausgefeilten, durchdachten Lyrics finde ich meistens ziemlich schwierig. Und ich bin auch noch besonders schlecht darin, solche zu schreiben.

34

dbg176_28_35_femrnb.indd 34

Jessy Lanza, Pull My Hair Back, ist auf Hyperdub/Cargo erschienen.

Mit dieser Technik hat dein Song "Kathy Lee" schon Verwirrung gestiftet. Geht es darin tatsächlich um Kathie Lee Gifford, die Talkshow-Moderatorin? Ich finde die Idee ziemlich lustig, einen Song über sie zu schreiben, entstanden ist das Lied aber auf andere Art. Kennst du dieses Sports-Illustrated-Model Kate Upton?

22.09.13 17:38


176

»Mit Frauen wird doch besonders hart ins Gericht gegangen. Es ist schwer, wenn man als Frau den Erwartungen der Kritiker nicht entspricht - zum Beispiel Instrumente spielt oder sein eigener Produzent ist.«

Es gibt ein Video von ihr und Terry Richardson auf YouTube, das ist schon ein paar Jahre alt, indem sie den so genannten "Cat Daddy" tanzt. Es ist wirklich ein bisschen eklig, weil sie nur diesen winzigen Bikini trägt und ihre riesigen Brüste dabei so hüpfen, aber es ist auch total hypnotisierend. Und verrückt: 18 Millionen Views hat dieses Video von einem herumtanzenden Mädchen. Jedenfalls stellt er sie am Anfang vor und sie den "Cat Daddy", was auch immer das sein soll, und dieser Moment, in dem ihre Stimmen ineinander übergehen, klingt so wie ich ihn geloopt habe, einfach wie "Kathy Lee".

dbg176_28_35_femrnb.indd 35

Wo wir gerade bei der merkwürdigen Darstellung von Frauen in den Medien sind: Wie fühlst du dich denn in deiner Rolle in der Musikindustrie? Ich mache zwar schon lange Musik, aber für dieses Album gebe ich zum erste Mal wirklich Interviews. Aus den wenigen Erfahrungen heraus, die ich bisher gesammelt habe, kommt mir das ziemlich hart vor. So oder so ist Kritik schwer auszuhalten, aber mit Frauen wird doch besonders hart ins Gericht gegangen. Vor allem ist es schwer, wenn man den Erwartungen der Kritiker nicht entspricht, also wenn man zum Beispiel Instrumente spielt oder sein eigener Produzent ist. Viele gehen davon aus, dass ich singe und Jeremy für die Produktion verantwortlich ist. Das ist wirklich dumm. Und das stellt niemand in Frage! Aber ich glaube, dass diese Leute sich auch korrigieren lassen. Wenn du denen sagst, dass du auch produzierst, wird ja keiner sagen: "Nee, tust du nicht." (lacht) Aber du scheinst immerhin mit den richtigen Leuten zu arbeiten, die keinen Hang zum Patronisieren haben. Auf jeden Fall. Anders ginge das auch gar nicht. Ich kenne Jeremy schon seit wir Teenager waren. Matt, der zweite Junior Boy, hat eine kleine Schwester, die immer meine beste Freundin war. Da gibt es keine Hierarchien. Und genauso lief es auch mit Hyperdub: Der Labelchef Kode 9, Steve Goodman, quetschte Jeremy über seine aktuellen Produktionen aus und als er unsere Sachen hörte, gefielen sie ihm. Jeremy erwähnte, dass wir nach einem Label suchen, und Steve sagte nur: "I’ll put that out." Wir waren beide recht verwirrt, haben uns aber auch irre gefreut. Steve steht

einfach auf interessante Musik. Und obwohl mein Album auf jeden Fall R&B ist, ist es kein gewöhnlicher Pop, etwas ist immer leicht off. R&B scheint derzeit wieder an Beliebtheit zuzulegen. Bands wie Inc., Rhye oder FKA twigs zeigen sich, genau wie du, massiv von diesem Sound beeinflusst. Woher kommt das? Diese Bands haben auf jeden Fall einen ähnlichen Vibe, der klar vom R&B der 90er geprägt ist. All diese Sachen haben wir als Jugendliche auch gehört und obwohl ich nicht für alle sprechen kann, hängt zumindest meine Vorliebe für R&B stark damit zusammen. Unter vielen Umständen geht man zu dem zurück was man kennt, zu Dingen, mit denen man aufgewachsen ist, die man als Teenager wirklich liebte. In diesem Sinne haben wir sicher alle einen ähnlichen popkulturellen Hintergrund. Das ist meine einzige Erklärung: Dass es einer dieser Zyklen ist, fast ein Generationending. All das ist jetzt lang genug her um zurückzukommen. Und trotzdem schauen Leute immer noch auf das ganze Genre herab. Ja, das verstehe ich überhaupt nicht. Was für Unterhaltungen ich schon über "echte Musik" führen musste! Manche Leute haben anscheinend ein Problem mit Musik, die nur mit elektronischen Mitteln produziert wurde. Dass man eine Steckdose oder Computer braucht, um Musik zu machen, regt diese Leute unheimlich auf. Zum Glück will mittlerweile keiner von denen mehr mit mir darüber sprechen. Das spart unheimlich viel Energie.

22.09.13 17:38


176 — musik

LaurelH

Ganz und gar n pessimistisch

36

dbg176_36_37_halo.indd 36

Laurel Halo, Chance of Rain, erscheint auf Hyperdub/Cargo

20.09.13 12:38


176

Text Philipp L'heritier

lHalo

ar nicht ch

Man übertreibt nicht groß, wenn man Laurel Halo eine der interessantesten Künstlerpersönlichkeiten der letzten Jahre nennt. Die in Brooklyn ansässige Produzentin, Musikerin und - nicht zuletzt - Sängerin hat bislang mit Veröffentlichungen für Labels wie Hippos in Tanks und Hyperdub ihren Aktionsradius zwischen bleepiger Elektronik, Ambient und dubbigen Forschungen am Grunde des Aquariums weit gesteckt. Ihr 2012 erschienenes Album "Quarantine" war eine karge, jeder bekannten Welt entrückte Versuchsanordnung von Schmirgel-, Brumm,- und Fiep-Geräuschen, überlagert von windschief inszenierten, in jeder Faser porös tönenden Stimmen. "Quarantine" war ein Album des vergangenen Jahres, nun erscheint unter dem Titel "Chance Of Rain" abermals bei Hyperdub - der zweite, wieder sehr gute Longplayer von ihr. Nach dem verspukten Minimalismus des Vorgängers nähert er sich dem Dancefloor an – und verzichtet auf Gesänge. Es scheppert blechern, die Beats sind aus scharfkantigem Eis gehauen. Das Distinktions-, um nicht zu sagen, Alleinstellungsmerkmal deines letzten Albums "Quarantine" war deine Stimme und dein Umgang mit ihr. Seltsam unbehandelt klang die da, kaum technisch nachgebessert, wie man es heute ja von so gut wie jeder Pop-Produktion kennt. Und manchmal wurde sie brüchig, oder du hast dich mit ihr aus einem dir angenehm wirkenden Spektrum hinausbewegt. Gerade, dass deine Stimme wenig bearbeitet war, ließ sie aber noch futuristischer erscheinen. Das "Echte" klang außerweltlicher als das "Künstliche". Für mich klangen die Vocals auf dieser Platte in gleichem Maße echt und artifiziell. "Echt" in dem Sinne, dass unbearbeitete, direkte Vocals nicht durch massiven Einsatz von Delay oder Hall zu einer Art kosmischem Ort emporgehoben wurden, sondern schlicht so etwas sind wie lautere Versionen deiner eigenen Gedanken. Aber genauso "künstlich": Es gab kaum eine technische Nachbearbeitung, die den Vocals den Effekt verliehen hätte, in einem echten, natürlichen Raum zu existieren. Sie klingen also so, als befänden sie sich in einem Vakuum. Ein bisschen erinnert mich der Sound an die Voyager Golden Records

» Es geht nur darum, wie die Musik klingt, welche Stimmung, welche Ideen und was für einen Flow sie hat. «

dbg176_36_37_halo.indd 37

(Anm: Datenplatten, die an Bord der beiden Raumsonden Voyager 1 und 2 angebracht sind, als mögliche Botschaften für etwaige außerirdische Lebensformen) echte Musik, die an einem Ort, in einem "Space" existiert, der möglicherweise nie gehört werden wird. Ist das etwas, das dich in deiner Arbeit beschäftigt? Diese alte, vielleicht manchmal bloß behauptete Dichotomie "Authentizität/Realness" vs. "Künstlichkeit"? Die Idee der Authentizität ist heutzutage interessant, weil sie sich verändert – die alten Kanäle der ästhetischen Produktion und Distribution sind tot und es gibt keine richtige und keine falsche Antwort. Beide Positionen können dasselbe sein, "authentisch" kann sehr "artifiziell" sein, und vice versa. Wie sehr bestimmt das Equipment deine Tracks? Das neue Album ist Maschinenmusik. Aber vielleicht ein bisschen fucked durch die Bedienung von Menschenhand. Ich habe mein Live-Setup verwendet, um Sampleund Percussion-Sequenzen herzustellen; während ich aber im Live-Kontext die Tracks komplett spontan und im Moment zusammenbaue, habe ich dieses Mal im Studio zwar improvisiert, danach die einzelnen Teile aber mit einer konkreten Vorstellung, wohin die Sache führen soll, neuangeordnet und arrangiert. Die Sounds, die Stimmung und der Flow kamen zuerst und diktierten danach die finalen Strukturen. Der Album-Opener nennt sich "Dr. Echt". Was hat es mit dem Wort "echt" auf sich? "Echt" ist eines der wenigen nützlichen deutschen Worte, die ich kenne! Dein neues Album klingt roher, improvisierter und nicht so konstruiert wie frühere Produktionen. Würdest du sagen, dass "Chance of Rain" auch deutlich finsterer, vielleicht gar pessimistischer ist? Die Platte ist ganz und gar nicht pessimistisch. Ich weiß nicht, warum dieses Wort jetzt schon immer wieder auftaucht! "Chance of Rain" hat eine dunkle Färbung, ist aber gleichzeitig von einer ziemlichen freudigen Stimmung geprägt. Ist es dir langweilig und muffig über Gear und Equipment zu sprechen? Manch ein Produzent scheint eine Religion daraus zu machen, dass er ausschließlich die exklusivsten Vintage-Synthesizer verwendet. Ich liebe es, mit Freunden über Geräte zu sprechen! Wie mein Traumstudio aussehen würde – das ist ganz und gar nicht langweilig! Großartige Musik kann auf alle möglichen Arten entstehen. Manche der besten Tracks sind mit der 909 oder der 303 gemacht worden, manche mit billigen

Casio-Keyboards, manche mit Fruity Loops. Es geht nur darum, wie die Musik klingt, welche Stimmung, welche Ideen und was für einen Flow sie hat. Ob die Musik eine Identität hat. "Quarantine" hat zwar zu großen Teilen gute bis allerbeste Kritiken bekommen, hat aber auch verstörte bis ablehnende Reaktionen provoziert. Bist du davon überrascht, dass Hörer sich noch in diesem Maße überrascht zeigen können, wenn eine Künstlerin Material veröffentlicht, das ein wenig unerwartet ist? Oder empfandest du "Quarantine" gar nicht als so großen Bruch mit deinen früheren Arbeiten? Es ist nur natürlich, dass die Menschen von einem Künstler das hören wollen, was sie schon zuvor gehört haben. Ich will aber niemals dieselbe Platte zwei Mal produzieren. Vor "Quarantine" hatte ich zwei von Beats dominierte Platten veröffentlicht, weshalb das Album vielleicht für manche ein harter Übergang gewesen sein könnte. Genauso hatte ich davor aber auch eher Ambient- und Vocal-lastige Musik veröffentlicht, mir schien die Platte daher nicht als so großer Bruch. Bist du eine schnelle Arbeiterin? Nein, im Gegenteil. Ich bewundere Produzenten, die Tracks ganz einfach schnell fertigstellen und veröffentlichen können. In den letzten ein, zwei Jahren ist viel die Rede gewesen von einer so genannten "neuen Welle" weiblicher Musikerinnen im Feld der Elektronik: Grimes, Maria Minerva, Stellar Om Source, du selbst, you name it. Ein Diskurs, der es sich teilweise sehr einfach gemacht hat und oft, wie ich finde, herablassend und sexistisch ist. Mit der Losung: "Wow! Schau mal, Frauen können auch Maschinen bedienen und Kunst und Musik machen!" Die schreibende Zunft wird schon dahinterkommen, dass so eine Sichtweise langweilig ist und dass Frauen in der Geschichte der elektronischen Musik durchwegs präsent gewesen sind. Es ist wichtig, zuallererst über den Sound einer Künstlerin oder eines Künstlers zu sprechen. Natürlich existiert sehr viel Doppelmoral und allgemeiner Bullshit, wenn man kein weißer, heterosexueller Mann ist, das ist wahr, Punkt. Ich bin aber überzeugt, dass killer Musik mit Identität und Seele immer ihren Weg finden wird, und dass Frauen sich durch einen Mangel an Repräsentation nicht entmutigen lassen sollten. Sie sollten sich darauf konzentrieren, fantastische Musik zu machen, die danach verlangt, live und auf Platte, gehört zu werden.

37

22.09.13 13:49


176 — festival

Text Michael Döringer bild Marc Sethi

Alles ist erleuchtet Dimensions Festival

Wir waren dieses Jahr auf jedem Festival, und jetzt kommt die Siegerehrung: Erster Platz geht an Kroatien. Auf dem neuen Ibiza zeigt das Dimensions, dass es mit vergleichweise wenig Tickets, durchdachtem Lineup und historischer Kulisse besser läuft als im eingefahrenen Rave-Tourismus. Kroatien, wir haben es getan. Das Offensichtlichste, was ein Techno-Tourist in seinen Sommerferien 2013 machen konnte, bei all diesen Angeboten. Warum es ausgerechnet das Dimensions Festival wurde, weiß natürlich Mario, der uns mit bleiernem Fuß und lockerem Mundwerk vom Zagreber Flughafen Richtung Pula chauffiert. "Fünf Tage Outlook - Hardcore! Dimensions - subba!", deklamiert er, als wir die hügelige Küste Istriens nach unten sausen, und meint damit natürlich, wie stressig die Festivals für ihn als Fahrer eines DJ-Mobils sind. Für das Dimensions, den noch jungen, fast reinrassigen Techno- und Houseableger der etablierten Dub-Mutter Outlook, waren in diesem Jahr gerade mal 6.000 Tickets im Angebot. Das ist nicht viel in Relation dazu, dass für dieses Wochenende das Who-IsWho aus Detroit, UK und dem erweiterten Berlin in den charmanten Urlaubsort an der oberen Adria eingeflogen wird. "Underground" schreiben sich die Veranstalter auf die Banner, und das ist insoweit korrekt, als dass die wirklich ganz ganz großen Namen fehlen, die auch jeder musikferne Mensch unter 30 schon mal gehört hat. In jedem Gespräch muss poor Richie als Symptom für ein zu großes, überkommerzielles Festival herhalten.

Es stehen uns vier Festivaltage bevor, wie man sie selten erlebt. Überwältigt von Perfektion und Understatement, Komfort und Schönheit. Bestimmt geblendet von der heißen Spätsommersonne und dem warmen Meer, von zu viel tiefenentspannter Urlaubsstimmung an einem Ort, den man zuletzt im Schleifzug der Eltern erlebt haben könnte, von einem netten, spießbürgerlichen Kompakttourismus, den man sich als urbanes Computerbleichgesicht gar nicht mehr vorstellen konnte. Man verdödelt die wunderschönen Tage am Meer und erklimmt nachts das hügelige Fort Punta Christo, mit seinen grünen Burggräben und mittelalterlich gemauerten, bunt beleuchteten Arenen und Gewölben. Und eventuell schiebt man zwischendurch eine nicht übertrieben fancy Bootsparty ein und schippert mit Bassdrum-Antrieb durch die Bucht. Was will man mehr, außer, und zwar wie immer und überall, dass das Bier ein wenig billiger wäre? Am erstaunlichsten waren wohl zwei Dinge: Bei einem mediterranen Rave mit 50 Prozent Briten-Anteil rechneten wir skeptischen Meister des ausgelassenen Rumstehens mit dem peinlichen Spaß-Supergau schlechthin. Aber weit gefehlt: tolle Leute überall, wenig Stresspotential und blinde Partygeilheit, sondern nur überschwängliche Liebe für gute Musik und kontemplatives Miteinander. Das ist der andere Punkt, der dieses Festival wirklich besonders macht: Über Geschmack muss man hier nicht streiten oder nachdenken. Aus jedem Soundsystem auf jedem Floor schallt es wahr und richtig. Die Anlagen keine Massenware, perfekt an das Bühnenprogramm angepasst, aus UK eingeflogene handgezimmerte

Boxenwände. Überall eine Funktion-One hinzuklotzen, das wäre viel zu einfach, meint Creative Director Johnny am Abend des letzten Tages. Ein schlauer, begeisternder Typ, dem man alles abnimmt, wenn er vom Spirit des Festivals redet. Was uns am besten gefallen habe, fragt er. Ja, alles! Die nächtliche Fahrt mit Ben Klock auf dem Dekmantel-Boot, die elektrisierende Liveshow von Juan Atkins aka Model 500 (dessen Reenactment wirklich mehr Spaß macht als das von Kraftwerk), die ausschweifenden Sets von Ron Morelli, John Heckle und Surgeon. Die Energie, mit der Lawrence und John Roberts gegen die aus gutem Grund überlaufene Riesenshow von 3 Chairs angespielt haben, der Boiler-Room-with-a-View hoch über dem Meer, und die beeindruckende Musikalität des Eröffnungskonzerts mit Bonobo und Mount Kimbie im noch beeindruckenderen römischen Amphitheater in Pula. Oder dieser kleine Moment, als noch N>E>D auf der Leisure-System-Bühne für Dopplereffekt anheizte, und Gerald Donald in seinem sympathischen SparkassenAngestellten-Aufzug mitsamt Aktentasche auf die Bühne eilte, und sich mit seiner Frau an den Korgs positionierte, um bald alle mit offenem Mund in seine seltsame Welt zu ziehen. Wir sehen sie am Ende wieder, mit ihrem Sohn am Flughafen von Zagreb. Mit diesem Familienurlaub in Kroatien hat Gerald Donald sozusagen eine weitere, eher profane Facette seiner Deutschland-Obsession abgedeckt. Unruhig wartet Herr Heinrich Müller auf das Boarding. Er möchte bestimmt noch heute seinen Rasen mähen, bevor der Herbst kommt.

38

dbg176_38_39_dimension.indd 38

22.09.13 13:20


New Sounds of Iran

Dimensions 2014 ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Ein Musikfestival mit Mohammad Reza Mortazavi, Ajam, Pedram Derakhshani, Mamak Khadem, Shanbehzadeh Ensemble, Shahrokh Moshkin Ghalam & Barbad Project und den Bands Nioosh und Pallett

Konzept und Design: Mehmet Alatur/ Breeder Design

11. – 13. Oktober 2013

»Aus jedem Soundsystem auf jedem Floor schallt es wahr und richtig.«

Kölner Philharmonie, Stadtgarten und Filmforum Infos/Tickets 0221 280 280 koelner-philharmonie.de

KölnMusik gemeinsam mit DIWAN e. V., Akademie der Künste der Welt und Elbphilharmonie Konzerte Hamburg

dbg176_38_39_dimension.indd 39

Gefördert durch

20.09.13 12:35


176 — musik

Text Tim Caspar Boehme

Nach seiner Zusammenarbeit mit Juan Atkins streckt Moritz von Oswald seine Studio-Fühler nun in andere, unerwartete Richtungen aus. Zusammen mit dem Trompeter und ECM-Künstler Nils Petter Molvaer hat er ein Album aufgenommen. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Jazz? Die elegische Trompete des Norwegers mit Faible für Clubmusik trifft dabei auf sparsam eingesetzte Synthesizer-Akkorde und DubEffekte. Und viel Freiraum.

D u b a M Moritz von Oswald

40

dbg176_38_50_medien.indd 40

von mir macht, doch ich glaube, meine Anfrage hat ihn nie erreicht. Seine Musik habe ich jedenfalls ziemlich viel gehört." Molvaer hatte 1997 mit seinem Album "Khmer" die bis dahin ungewöhnlichste Veröffentlichung des Labels ECM vorgelegt. Eine Jazz-Platte, auf der seine nordisch-klare, melancholische Trompete mit Drum-and-Bass-Rhythmen und geloopten Samples unterlegt war. Aufgeschlossenheit gegenüber der damaligen Clubmusik war Teil des Erfolgsrezepts von Molvaers JazzElektronik-Hybrid, das seinerzeit Kritiker wie Publikum überzeugte. Dieser unbefangene Umgang mit anderen Genres zeigt Man hätte es ahnen können. Bei Moritz sich auch in Molvaers Begeisterung für von Oswald hat es seit seiner Zeit von von Oswalds Techno-Ästhetik, die dieser Basic Channel bis zu Rhythm & Sound während der Neunziger mit Mark Ernestus immer wieder diverse Kollaborationen geauf Basic Channel entwarf: "Mir gefiel diegeben. Seit er jedoch vor einigen Jahren ser Sound, dieses Minimalistische und die mit dem FreiformLoops, die Art, wie Ensemble Moritz sie auf den Delays von Oswald Trio an tänzeln und die die Öffentlichkeit Dubs – diese gangetreten ist, scheint ze Klangwelt. Die sich etwas in seiner Gefahr bei so Herangehensweise etwas ist ja, dass an Musik veränman Dinge, die man zu sehr mag, dert zu haben. zu kopieren beWas er und seine Mitstreiter Max ginnt. Das habe Loderbauer und ich aber immer Vladislav Delay herzu vermeiden vervorbringen, wirkt im sucht. Als ich an Vergleich zu seimeinem ersten nen klassischen Album arbeitete, wollte ich eine Produktionen mit Mark Ernestus weMischung aus all niger formstreng, den Sachen erzeuklingt improvisiergen, die mir wirkter und löst sich lich gefielen. So entstand 'Khmer'. weitgehend von Clubkonventionen. Es ist auch stark von Oswald Elektronischer Free von Joni Mitchell Jazz, wenn man so beeinflusst – wobei man das wohl möchte. Dass der nicht hört.“ Techno- und Dub Auch von Visionär für sein Oswald erkannjüngstes Projekt mit dem norwegischen te in Molvaers Musik einige gemeinsaTrompeter Nils Petter Molvaer ins Studio me Vorlieben. Ihm gefiel die Räumlichkeit gegangen ist, um das gemeinsame und Weite seiner Musik – und sein Album "1/1" aufzunehmen, mag da wie ein Trompetenspiel: "Was mich an seinem folgerichtiger nächster Schritt erscheiTrompetenklang sofort fasziniert hat, ist nen. Es spricht allemal für die Offenheit der volle, leuchtende und leichte Ton. Der von Oswalds, der bei seinen bisherigen hat letztendlich unsere Zusammenarbeit musikalischen Partnern insbesondere mit inspiriert. Ich dachte mir: Damit kann ich Elektronik-Kollegen oder Reggae-Sängern arbeiten, mit dieser Leichtigkeit. Auch unzu tun hatte. Molvaer ist jedenfalls der erssere Platte hat ja etwas Schwebendes." te Jazzmusiker, mit dem von Oswald ei Tatsächlich besteht "1/1" überwiene komplette Duoplatte eingespielt hat. gend aus sehr bedächtig schwingenden Synthesizer-Akkorden, gelegentlichen disDas Treffen der beiden ereignete sich zu Beginn des Jahres in Moritz von Oswalds kreten Beats und von Oswalds präzise Berliner Studio. Wäre es nach Molvaer gegesetzten Dub-Echos, zu deren ruhigem gangen, hätte es schon weitaus früher zu Fluss Molvaer seine Melodien fast zögermusikalischen Berührungen kommen könlich vorträgt. Zugleich strahlt die Musik nen: "In den Neunzigern war ich stark daeine ganz außerordentliche Entspanntheit ran interessiert, dass Moritz einen Remix aus. Molvaer: "Wir begannen im Grunde

» Ich habe vornehmlich Synthesizer mit Tastatur verwendet, deren Klang schön und zugleich seltsam, etwas kantig ist. Und voll genug, um die Trompete zu unterstützen. «

19.09.13 16:39


176

bild Marion Benoit

H o r i zo n t und Nils Pettar Molvaer

so nicht unbedingt als Inspiration erwarsofort zu spielen. Ich setzte mich vor das Mikrofon und wir nahmen ein paar Stücke ten würde: Karlheinz Stockhausen. Der auf. Danach kam ich noch zwei- oder dreiAvantgardist spielt für den als klassischer mal zurück. Am Ende hatten wir über zwei Schlagzeuger ausgebildeten von Oswald Stunden Musik." Alle Aufnahmen wurden sogar eine immens wichtige Rolle: "Ich hamit bloß einem Take gemacht. Ein vorab be Stockhausen schon immer geliebt. Was entwickeltes Konzept für die Platte gab mir an seiner Einstellung zu Klang gefällt, es nicht, erinnert sich Molvaer: "Es war sind die Auslassungen. Bei ihm gibt es die eine sehr intuitive Sache zwischen uns." Klänge – und es gibt Leere." Die Zusammenarbeit zwischen Vielleicht hätte sich der eine oder die andere noch mehr Stockhausen auf der Platte akustischen und elektronischen Instrumenten gestaltete sich für die beiden gewünscht, etwas mehr Experiment oder ebenfalls wie von selbst, sagt von Oswald: hier und da einen zugespitzteren Dialog zwi"Normalerweise denkt jeder, elektronische schen Trompete und Synthesizern. Doch Instrumente seien unflexibel. Dabei habe ich das war gar nicht die Absicht der beiden. die elektronischen Instrumente gerade so Ein Austesten von Grenzen gehörte zueingesetzt, dass ich ihre Flexibilität genutzt mindest nicht zum Programm von "1/1", habe, was ausgezeichnet zur Flexibilität wie Molvaer klarstellt: "An Grenzen habe von Nils' Trompetenspiel passte." ich nie gedacht. Grenzen gibt es für mich Bei der Auswahl der Instrumente entauch gar nicht so richtig. Ich sehe ledigschied von Oswald lich Horizonte." daher sowohl nach Gleichwohl bleibt ihrer spezifischen der Eindruck, hier Beweglichkeit als hätten es sich auch nach ihrem zwei gestandene Klang. "Ich haMusiker ein bisschen zu leicht gebe vornehmlich macht. Dass von Synthesizer mit Oswald sich daTastatur verwenrauf versteht, det, deren Klang schön und zugleich Auslassungen so seltsam, etwas kanzu gestalten, dass tig ist. Es kam mir sich Räume auftun, vor allem darauf an, in denen Spannung dass ihr Klang voll aus nur wenigen genug war, um die Elementen entTrompete zu untersteht, kann man stützen." auf seinen frühe Das harmoniren Platten in sehr beeindruckender sche und rhythForm nachvollziemische Gerüst, Molvaer hen. Hier jedoch meistens auf ein fühlt man sich wie bloßes Skelett in einem überreduziert, lässt dimensionierten Molvaer sehr viel Wartezimmer, das Raum. Selbst in unentschlossen vor den Stücken, in denen von Oswald sich hin hallt, wähRauschen einsetzt, rend jemand dazu das wie langsamer Nebel aufsteigt ("Noise laut auf der Trompete sinniert. Und die 1" und "Noise 2"), bleibt das Arrangement Horizonte, von denen Molvaer spricht, stets luftig. Es ist Musik, die von sehr, sehr hängen irgendwie ein wenig schlaff und großer Gelassenheit erzählt. Für Molvaer flach herab. ein Gewinn: "Wir hatten keine Angst vor Das einzig wirklich Neue für Molvaer Stille oder Lücken zwischen den Klängen. und von Oswald bestand denn auch daDadurch, dass nicht so viel passierte, hatrin, dass sie noch nie zuvor miteinander te ich sehr viel Freiheit. Wenn man mit anMusik gemacht hatten. Doch allein weil deren Musikern spielt, passiert normaleretwas wie von selbst läuft, wächst daraus weise ständig etwas, aber hier war es einicht zwangsläufig ein Gebilde, das man hinterher für seine natürliche Schönheit ne Angelegenheit mit viel Tiefe." Bei von Oswald hingegen stand für die bewundert. Manchmal tut die planende Freiräume auf "1/1" ein Komponist des 20. Hand des Gärtners not. Jahrhunderts Pate, den man beim Hören

» An Grenzen habe ich nie gedacht. Grenzen gibt es für mich auch gar nicht. Ich sehe lediglich Horizonte. «

Moritz von Oswald & Nils Petter Molvaer, 1/1, ist bei Emarcy/Universal erschienen.

dbg176_38_50_medien.indd 41

41

19.09.13 16:40


176 — TV

TV 2013 Die Reise nach Jerusalem

42

dbg176_38_50_medien.indd 42

19.09.13 17:39


Text Sascha Kösch

Jahrelang galt das Internet als der Feind des Fernsehens. Doch der Erfolg der Netflix und AMCs beweist, dass diese Konstellation zu einfach gedacht ist. Das Netz, so scheint es, schickt sich vielmehr an, die Fehler des Fernsehens zu wiederholen. Revolution! Wir denken kurz mal zurück. Vor ein paar Jahren noch, da sah niemand mehr fern, weil alle nur noch Serien wollten, die nicht im Fernsehen liefen. Im Original natürlich, sofort natürlich, immer die neuesten, noch besseren. Das Netz war schuld: Peer-to-Peer-Pressure. So fühlte sich das damals an, hierzulande, weltweit. Und auch wenn die Situation in den USA eine andere war, hat diese massive Klauerei zu einem völligen Wandel der Fernsehindustrie geführt. Mittlerweile ist das Ansehen von Serien im Netz das Geschäftsmodell, das bis in die Tiefen der SerienProduktion der USA alle antreibt. Und jetzt haben wir den Kabelsalat. Das Netz ist so etwas wie ein Fernseher, ein Entertainment-Kanal. Was zum angucken und konsumieren. Was haben wir früher über solche Ideen gelacht. Das Internet war das Gegenteil des Fernsehens. Aber jetzt ist 2013 und über die Netzleitungen läuft vor allem TV-Traffic. Netflix hat in den USA den Markt fast schon für sich entschieden. Über 30 Prozent des US-Datenverkehrs gehen auf deren Konto - Fernsehinhalte! YouTube wirkt mit 17 Prozent dagegen schon schlapp - zusammen aber machen sie fast die Hälfte aller Datenpakete im Internet aus. Da haben wir die Torrents und Hulu und sonstige Video-Seiten noch nicht einmal mitgezählt. Halb Internet glotzt Serien und Filme, der Trend ist so neu nicht. Das sind klare Zahlen. Sie zeigen, dass das Netz und das Fernsehen mittlerweile eine Allianz eingegangen sind, die kaum einer besser formuliert als der CEO von Time Warner, Jeff Bewkes. Zu den Quartalsergebnissen sprudelte es aus ihm heraus. Die meist-raubkopierte Serie im Netz zu haben, sei besser als haufenweise Emmys. Kein Shareholder fiel vom Stuhl, in der MPAA-Zentrale wurde keine Notstandssitzung ausgerufen. Wochen vorher hatte Michael Lombardo, Programmchef von HBO, noch vorsichtiger formuliert schüchterner Blick nach oben -, dass er die Piratenrekorde als Kompliment empfinde (HBO ist ein Teil von Time Warner). Und Kevin Spacey, Netflix-Darling, Producer und Hauptdarsteller in Personalunion, legte nach: Wir leben in goldenen Zeiten, Quote braucht kein Mensch mehr, Fernsehen wird ganz anders werden, wundervolle Zeiten für den direkten Kontakt vom Künstler zum Zuschauer. Lang lebe das Internet. Beste Weltsendezeit Alle reden von Streams, von immer überall sofort verfügbar, von Content-Abos. Und ja, "Internet first" gilt so langsam auch im Fernsehen. Das Format Serie treibt das Thema an. Bewkes ist schon lange auf dem Kriegspfad gegen das sogenannte Windowing (verschiedene Release-Daten auf verschiedenen Plattformen, Kino, DVD, Fernsehen, Internet). Jenseits der güldenen Konvergenz-Ideen von Smart-TV entwickelt sich ein Start-up nach dem nächsten, das Videos auf uns zustreamen lassen will, für eine Handvoll Dollar. In Deutschland hatten wir vor ein paar Monaten die ersten Millionenstreams mit den Original-Versionen von Game Of Thrones bei SkyGo, obwohl das nur für Fernsehinhaber und Sky-Kunden zu sehen ist. Und Watchever erspielt sich den Ruf als Vorreiter mit den letzten Folgen von Breaking Bad, die drei Tage nach der Erstausstrahlung im Original, legal zu sehen sind. Überhaupt: AMC (der Kabelkanal von Breaking Bad und Mad Men). Vor 2007 kannte den niemand, jetzt

dbg176_38_50_medien.indd 43

176

jeder. Und immer rasanter geht AMC genau diesen InternetFirst-Weg. Die letzten Folgen des Dramas von Breaking Bad waren fast weltweit überall zu sehen. Vorbei die Zeit, in der man ein Jahr oder mehr warten musste. Die Welt ist auf dem besten Wege auf einem Serienstand zu sein. Aber wie geht das zusammen? Und warum jetzt? Ein Blick über den Teich klärt da einiges. Bei aller Vorliebe der Kabelsender in den USA für skandinavische Remakes: Dort werden viele Themen und auch Strukturen des Fernsehens erfunden. Der durchschnittliche "Game Of Thrones"Kabelgucker in den USA ist - Überraschung! - 40 und männlich. Die Kids haben sich vom Kabelfernsehen verabschiedet. Weil sie alles im Netz sehen wollen. Und auch längst können. Die Serie, die nicht gleich im Netz ist, wenn sie über die Kabelkanäle rauscht, ist eigentlich nichts mehr wert, könnte man denken. Und das stimmt auch. Aber es geht um ein Zusammenspiel. Auch wenn Netflix sich über diesen Weg fast aufgeblasen hat zum neuen Imperium, natürlich sichert das Netz auch den Zugang zur eigenen Distribution, HBO Go, Showtime Anytime und wie sie alle heißen. Machtverschiebung wo man nur hinsieht. Da rasseln alle aneinander, aber fuchsen sich erstaunlich gut durch. Die Basis: Kabelsender bekommen in den USA ihr Geld nicht direkt von den Abonnenten, sondern, da immer Pakete verkauft werden, von den Kabelbetreibern. Eine Hitserie reicht da schon, um das Einkommen von einer Saison auf die nächste um 50 Prozent raufzudrehen. 27 Milliarden Dollar gehen so im Jahr über den Tisch für Nur-Kabelsender. Die Weiterleitung der Nicht-Kabelsender durchs Kabel bringt gerade mal 1,7. Die Verlierer in diesem Spiel mucken schon auf, und der Streit, der CBS vor einem Monat aus dem Time-Warner-Kabel hat fliegen lassen, ist schon legendär. Früher lief es für Kabelsender so: tolle Serie, viel teure Promotion, mit etwas Glück ein Hit. Promotion kostet und am Watercooler über Serien zu reden, die man nicht sehen kann, erzeugt nicht gerade eine Sintflut. Heute: tolle Serie, jeder kann sie sehen (und sei es über Torrents), massive Mundpropaganda ohne Grenzen. Der Grund, warum das Serien-Business aus diesen Raubkopien einen Vorteil ziehen kann, ist einfach: Serien laufen von Woche zu Woche, ein Verlust in den ersten Wochen, lässt sich durch die möglicherweise rapide ansteigenden zahlenden Zuschauer, die durch die Mundpropaganda hinzukommen, jederzeit ausgleichen. Vor allem, wenn es nicht nur den Kabelkanal gibt, sondern via Streaming einen Zugang für jeden der nichts weiter kostet, als die Eingabe der Kreditkartennummer. Suchtverhalten hilft beim viralen Spiel immens. Und genau hier ist das Streaming von Serien auch ein Businessmodell, dass mit dem Streaming von anderen Dingen eigentlich nichts zu tun hat. Stammesritual Fernsehen Auf genau dieser Basis der Sucht wurden Firmen wie Netflix so groß. Die Tendenz unter den jüngeren Zuschauern geht zum Cord-Cutter. Internet hat man ja sowieso, warum also dann noch Fernsehen aufhalsen. Und die jüngeren wollen sehen, wann sie sehen wollen, der Tagesablauf ist nicht so geregelt, dass man sich Punkt 22 Uhr zur besten Sendezeit einfindet. Fernsehen ist tribal, nicht kommunal. Das ist einfach basal gelerntes Internetverhalten. Zeit muss flexibel sein. Um alle zu erreichen muss die Serie auch überall verfügbar sein. Apple, Android, Netflix, Amazon, Hulu: Es gibt kaum ein Gerät, kaum ein User-Verhalten im Netz, das in den USA nicht längst mit den neuesten Serien abgedeckt wäre. Und Schritt für Schritt nähern wir uns dieses Jahr endlich auch diesem Zustand, denn wer ein Mal Netz sagt, sagt irgendwann auch globaler Markt.

»Über 30 Prozent des USDatenverkehrs sind Fernsehinhalte.«

Dem Verlangen nach einem Serien-Marathon, eine Staffel an einem Wochenende von Anfang bis Ende durchzusehen, kommt Netflix nun als logischen nächsten Schritt nach. Vom Streaming-Dienst zum Inhalte-Provider. Nach dem Motto: Wer die Distribution hat, muss auch für den Rest sorgen können. House Of Cards zeigte vom ersten Moment an alle Folgen, bei der Weeds-Nachfolge-Serie Orange Is The New Black war es genau so. Die Saison droht zu einem Wochenende zu schrumpfen, wir sind gespannt, ob Kabelbetreiber in der Union mit StreamingBetreibern folgen werden. Allein schon die Rechnung, die Netflix aufmacht, klingt zunächst atemberaubend. Um eine komplette Staffelproduktion (mit 50 Millionen Dollar Kosten) zu finanzieren, brauchen sie "nur" 500.000 neue Abos für ein Jahr. Nur? Kein so massiver Anteil an den 38 Millionen Subscribern, und nicht so unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass Netflix in fast 50 Ländern läuft. Und auch Amazon steigt gerade (die dürfen ja wegen Bezos sowieso nie Gewinne machen) in die ersten eigenen Serienproduktionen ein und sind hierzulande via Lovefilm eh gut positioniert. Und auch Google ist mit YouTube nicht faul und baut gleich mehrere Studios, um die Qualität der DIY-Posse mit Location- und Technik-Unterstützung raufzuschrauben. Uns wurde ja immer vorgegaukelt, dass es um SmartTVs oder Internet auf dem Fernsehen gehe. Aber wichtiger ist, dass die Fernsehindustrie der USA langsam erkannt hat, eine Serie sollte bei Erscheinen am besten weltweit legal im Internet zu sehen sein. Das wird in Kürze dazu führen, dass Serien auf dem Fernsehen zu sehen immer mehr heißt, sie eigentlich über irgendeinen Streaming-Service zu sehen, und sei es via Chromecast. Das heißt, das Neue im Fernsehen, der Straßenfeger sozusagen, wird zwar noch auf dem großen Bildschirm laufen - aber trotzdem längst nach den Gesetzen des Netzes funktionieren. Was für die extrem große Kabelsender-Szene in den USA sicher ein Riesenvorteil ist, dürfte hierzulande aber erst Mal zu einem neuen Kampf zwischen Kabelprovidern und Netzservices führen. Kein Wunder, dass die Telekom da schon einmal vorprescht und sich via netzneutralitätsfeindlichem VolumenDSL einen Vorsprung sichern will. Nachdem das Internet dem Fernsehen die Regeln des Spiels so lange erklärt hat, bis das Businessmodell völlig umgekrempelt wurde, kommt am Ende vielleicht doch das Prinzip Fernsehen im Internet an: mit einer neuen Erfindung des Mangels. Wir können dann zwar alles immer preiswert sofort überall sehen, aber nicht so viel wir wollen oder nicht von dem Anbieter, von dem wir es wollen. Denn dann steht der Leitungsinhaber auf der Leitung. Es scheint fast so, als hätten Internet und Fernsehen plötzlich die Plätze getauscht.

43

19.09.13 17:42


176 — TV

Text Sascha Kösch

serien 2013

Die Chancen steigen exponentiell, US-Serien halbwegs zeitig auch bei uns zu sehen. Aber welche Neustarts sind überhaupt sehenswert? Wir haben uns durch die Trailer der Saison gekämpft, raten euch zu ein paar Hits und warnen vor absoluten Versagern.

Masters Of Sex

Masters Of Sex (Showtime) Kabelsender lieben Sex. Ihr kennt vermutlich das "It's not Porn, it's HBO!"-Video. 100% Wahrheit. Masters Of Sex nimmt sich allerdings vor, Sex mal nicht nur als Mundwässern für's Publikum zu verwenden, sondern es als Basis zu setzen, schließlich geht es um die (grundlegende) Masters-und-Johnson-Studie. Was ist besser als Sex? Wissenschaft und Sex. 10.000 durch die Wissenschaftsbrille beobachtete Sexakte. Showtime könnte schon jetzt eine Handvoll Staffeln ordern, auch wenn die 50er hier nicht ganz so echt aussehen wie bei Mad Men. Allein der Glas-Dildo zur Beobachtung weiblicher Sexualorgane im Trailer verspricht schon Einschaltquoten, die Game Of Thrones und Mad Men zusammen nicht packen würden. Trotz des Endes von Dexter braucht sich Showtime wirklich keine Sorgen um die Zukunft zu machen, zumal die Besetzung (Michael Sheen, Lizzy Caplan, Nicholas D'Agosto, Caitlin Fitzgerald) die Gradwanderung zwischen Witz und Ernsthaftigkeit so perfekt im Griff hat, dass man auch bei der zweiten Staffel noch keine ausgelutschten Kalauer erwarten darf.

The Blacklist

The Crazy Ones (CBS) Sarah Michelle Gellar und Robin Williams! David E. Kelley als Producer. Wer sonst würde sich trauen, Mad Men für eine Agentur in Comedy-Form aufzuarbeiten, deren Kunde McDonalds ist. "The Pickle in the Bun, and the fun's begun." Es wird weh tun.

44

dbg176_38_50_medien.indd 44

Agents Of S.h.i.e.l.d.

Reign (CW) Ihr habt zu lange keine richtige Burgen-Schmonzette mehr gesehen? Gossip Girl und Vampire Diaries sind für euch längst kein Fix mehr für das Verlangen nach gefühlsüberfrachteter Teenie-Serie? Kein Problem, Reign kommt. Schottland muss als Backdrop für diese höchst merkwürdige Idee einer Kinderversion von Game Of Thrones im historisch erfindungsarmen Setting herhalten, das auf die Dauer im Plot mehr an die Intrigen einer Highschool erinnert, aber dafür dennoch eine willenlose Menge mystischer Phänomene über die Gewänder und Kerzenleuchter streuselt. Nein, nein und nochmals nein? Kein Problem: Pretty Little Liars bekommt diesen Herbst eine eigene Spin-off Serie: Ravenswood. Ach, auch Vampire Diaries bekommt ein eigenes Spin-off für Über-15-Jährige.

19.09.13 17:42


176

The Blacklist (NBC) Der meistgesuchte Mann der Welt (Chef-FieslingBonhomme James Spader) liefert sich dem FBI aus und will andere Oberfieslinge fassen. Aber nur in Zusammenarbeit mit FBI-Neuling Elizabeth Keen. Instant-"Schweigen der Lämmer"-Chemie, klar. Und ja, inklusive HochsicherheitsGlaskasten. Warum das trotzdem was werden muss: dem leicht überfetteten James Spader ist diese Rolle wie auf den Leib geschrieben und Megan Boone als Gegenpart nicht halb so blauäugig und eindimensional wie erwartet. NBC hat ansonsten mit (gähn) Dracula (vom "The Tudors"und "Downtown Abbey"-Team) und dem skurrilen IronsideRemake vielleicht sogar drei Seriendebüts, die länger als eine Saison durchhalten. Hostages (CBS) Präsident ist im Krankenhaus. Familie der operierenden Chirurgin wird gefangen gehalten, damit die Operation misslingt. Damit sie überhaupt stattfindet: Starbesetzung. Von Anfang an auf dreizehn Folgen begrenzt, viel kann da nicht schiefgehen, solange man Dylan McDermott erträgt, oder nicht beim dritten angesetzten, jetzt wirklich entscheidenden Skalpellschnitt, bei dem schon wieder irgendwas dazwischen kommt, selber anfängt auf die Schnabeltasse zu sabbern. Sleepy Hollow (FOX) Kopflose Reiter in der falschen Timeline. 250 Jahre im Tiefschlaf, muss Ichabod Crane die Welt jetzt vor dem Untergang retten. Mystery! Angestaubte Bibeln, das Gute, das Böse. Witzige Dialoge mit schwarzen Polizistinnen über die Sklaven und Verschwörungstheorien auf dem Dollarschein. Quietschig bis ins letzte Detail der Story und es würde uns nicht wundern, wenn am Ende noch Vampire aus Lincoln rüberschwappen. Falls zu viele andere Geschichtsdramen der wirreren Art Pause haben ist das vielleicht ein überraschend guter Snack. Almost Human (Fox) 2028. Die Welt (L.A.) sieht aus wie ein Ballerstyle-Videospiel im Cop-Drama der Saison. Der eine Cop hasst sein künstliches Bein, der andere ist ein leicht derangierter, weil gefühlvoller Androide. Männerfreundschaft garantiert. J.J. Abrahams mit dem Fringe-Team bei Fox. Was soll da schon schiefgehen? Vielleicht alles? Michael Ealy und Lili Taylor könnten die Serie vor dem Desaster retten, Karl Urban als Proto-Ami den Fox-Junkies gefallen, vielleicht kommt auch ein Plot. Lieber Fox-Gott, lass es nicht darum gehen, dass die Robocops irgendwie korrumpiert sind und die Welt der Zukunft ganz furchtbar ungerecht machen. Die Webseite jedenfalls verspricht eine ganze Mythologie dieser Welt, falls J.J. Abrahams zwischen Star Trek und Star Wars überhaupt noch Zeit dafür hat. Agents Of S.h.i.e.l.d. (ABC) Joss Whedon! Jetzt könnte man aufhören, weiter zu reden. Whedon ist immer gut. Mit Marvel darf er seit Avengers seine Kindheitsträume ausleben. Trotzdem, die Story nachgereicht: Superhelden-Agenten im Kampf gegen Superhelden. Claim: "Not all Heroes are super." Ist schon mal super. Erinnert das wen an Heroes? Dollhouse? Alphas mit Markenbonus etwa? Wer wird bei Superhelden schon Originalität suchen? Whedon jedenfalls hat mal nicht seine Lieblingsschauspieler versammelt, sondern setzt auf eine relativ unbedarfte Crew, bei der nur Ming-Na Wen und Clark Gregg Superhelden-Erfahrung haben und Chloe Bennet schon jetzt die neue Eliza Dushku sein darf. Die schrägen Charaktere scheinen weitestgehend Pause zu haben, und wir sind gespannt, wie die Besetzung mit den

dbg176_38_50_medien.indd 45

nerdigeren Aspekten von Whedon zurecht kommt. Special Effects, Kommandozentralen, Action-Szenen und absehbar schräge Verschwörungsplots bis in außerirdische Welten sind jedenfalls vorprogrammiert. Und wir hoffen, wir können sie mal länger als als eine Staffel genießen. Lucky 7 (ABC) Ja, Steven Spielberg darf immer noch Serien machen nach Terra Nova, Falling Skies und Under The Dome. Und endlich auch mal eine, die weder Dinosaurier noch Aliens hat. Lucky 7 sind sieben Tankstellen-Angestellte, die zusammen im Lotto gewinnen. Überraschend unprätentiös gefilmt, überraschend charmant nachbarschaftsmäßig im Piloten, aber wir wetten drauf, danach geht alles schief. Wie immer, wenn das Glück unerwarteter Zusammenstellungen in einer Serie auftaucht, ist das Glück nicht gerade ein Garant für eine Verlängerung. Aber in einer Staffel könnte hier auch alles gesagt sein. Intelligence (CBS) Josh Holloway von Lost darf endlich wieder eine Hauptrolle spielen. Hauptrolle, Mann! Der intelligenteste Mensch der Welt noch dazu. Der mit dem Direktzugriff auf das Internet. Das fällt dem Rasierwassermodel erst mal sichtlich schwer zu glauben, aber er gewöhnt sich schnell dran, das mit all dem ihm zur Verfügung stehenden Machocharme zu verschmelzen. All das im Auftrag des trendenden US Cyber Command. Eine Serie, wie gemacht für alle, denen Nikita zu weiblich, und Chuck zu Comedy war. Bei einigen sicher auf der Liste der peinlichsten Lieblingsserien der Saison. Beginnt leider erst im Februar. Add-on, die Rückkehrer Es gibt natürlich nicht nur neue Serien, sondern auch ein paar, die wieder kommen. Darunter auch ein paar, die man vielleicht nicht verpassen sollte.

Intelligence

Homeland

The Good Wife

Homeland (Showtime) Mir ist egal, ob Carrie ihre Medikamente nicht futtert und ständig wild gestikulierend an der Kamera vorbei läuft: Homeland ist trotzdem ein Killer. The Good Wife (CBS) Irgendwie hat sich The Good Wife zu einer Serie entwickelt, die immer wieder hyperaktuelle Internet-Themen nonchalant als Gerichts-Drama präsentiert. Dranbleiben.

Treme

The Walking Dead (AMC) Zombies sind einfach nicht totzukriegen. Wie lange unsere Begeisterung für Untote noch anhalten mag, weiß nur das innere Formfleisch. Treme (HBO) Schon mal Adieu sagen. New Orleans muss irgendwann gehen. Schade eigentlich, aber wir sind neugierig was David Simon als nächstes plant.

Sons Of Anarchy

Sons Of Anarchy (FX) Bricht alle Rekorde. Das Ding rollt. Unser Hofberichterstatter aus der Motorradgangszene ist gerade in Urlaub. Vielleicht wegen des Season-Starts. Person Of Interest (CBS) Snowden avant là lettre. Die Serie dürfte allein deshalb spannend bleiben, weil man wissen möchte, wie sie damit umgeht, dass die Komplettüberwachung aller keine Fiktion mehr ist.

Person Of Interest

45

19.09.13 17:43


Text Florian Brauer

bild b flickr.com/7552532@N07

gta V

GröSSer, weiter, immer weiter? Als vor fünf Jahren die Veröffentlichung von GTA IV den Tagesthemen eine Meldung wert war und dieses Spiel sogar als "klug gemacht" bezeichnet wurde, war ein gesellschaftlicher Wendepunkt erreicht: Videospiele waren nicht mehr nur einfach Produkte des Computerzeitalters, sondern auch in ihren spezifischen Möglichkeiten als eigenständiges Medium anerkannt. Die GTA-Serie gilt inzwischen als Inbegriff digitaler Popkultur. Keine Frage also, dass die Erwartungen an das jetzt erschienene GTA V extrem hoch waren.

Nach mehreren Ausflügen in ein fiktives New York und eine Hommage ans Miami der 80er-Jahre kehrt die GTA-Serie erneut ins kalifornische Los Santos und an eine stilisierte Westküste der USA zurück. Bei allen Spekulationen, wo ein neues GTA spielen könnte, wird immer wieder deutlich, dass es nicht nur eine detailliert ausgearbeitete Welt ist, die den Reiz ausmacht, sondern vor allem die Kontextualisierung und schließlich die Narration, die von dieser Welt getragen wird. In dieser Hinsicht ist Kalifornien als Mutterland der Popkultur und als der Ort, an dem Amerikanischer Traum und Alptraum so dicht beieinander liegen, einfach der prädestinierte Schauplatz. Bei all den unterschiedlichen Faktoren, die den Charakter der GTA-Teile jeweils ausmachen, steht der Weltentwurf eindeutig im Vordergrund. Die Umsetzung im neuen Teil ist atemberaubend - gerade technisch: Der Titel zeigt, wie viel Performance-Spielraum die letzte Konsolengeneration noch hatte. Das fängt bei so lapidaren Dingen wie der kalifornischen Sonne an. Alles erstrahlt in einem besonderen Licht. Die Gebäude, die Menschen, die Autos und sogar der Smog verleihen der Umgebung eine einzigartige Atmosphäre. Eine Weiterentwicklung lässt sich aber am besten anhand der Naturdarstellungen erkennen. Inzwischen sind Gebirgszüge, Wälder und Gewässer so detailliert, dass sie nicht mehr nur kulissenhaft wirken, sondern sie auch - wie die Stadtgebiete - eine belebt-wirkende, emergente Dynamik entwickeln. Vor allem beim Tauchgang in die lebendige Unterwasserwelt wird das deutlich. Diese virtuelle Welt ist eine der ambitioniertesten, die jemals erschaffen wurden. Das gilt nicht nur für die flächenmäßige Ausdehnung, sondern auch für Atmosphäre und Details. Laut Rockstar hat die Welt eine Größe, die etwa den letzten beiden GTA-Spielen und der Welt des Western-Epos Red Dead Redemption zusammengenommen entspricht.

46

dbg176_38_50_medien.indd 46

19.09.13 16:46


176 — games Grand Theft Auto V ist jetzt für Xbox 360 und PlayStation3 erhältlich.

Mehr Handlungsmöglichkeiten Allerdings ist das auch ein Punkt, an dem in der Regel die Kritik an Open-World-Games ansetzt - also Spielen, die denen Spieler viel Freiraum bei der Reihenfolge und Ausgestaltung ihrer Spielzüge lassen. Bei allem Respekt, den man der technischen Umsetzung entgegenbringen muss: Die Qualität dieses Genres misst sich nicht an der Ausdehnung der Welt, sondern an den Elementen, die tatsächlich ein Spiel ausmachen. Wenn es also um die Frage geht, dem Spieler Möglichkeiten einzuräumen, kann es sich um kleinere Welten mit ausgefeilteren Mechaniken handeln, oder eben um riesige Welten mit eher limitierten Möglichkeiten und einer deshalb häufig beschränkten Teilnahme an dieser Welt. Bei Rockstar reagiert man auf diese Problematik mit einer geschickten Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten. Erstmals steht man nicht mit einem einzigen Avatar in dieser riesigen Welt, sondern kontrolliert gleich drei Protagonisten. Sie wirken fast zufällig aus allen Bewohnern der Welt ausgewählt, stammen aus völlig unterschiedlichen Milieus und haben unterschiedliche Geschichten, Eigenschaften und Fähigkeiten. Everyday people Franklin ist ein sportlicher junger Typ aus South Los Santos, der sich auf seinen Instinkt verlässt und zumindest so lange, bis sich was besseres ergibt, für seinen Arbeitgeber Autos organisiert. Michel hingegen ist in den letzten Jahren träge geworden. In seinem bürgerlichen Leben, das ihm im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms eingerichtet wurde, fühlt er sich deplatziert und er träumt von früher, als er noch ein ehrenwerter Bankräuber war. Und schließlich Trevor, die absolute Antithese zum Amerikanischen Traum. In seinem Leben hatte er bisher schlechte Karten und jetzt hangelt er sich so durch, von Rausch zu Rausch. Trevor macht jeden Job, der nur irgendwie Geld verspricht.Die Wege dieser drei Männer kreuzen sich im Laufe des Spiels und fortan lässt sich die Spielperspektive zwischen ihnen wechseln. Ähnlich, wie in einer Suburbia-Fernsehserie werden einem dann Einblicke in ihren Alltag gewährt, die in Form von unterschiedlichen Aufträgen erlebt werden können. Im weiteren Spielverlauf geht es dann aber darum, Banküberfälle zu planen und durchzuführen. Diese Überfälle bestehen jeweils aus weiteren Einzelepisoden, in denen es gilt, zum Beispiel Fluchtwagen oder möglichst originelle Masken für den Coup zu besorgen. Gerade hier verspricht der Perspektivwechsel während der Action-Sequenzen einen interessanten Dreh. Die Schießereien, in denen vor allem das Deckungssystem verbessert wurde, bekommen so ein taktisches Moment und die Fähigkeiten der Charaktere lassen sich optimal für verschiedene Strategien ausspielen. Nach erfolgreichem Abschluss so eines Raubzuges kann man sich erneut treiben lassen, die von Anfang an komplett begehbare Spielwelt erkunden und beim Golfspielen, Gleitschirmfliegen oder Yoga Kraft für neue Aufgaben sammeln.

dbg176_38_50_medien.indd 47

Mit der Erweiterung der Perspektiven verdichtet sich die übergeordnete Narration um das Streben nach dem Mighty Dollar enorm. Je mehr Einblicke man in die Welt bekommt, desto mehr offenbaren sich auch ihre Zusammenhänge und Wirkmechanismen. Beim Spielen hat man das Gefühl, Teil dieses stilisierten Kaliforniens zu sein. Ein imposantes Beispiel ist die Wertpapier-Börse, die tatsächliche Veränderungen in der Welt in Zahlen abbildet. Man kann in seiner Spielweise aber auch einer eigenen, nichtgeskripteten Handlung nachgehen und die Grenzen der Spielmechanik herausfordern. Auf diese Weise lassen sich chaotische Situationen herbeiführen - etwa, indem man alles in die Luft sprengt, wie man es in GTA immer schon so gerne gemacht hat. Ganz im Sinne eines abwechslungsreichen Spielflusses mit Phasen der Erkundung, Spannung und Entspannung können Spieler nach wie vor selbst entscheiden, wie sie GTA V erleben möchten. Mehr noch als in bisherigen Spielen wird die Besonderheit der emergenten Narration deutlich. Neben dem roten Faden der Handlung, der sich gründsätzlich linear weiterzieht, ergeben sich für den Spieler hier viele übergeordnete Geschichten mit diversen Handlungsmöglichkeiten. GTA Online Ein weiterer Riesenschritt ist der Online-Modus. Natürlich hat es in der Vergangenheit bei Rockstar schon OnlineVersionen offener Spielwelten gegeben. Entscheidend bei GTA V ist aber die Einbettung in den lebendigen Weltentwurf. Elemente der lebendigen Spielwelt werden mit dem Multiplayer-Erlebnis verwoben, neben üblichen Team-Deathmatches ist dann auch ein gemeinsames Spielen gegen computergesteuerte Gegner möglich. Da kann man beispielsweise gemeinsam einen Überfall auf einen Geldtransport durchziehen, muss aber damit rechnen, von anderen Spielern gestört zu werden. Auch hier geht es ums Geld, für das man sich beispielsweise Autos, Waffen oder ein Penthouse auf dem Hügel leisten kann - in das man dann seine Mitspieler einlädt, um den nächsten Coup zu planen, oder sich in den virtuellen Nachrichten über die Fortschritte der anderen Spieler zu informieren. Zweifelsohne ist GTA V wieder ein großes Spiel. Trotz all der technischen Verbesserungen bleibt aber die Frage offen, welche übergeordnete Erzählung tatsächlich in GTA stattfindet. Die Selbstdefinition als Parodie eines spätkapitalistischen Amerika funktioniert in vielen Situationen des Spiels dank ihrer Übertreibungen sehr gut. Sie stellt die allgegenwärtigen rassistischen, sexistischen und kapitalistischen Unterdrückungsmechanismen bloß – doch gibt es im ganzen Spiel keinerlei Gegenpol, an dem diese Übertreibungen gemessen werden könnten. Gerade in dieser Hinsicht bedeutet die Ausdehnung der Welt, der noch größere Überfluss an gescheiterten Protagonisten und die noch korruptere, verkommene Gesellschaft, nicht unbedingt eine gesteigerte Ablehnung der dargestellten Verhältnisse bei den Rezipienten, sondern eher Normalisierung. Die GTA Spielwelt wird nicht einfach nur immer realistischer, sondern die echte Welt wird auch immer mehr wie GTA. Diese Wechselwirkung von Spielen mit realweltlichem Hintergrund und der echten Realität darf man auch bei der Plattheit vieler Wirkungsdiskussionen nicht vergessen. Selbst die schärfste Satire zerfällt bei übermäßigem Gebrauch in stumpfen Zynismus.

47

24.09.13 12:32


176 — film

»Ich habe irrsinnige Angst vor Gewalt, vor Erniedrigung, vor Deutschland. Vieles, was in Finsterworld passiert, kommt direkt aus meinen Albträumen. Seit der Film fertig ist, schlafe ich tatsächlich sehr viel besser.«

»In Südafrika wurden wir wegen unserer Hautfarbe diskriminiert, etwas das wir offensichtlich nicht selbst für uns gewählt hatten. Ich wurde schwul geboren, auch da hatte ich keine Wahl.«

Frauke Finsterwalder

48

dbg176_38_50_medien.indd 48

22.09.13 13:52


Interview Christian Blumberg

bild CK & FF

176

FINSTERWORLD Frauke Finsterwalder und Christian Kracht im Interview Auch wenn sie sich nur noch sporadisch dort aufhalten: Mit Deutschland sind die Eheleute Frauke Finsterwalder und Christian Kracht noch nicht fertig. Nun gewissermaßen auch als Künstlerpaar auftretend, haben die Filmemacherin und der Autor einen Spielfilm geschrieben: Finsterworld, ein Heimatfilm der persönlichen Parallelwelten. Im Verkaufsraum einer Autobahntankstelle ruhen zwei Bockwürste im Würstchenwärmer. Draußen scheint die Sonne, ein Reisebus wechselt auf den Zufahrtsstreifen des Rastplatzes. Hier exkursiert der Leistungskurs Geschichte eines Elite-Internats. Ein Konzentrationslager soll besucht werden, die Schüler vertreiben sich die Zeit mit Sticheleien und Ghost World. Einer von ihnen, Dominik, spielt mit den Inhalten des Lunchpakets. Geschichtslehrer Nickel setzt eine Pause von genau zehn Minuten an: "Und das Austreten nicht vergessen", ruft Nickel und fügt hinzu, mehr zu sich selbst: "Das Aus-tre-ten. Mein Gott, ist die deutsche Sprache schön." Finsterworld ist ein Film über Deutschland, aber anders. In Episoden erzählt er vom Einsiedler, der sich in einen deutschen Zauberwald zurückgezogen hat. Vom mobilen Fußpfleger Claude und seiner sehr speziellen Leidenschaft für den Staub von Hornhäuten. Von einem Polizisten, der sich in ein flauschiges Furry-Kostüm sehnt, von seiner Freundin, die von dieser zweiten Realität nichts weiß, die Dokumentarfilmerin ist und als solche doch verbissen nach 'ganz echter' Realität sucht. Von Realismus, oder was in Teilen der hiesigen Filmund Fernsehlandschaft dafür gilt, halten Finsterwalder (die bislang selbst Dokumentarfilme gemacht hat) und Kracht wenig. Finsterworld ginge als Antithese zum DurchschnittsTatort durch: Sonnenschein durchflutet selbst die geschlossenen Räume, auf der Tonspur erzeugen Wälder und Autobahnen das gleiche, heitere Grundrauschen. Auch die Musik von Michaela Melian (als F.S.K.-Sängerin natürlich prädestiniert für ein Projekt wie Finsterworld) verrät nichts von jener Verzweiflung, die die Protagonisten das hat errichten lassen, was Frauke Finsterwalder ihre Kokons oder Schutzräume nennt: neue Heimaten im Faserland. Was außerhalb der Kokons liegt – auch hier untergräbt der Film Erwartungshaltungen –, lauert im Off. Der erklärendpsychologisierende Gegenschuss bleibt aus, die Kamera ist keine Soziologin. Manchmal bleibt sie gedankenverloren in den Baumkronen hängen. So entstehen narrative Brüche, obwohl der Film doch immerzu erzählt. Das tut er mal heiter, mal erbarmungslos und trocken, dann wieder beinahe albern. Dabei passieren hier doch wirklich hässliche Dinge. Die meisten Bewohner der Finsterworld müssen nicht nur ihrer eigenen Überzeichnung standhalten, sondern auch den kleinen und großen Bösartigkeiten, die das Drehbuch

dbg176_38_50_medien.indd 49

für sie bereithält. Der Geschichtslehrer Nickel artikuliert sich so souverän wie er gekleidet ist. Und doch wird er sich nach dem KZ-Besuch ganz und gar hilflos wiederfinden, in Untersuchungshaft. Im Blick auf die Figuren steckt keine Kaltblütigkeit. Es scheint, als hätten Finsterwalder und Kracht ihnen die glückliche Fügung gegönnt, die sie ihnen doch nicht gewähren. Zu Beginn des Films singt Cat Stevens davon, wie er ganz tief in die eigene Seele hineinhorcht. Ob das nun auf eine künstlerische Praxis hindeuten oder sie eher karikieren soll, ist wirklich nur ein Rätsel unter vielen. Wir müssen nachfragen. In Finsterworld wird sich viel geekelt: vor öffentlichen Toiletten, vor Worten, vor Deutschland. Warum all dieser Ekel? Frauke Finsterwalder: In Deutschland gibt es ja in den Toiletten eine Ablage, ein Tablett, auf dem man das Ausgeschiedene dann genau betrachten kann. Diese Obsession mit Fäkalien, mit Ausscheidungen. In anderen Ländern ist da einfach nur Wasser. Christian Kracht: Diese Ablagefläche ist ja auch eine Art Bühne, ein Spektakel, wenn man so will. Finsterwalder: Aber Ekel ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es geht wohl eher um das im Film von Fußpfleger Claude beschriebene Gefühl, so wie wenn man ein Stück Schorf von einer Wunde abpult. Da ist einerseits ein fürchterliches Ziehen in der Magengegend und gleichzeitig kann man nicht damit aufhören.

Nutzt Ihr Film die Leinwand wie solch eine deutsche Toilettenablage, zum Betrachten und Sezieren, auch zum Überhöhen des dort Vorgefundenen? Kracht: Das trifft es schon recht genau. Dass seziert werden würde, war schon bei Beginn der Drehbucharbeit klar. Das maschinelle Abraspeln der Hornhaut und schauen, was darunter ist. Die Guten werden bestraft und die Bösen kommen davon, werden gar noch belohnt. Finsterwalder: Der Film ist ein bisschen wie ein Comic, eine Überzeichnung. Denn für mich ist Kino selbstverständlich immer und jederzeit eine Überhöhung. Man kann natürlich einfach Bushaltestellen oder Baumärkte und HabitatWohnzimmer zeigen, Menschen, die beim Einkaufen schweigend vor sich hin schauen, nach Hause gehen und duschen und dabei an die Wand starren und dann ein Stück Graubrot essen, und dann soll man sich als Zuschauer überlegen, was die wohl dabei denken. Das ist doch irre deprimierend ... Kracht: ... man kann das Ganze dann noch in die DDR oder nach Berlin-Wedding verlagern. Finsterwalder: Die sonnendurchfluteten Bilder, die Kostüme, das war eine meiner zentralsten Entscheidungen: kein Realismus. Vielleicht bin ich aber auch ein bisschen Ich-bezogen.

49

22.09.13 13:53


176 — film Finsterworld (D, 2013). Regie: Frauke Finsterwalder Drehbuch: Christian Kracht & Frauke Finsterwalder. Mit Corinna Harfouch, Sandra Hüller, Carla Juri u.a. Kinostart: 17.10.2013

Warum gilt Sonnenschein im deutschen Kino eigentlich als unrealistisch? Ich verstehe das wirklich nicht. Können Sie mir vielleicht erklären, warum in deutschen Filmen immer alles verregnet und blaustichig sein muss? Finsterwalder: Das kann ich mir beim besten Willen auch nicht erklären. Kracht: Begonnen hat diese Farbverwirrung eigentlich mit den beiden Filmen "Traffic" (Steven Soderbergh) und "City of God" (Fernando Meirelles), das wurde dann weitergeführt in den Spielfilmen des Werbefilmers und ActionSpezialisten Tony Scott; darin war alles immer geschwefelt und entweder völlig willkürlich gelb eingefärbt oder blau. Das haben dann deutsche Regisseure zusammenhanglos auf Deutschland übertragen und heraus kam dieser furchtbare Blau-Graustich, der irgendwie nun schon seit Jahren als Maßstab für filmische Qualität gilt, was aber ziemlicher Unsinn ist, weil es absolut gar nichts mit irgendetwas zu tun hat. Finsterwalder: Die tristen Farben in diesen Filmen sollen Tiefe und Melancholie vortäuschen. Wie bei einer Audi-Werbung. Kracht: Oft wird dann in diesen Filmen, in denen, wie gesagt, Menschen beim Graubrotessen oder beim nächtlichen S-Bahn-Fahren gefilmt werden, deren Gesichter als Spiegelung in den jeweiligen Scheiben gezeigt, das bedeutet, die Person ist nicht mit sich im Reinen. Dann sieht man die beim Traurigsein und Nachdenken und Durchdie-Nacht-Fahren, und es soll dadurch so eine Art NeoNeorealismus entstehen. Also, ich finde das blöd. Welche Art Filme finden Sie dagegen nicht blöd? Kracht: Auf jeden Fall Filme, in denen ein armer kleiner Hund vorkommt, und ein alter Mann ohne Freunde, der den Hund hochpäppelt und dann wieder verliert, etwa Carlos Sorins "El Perro Bonbon" und "Umberto D." von Vittorio De Sica. Ach nein, der allerbeste Film ist Peter Bogdanovichs "Paper Moon". Finsterwalder: Genau, genau. Malicks "The Thin Red Line", daraus kommt die Idee mit dem Einsiedler, "Starship

50

dbg176_38_50_medien.indd 50

Troopers" von Paul Verhoeven und Wes Andersons "Rushmore", der auf Finsterworld immens großen Einfluss hatte. Frau Finsterwalder, schon der Filmtitel legt ja eine Fährte, die einen auf die Idee kommen lässt, es gäbe in dem Film doch einiges, was mit Ihnen selbst zu tun haben könnte. Was also ist die Finsterworld? Finsterwalder: Der erste Spielfilm, so sagt man, sei stets stark autobiografisch. Oft führt man jahrelang diese oder jene Ideen mit sich, bastelt und doktert und zupft an ihnen herum, und verwendet Themen oder Bilder, die man seit der Kindheit vor sich aufscheinen sieht. Manchmal ist es nur ein Wort wie Finsterworld, das natürlich sehr viel mit meinem Nachnamen zu tun hat, aber auch mit meinem Großonkel Richard Finsterwalder, der 1928 die deutsche Pamir-Expedition leitete und dann Anfang der 30er-Jahre den Nanga Parbat im heutigen Pakistan bestieg. Ich beschäftige mich in meinen Filmen meist und am liebsten mit den Dingen, die mir Angst machen. Ich habe wirklich irrsinnige Angst vor Gewalt, vor Erniedrigung, vor Deutschland. Vieles von dem, was in Finsterworld passiert, kommt direkt aus meinen Albträumen. Seit der Film fertig ist, schlafe ich tatsächlich sehr viel besser. Entschuldigung, aber haben Sie sich diesen Großonkel gerade ausgedacht? Finsterwalder: Nein, überhaupt nicht, so etwas kann man sich doch nicht ausdenken. Kracht: Man kann sich Fraukes Großonkel vielleicht wie den Einsiedler in Finsterworld vorstellen - einen bärtigen Menschen, der sich nur außerhalb der Gesellschaft wohl fühlt; wie jemanden, der sich ganz bewusst zurückgezogen hat in ein Waldgebiet um dort stumm mit Tieren und Pflanzen zu kommunizieren, ein Mensch, der unserer Gesellschaft den Rücken zugekehrt hat, selbstgeschneiderte Flickenmäntel trägt und bei Kerzenlicht viel liest. Er hat im Altai-Gebirge, bei der deutschen Pamir-Expedition, ich glaube, es war 1930 … Finsterwalder: … 1928, aber ich muss Dir widersprechen, es wäre vielleicht besser gewesen, hätte er sich - wie der Einsiedler - von den Menschen ferngehalten. Kracht: Na ja, jedenfalls hat er eine völlig intakte Natur vorgefunden und sie kartografiert; Altai bedeutet ja in der

Sprache der Uiguren soviel wie hinter - oder unter dem Mond; eine vollends abgeschiedene Welt also, ein ganzes Universum voller unbekannter Tiere, Steinböcke, sogar das heute ausgestorbene Przewalski-Pferd hat er wohl noch freilaufend gesehen und beschrieben. Sind an der Natur des Nanga Parbat nicht viele verzweifelt? Kracht: Berge sind meiner Ansicht nach immer Orte der allergrößten Verzweiflung. Das erklärt auch ihr Nichtvorhandensein in Finsterworld: Der Film ist im Grunde ein Versuch, nicht zu verzweifeln. Wenngleich nicht in Form von Bergen, gibt es in Ihrem Film intakte Natur zu sehen. Überhaupt scheinen Teile des Kinos in letzter Zeit eine Sehnsucht nach Natur zu haben, nach so einer Art Rückverzauberung der Welt. Es werden zum Beispiel wieder sehr viele Tiere gezeigt. Finsterwalder: Man könnte natürlich denken, dass die Natur in Finsterworld besonders wichtig ist. Das stimmt aber nicht ganz. Der Film beginnt zwar in der Natur, im deutschem Urwald, aber der ist eigentlich nur eine Art Blase, in der sich eine der Figuren, der Einsiedler, aufhält und wohl fühlt. Die Natur ist die Blase, der Kokon, der ihn schützt. Aber auch die anderen Figuren führen ihre Kokons mit sich: Der Polizist Tom hat seine Furry-Obsession, Franziska ihre Dokumentarfilme, Dominik seine Geheimwelt, und so weiter. Und immer wenn etwas von außen in diese Schutzräume eindrängt, beginnt die Zerstörung. Dann straucheln die Figuren, und der embryonale Zustand löst sich auf. Sie beide halten sich viel in Afrika auf, zur Zeit in Uganda. Finsterwalder: Ja! Am schönsten ist es, mit Christian vor dem "God Bless Shop" in Butiaba im westlichen Uganda zu sitzen. Aus dem Inneren der Blechhütte dringt jeden Tag "Blame It On The Rain" von Milli Vanilli. Auf der unasphaltierten Straße, im öligen Schlamm; Fischkadaver, darauf ein Teppich aus blauschwarzen Fliegen, seit Tagen nur IngwerKaffee. Wir sind gesund. Kracht: In Afrika hat sich meine gesamte Perspektive auf Alles radikal verändert. Ein Wunder, dass so etwas in meinem fortgeschrittenen Alter überhaupt noch geschehen kann.

22.09.13 13:51


176 — warenkorb

176

Tao Lin - Taipei Pille rein und ab ins Internet Mit Taipei hat Tao Lin seinen bislang stärksten Roman veröffentlicht. Er ist eines der bekanntesten und auch umstrittensten Gesichter der sogenannten "Alt-Lit"- Szene der USA, die sich durch unablässiges Genre-Bending, Hipster-Referenzen und penetrante digitale Selbstvermarktung auszeichnet. Zwar scheint auch in diesem Buch die Schilderung einer Oberfläche der besagten Literaturszene New Yorks die Hauptsache, der Roman erlangt jedoch durch die technische und erzählerische Entwicklung des Autors eine neue Vielfalt. Wir folgen Protagonist Paul durch ein solipsistisches Universum an Lesungen und Partys, nach Las Vegas, wo er die Schriftstellerin Erin heiratet, und schließlich zu seinen Eltern nach Taipei. Unabhängig von ihrem Aufenthaltsort nehmen Paul und Erin diverse Drogen, wobei der Konsum unablässig dokumentiert und getwittert wird. Die unmittelbare Direktheit des Linschen Erzählstils, der Lesern in den Vorgängerromanen wie "Richard Yates" oder "Shoplifting from American Apparel" noch wie ein Double Iced Coffee ins Gesicht geschüttet wurde, erscheint nun durch feinfühlige Metaphern und Betrachtungen erweitert. Der vorgebliche Hedonismus des Lebensstils wird nicht verklärt, sondern durch die komplexen Realitäten und detailreiche Beschreibung der Mikrokosmen gebrochen. Drogen, Beziehungen und "neue Technologien" werden nicht mehr nur thematisiert, sondern zum Katalysator der Kreativität sowie Mittel zur Introspektion der Identität und des eigenen Körpers. Paul will ein Beziehungsproblem verstehen, muss jedoch feststellen, dass er dazu ebenso unfähig ist wie eine Amöbe, die versucht, eine Webseite mit CSS zu erstellen. Paul hat einen Ordner voller emotionaler und geistreicher, jedoch nie abgesendeter Tweets. Diese verzweifelten, oft gar nicht durchgeführten Kontaktversuche weisen zum einen auf die vielbesagte Entfremdung durch digitale Kommunikation hin, und trotzdem mangelt es Taipei nicht an Humor, denn auch der Autor selbst scheint sich die Frage zu stellen, ob es sich bei seinem Genie nun um Autismus, Narzissmus oder doch nur die klischeehafte ewige Pubertät handelt. Dabei wird die Prosa genau so poetisch, wie es das Herz eines zwischen Größenwahnsinn und existientieller Verzweiflung oszillierendem New Yorker Hip-Intellek-

tuellen zu sein vermag. Man findet neben leicht naiven Dialogen metaphorische Beschreibungen und umherwandernde Meta-Erzählungen, und wie Marcel Proust mit der berühmten Madeleine im Tee, behilft sich Lin des Adderalls, um die Kindheitserinnerungen und Gedankengebilde zu triggern. Es bleibt, dass die Partys, Lesungen und Barbesuche zu einer Suppe des Rausches verschwimmen, was der Handlung stellenweise leider ein wenig Antrieb nimmt. Xanax, MDMA, Kokain, LSD, Pilze, Adderall, Methadon, Klonopin und Heroin führen dazu, dass sich zu keinem Zeitpunkt genau feststellen lässt, wie Pauls Gemüt gerade beeinflusst wird. Doch genau darin liegt auch die Stärke, denn Lin schafft es, den Fokus vorbei an der Verherrlichung oder Persiflage des Konsums auf eine Betrachtung der bloßen Existenz Pauls zu legen. Aus diesem Grund vollbringt Taipei mehr, als den bloßen Zeitgeist voranzutreiben. Er reiht sich durch feinfühlige Technik geschickt in die Tradition großer Erzählungen ein. Elisabeth Giesemann

Tao Lin, Taipei, ist bei Canongate erschienen.

51

dbg176_51_57_wk.indd 51

22.09.13 14:19


176 — warenkorb

Shintaro Miyazakis Algorhythmisiert Ingenieure und Programmierer der Relaisgesteuerten Rechner aus den 30er- und 40er-Jahren entwickelten ein spezifisches Hörwissen. Die zeitkritischen, also im Timing voneinander abhängigen Rechenoperationen erzeugten ganz konkrete Rhythmen. War ein Ablauf fehlerhaft, klang die Maschine "falsch": Debugging per ästhetischer Wahrnehmung wurde mögliche und gängige Praxis und wurde nach der Entwicklung der lautlos operierenden Elektronenrechner sogar mithilfe künstlicher Sonifizierung durch Zwischenschaltung von Audiowandlern noch fortgeführt ("Pling" tönt an dieser Stelle die Metapher unseres Magazintitels!). Dieses "algorhythmische Hören" ist nur ein besonders schlagendes vieler möglicher Beispiele für die faszinierende zentrale These dieses Buchs: Ein Zugriff auf die immer mitlaufende musikalisch-ästhetische Ebene prozessualer Abläufe sei nicht nur sinnvoll, sondern auch immer schon Teil der Geschichte unseres Umgangs mit ihnen gewesen – und mehr denn je tue es heute not, sich dieses Zugriffs auch ganz bewusst zu bedienen. Denn spätestens seit der massenhaften Verbreitung digitaler Maschinen ist unser Alltag von implementierten Algorithmen nicht nur durchwirkt, sondern geprägt. Miyazakis titelgebende Wortschöpfung "Algorhythmus" will das bezeichnen, was in einer physisch-realen Maschine abläuft, die einen Algorithmus (als lediglich abstrakt-mathematisches Modell) in Raum und Zeit umsetzt. Ein Vorgang, der heute meist "unerhört"

schnell (und leise) abläuft, sich aber immer verklanglichen lässt (wie etwa bei Timo Bingmanns Projekt der Explikation von Sortierungsalgorithmen: de-bug.de/medien/archives/the-sound-of-sorting.html). Auf knapp 300 Seiten zeichnet Miyazaki diese Geschichte in Form einer Medienarchäologie nach, ganz in der Tradition der diskursanalytischen Medientheorie Friedrich Kittlers und Wolfgang Ernsts, an deren Heimat, der Humboldt-Universität Berlin, er mit diesem Werk promoviert hat. Dabei leistet er nichts weniger als den Nachweis, dass insbesondere die Geschichte der Computertechnik und die der Musik unauflösbar miteinander verschränkt waren und sind. Es wird nicht überraschen, dass es sich dabei nicht um Bettlektüre handelt – schon allein weil es auf so vielen Ebenen inspiriert. Miyazakis detaillierte Beschreibungen der technischen Verfahren und ihrer Verwendungen, von den eingangs erwähnten Rechenmaschinen über die Uhrwerke und Musikautomaten des Spätmittelalters, Webmaschinen und Telegrafie bis zu Netzwerktechnik und DSP, lesen sich durchaus nicht weniger fesselnd als die der Errungenschaften von Mathematik (wie schriftliches Rechnen) und Musiktheorie (wie Rhythmusnotation), deren Geschichte er parallel dazu entwickelt. Ein wenig einlassen muss man sich allerdings auf die referenzbeladene Dichte der medientheoretischen Ausarbeitung, die sich nicht gezielt an akademische Laien wendet, und in deren Komplexitätsumarmung die Stoßrichtung von Miyazakis Anliegen im Auge behalten werden will: Unsere durchdigitalisierte Welt kann nur verstanden werden, indem wir ihren Algorhythmen zuhören – und dabei offen bleiben für ästhetische Residuen jenseits der rein technischen Analyse. Multipara

Shintaro Miyazaki, Algorhythmisiert. Eine Medienarchäologie digitaler Signale und (un)erhörter Zeiteffekte, ist im Kulturverlag Kadmos Berlin erschienen.

52

dbg176_51_57_wk.indd 52

22.09.13 14:19


176

Das Gocycle kostet ca. 3.300 Euro.

Gocycle Das Elektrofahrrad zum Tragen

Wer also soll es fahren? Das existentiellste Problem des E-Bikes ist die Idee des Fahrrads als Sportgerät. Wer einen Führerschein besitzt und/oder sich Fahrkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel leisten kann, fährt trotzdem Rad, weil er sich sportlich betätigen möchte. Die Menschen, Spaziergänger und Normalfahrradfahrer, die ich in der Praxis mit dem Gocycle lässig hinter mir lasse, schauen interessiert auf das Gefährt. Meinungen gibt es viele: "Omabike, viel zu dicke Reifen, komplett unsexy" bis "neu, appealing, urban, aufregendes Design". Darauf sitzend erfasst einen direkt ein Smart-Car-Gefühl - City-Flitzer, Kleinheit, Kompaktness, Wendigkeit. Das Schöne: die Schweißfreiheit. Das ist auch schön für die Kollegen im Office. Aber wollen die einen dicken Kollegen? Das E-Bike - ein Ausdruck der Ambivalenzen. Zumal: Für das "Pedelec" muss man ja

dbg176_51_57_wk.indd 53

in die Pedale treten, um in den Genuss der elektronischen Unterstützung zu kommen. Es gibt sich auch nicht sofort als E-Bike zu erkennen, denn Vorderradmotor und Akku befinden sich gut versteckt im Rahmen. Das Lenker-Display, in dem rote Dioden blinken oder von links nach rechts wandern, ist der Schnauze K.I.T.T.s aus Knight Rider nachempfunden. Die laufenden, leuchtenden Punkte informieren über Ladezustand, Fahrmodus und den eingelegten Gang. Eigentlich also viel zu wenig. Warum werden keine Herzfrequenzen gemessen, warum zeigt es nicht die genaue Geschwindigkeit an? Warum hat es keine Fragen an mich? Erwartungen, die man 2013 durchaus haben könnte. Immerhin: Zum Fahrrad gibt es eine Android- und iOS-App, mit der man die unterschiedlichen Fahrmodi etwas angenehmer auswählen kann. Eindruck machen die hydraulischen Scheibenbremsen: zackig und extrem auf den Punkt. Die elektronische 3-Gang-Schaltung funktioniert einwandfrei, führt aber auch zum größten Problem des Fahrrads: die Übersetzung. Das Gocycle ruckelt praktisch ständig, man wechselt den Gang (oder das Fahrrad wechselt ihn alleine, etwa an der Ampel, da startet man dann automatisch wieder im ersten, sehr gut!) oder es setzt die elektronische StoßBeschleunigung ein, die aber zumeist auch sofort wieder abbricht. Hat man sich daran gewöhnt, läuft es aber. Der Akku hat eine Reichweite von bis zu 30 km und unterstützt den Fahrer bis zu einer Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h. Mit knapp unter 16 Kilo ist das Gocycle außerdem ein Leichtgewicht und lässt sich mit wenigen Handgriffen zusammenklappen bzw. auseinandernehmen. Im zusammengefalteten Zustand passt das Gocycle in eine Transporttasche, die man problemlos im Auto oder in der Bahn mitnehmen kann. Man kann das Fahrrad, bei dem man nur wenig Pedalieren muss, also auch sehr gut tragen. Topp!

CONVERSE & MARGIELA Ganz neu abgeschabt Das ästhetische Farbideal des belgischen Modehauses Maison Martin Margiela war stets so simpel wie einleuchtend: einfach alles weiß tünchen. Das wurde mit Klamotten, genau wie mit ganzen Appartement-Einrichtungen gemacht. Am Schuh, dem Kleidungsstück, das traditionell am meisten aushalten muss, kommt das Prinzip der Abschabung zu sich selbst. Nun also der Chuck Taylor All Star und der Jack Purcell von Converse. Die Sneaker sind vollständig handbemalt mit reinweißer Farbe, mit dem Tragen der Schuhe bricht sie dann nach und nach auf und die äußere Farbhülle bröckelt langsam ab. Zum Vorschein kommen die darunterliegenden Originalfarben.

Der Preis liegt bei 200 Euro.

53

22.09.13 14:21


176 — Warenkorb

Sony HDR-MV1 Camcorder nicht nur für den Proberaum Unter den 345.432 Neuheiten, die Sony auf der IFA vorgestellt hat, befindet sich auch dieser kleine Kerl. Sony verbindet in dem neuen Camcorder zwei aktuelle Stärken des Konzerns: Kamera- und Audio-Technik. Der HDR-MV1 ist zunächst eine extrem leichte und handliche Videomaschine. Der BSI-Sensor stellt sicher, dass auch bei schlechten Lichtverhältnissen noch gute Aufnahmen im Speicher landen. Das Objektiv stammt von Carl Zeiss; Videos werden in 1080p aufgenommen. So weit, so gut. Die Stärke des Neulings liegt allerdings in den beiden Mikrofonen, die vorne fest verbaut sind. Sony baut seit Jahren exzellente FieldRecorder und verbindet hier HD-Video mit hochauflösendem Stereo-Sound. Wenn einem diese Mikros nicht reichen, können auch externe angeschlossen werden. Der Camcorder verfügt über WiFi - so können Aufnahmen der Bandprobe etc. direkt geteilt werden, auch über NFC. Entsprechend ausgestattete Tablets und Smartphones bindet man so direkt ein. Die gespeicherten Sessions werden außerdem via Lip-Syncing zur Not wieder in die gemeinsame Spur gebracht. 300 Euro wird der HDR-MV1 kosten, wenn er noch vor Weihnachten in den Handel kommt. Bei einem ersten Test funktionierte alles bestens, Audio- und Videoqualität lieferten vorbildliche Ergebnisse. Das EPK aus dem Proberaum kann Wirklichkeit werden.

Samsung Galaxy Gear Detektivkasten der digitalen Generation Samsungs Motto für die aktuelle TechnikSaison: Smart Future. Wahr werden soll die mit der Smartwatch Galaxy Gear. Die Vorstellung zur IFA verschafft Korea zwar einen Zeitvorsprung vor Apples Pendant (mit dem vielleicht schon im Oktober, sicher aber im nächsten Jahr gerechnet wird). Gear kann zum jetzigen Zeitpunkt allerdings ausgesprochen wenig und lässt sich außerdem nur mit wenigen Geräten koppeln. Voraussetzung zur Kontaktaufnahme ist Android 4.3, das beherrschen bei Samsung aktuell nur das Note 3 und das Note 10.1 in der neuesten Version. Immerhin sollen das S3 und das S4 noch dieses Jahr via Software-Update kompatibel gemacht werden. Ja, auf dem 1,63" großen Super-AMOLED-Display laufen Apps. Über 70 zur Markteinführung, betont Samsung. Nur lassen sich die so gut wie nicht nutzen. Zu wenig Platz. Ja, mit der Gear kann man auch telefonieren. Zumindest Telefonate annehmen: Im Armband sind zwei Mikrofone eingebaut. Klingelt's, muss man einfach den Arm heben. Ob das zu einem erprobten Sozialverhalten wird, bleibt abzuwarten. SMS lassen sich lesen, weitere Benachrichtigungen einsehen. Eben das, was man erwartet hat von so einer smarten Uhr, von der noch keiner weiß, ob die als Produktkategorie nicht doch schon spätestens 2015 auf der Überhypte-Technik-Müllhalde landen wird. Am tollsten ist eigentlich die Kamera, ebenfalls im Armband fest verbaut. Der Traum jedes von Neugier getriebenen Individuums. Überwachung, leicht gemacht. Und irgendwie auch konspirativ. Denn die Auflösung beträgt lediglich 1,9 Megapixel. So bleiben Bilder herrlich wage, Videos können systembedingt nur wenig länger sein als auf Vine. Rund 300 Euro soll die Galaxy Gear kosten. Kaufen werden sie eh alle, einfach um die Smart Future auszuprobieren.

54

dbg176_51_57_wk.indd 54

22.09.13 14:24


176

Urbanears Kransen Bunter Bassdruck mit Clip-Verschluss

Lenovo Yoga 2 Pro Gymnastikmatte, jetzt in hires Die Yoga-Reihe von Lenovo gehörte im letzten Winter zu den ganz wenigen Beispielen, wie die neue TouchscreenOptimierung von Windows 8 sinnvoll und überzeugend umzusetzen ist. Laptop und Tablet in einem, dazu sagenhaft unkaputtbar und in vier empfohlenen Aufstellungsmöglichkeiten (der Zelt-Modus!) wirklich universell einsetzbar. Jetzt geht die Erfolgsgeschichte weiter. Ins Auge springt zunächst das famose 13,3"-Display, das mit sagenhaften 3.200x1.800 Pixeln auflöst und so alle Inhalte gestochen scharf darstellt. Auch die Prozessoren sind in der Jetztzeit angekommen, Intels Haswell-Chips garantieren lange Batterielaufzeit und vorbildliche Performance. Bis zu 512GB Flash-Speicher lassen sich im Yoga 2 Pro verbauen: Das dürfte auch ohne Wolkenanschluss locker reichen. Der Sound der Lautsprecher steckt unter den Fittichen von Dolby und dank Intel WiDi-Technologie lassen sich Inhalte problemlos auf dem Fernseher wiedergeben. Am Erfolgsrezept ändert Lenovo hingegen - zum Glück - nichts. Ob als klassisches Tablet, als noch klassischerer Laptop oder aber als quasi-mobile Kinoleinwand: Lenovo zeigt mit dem Yoga 2 Pro, wie das Konzept der Convertibles verwirklicht gehört.

In gleich zehn Farben geht das neue InEarModell des schwedischen KopfhörerUnternehmens Urbanears an den Start: weiß, tomatenrot, kürbis, lila, indigo, dunkelgrau, korallenrot, kobalt, kleeblattgrün und schwarz. Wie gemacht für alle Gelegenheiten also, nicht nur in Verbindung mit dem iPhone 5c. Und bei einem Preis von 40 Euro könnte man in der Tat über eine situationsbedingte Zweitfarbe für die Ohren nachdenken. Dabei denkt Urbanears nicht nur an Style, sondern auch an Praktikabilität: Mit dem CableLoop lässt sich Kabel vor den nervtötenden Verhedderungsorgien retten, SnapConstruction sorgt unterdessen dafür, dass die beiden Ohrstecker feinsäuberlich aneinanderpappen. Eine Fernbedienung inklusive Freisprecher ist Teil des Pakets, genau wie der kleine Design-Wimpel. Bleibt die Frage, welche Farbe es denn nun wirklich sein soll? We couldn't possibly comment.

55

dbg176_51_57_wk.indd 55

22.09.13 14:26


176 — Warenkorb

Philips M1X-DJ Bluetooth Boombox trifft mobile Party Eine tragbare Party? Für echte DigitalDJs? Hatte uns noch gefehlt. Der Philips M1X-DJ ist eine voluminöse Boombox mit integriertem DJ-Controller für die iPad- und iPhone-App Djay. Vom Batteriebetrieb bis hin zum Tragegurt ist alles abgestimmt auf die kleine Open-Air-Party, für die der Sound mit 80 Watt durchaus reicht, inklusive der für diese Größe knackigen Bässe. Der Controller lässt sich umdrehen, dann wird aus dem M1X-DJ eine Bluetooth-Boombox (mit zusätzlichem Line-Eingang) und als DJController läuft er sowohl im Übungs-Modus mit den Lautsprechern zum DJ, als auch im Party-Modus umgedreht. Der LightningAnschluss und die Beschränkung auf eine spezielle App dürften alle Nicht-Apple-Fans und Freunde anderer Software in die Röhre gucken lassen.

Das ist schade, aber stellt auch klar, dass man wirklich auf so eine Lösung gewartet hat. Vorbei die Zeiten, als man ein Soundsystem verkabeln musste, wenn man nur mit ein paar Freunden einen neuen PartyOrt reclaimen wollte. Mit 399 Euro eine Verlockung mehr, auch wenn man zu diesem Preis nicht gerade einen Killer-Controller bekommt, was die Verarbeitung der Knöpfe betrifft. Aber es ist alles dran was man braucht und definitiv mehr als ein Spielzeug.

Kindle Paperwhite Heller, schneller, cleverer

Man kann sagen was man will, es spricht einiges für E-Ink. Und wenn es nur die vergleichbar endlose Batterielaufzeit ist, die im Urlaub zum Beispiel schon Mal entscheidend sein kann. Obendrein ist man bei einem dezidierten E-Reader nicht immer einen halben Klick von der nächsten TabletVerlockung entfernt. Der neue Paperwhite (mit seiner integrierten und verbesserten Beleuchtung) kann obendrein einiges mehr: schnelleres Display, bessere Reaktion auf die Touchoberfläche, einfacheres Blättern, X-Ray und Wikipedia im Boot, ein spezieller Kindermodus mit Ansporn, mehr zu lesen, und ganz bald auch noch das perfekte Social-Reader-Tool, Goodreads. No-Frills, aber doch mit allem was man braucht, ist der neue Paperwhite definitiv der vielseitigste E-Reader für alle, die ihr Bücherregal bei Amazon in der Cloud gelagert haben.

56

dbg176_51_57_wk.indd 56

22.09.13 14:28


176

Apple iPhone 5s Touch me in 64Bit

Nicht das bunte iPhone 5c ist der entscheidende Schritt von Apple in die Zukunft der Smartphones - auch wenn es sich wie geschnitten Brot verkaufen wird -, sondern das neue Flaggschiff, das 5s. Drei Dinge sind dafür verantwortlich. Zum einen der neue Prozessor, der A7 ist der erste Chip in einem Smartphone, das mit 64Bit-Architektur läuft. Das bedeutet deutlich bessere Performance, nicht nur in komplexen Apps. Auch die Standards wie E-Mail und das Web rasen in völlig neuer Geschwindigkeit über das Display. Wie so oft ist Apple aber bei dieser Umstellung auf die Kooperation der Entwickler angewiesen. Die müssen nachbessern, Zeit und Arbeit investieren, um ihre Programme fit zu machen für die Zukunft. Laut Apple ist die Umstellung jedoch ein Kinderspiel und - ehrlich gesagt - wem könnte dieses Pistole-auf-die-BrustSetzen problemloser gelingen als Cupertino? Dann ist da die neue Kamera: Das iPhone 5 hatte die mit Abstand beste Handy-Kamera auf dem Markt, dank eines größeren Sensors und größeren Pixeln verspricht das 5s nun noch bessere Bilder. Der neue True-Tone-Blitz soll dank zweier unterschiedlich getönter LEDs nicht einfach nur Helligkeit bringen, sondern erstmals auch das Motiv farbtreu abbilden. Keine grellen Flecken mehr, kein (un)ästhetisches Kuddelmuddel. Video-Freunde freuen sich außerdem über Zeitlupen-Aufnahmen bei 120 fps. Und schließlich ist da noch der Fingerabdrucksensor. Den setzt Apple aktuell nur für das Entsperren des Homescreens, immerhin aber auch für die Authentifikation im iTunes- und App-Store ein. Der Masterplan liegt bestimmt schon in der Schublade. Motorola ist mit diesem Konzept vor Jahren bereits kläglich gescheitert, wenn Apple das Feature jedoch clever erweitert, ist der Geschäftskunden-Markt im Sack. Noch mehr, als er es aktuell eh schon ist. In Spacegrau, silber und (neu!) gold. Welchen BlingBling-Trend im Silicon Valley das befeuern soll, ist ein Rätsel. Vielleicht findet man das ja aber in China geil. Oder im Bushido-Fanclub.

Asus Fonepad 7 das fehlende bindeglied Wir haben große Hände. Wir lieben große Bildschirme. Der Phablet-Craze macht für uns durch und durch Sinn und niemand bekommt das größer hin, als Asus mit dem 7"-Tablet, mit dem man auch telefonieren kann. Auch wenn es wohl eher als Tablet gedacht ist, aber wer will jetzt kleinlich werden. Wir fragen uns schon lange, warum Tablets eigentlich per se nicht telefonieren dürfen, und wie Jimmy Kimmel bewiesen hat: Menschen halten selbst das iPad Mini

für das neue iPhone. Das neue Fonepad 7, zur IFA vorgestellt, ist an jeder Stelle leicht aufgebohrt, essentielle Änderungen gibt es aber nicht. Bessere Lautsprecher, bessere Kamera (5 Megapixel), Atom-Z2560-Prozessor, Android 4.2, microSD und 8-32GB zur freien Wahl zum erschwinglichen Preis. Die Qualität von Asus-Tablets, gerade im kleinen Bereich, braucht man ja nicht mehr zu betonen - das Nexus 7 ist eh jedermanns Lieblings-Mini-Tablet. Und das schaffen sie auch hier, nur eben, mit dem winzigen, aber manchmal wirklich essentiellen Vorteil: Man kann damit auch telefonieren.

57

dbg176_51_57_wk.indd 57

22.09.13 14:32


176 — bermuda / Musiktechniktage

BerMuDa DAYS –

Die Tagesveranstaltungen: Konferenz, Lesungen, Fashionmarkt, div. Veranstaltungen in den Clubs.

Bermuda im Ritter Butzke Vom 6. Bis 10. November zelebriert die BerMuDa als einziges elektronisches Clubfestival der Stadt die Tanznächte und Nachdenktage in Berlin. Nachts wird in den Clubs verschwitzt, was sich tagsüber in Workshops und Performances, Vorträgen und Diskussionen angestaut hat. Es geht ja, uns und der BerMuDa, nicht nur um den aktuellen Clubsound, sondern auch um die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die ihn ermöglichen. Der Sound der Stadt ist immer auch das Produkt von sich aneinander reibenden Lebenswelten, Konflikten, Verdrängung und Überhöhung. Und da das ja sowieso alles zusammengehört und um der gestiegenen Komplexität Form zu geben, wird die BerMuDa zum fünften Geburtstag noch Mal größer und strukturiert sich neu - jetzt auch mit Büchern und Konzerten! Wie immer mittenmang: DE:BUG mit den Musiktechniktagen, mit App-Workshops, Bastelstunde und Techno-Kuscheln. Weitere Infos unter: bermuda-berlin.de

BerMuDa NIGHTS –

Die Nachtveranstaltungen: Labelshowcases und Clubnächte, Kneipenabende und Afterhours.

BerMuDa CONCERTS – Konzerte und Shows in den teilnehmenden Clubs und Veranstaltungsorten. Zum Beispiel mit Hercules & Love Affair am 6.11. Hot Chip am 7.11. Little Dragon DJ-Set am 9.11. Aerea Negrot am 9.11. Berlin ist im Wandel, Berlin ist prekär. Aber was macht die Clubszene aus dem ständigen Wanken, befinden wir uns im elektronischen Elend oder im Glück der wenigen Kohlen? Das Bermuda Lab stellt die wichtigen, aktuellen Fragen: zum Abwandern der Basslines, der Schwanzparade hinterm DJ-Pult, den Techno-Touristen und das Verhältnis von Kunst und elektronischer Musik in dieser seltsamen Stadt.

BerMuDa BOOKS – 5 Bücher in 5 Bars. Literatur zu elektronischer Musik und Berliner Clubkultur. Zum Beispiel mit:

Dazu 40 Club-Nächte mit Performances, Gigs und Showcases von zum Beispiel: BPitch, Mobilee, Off Rec., Diynamic, Souvenir, Get Phsyical, Watergate Rec., Ritter Butzke Studio, URSL, Kater Mukke, Heinz Music, Wilde und Clone Records + Delwin. Die BerMuDa-Nächte finden unter anderem statt im: Arena Club, Asphalt, Brunnen 70, Cassiopeia, Chalet, Cookies, Crackbellmer, Fiesere Remiese, Flux Bau, Gretchen, Grießmühle, Humbolthain, Kater Holzig, Kosmonaut, mein haus am See, Minimalbar, Postbahnhof, Prince Charles, Pride, Ritter Butzke, Rummels Perle, Shift, Solar, Suicide Circus, Süß war gestern, Südblock, Tausend Bar, Tresor, Trust Bar, Watergate, Weekend

Klang der Familie, gelesen auf englisch von Sven von Thülen Lost and Sound, gelesen auf englisch von Tobias Rapp Die ersten Tage von Berlin: Der Sound der Wende, von Ulrich Gutmair Sowas von da, von Tino Hanekamp

58

dbg176_58_59_bermuda.indd 58

22.09.13 14:40


176

DE:BUG MUSIKTECHNIKTAGE

Betreutes Basteln, Zerren, Töne bergen im Ritter Butzke und Just-Music-Store vom 7.11. bis zum 9.11.

Ableton Bei Ableton geht es um alles rings um Live 9, die neuen Möglichkeiten und den Performance-Controller Push, die euch von Hecq und Jem vorgestellt werden. KOMA Elektronik T.raumschmiere aka Marco Haas zeigt und erklärt im ersten von zwei Worshops, wie er mit AnalogEquipment live spielt. Im DIY-Workshop mit Derek Holzer geht es dann darum, Soundboxes zu basteln, kleine elektroakustische Instrumente mit eingebautem Mikro, Verstärker und Lautsprecher, mit denen sich Drones und Reverbeffekte erzeugen lassen, die aber auch die kleinen, versteckten Klänge der Umwelt hervorlocken helfen. Native Instruments Was Native Instruments dieses Jahr zeigen werden, ist noch höchst geheim. Bevor wir uns also hier verplappern oder zu sehr aus dem Fenster lehnen: Es wird auf jeden Fall spannend!

Keine BerMuDa ohne DE:BUG: Es geht mal wieder um fast alles, was auch nur im entferntesten im Zusammenhang mit Musikproduktion steht: auflegen, live spielen, löten und basteln, digital, analog, alte Bekannte und auch ein paar Überraschungen. Natürlich könnt ihr auch diesmal diverse Tools selbst basteln: Bassdrum 2.0, Fuzz-Distortion und Soundboxes sind im Angebot. Wir freuen uns über diese Partner: Ableton, LeafAudio, touchAble, Liine, Native Instruments, Koma Elektronik, Serato, Mikrosonic, DVD Lernkurs und Just Music. Infos, Termine, Teilnahmebedingungen und die genauen Themen für die einzelnen Workshops und Veranstaltungen findet ihr ab dem 10. Oktober unter de-bug.de/musiktechniktage2013, anmelden müsst ihr euch lediglich für die Workshops von LeafAudio und KOMA Elektronik.

Liine Gareth Williams, CEO von Liine, stellt die iPad-App LiveControl 2 vor, außerdem steht er Rede und Antwort zu allen Liine-Apps und erklärt noch geheime neue Features von Lemur und wie man damit andere iOS-Apps steuern kann. Mikrosonic: SPC - Music Sketchpad Wie funktionieren Sampling- und Remix-App für Android-Phones und -Tablets, was kann man mit eigenen Sounds und direktem Recording in der App sonst bewerkstelligen? Diese Fragen beantwortet der MikrosonicWorkshop.

Mikrosonic: RD4 - Groovebox Die Entwickler präsentieren diesen Synthesizer samt Drum-Machines mit Sequenzern/Piano Roll in einer App für Android und iOS - und zeigen, wie man ihn mit einem Midi-Keyboard verbindet. LeafAudio Nach dem Erfolg des Bassdrumbastelns letztes Jahr gibt es heuer die Version 2 der BassTrommel zu bauen, die sich jetzt mit ihrer neuen Trigger-Schaltung mit fast jedem Audiosignal auslösen lässt. Wer mehr auf Verzerrung steht, für den gibt es einen Workshop zum neuen Fuzz-Distortion von LeafAudio, der jedes Audiomaterial herzhaft durch den Wolf dreht. touchAble touchAble sind mit der neuen Version ihrer App touchAble 2 am Start, die nicht nur fast jeden Aspekt von Ableton Live fernsteuern kann, sondern auch das Erstellen auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittener Oberflächen ermöglicht. Dazu stehen sie natürlich auch für Fragen zu ihrer DJ App (d:b ) bereit. Serato Bei Serato geht es dieses Mal in zwei Workshops um das Auflegen in Verbindung mit dem Rane SixtyFour und dem Pioneer-DJM900SRT, außerdem wird es noch einen speziellen Performance-Workshop geben. DVD Lernkurs Heiner Kruse aka The Green Man zeigt euch in seinem Beat Production Workshop, wie er seine Beats bastelt.

59

dbg176_58_59_bermuda.indd 59

22.09.13 14:42


176 — musiktechnik

bild Benedikt Bentler

Studiobesuch:

Arovane

Nach jahrelanger Pause, in der Uwe Zahn aka Arovane nur Motorrad fuhr und sehr viel Kaffee trank, hat er wieder ein Wunderwerk der Elektronika aufgenommen. Grund genug, ihn in seinem Wohnzimmerstudio zu besuchen um zu erfahren, wie man Bits in GefĂźhle verwandelt.

60

dbg176_60_63_mutech.indd 60

19.09.13 17:02


Text Felix Knoke

176

Uwe Zahn hat nach neun Jahren Pause ein neues Album als Arovane herausgebracht: freischwebende, verzaubernde Tracks, so jung und alt wie eh und je. "Räumt man die tonnenschweren, zerhackstückten, durch digitale Hallspiralen und endlos erscheinende Delays gejagten Rhythmen für einen Moment auf die Seite", schrieb vor dreizehn Jahren Kollege Thaddeus Herrmann in der Kritik zu Arovanes Album "Atol Scrap", "findet man sich in einer funkelnden und wunderbar schimmernden Welt voller Sternschnuppen, den konservierten Farben aller Sonnenauf- und Untergänge der letzten 100 Jahre und wunderbar grünlicher kleiner DSPMonster." Eine Beschreibung, die auch noch zur neuen Platte "Ve Palor" passt. Arovane eröffnet mit unverkennbar technischem Klang wieder eine Welt jenseits der Technik. "Huhu?", rufe ich fragend in den Innenhof. Von irgendwo oben schallt es sanft zurück: "Huhu. Huhu." Aus dem vierten Stock eines Wohnhauses in Berlin- Friedrichshain schaut ein freundlicher Mann mit wenigen Haaren und randloser Brille aus dem Fenster: Uwe Zahn, Arovane. "Ich bring schon mal Kaffee und Kekse", verabschiedet er sich kurz, als ich es mir auf dem Boden des Wohnzimmerstudios bequem mache. Neben Bett und Regal steht ein riesiges Mischpult; ein gutes Dutzend Synths und Controller sind auf diversen Anrichten, Pulten und Racks konzentrisch angeordnet. Im Brennpunkt: ein Hocker mit gepolstertem Mauspad für eine Apple-Maus. Davor ein schwarzer Kasten mit großem Display und harten Tasten, Typ Supermarktkasse für Musiker. Bevor ich mir den Namen zum Nachgooglen aufgeschrieben habe, ist Uwe mit einem Tablett zurück. Das Gespräch dreht sich sofort um viel wichtigere Dinge als Musik: Alter und Kaffee. "Früher bin ich wie Klaus Schulze beim Musikmachen auf dem Boden gesessen, die Instrumente um mich herum. Doch dann hab ich's mit den Knien bekommen." Heute braucht Uwe keine Erdung mehr zum Musikmachen, sondern Kaffee. "Kaffee ist mein Lebensprinzip", sagt er, während er sich eine Tasse aus dem schwedischen Perkolator eingießt. "Ich hatte mal sechs oder sieben Kaffeemaschinen. Drei hab ich verschenkt, weil das einfach zu viel wurde. Ich war ja nur noch am Entkalken. Deswegen hab ich neun Jahre keine Musik gemacht." Mit "Lilles" verabschiedete sich Arovane damals öffentlich von der Musik. "Goodbye Forever" hieß das letzte, traurige Stück dieser schönen Platte, danach passierte jahrelang nichts - ein paar Live-Gigs, mehr war von Arovane in der Öffentlichkeit nicht zu sehen. Er, Arovane-Uwe, hatte die Inspiration verloren, mit dem Motorrad herumfahren war verheißungsvoller. Doch das Motorrad steht jetzt unten im Hof und Arovane ist zurück. "Ich habe vor ein paar Monaten einen Track auf Soundcloud hochgeladen, um das mal auszuprobieren. Darauf gab eine ziemlich tolle, breite Resonanz. Das hat mir viel Mut gemacht und mich so sehr inspiriert, dass ich wieder mehr machen wollte." Worte und Silben Uwe ist in bester Stimmung. Die zweite Testpressung seines neuen Albums "Ve Palor" ist gerade angekommen. "Ahhh, das klingt gut", haucht er beim Probehören. Beim letzten Mal hatten die Höhen und Tiefen auf dem innersten Track der ersten Seite noch Probleme gemacht. Aber jetzt scheint dem Release nichts mehr im Wege zu stehen. Der Sound geht ordentlich weit runter, das Wohnzimmer bebt und zwitschert.

»Früher bin ich wie Klaus Schulze beim Musikmachen auf dem Boden gesessen, die Instrumente um mich herum. Doch dann hab ich's mit den Knien bekommen.«

Was wohl die Nachbarn denken? "Mit denen habe ich ein Abkommen geschlossen. Die kennen mich und rufen nicht gleich die Polizei." Wie auch so einem netten Kerl böse sein? Uwe ist ein entspannter Gesprächspartner, im Plauderton streicht er verschiedene Themen an, verliert sich ab und zu in leise aushallenden Wortspielen oder denkt laut über einen interessanten Begriff nach. Mit ruhiger Stimme erzählt er ganz offen vom Leben, von seinen Gefühlen und Wünschen. Als er die neue Platte zum ersten Mal für uns auflegt, breitet sich Friedfertigkeit aus. Zur Musik finden wir erst über Umwege. "Wir hören Ve Palor", sagt Uwe, halb unter dem Mischpult vor dem Plattenspieler kauernd. "Der Titel hat nichts zu bedeuten. Arovane, Ve Palor ... Ich spiel gerne mit Worten und Silben herum. Ich habe sehr viele Samples und Sounds und die wollen irgendwie alle Namen haben. Bestimmte Klänge haben bestimmte Klangnamen für mich und dann nehme

61

dbg176_60_63_mutech.indd 61

19.09.13 17:04


176 — musiktechnik

Arovane, Ve Palor, ist auf n5MD/Cargo erschienen.

ich die auch für die Tracks." Oft sind es nur die komischen Preset-Titel, die in der Arovane'schen Wortspiel-Mühle bis zur Unkenntlichkeit neuarrangiert werden. Ähnlich, wie er Samples zerhackt und zu seinem kennzeichnenden ArovaneKlang zusammenmischt: roboterhaft, organisch, extrem breit und trotzdem zugespitzt. Es geht Uwe um den emotionalen Gehalt von Sounds, weniger um Tracks, Strukturen und Harmonien. Er forscht am Klang, wie man in seinen Erinnerungen schürft. Immer wieder bringt er Vergleiche zu anderen emotionalen Momenten, zum Geruch oder zur Gefühlswucht eines historisch aufgeladenen Ortes (etwa der Küste in der Normandie, nach deren Besuch er "Tides" aufnahm.) Uwe geht im Klang auf: "Ich sitze den ganzen Tag im Studio, es lässt mich nicht los", sagt er. "Meistens bastle ich an Klängen herum, oft nehme ich mir ein Gerät vor und nehme es durch; gerade zum Beispiel den Virus, der Waldorf XT muss zur Reparatur, die MPC-Kisten. Das alles hat dann einen bestimmten Track zur Folge."

Modulationsmatrix & Supermarktkassen-Sequencer Uwe habe einen unglaublich schnellen Workflow, auch, weil er sich in seine Geräte hineinvertieft und sie blind bedienen kann. Die Samples kommen meist aus einem EMU E4XT Ultra, "einer der ultimativen Klang-Manipulationsmaschinen: hervorragende Filter, tolle Modulationsmatrix, da kann man

sich drin verlieren." Gerade neu angeschafft, übrigens, aus dem Lager seines Freundes Ulrich Schnauss. Den EMU benutzt er, um Samples abzufeuern und zu manipulieren. Wenn es aber ein Gerät in seinem Hardware-Zirkel gibt, das für seinen Klang maßgeblich ist, dann der Yamaha QY700, Supermarktkassen-Sequencer aus den späten 90ern. "Das ist das absolute Herzstück meines Studios. Eigentlich eine recht unscheinbare Kiste, bis auf das riesige Display. Aber ich finde, dass der ziemlich sahne aussieht. Der Pfiff an diesem Ding ist, dass er zwei Parameter hat, in denen wirklich der Funk drin ist. Wenn ich die betätige, dann taucht auch Arovane auf. Das ist so ein Teil von mir." Der QY700 triggert alles, was im Studio steht. Und er triggert tatsächlich auch Arovane, wie Uwe anhand eines einfachen 4/4-Beats demonstriert, den er mit wenigen Klicks (besser: Ka-lacks!) zerhackt, bis ich im Sitzen wippe. Der eine Parameter verschiebt die Tracks zueinander, der andere ihre Abspielgeschwindigkeit. Das ist keine Magie solange Arovane nicht an den Tasten ist. "Als Musiker bewege ich mich im Spannungsfeld zwischen Technik, dem Rationalen und dem, was ich gefühlsmäßig ausdrücken will. Das schlägt mal so, mal so aus." Je mehr Uwe von seiner Klangarbeit erzählt, desto mehr tritt der emotionale Aspekt seiner Musik in den Vordergrund: im Klang auf der Suche nach Erinnerungen und Gefühlen. Das Überwinden der Technik und der Eintritt in eine fast schon romantische Zwischenwelt. Das schlägt sich auch

darin nieder, wie er seinen Workflow beschreibt: von technisch zu emotional. Was passiert hier morgens im Studio, wenn aus Uwe der Arovane wird? "Ich hole mir einen Kaffee und komme zurück ins Zimmer. Es gibt einen Hauptschalter, dann geht das ganze Ding hier an, dann stehen mir alle Haare zu Berge, weil ich statisch so aufgeladen bin. Ich setze mich an den QY700 und spiele ein paar Phrasen ein, oder setze mich an die MPC und sample ein paar Transienten oder skurrile Sounds aus dem G2 ein und lege dann einfach los. Meist fange ich an, mit den Sounds zu spielen und zu schaue, was sie mit mir machen. Sounds haben ein Eigenleben, das möchte ich gerne herauskitzeln. Wenn es da noch so ein Britzeln gibt oder einen verborgenen Bass." Auf der Suche nach dem richtigen Klang, vergisst Uwe die Welt um sich herum: "Ich brauche dafür nicht den Raum zu verändern, ich bin dann in meiner eigenen Klangwelt. Ich schließe mich ein und konzentriere mich auf die Musik. Das ist ein absolut glücklicher Zustand." Britzeln & Bratzeln Das gelingt nur, weil er seine Instrumente beherrscht. "Die Keyboards sind nicht meine Freunde, sondern Werkzeuge. Wie ein Schraubenschlüssel für eine bestimmte Mutter haben sie ihre dezidierte Aufgabe." Die Tiefe seiner Tracks, die Wärme, die Emotionen, der Raum, in dem der Klang lebt, erzeugt er mit einem Alesis Wedge. "Der hat einen fantastischen Hall. Hall ist lieb und nett. 'Hall: Hallo!'"

62

dbg176_60_63_mutech.indd 62

19.09.13 17:04


176

»Ich hatte mal sechs oder sieben Kaffeemaschinen. Drei hab ich verschenkt, weil das einfach zu viel wurde. Ich war ja nur noch am Entkalken. Deswegen hab ich neun Jahre keine Musik gemacht.«

Sind Klänge, Rhythmen, Tiefe erstmal da, verschiebt sich die Arbeit ans Mischpult. Früher habe er Zwei-SpurStereo auf DAT aufgenommen - das Regler-Jonglieren am Mischpult hat er so gelernt. Er verliere sich nicht in PlugIns und Schnitten, sondern fahre Mixe. Die eigentlichen Tracks entstehen mit Schiebereglern und nicht im Sequenzer. "Es gibt dann einen Punkt beim Mischen - das ist es! - dann nehm ich's auf und mache vielleicht noch einen zweiten oder dritten Mix. Dann ist der Track eigentlich schon für mich fertig. An Tracks herumbasteln oder sie auseinanderzunehmen, mach ich selten. Ich arbeite relativ geradeaus."

I

Jetzt will Uwe sein Klangwissen an Sound-Anbieter verkaufen. Wir hören uns ein wenig durch eine SampleLibrary, die Uwe für Zero-G erstellt hat. Sie haben alle diesen einen Arovane-Klang, schimmerndes Schweben, eine atmosphärische Tiefen, die emotionale Geschichten erzählen. Das ist Uwes Spezialität, Gefühle mit Sound ausdrücken - und entdecken. Erst neulich hatte er tagelang Schubladen voller alter DATs gesichtet. "Ich hab auf dem Boden gesessen und sie einzeln betrachtet, meine kryptischen Tracknamen. Ich hab sie alle, wirklich alle durchgehört. Das war eine unglaubliche Reise." Ihm sei dabei auch seine musikalische Entwicklung aufgefallen - und dass Arovane unabhängig von seiner Studiotechnik existiert. "Die DATs gehen zurück bis Mitte der Neunziger, davor hab ich mit einem Tascam 4-Spur-Rekorder aufgenommen. Technisch nicht auf sehr hohem Niveau, aber die Idee, die dahinter stand, die war beim Hören wieder da. Vieles würde ich heute nicht wieder anfassen: Das ist einfach schon so toll, die stehen für sich." Schon früher, das wurde Uwe bewusst, sei es ihm darum gegangen, an die Grenzen der Technik und ihrer Sounds zu gelangen und sie zu überwinden. "Ich hatte einen Sampler von Hohner. Die haben den damals in Lizenz von Casio hergestellt. Der hatte so einen britzeligen Klang, mit 16 Bit. Aber wenn die Filter ins Spiel kamen, mit viel Resonanz, fingen diese Klänge plötzlich an zu leben." Fehler findet Uwe grandios, weil Unvorhergesehenes passiert: "Das hat mich schon bei meinem ersten Instrument, einer ganz einfachen Casio-Orgel fasziniert. Die hatte ganze enge klangliche Grenzen. Wenn man Sounds ganz weit

nach oben transponiert hat, dann fingen die plötzlich an zu singen und zu zwitschen. Das hat mich immer interessiert. Nicht die eingebauten Klänge, sondern das, was letztendlich rauskam, wenn man das Ding nicht so behandelt hat, wie man es eigentlich soll. Das passiert noch heute in diesen digitalen Kästen. Zum Beispiel der Virus fängt manchmal an zu braten, so ein breites, bratziges Rauschen, wo ich am Mischpult dann den Regler notfallmäßig herunterziehen muss." Mit seinen Neuanschaffungen geht es deswegen auch erstmal den Presets an an den Kragen. Trotz aller Fehlerfreudigkeit ist Uwe kein Analogverfechter. "Ich bin so ein Digitalfredie" sagt er. Erst neulich habe er den Schritt zu Live 9 gemacht, auf "Ve Palor" ist ein Track, "Audiofragment", allein am Rechner entstanden. Überhaupt dürfte Arovane demnächst wieder öfters live zu sehen sein. Seine Produktionsweise der Mixes eignet sich ja auch hervorragend für so eine Umsetzung. Klar ist: Arovane fängt mit "Ve Palor" nicht neu an. Es geht nach langer Pause vielmehr weiter mit ihm. "Ich möchte viele Live-Konzerte machen, ich arbeite an neuen Tracks, hab Kontakte geknüpft und möchte das Sound Design weiter ausbauen. Ich bin gespannt, wie die Welt auf meine neuen Sounds reagiert." Sagt er, und trinkt seinen dritten Kaffee zu Ende, bevor er seine Sachen packen muss. Morgen spielt er in Zürich. Das erste Mal seit sieben Jahren. Im Freien, es wird regnen, aber das stört Uwe nicht. "Ich bin wahnsinnig aufgeregt und freue mich sehr. Das ist wieder ein Start für mich."

KEEPING IT

SAMPLE

Native Instruments Maschine im session Webshop

Deine musikalische Rundumversorgung. Walldorf (Baden) Wiesenstraße 4

www.session.de

dbg176_60_63_mutech.indd 63

Frankfurt am Main Hanauer Landstraße 338

19.09.13 17:05


176 — musiktechnik

Text & bild Benjamin Weiss

Preis: : jeweils ca. 166 Euro

Korg Volcas: Klein, stark und funky

Nach der Neuauflage des MS-20 legt Korg 2013 die eigentliche HardwareÜberraschung vor, eine neue SynthFamilie: Volca Beats, Bass & Keys. Noch nie gab es für so wenig Geld so viel Livemaschine.

64

dbg176_64_67_mutech.indd 64

Dabei erfinden die Volcas das Rad nicht neu: Alle Zutaten haben in Sachen Funktionalität reichlich Patina und bedienen sich frank und frei einerseits in Korgs eigener Gerätegeschichte (monotribe, Electribe, monotrons und Filterschaltung des mini KORG-700S) und an den Klassikern der Konkurrenz (808, 303, Space Delay) andererseits. Immer im Fokus: intuitive Spielbarkeit. Gemeinsamkeiten Allen gemeinsam ist der Betrieb über sechs AABatterien, das Netzteil muss dazu gekauft werden. Dazu gibt es einen MIDI-Eingang sowie Sync In und Out als Miniklinke und den Kopfhörerausgang (der gleichzeitig auch der Main Out ist); alle Anschlüsse sitzen auf der Gehäuseoberseite. Mit dem Sync können die Volcas ins Modularsystem eingebunden werden oder sich gegenseitig steuern. Das klappt zuverlässig und tight auch in der Kette: So lässt sich beispielsweise der Volca Beats per externer MIDI Clock synchronisieren, Bass und Keys hängen dann über Sync hinten

dran. Alle Volcas kommen mit einer direkt reagierenden Multitouch-fähigen Folientastatur, die sich gut, aber ohne Anschlagsdynamik spielen lässt. Der Sequenzer ist bei allen Volcas ein klassischer 16-Stepsequenzer, bei dem sich mit Active Step (wie schon bei der monotribe) einzelne Schritte deaktivieren lassen, wodurch sich einfach und schnell und vor allem immer im Sync rhythmische Variationen erstellen lassen. Dabei quantisiert der Sequenzer (abgesehen vom Keys im Flux-Modus) immer hart auf Sechzehntel. Egal was man mit dem Sequenzer macht, die Volcas bleiben immer vorbildlich synchron - keine Selbstverständlichkeit, zumal Korg damit wirbt, den im Slave-Modus notorisch zu spät kommenden ElectribeSequenzer zu nutzen. Einen Song-Modus gibt es nicht, jeder Volca kann bis zu acht Patterns speichern. Diverse Parameter können automatisiert und aufgenommen werden, wobei die Anzahl ziemlich unterschiedlich ausfällt: So sind es beim Keys fast alle klangformenden Parameter, beim Bass und Beats deutlich weniger.

20.09.13 16:14

Anzeige


176

Volca Beats Die Drummachine unter den Volcas ist lose angelehnt an die 808 und kommt mit analoger Bassdrum, Low Tom und Hi Tom, Open und Closed HiHat; Clap, Claves, Agogo und Crash basieren dagegen auf PCM-Samples. Die Bassdrum kommt mit den Parametern Click, Pitch und Decay und kann von warmem Wummern bis hin zu klickigen Tackersounds all das, was man von einer klassichen analogen Drummachine erwartet, alllerdings ohne die Härte à la 909 oder Xbase 09. Die Snare hat statt Click Snappy und klingt ein bisschen fiepsig, selbst wenn Snappy und Decay voll aufgedreht sind. Die Toms können separat in der Tonhöhe eingestellt werden und besitzen ein gemeinsames Decay; auch hier gibt es klanglich keine großen Überraschungen. Die HiHats kommen ohne Pitch, aber mit jeweils eigenem Decay, via Grain lässt sich der Sound etwas metallischer drehen. Die vier PCM-Sounds klingen ziemlich Lo-fi und auf angenehme Weise roh; sie lassen sich ausschließlich mit PCM-Speed (Abspielgeschwindigkeit) editieren, das jedoch in so einem weiten Bereich, dass man damit im Prinzip Decay und Pitch auf einem Regler hat. Der Sequenzer des Beats lässt sich wie ein klassischer Stepsequenzer editieren, alternativ kann man auch im Livemodus die Drumsounds unquantisiert direkt spielen und aufnehmen. Als Spezialität bietet der Beats-Sequenzer Step Jump: Damit lässt sich während des Abspielens der Startpunkt des Patterns verschieben, indem man über die Folientastatur wischt, was eine sehr spielerische Möglichkeit ist, Variationen aus einem Pattern herauszukitzeln. Schließlich ist da noch der Stutter-Effekt, wahlweise global oder separat pro Instrument nutzbar. Der funktioniert über die Parameter Time (Geschwindigkeit) und Depth (Intensität) und lässt sich mit einem einfachen Delay vergleichen, kann aber bei kurzen Einstellungen auch wie ein Ringmodulator klingen. Dass es weder Swing noch Accent gibt, ist zu verschmerzen und zumindest beim Swing mit einer geshuffleten externen Clock über Sync umgehbar. Volca Bass Der Volca Bass macht schon von außen klar, dass es hier um eine Bassline à la 303 gehen soll, er bedient sich auch nicht nur im Aussehen und klangtechnisch an der Acidkiste schlechthin. Anders als die 303 bietet er aber drei VCOs, die sich einzeln muten lassen und wahlweise mit Sägezahn oder Rechteck als Wellenform laufen. Dazu haben alle Oszillatoren einen eigenen Pitch-Parameter, der den Wert beim Drehen praktischerweise in Halbtonschritten (und Cents im Bereich um die Mitte) im kleinen Display

»Die Bedienung der Volcas ist extrem durchdacht und intuitiv. Die etwas unpraktisch und unübersichtlich gestalteten Manuals erübrigen sich eigentlich.«

anzeigt; ein Beispiel für die vielen durchdachten und praktischen Details, die man so bei vielen deutlich teureren Analogsynths nicht zu sehen bekommt. Die VCOs können über VCO-Group zusammengefasst werden (wahlweise 2+1, alle drei zusammen oder alle drei monophon), um so Unison-artige Effekte und Verstimmungen zu erzeugen oder tatsächlich drei rudimentäre monophone Synths gleichzeitig zu haben, jeder mit seinem eigenen Sequenzer. Ein bisschen 303 muss es dann doch noch sein: So gibt es auch einen programmierbaren Slide, automatisierbar ist sonst allerdings kein Parameter im internen Sequenzer. Neben dem LFO, der auf Amp, Pitch oder Cutoff geroutet werden kann und wahlweise mit Rechteck oder Sägezahn läuft, gibt es zur Modulation noch eine einfache zuschaltbare ADR-Hüllkurve, die zusätzlich auch auf den Cutoff gelegt werden kann. Volca Keys Der Volca Keys ist der zweite Synth der Reihe und orientiert sich auch vom Styling her nicht unbedingt an irgendeinem Vorbild. Er besitzt als einziger eine breitere Tastatur mit schwarzen Tasten, die sich, kleine geschickte Finger vorausgesetzt, auch ansatzweise wie ein Keyboard spielen lässt. Das hat den einfachen Grund, dass der Keys dreistimmig polyphon spielbar ist. Für die drei Stimmen gibt es verschiedene Modi: neben Poly und Unison noch Octave und Fifth, sowie Unison Ring und Poly Ring. Schon allein das schlichte Wechseln zwischen den Modi offenbart die Vielfältigkeit im Sound, mit Detune und Portamento lässt er sich weiter formen.

Zur Modulation gibt es einen wahlweise frei laufenden oder pro Step neu getriggerten LFO (mit Sägezahn, Dreieck und Rechteck als Wellenformen), der Pitch und Cutoff steuern kann, sowie eine ADRS-Hüllkurve, die sich auf den Filter und den VCO routen lässt. Das Delay ist im Vergleich mit dem des monotron eher zahm und daher weniger für ausgiebige FeedbackOrgien geeignet, aber durchaus, um dem Sound mehr Ausdruck zu verleihen. Es lässt sich synchronisiert und freilaufend nutzen. Im Sequenzer lassen sich beim Keys alle klangformenden Parameter inklusive des Delay automatisieren; zusätzlich gibt es hier auch den Flux-Mode wie bei der monotribe, der aufgenommene Sequenzen mit Modulationen aber ohne Quantisierung wiedergibt und die Möglichkeit, das Pattern in halber oder viertel Geschwindigkeit zu nutzen und so deutlich zu verlängern. Der Sound der Volcas ist grundsätzlich eher auf der warmen, etwas dreckig aufgerauhten Seite, außerdem rauschen sie hörbar, wenn auch nicht störend. Die Filter der Synthesizer gehören nicht zu den markigsten und besten, tun ihren Job aber solide und verhältnismäßig unauffällig. Die Möglichkeit, fast alle Parameter auch via MIDI CCs zu steuern, erweitert die drei kleinen Maschinchen noch mal deutlich und macht sie auch als reine Klangerzeuger interessant. Die Bedienung ist extrem durchdacht und intuitiv. Die etwas unpraktisch und unübersichtlich gestalteten Manuals erübrigen sich eigentlich. Alles in allem haben die Volcas natürlich hier und da auch kleine Schwächen, aber es ist erstaunlich, was man für so wenig Geld an zum Jammen einladender, einfach bedienbarer Funktionalität bekommt. Korg könnte die Volcas durchaus als Plattform etablieren und noch großzügig erweitern, indem weitere Klassiker miteinander verrührt und neu kombiniert werden: Ein samplebasierter Drumcomputer wäre denkbar, aber auch ein Effektgerät mit Sequenzer mit diesem Formfaktor könnte ziemlich ergiebig sein. Ich könnte mir auf Anhieb mindestens fünf weitere Volcas vorstellen. Mir persönlich gefällt der Keys am besten, weil er die weitreichendsten Sequenzermöglichkeiten und Automationen bietet und vom Sound her einen sehr eigenen Charakter hat, aber auch der Bass und der Beats sind für den Preis eigentlich unschlagbar. Die Verarbeitungsqualität der weitestgehend aus Plastik gefertigten Volcas hat zwar keine Panzerqualitäten, sie sind aber durchaus robust genug, um sie auch ohne Hülle mal eben in den Rucksack zu stecken.

DVD Lernkurs Sehen • Hören • Verstehen

Anzeige Maschine DeBug_druck.indd dbg176_64_67_mutech.indd 65 1

09.09.2013 15:48:41 20.09.13 16:14


176 — musiktechnik

Text Peter Kirn

Koma RH301 Wie macht man eine Clock spannend?

Nachdem Koma Elektronik ausgefallene Filter, berührungsfreie Controller, Delays und Sequenzer gebaut haben, gibt es jetzt ein Gerät, bei dem es eher um reine Nützlichkeit geht. Ihre Version ist natürlich eine einfallsreiche, eine die Ideen mitbringt, die man typischerweise eher in boutique Modularracks vermuten würde. Die RH301 ist die Kombination verschiedener Geräte in einem Gehäuse, daher auch der Name RH301 "Rhythm Workstation / Utility Tool". Zunächst verbindet sie vor allem analoge und digitale Gerätschaften verschiedener Generationen. Es gibt MIDI In, Out und Thru sowie DIN In und Out (die sich die Buchsen mit MIDI teilen), dazu kommen 14 Analog-Anschlüsse im Klinkenformat, die mit einem Dreieck anzeigen, ob sie Ein- oder Ausgänge sind.

Dementsprechend fühlt sich die RH301 inmitten eines Schwarms von Moogerfoogern, analogen Drummachines und MIDI-Synths am wohlsten. Auch für die Besitzer von Modularsystemen dürfte sie interessant sein, obwohl man nicht unbedingt einen Haufen Euroracks braucht, denn durch MIDI und die Analoganschlüsse in Verbindung mit rhythmischen Funktionen kann man auch mit weniger auskommen. Sie lässt sich als Clock-Quelle und Sequenzer nutzen, aber auch schlicht, um analoge und digitale Welt miteinander zu verbinden. Zusätzlich zur einfachen ClockFunktion gibt es eine Reihe rhythmischer Features. In der einfachsten Anwendung ist die RH301 die Clock, wahlweise extern als Slave gestartet, mit dem TempoRegler eingestellt oder per Tap auf den robusten TapTempo-Button eingestartet. Das Tempo lässt sich dann über die angeschlossenen Geräte via MIDI, DIN Sync oder an analoge Geräte weitergeben. Von hier aus kann man dann mit LFO und Hüllkurvengenerator anspruchsvollere Sachen machen. Der LFO bietet diverse Modi und Wellenformen. Zusätzlich zum Betrieb als Slave zur Master Clock oder seiner Rate kann er auch zu einem Teiler des Master-Tempos synchronisiert werden, was ebenfalls durch eine externe Analogclock geschehen kann. Die zusätzlich vorhandenen Wellenformen sind, neben dem

Symmetry-Regler und einer hybriden Wellenform aus Noise und Sinus, die KOMA "noisine" nennt, das Salz in der Suppe. Der Hüllkurvengenerator kann ebenfalls synchronisiert, geloopt oder zu einem Teiler der Master Clock synchron laufen. Er besitzt Regler für ADSR und einen übergreifenden Range-Regler. Die RH301 ist natürlich Overkill wenn man schlicht eine Clock haben will und ein Sequenzer ist sie auch nicht. Wo sie wirklich zeigt, was sie drauf hat, ist bei der Patchbay mit der sich der eingebaute Hüllkurvengenerator, die Clock und der LFO zum Erzeugen rhythmischer Möglichkeiten im Kontext eines weitgefassten Setups kombinieren lassen. Hier bietet die RH301 sehr weitgehende Möglichkeiten, die man typischerweise nicht in einem kompakten TabletopGerät findet. Ja man bekommt Clock Out, aber über vier Patchpunkte – je zwei für die Main-Clock und zwei für die Teiler-Clock. Auch für LFO und Hüllkurve gibt es separate Ausgänge, dazu noch für die invertierten Varianten. Eingangsseitig gibt es LFO Speed, Reset und Symmetry, dazu das notwendige Gate für die Hüllkurve und natürlich die Möglichkeit, als Slave zu einer externen analogen Clock zu laufen (zusätzlich zu MIDI und DIN Sync). Wie bei anderen KOMA-Geräten gibt es auch einen Infrarot-Controller, der an Rolands D-Beam erinnert (und die gleichen technischen Grundlagen hat). Der ist ebenfalls über die Patchbay routbar, so dass man damit fast alles steuern kann, was man will. Außerdem kann er über ein Stellrad auf der Rückseite kalibriert werden. In der Praxis macht die RH301 das Synchronisieren wesentlich interessanter, als es mit einer einfachen Clock wäre. Anders als in einer Standardsituation muss nicht alles zu einem festen Rhythmus geslavet laufen: Man kann die Clock teilen, nochmal teilen oder einfach verschiedene Rhythmen mischen um so ausgeklügelte polyrhythmische Grooves zu erzeugen. Anders als bei vielen anderen Clock-Geräten muss man dabei nicht groß über das Format nachdenken und sich um die Anpassung verschiedener Geräte aneinander kümmern: Modularsysteme, Rechner, MIDI Synths, Drummachines, Grooveboxen und analoge Effektpedale lassen sich umstandslos zusammen nutzen. Die RH301 sitzt außerdem in einem sehr ansprechenden Gehäuse aus Aluminium mit hölzernen Seitenteilen im charakteristischen KOMA-Stil, solide aber mit exakt einem Kilo Gewicht immer noch portabel. Jeder Knopf und jeder Schalter fühlt sich hochwertig an, was vor allem für den Tap-Tempo-Regler gilt, der laut KOMA eine Spezialanfertigung ist. Er fühlt sich an wie ein analoger Arcade Button eines Videogames, aber mit einem perkussiveren Klick, ein gutes Detail, schließlich klopft man damit das Tempo ein. Wer nur einen simplen Sync oder eine einfache Clock sucht, für den ist die RH301 eher überdimensioniert. Aber selbst wenn man nur eine kleine Sammlung von analogen Geräten hat, dürften die einzigartigen rhythmischen Features und die Patchbay zumindest einen Blick darauf mehr als wert sein. Die RH301 ist eines der wenigen Geräte, die mit der Lösung eines simplen Problems anfangen – analoge und digitale Clock – und dabei neue kreative Möglichkeiten eröffnen.

Preis: 399 Euro

66

dbg176_64_67_mutech.indd 66

20.09.13 16:20


Text & bild Benjamin Weiss

176 — musiktechnik

Preis: 99 Euro

Numark Orbit Ein Senso als MIDIController

Gamepads haben als Controller einen großen Vorteil: Wie sie funktionieren, hat man im Muskelgedächtnis, dem Spiele-Zocken sei dank. Das weiß auch Numark und setzt mit dem Orbit nicht nur auf bunte Knöpfe.

Der Orbit ist einem Gamepad nachempfunden, in dessen Mitte ein großes Jogshuttle-Rad mit blauem Leuchtring eingelassen ist. Links und rechts daneben sitzen je acht kleine Pads, die in zwölf verschiedenen Farben leuchten können und einen guten Druckpunkt bieten. Überhaupt ist der Orbit solide verarbeitet, was man bei all der offensiven Farbenfreude der leuchtenden Pads nicht unbedingt

erwarten würde. Die gummierte Oberfläche ist griffig und bedeckt das Gehäuse aus leichtem Metall. Das liegt gut in der Hand, auch wenn die Schulterknöpfe ein wenig breiter hätten ausfallen können. Auf ihnen muss aber, anders als beim Zocken, nicht hektisch rumgedaddelt werden, denn sie dienen cleverer Weise der Aktivierung je einer Achse des Lagesensors des eingebauten Gyroskops, über die je ein MIDI CC gesteuert werden kann. Die Daten gelangen entweder über den mitgelieferten Funk-Stick oder über ein USB-Kabel zum Rechner, letzteres lädt auch den Akku des Orbit. Zur Demonstration gibt es mit Orbit DJ eine App für Mac und PC, die sämtliche Features mit maximalem BlingEffekt vorführt, aber dann doch eher Proof of concept ist als ein wirklich nützliches DJ-Tool. Bastelstunde Eigene Setups lassen sich mit dem Orbit-Midi-Editor erstellen, der augenscheinlich in Max zusammengebaut wurde und auf einer sehr übersichtlichen Oberfläche das Zuweisen von CCs und MIDI-Noten auf die Pads, die Feuertasten (also das Gyroskop) und den großen Jogshuttle erlaubt. Jedes Bedienelement kann auf einem eigenen MIDI-Kanal liegen. Insgesamt stehen vier Pad-Bänke zur Verfügung, die jeweils vier verschiedene

Belegungen des Jogshuttles erlauben, es stehen also 64 Pads und 18 verschiedene MIDI CCs pro Template bereit. Die Pads können wahlweise als Toggles oder als Momentary-Switches definiert werden - sind aber nicht anschlagdynamisch -, das Jogshuttle kann relativ oder absolut Controllerdaten senden und per Autofill können alle Pads automatisch mit Notennummern belegt werden. Der Orbit reagiert auf die Pads und JogshuttleBewegungen trotz Funk-Interface ohne spürbares Delay, was nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit ist. Beim Gyroskop ist das leider nicht der Fall: Die Bewegungen wurden auf beiden Achsen zwar ziemlich genau übersetzt, haben aber eine merkliche Verzögerung. Kein Problem für langsame Filterverläufe, zur Modulation von schnellen Rhythmuselementen aber ungeeignet. Der Ansatz ist gut, die Ausführung hätte besser sein können: Der Orbit ist ein solides kleines Hardware-Tool. Es liegt gut in der Hand, reagiert schnell, leider bremst ihn aber sein gemächliches Gyroskop ein wenig aus und anschlagdynamische Pads wären natürlich auch nicht schlecht. Wer sich traut, mit der blinkenden GamepadLichtorgel in den Club zu gehen, hat zumindest einen äußerst kompakten Controller dabei.

67

dbg176_64_67_mutech.indd 67

22.09.13 13:54


01

My Favorite Robot Atomic Age No. 19 Music

02

Sequence Report Secromance Tevo Howard Recordings

03

Douglas Dare Seven Hours Erased Tapes

04

DJ Rashad Double Cup Hyperdub

05

Nocow Solus Fauxpas Music

06

Aebeloe Manon Farver

07

Leibniz What Matters 4th Wave

08

Lucrecia Dalt Syzygy Human Ear Music

09

Wbeeza Perfect High / I Like It P Fly Music

10

Julius Steinhoff You Collect Secrets Live At Robert Johnson

11

Space Dimension Controller Correlation #1 Clone Royal Oak

12

Tin Man Underdog EP Pt. 2 Pomelo

13

Francois Bayle L’Expérience Acoustique Recollection GRM

14

Marcellis I Am A Woman Millions Of Moments

15

Downliners Sekt Balt Shakt Infiné

16

Tim Paris Dancers My Favorite Robot Records

17

Kirk DeGiorgio Sambatek Far Out Recordings

18

Jesse Lanza Pull My Hair Back Hyperdub

19

Nicholas Desamory Gold & Diamonds I’m So Blasé

20

Machinedrum Vapour City Ninja Tune

21

Mole570 Deescalation EP Rudowflight

22

Aquarian Foundation Language Of The Hand Mood Hut

23

Chocky Scherbe De:Pot Soney Clouds EP BigBait

24

TM404 Svans Kontra Musik

25

V.A. Indian Summer Touch Of Class

My Favorite Robot Atomic Age [No. 19 Music]

Sequence Report Secromance [Tevo Howard Recordings]

www.no19music.com

tevohoward.com.com

Da hatten die Kollegen von Electronic Beats kein schlechtes Näschen, als sie im vergangenen Jahr My Favorit Robot in den Canadian National Tower baten. Die Bildsprache war und ist kaum anders zu verstehen: Jared Simms, James Teej und Voytek Korab wollen hoch hinaus. Doch der Weg zum neuen Album "Atomic Age" war kein gradliniger. Angefangen als DJ-Duo, mauserten sich Simms und Korab zu einem Live-Act, der wenig später noch ein Digital-Label ins Leben rief. Unter den bisher mehr als 60 Releases tummelten sich neben ihrem Debüt "We Come In Pieces" auch EPs von James Teej, der aus My Favorite Robot ein Trio machte. Jonny White und Kenny Glasgow haben auch bei den Robotern veröffentlicht. Kein Wunder, das Art Department und My Favorite Robot sind nicht nur die Aushängeschilder der elektronischen Musik Kanadas, sondern Freunde und ehemalige BüroNachbarn. So kommt es auch, dass "Atomic Age" auf Whites No. 19 Music erscheint. Und natürlich wird es das beste Album sein, das dieses Jahr aus Toronto kommt – clubfreundliche Musik ohne vollständige Floor-Anbiederung. MFR ziehen ihre Einflüsse aus 80er-Electro-Pop, Industrial, Acid House, einer Prise 90er-Grunge und kochen doch ihr ganz eigenes Zurück-in-die-Zukunft-Süppchen aus angegrauten Sounds, einer straighten Produktion und einem deutlich gestiegenen Fokus aufs Songwriting. Wenige Reminiszenzen an Bowie ("Ride") oder an das jüngste Werk von Karl Bartos ("Home") fallen dabei gar nicht so sehr ins Gewicht. Was "Atomic Age" so stark macht, ist seine Trendresistenz. Das Album ahmt keine Heroen nach, hängt sich nicht zur Retro-Stangenware, sondern erarbeitet Songs und keine Tracks. "Looking For Frost", die erste Single, erhält durch das Vocal-Motiv "Sometimes I get the feeling something ain’t right" sogar einen shoegazigen Charakter, der ruhig häufiger hätte Platz finden können. Apropos Vocals, die Erweiterung von James Teej hat MFR gutgetan. Sein Timbre kommt häufig einem Lamento nahe, das einen behäbigen Song wie "Here Tonight" zu einem MikroMonster verwandelt. "Space Capsule" bringt nicht nur MFRs Verve für fette, mal knallende, mal richtig pumpende Oldschool-Percussions zum Vorschein, die Kanadier wissen gar mit einem regelrechten Drum-Inferno für Überraschungen zu sorgen. Gleiches gilt für das herausragende "Centreofattentionaut" oder die Acid-Verzierungen des Titeltracks, der eine klare Botschaft beherbergt: Hätten wir ein Clubalbum machen wollen, hätten wir eines gemacht. "Atomic Age" ist letztlich ziemlich vieles auf einmal: poppig, retro, zukunftsorientiert, hypnotisch und trotzdem angenehm simpel. Darke Synthies treffen auf warme Melodien, altbackene Rhythmen auf brillante Harmonien. Der große Coup liegt in der Kunst, alles so easy klingen zu lassen. Selbst die Schwermut macht hier Laune. weiSS

Vielleicht erschließt sich dieses Album am besten, wenn man ein paar von Tevo Howards DJ-Sets gehört hat. Ja, Sequence Report ist Howard. Und schon wieder vollkommen anders. Noch näher dran an seiner Heimat Chicago. Nicht an der Legende, sondern an den Ursprüngen, die erstere überhaupt erst ermöglicht hat. Die Windy City in der Zeit, in der noch alles aufgesogen, absorbiert wurde, aber noch nichts Eigenes daraus entstanden war. Als Europa noch alles war. Es geht um England, um die ersten zarten Pflanzen der Generation, die Punk nicht mehr interessierte, der vielleicht Wege geebnet hatte, ja, aber musikalisch kategorisch nicht interessierte. Es geht um kleine Synthesizer, deren Elektronengehirne sich kaum mehr merken konnten, als ein paar Töne. Die diese dann aber umso stolzer immer und immer wieder spielten und spielten und spielten. Das war eine Zeit, in der noch nichts verboten war. In der der Dancefloor noch nicht erfunden und Gitarren willkommen waren. Und Vocals. Echte oder die des Speak & Spell. Fragt mal Skanfrom, wie geil das war. Damals. Die Tracks auf diesem ersten Album von Sequence Report - hoffentlich nicht ein nur auf diesen Versuch angelegtes und somit schon wieder ad acta gelegtes Projekt - atmen Geschichte. Geschichte, die niemand auflegen wird und die bislang auch von viel zu wenigen referenziert wird. In der Geschichte im Allgemeinen und in der eigenen im Besonderen. Die Tracks atmen auch Zukunft. Denn in ihrer DNA ist all das verankert, was heute immer noch die Nacht entscheidet. Repetition, sequenzierte Reduktion. Aber eben auch der Wille, Dinge anders zu machen. Den Status Quo mit anderen Mitteln umzusetzen. Und der Status Quo von Sequence Report ist Pop. So naiv und direkt, dass mit dem Daumen hoch der Pop-Schreiber bei Faber & Faber nicht zu rechnen ist. Zum Glück. Keine Einordnung, kein Kanon. Zu gleichförmig. Zu nah dran am Establishment. Nicht die Sounds, aber das Gefühl. Genau deshalb ist dieses Projekt so wichtig. Denn wenn eine Struktur, ein Motiv plötzlich ganz anders klingt, dann ist es nicht neuer Wein in alten Schläuchen. Es ist die grundlegend andere Vermessung der Wirklichkeit. Die bis an die Grenzen gehende Vermessung. Radikal, ohne Gnade. Immer wieder Vocals, in jedem Track. Slogans, eingesprochen von Prozessoren, gescratcht am Casio-Sampler. Das hat Patina, genau wie alle andere Zutaten der Tracks. Aber Patina berührt und Howard hat genau zugehört. Gibt den kleinen Jungen, der im Schlafzimmer sitzt und von Trevor Horn träumt, aber doch gerade noch wie Section 25 klingt. Text-To-Speech in Mac OS 5 vs Siri. Wer bekommt die meisten Charme-Punkte? Wer hat den eleganteren Code und ist Soul auf 8 Bit wirklich deeper? Eigentlich ist Sequence Report die erste wirklich ernsthafte Fortsetzung der Silicon Teens. Auch wenn es im Sound keinerlei Ähnlichkeiten gibt. THADDI

68

dbg176_reviewstart.indd 68

22.09.13 19:04


DJ RASHAD DOUBLE CUP [Hyperdub]

Nocow Solus [Fauxpas Musik]

Douglas Dare Seven Hours [Erased Tapes]

www.hyperdub.net

www.fauxpasmusik.de

www.erasedtapes.com

Nach seinen zwei EPs auf Hyperdub kommt jetzt – neben dem Debüt von Jessy Lanza – eine der erfreulichsten Veröffentlichungen des Labels in diesem Jahr: DJ Rashad hat mit "Double Cup" sein erstes Album vorgelegt, das nicht in rein digitaler Form erscheint. Und das ist nur zu begrüßen, denn mit diesen 14 Tracks präsentiert der Chicagoer Produzent seine Footwork-Künste als avancierten Sample-Irrsinn mit Sofortwirkung auf den gesamten Organismus. Das macht er so bezwingend und mit nie abstürzendem Endorphin-Pegel, dass man meint, Rave habe endlich seine Würde wiedergefunden. Die einzig angemessene Form, diese Musik zu hören, ist daher in aufrechter Haltung und begleitet von Körperbewegungen, die annäherungsweise dem Hochgeschwindigkeits-Flimmer-Zappel gerecht zu werden versuchen. Ein schönes Paradox ob dieser Musik ist ja, dass sie so hektisch wie Stroboskopblitze um die Ecke schießt, darunter aber die Fundamente ihrer Vorlagen wie ein ruhiger Fluss für eine Art Ruhepol sorgen – ein Fluss wohlgemerkt, bei dem zwischendurch immer wieder ruckartig irgendwo ein Staudamm zu brechen scheint. Pass dat shit! tcb

Nach der Zwischenstation Styrax Records releast der Russe nun wieder auf Fauxpas. Und was in der Zwischenzeit passiert ist, würde jeden Roman sprengen. Dabei stecken die acht Tracks so voller Historizität, dass das geschriebene Wort die adäquate Umsetzung gewesen wäre, zumindest als Companion-Release für dieses fantastische Album; Liner Notes, endlich mal ernst genommen. Erklärungsbedarf gibt es reichlich. Woher kommt die Liebe zu den Frühzeiten der Elektronika und auch der Elektronik, als die Weltherrschaft mit dem Besitz eines Oszillators praktisch gesetzt war? Woher aber auch die glasklare Erkenntnis, dass es die Brille von heute braucht, um diese Schätze neu zu interpretieren, neu aufzusetzen? Alec Empire war mit "Generation Star Wars" der letzte, der so etwas wagte. Und natürlich klingt Nocow vollkommen anders, schmatzt die PHI*1700 (UV) von µ-Ziq ab, verzerrt die Breaks, dass es Herrn James warm um Herz werden dürfte, verarbeitet aber vor allem die Stimmung von damals, als vieles neu geordnet wurde. Wir wissen alle, wie das ausging, darum ist es umso wichtiger, dass hier jemand einen erneuten Versuch unternimmt, aus der Husche einen Platzregen zu machen.Die Gralshüter verstehen nur Bahnhof. Gut so. Ein Album wie eine kleine Revolution, die über den Umweg der Vergangenheit den Weg in die Zukunft sucht. Endlose Begeisterung. Thaddi

AEBELOE MANON [Farver]

LEIBNIZ WHAT MATTERS [4th WAVE]

www.farver.nu

soundcloud.com/fourth-wave

Natal Zaks ist mir bislang noch nie aufgefallen. Kann gar nicht sein. Warum? Die vier Tracks dieser EP sind so sentationell ausgereift, voller Ideen, verspielt und klar zugleich, dass eigentlich niemand daran vorbei kommen sollte. Schon beim ersten Stück ist klar, Aebeloe macht nicht einfach Tracks, sondern komplizierte Arrangements, die trotzdem nichts von ihrer Direktheit verlieren. Klassische Sounds vielleicht, aber so breit konstruiert, so ineinander fallend, so sanft und voller Energie zugleich, dass man schon gar nicht mehr an Widersprüche glauben mag. Ihr kennt dieses Gefühl, ein Stück zum ersten Mal zu hören und direkt zu glauben, das, genau das ist, was man schon seit Ewigkeiten gesucht hat? Das wird man immer hören wollen, auch nach Jahren noch, und es wird nie an dieser Faszination verlieren? Aebeloe Tracks sind wie mit dicken Farben gemalt, mit einem zu breiten Pinsel, der doch in seinen Strichen am Ende ganz fein wirkt und keine Nuance auslässt. Es ist weiche Musik, große mitreißende Musik, sanfte aber doch weit ausholend vollmundige Musik, die immer wieder einen Weg findet, aus den Sounds ein Licht zu zaubern, von dem man dachte, es wäre längst nicht mehr zu sehen. Eine Platte, auf der jeder Sound, selbst das kleinste Fusselchen perfekt ist. bleed

Warum mag ich Musik, die so kaputt klingt. Ich meine nicht, dass sich dahinter eine kaputte Haltung ausdrücken würde, sondern ganz konkret den Sound. "What Matters" scheppert so ungelenk los, der Sound ist irgendwie zu verwaschen, die Beats rumpeln aufeinander rum, alles klingt unausgeglichen und alles andere als schön produziert, und jeder Sound der hinzukommt gibt diesem Track dennoch eine neue Dimension. Leibniz - schon seine letzte EP ein Killer - schraubt sich hier in völlig astronomische Höhen hoch, oder besser: Er boxt sich durch. Vielleicht ist es das. Dieses Kämpfen um den Sound. Das Nichts-für- selbstverständlich-Halten, das sich in dem Track ausdrückt. Keine Sequenz, die so reinläuft, die muss gejagt werden, keine noch so schön verlockende Standardsnare, nein, eine die beißt und noch unmöglicher ist. Und wenn man erst Mal die Tour de Force hinter sich hat, dann löst sich im leicht zerbröselten Hymentrack "Bring It, Don't Sing It" alles auf in dieser Welt, die Detroit nicht nachempfindet, sondern bis tief in die zermoderten Tapes ausgräbt. Euphorie durch und durch und mit diesem unnachahmlichen Gefühl, dass es keinen Höhepunkt geben kann, sondern immer nur ein Noch-mehr-der-Überwältigung. bleed

Tja, Sohn einer Klavierlehrerin müsste man sein. Da könnte man schon Kekse mümmelnd früh an dieses Instrument herangeführt werden. So geschehen bei dem Londoner Singer-Songwriter Douglas Dare, neuester Zugang des fein strahlenden Imprints Erased Tapes. Die vier Tracks seiner Debüt-EP "Seven Hours" zeigen den 23-Jährigen frisch und reif entwickelt. Irgendwo zwischen James Blake ohne schwermütigen Knispelkram und Nils Frahm ohne dessen jazzy Vibes, tastet sich Dare, subtil produziert von Drummer/Producer Fabian Prynn, durch seine Klavierwelten. Der Artist begann erst während seines Studiums an der School of Music/University of Liverpool Texte zu schreiben und sich selbst zu begleiten. Gedichte und Kurzprosa sind Basis dieser EP, Dares darauf entstandene Pianoimprovisationen wurden von Prynn mit dezenter, dennoch klare Strukturen bildender Perkussion ummantelt. Teile der Takes wurden mit einem simplen Kassettenrekorder aufgenommen, was der Produktion nicht schadet, im Gegenteil, die zeitweise suchenden Kompositionen des Künstlers erhalten dadurch eine gut verträgliche Unschärfe, die den Arbeiten wohltut. Dare, der Ólafur Arnalds auf seiner letzten Europatournee begleitet hat, festigt den Eindruck, dass hier eine Generation handwerklich brillanter Musiker nachwächst, deren Anliegen vielleicht nicht sein mag, die Musikgeschichte neu erfinden zu müssen, denen es aber dennoch gelingt, das Publikum weich für sich einzunehmen. Man kann diesem jungen Komponisten nur wünschen, dass er sich Zeit lässt in seiner Entwicklung, nach Auskunft des Labels steht ein Album schon in der Planung. Es gibt leider zu viele Talente, die sich an diesem Format aufgerieben haben. Man wird sehen, "Seven Hours" ist auf jeden Fall bemerkenswert. raabenstein

69

dbg176_reviewstart.indd 69

22.09.13 19:04


176 — reviews

Alben The Oval Language / N.O.R.A. - OVALes_N.O.R.Ales Die beiden Ex-Sänger der DDR-Bands "Neu Rot“ Klaus-Peter John (The Oval Language, Leipzig) und "Wildwuchs II“ Thomas Noack (N.O.R.A., Berlin) fanden über gemeinsame musikalische Improvisationen zusammen. Nach einer gemeinsamen Body-Performance vor 25 Jahren bewegten sie sich künstlerisch jedoch in völlig entgegengesetzte Richtungen. Während Noack an experimenteller Elektronik und professioneller Klangqualität feilte, beschäftigte sich John mit rohen und dreckigen Analogklängen. Jetzt haben die beiden sich noch einmal zu gemeinsamen Aufnahmen zusammengetan. Dafür bearbeitete Noack Johns Klangforschungen im Bereich Rasseln, Klingeln, Scheppern, Trommeln, gequälte Maschinen und Tonbandgeräte bis hin zu rudimentären Gitarrensounds mit zusätzlichen Einspielungen und Studiotechnik. Daraus ist ein wunderbares kopfhörerkompatibles Album entstanden, welches die nur scheinbaren klanglichen Gegensätze zu einem ganz und gar nicht chaotischen, sondern außerordentlich spannenden Hörstück verschmilzt. asb Moskitoo - Mitosis [12k - A-Musik] Zellteilung ist in der Regel eine gute Sache. Man weiß: Wo sie geschieht, gibt es Leben. Und als Geste gesehen, ist das Weiterreichen von Leben auf jeden Fall zu begrüßen. In diesem Sinne kann man durchaus auch "Mitosis" der Japanerin Sanae Yamasaki hören. Es ist eine Art abstraktes Popalbum, in dem Glitch-Ästheitk auf verträumtes Songwriting trifft: Freundliches Klicken, Brummen und Fiepen bestimmten die Klangwelt des Albums, in dem immer wieder Harfen-, Streicheroder Gitarrenklänge vorbeischauen, um das Flirrende mit etwas Vertrautem zu verbinden. Das wäre alles vielleicht eine Spur zu harmlos, wenn die Stimme von Sanae Yamasaki in ihrem gehauchten Kindertonfall nicht so perfekt dazu passen würde. Man könnte fast meinen, den ersten "Schritten" eines staunenden Säuglings durch das (digitale) Leben zu lauschen. www.12k.com tcb Ryuichi Sakamoto + Taylor Deupree Disappearance [12k - A-Musik] "Disappearance" ist das erste gemeinsame Album von Ryuichi Sakamoto und Taylor Deupree. Wie man von den beiden Künstlern erwarten darf, haben sie sich dabei weitgehend auf kontemplative und stille Klänge geeinigt. In ihrer Zusammenarbeit waltet allerdings auch eine disziplinierte Ökonomie, die den Ereignissen immer gerade genug Eigenleben lässt, um zugleich Räumlichkeit und Spannung zu erzeugen. Diese Platte ist keineswegs als ausdauernde Übung in Wohlklang zu verstehen: In die abstrakt gehaltenen Klavierakkorde mischen sich diskret irritierende Naturgeräusche, die wenig mit HintergrundAmbient zu tun haben. Diese Dynamik von schwebender Harmonie und unvorhersehbaren Störungen des Gleichgewichts tut "Disappearance" ausgesprochen gut. Man meint ständig, Fremdes im Vertrauten zu hören. Und man möchte es sehr gern hören. www.12k.com tcb V.A. - Air Texture Vol. III [Air Texture] Ich wusste gar nicht, dass es sowas noch gibt: Labels für Compilationserien. Air Texture laden ein Mal pro Jahr zwei Musiker ein, ihre Auffassung experimenteller Elektronik in Form einer DoppelCD vorzustellen, von der jeder jeweils eine Hälfte kuratiert. Mit Deadbeat und DJ Olive geht das Projekt nun in die dritte Runde, und es ist kein Zufall, dass hierbei auch zwei individuelle Traditionslinien von Ambient gezogen werden, in Berlin und New York, deren Hintergründe in Space Music bzw. Avantgarde noch nachhallen. Zugleich summieren sich die 28 Tracks zu Momentaufnahmen internationaler Orte, die immer in Bewegung sind. Deadbeats Erzählung beginnt mit kosmischem Äther (darin versteckt u.a. T.Raumschmiere, Takeshi Nishimoto), bevor mit einem epischen Dialog aus Eno-Piano und Vainio-Bohrer (von Villalobos und Loderbauer) eine neue Zeit anbricht (Carreras), dunkle Wolken aufziehen, dubbige Beats sich einschleichen (Fehlmann, Pole) und sich nach verhuschtem Bassflüstern (NSI) die klare tropische Nacht öffnet (Excercise One, Thiel) und der Kreis schließt (Deadbeat). DJ Olive dagegen führt uns von Klassikern (Niblock, Mori, Oliveros) zu neuen Namen (Brazus, Iloop). Eine echte Sleep-Session inklusive dem schrägsten Traum aus Bossanova und Potikratzer-Beat direkt vorm Aufwachen (Once11), wären die Beiträge nicht so fesselnd, dass die Ohren gespitzt bleiben: Besonders der Mittelteil von O'Rourke über Fennesz, Rosenfeld, Ambarchi zu Kang ist oberste Güteklasse. www.airtexture.com multipara Toshimaru Nakamura + Ken Ikeda + Tomoyoshi Date Green Heights [Baskaru - A-Musik] Für Überraschungen sind Baskaru dann doch immer gut. Wer hätte gedacht, dass sich mit dem strengen Onkyo-Meister Nakamura (wie immer am No-Input-Mixing-Board) so eine heitere, zwanglos verspielte Musik ins Leben rufen lässt? Tomoyoshi Dates KinderklavierGamelan hat sicher seinen Anteil daran, zweifellos die gemeinsamen

Session-Pausen auf seinem Balkon, nach dem die fünf Stücke benannt wurden. Vielleicht ist es auch der Beitrag Ken Ikedas, der mit glimmenden Drones aus DX7 und anderen Antiquitäten für das Bindeglied in diesem Improv-Dub sorgt. Dazwischen Dates Fieldrecordings, mit Basteltisch und Sandstrand im Gepäck. Was die Drei aber wirklich so alles in ihren Nabe-Topf schnippeln und womit sie darin rühren, bleibt Geheimnis: wer sich zwischen Celer, Mathias Delplanque und, sagen wir, Nick Edwards nicht entscheiden mag, liegt hier richtig. Aber er schmeckt nach Sommer auf dem Spielplatz, nach Morgensonne am Ferientag, und wenn die Insekten zirpen, blüht die Idylle eines Orla Wren in der Stadt und Nakamuras Feedbacks finden nach Hause. www.baskaru.com multipara

ihrem gemeinsamen Debüt traf diese Floskel aber genau ins Mark der Arbeit des Duos. Auch "Tomorrow Is Another Day" ist die Fusion aus den jeweiligen musikalischen Backgrounds der beiden. Analoger Charme aus Synthesizer und Piano trifft auf Gitarre und Bass. Das Ergebnis sind weiträumige Spaces, fantasievolle Gebilde aus Delays, spärliche Vocals und tolle Songtitel wie "Bound By Lies" oder "One Finger And Someone Elese’s Chords". Ambiente Luizidmusik mit Dream-Pop-Einsprengseln. Oder: Zehn Kopfkino-Erlebnisse. Und mit dem gramerfüllten Monster "Das Volk hat keine Seele" gibt es auch noch den inoffiziellen Slogan für den Bundestagswahlkampf. Großartig. www.bureau-b.com Weiß

Pal Joey - Presents Hot Music [BBE - Alive] Joseph Luongo ist der Mann hinter dem Pseudonym Pal Joey. Seit Beginn der Neunziger ist der New Yorker als Produzent aktiv, BBE ehrt ihn nun mit einer Sammlung von siebzehn Tunes. So bekommt man einen Überblick über rund zwanzig Jahre House-Arbeit geboten, veröffentlicht unter Projektnamen wie Loop-DLoop, Contrasts, Earth People, Dream House, Los Dos oder Soho. Über manche der älteren Produktionen lässt man doch vielleicht lieber das Gras wachsen, doch alles in allem ist hier eine gute Zusammenstellung gelungen. “Spend the Night”, “Raw Love”, “Reach up to Mars” und das titelgebende “Hot Music” sind echte Klassiker, die die Entwicklung von House-Musik in den letzten zwei Jahrzehnten eindrucksvoll veranschaulichen. Auch bei den aus heutiger Sicht schwächeren Tunes zeigt sich doch schnell, mit welchen Effekten man einen guten Dancetrack ausstatten sollte. www.bbemusic.com tobi

Deluxe - Daniel [Chinese Man - Groove Attack] Eine fünfköpfige Instrumentalistentruppe aus Aix-en-Provence machte die Straßen dieser Gegend unsicher mit ihren groovigen Tunes. 2010 trifft man auf die Sängerin Lili Boy, die fortan mit ihrer Stimme viele Stücke veredelte und die Band komplettierte. So landeten sie binnen kurzer Zeit bei Chinese Man für dieses Debüt. Gäste des Albums sind Tumi, A.S.M, Taiwan MC, Cyph4 und Youth Star. Energetisch und abwechslungsreich zeigt das französische Sextett, was es auf der Straße gelernt hat. Die zwölf Stücke sind mitreißend und langweilen nie, sie erfinden das Rad zwar nicht neu, kombinieren die Elemente aus HipHop, Soul und Jazz zu ihrer eigenen Handschrift, die sich äußerst spannend anhört. Da darf man sich auf die Tour in deutschen Landen im Dezember freuen, wenn sie in acht Städten ihre Livepräsenz beweisen wollen. www.chinesemanrecords.com tobi

Wordysoulspeak - Let The Rhythm Hit [BBE - Alive] Ein neues Signing aus China von BBE, der Produzent Jeff Soulspeak macht mit dem dreimaligen DMC-ChinaChampion Wordy gemeinsame Sache. Angeblich haben sie auch schon RZA unterhalten, während er sein Regiedebüt in China drehte. Musikalisch bewegen sie sich zwischen instrumentalem Hiphop und Elektronik. Mit Kid Koala haben sie bereits einen versierten Fürsprecher gefunden. Mangelnde Abwechslung kann man den beiden nicht vorwerfen, einziges Manko der Albums: Es berührt einen nicht sonderlich. Wo andere Beatbastler das Kopfkino zum Laufen bringen, wird es hier mitunter gar nicht angeknipst. Manchmal mutet das Ganze etwas kalt an, es ist halt eher der maschinellere Klang, der die beiden Chinesen von Produzenten wie Dexter unterscheidet. Dabei macht das Zuhören Spaß, die experimentelleren Stücke finden bei mir am meisten Anklang. Mitunter bolzen mir die beiden etwas zu munter daher. www.bbemusic.com tobi Gang Colours - Invisible In Your City [Brownswood - Rough Trade] Es ist ein herrlicher Morgen, ich habe hervorragend geschlafen, der Kaffee ist exzellent, die Pflanzen auf dem Balkon gedeihen prächtig, die Nachbarn strecken sich liebreizend in ihren Fenstern, die Müllabfuhr klingelt heute freundlicherweise nicht um 6 Uhr Sturm und die Kinder in der Kita nebenan werfen allen auf der Strasse ihr entzückendes "Hallo" an den Kopf. Dazu dann noch dieses Album "Invisible In Your City", toll, toll, toll, toll, toll, toll, toll, so muss Songwriting meets Electronica sein. Will Ozannes zweiter Release für Brownswood bezaubert und das schon gestern Abend, gestern Mittag, gestern Morgen. Jetzt kann der Herbst kommen, und den Winter schaffen wir hiermit mit links. www.brownswoodrecordings.com raabenstein MGMT - s/t [Columbia - Sony] Ihr letztes Album war wundervoll. Ihre Zusammenstellung in der feinen "Late Night Tales"-Reihe mit fast vergessenen Großsongs von britischen IndieBands der Achtziger/Neunziger wie Felt, TV Personalities, The Jacobites oder Spacemen 3 (deren Sonic Boom sie auch zuletzt mit produzierte) ist in der Tat eine Insel-Kompilation, selbst für Leute, die eigentlich immer selber die Kompilation komponieren. Und nun legen die beiden New Yorker (im mehrfachen Sinn) Pilz-Köpfe Andrew VanWyngarden und Ben Goldwasser noch einen drauf. MGMT treiben ihren Psychedelic Space Pop auf die Spitze und nennen auch noch den Opener "Alien Days", der den Flaming Lips die Tränen in die Augen treiben dürfte. Wobei man sie nie zu niedlich finden sollte, dann lassen sie einen mit "An Orphan of Fortune" nämlich gleich wieder ganz alleine. cj Ulrich Schnauss & Mark Peters Tomorrow Is Another Day [Bureau B - Indigo] Dass Bureau B ein wundervolles Label ist, hatten wir erwähnt, oder? Hatten wir. Neuester Grund: Das zweite Album von Ulrich Schnauss und Mark Peters. Während Schnauss als Electronica-Musiker und Produzent lange Zeit solo aktiv war, hat sich Peters als Kopf der britischen Band Engineers hervorgetan. Nein, niemand will in jedem Promo-Sheet lesen, dass es das Ziel von Künstlern ist, eine wie auch immer geartete Atmosphäre zu erschaffen. Als ob es überhaupt ohne ginge. Bei

Schneider TM - Guitar Sounds [Bureau B - Indigo] Dirk Dresselhaus - soviel Popmusikgeschichtsschreibung darf doch wohl fürs Hintergrundwissen sein - hat mit den Hip Young Things und dem leider viel zu oft übersehenen (mehr als) Seitenprojekt Locust Fudge in deutschen Landen mit einem sehr eigenen Sound und Stil Aufsehen erregt, im letzteren Fall leider eben viel zu wenig. Viel später und von Berlin beeinflusst hat er als Schneider™ elektronische Musik entdeckt und eine der schönsten Smiths-Coverversionen ever ("The Light 3000") sowie einen Indietronics-Disco-Hit ("Reality Check") verzapft. Was hat der Ostwestfale nicht schon alles gemacht. Nun ist er zurück an der Gitarre, aber Vorsicht, der einzige Weg zurück in die Heimat läuft vielleicht über den alten, legendären Gitarren-Experimental-Sampler "Guitarrorists" von 1991, auf dem einst Steve Albini, Nikki Sudden, Thurston Moore, J. Mascis, Sonic Boom und andere freier Gitarren-Improvisation ihren Weg ließen. Schneider ist längst bei droniger Klang-Kunst oder noch besser -Forschung angekommen. Dennoch entwickeln seine fünf langen Stücke eine eigene Energie, fast einen Flow, wenn nicht immer wieder inne gehalten würde. Da entwickelt sich was und wer. Meine Güte. Auf Madeira vor zwei Jahren war das auch schon so atlantisch-schön. Ein Ozean. www.bureau-b.com cj V.A. - Cocoon 100 [Cocoon - WAS] Keine Frage, die 100 muss man feiern. Und wenn man wie Cocoon so beständig zwischen allen Stühlen immer wieder mal Perlen aus dem Ozean an Tracks fischt und auf den Compilations gerne eine Sammlung zeigt, die in ihrer Bandbreite immer wieder überraschend und voller Killertracks sind, dann sowieso. Cocoon 100 ist mit Klassikern des Floors gespickt. Lawrence, Ricardo, Extrawelt, Recognition und natürlich die Cocoon Dauerbrenner Curly, Santé, Minilogue, Maas, Dice, etc. Was dabei rauskommt ist eine Tour de Force durch die verschiedensten Stile auf dem Floor, vom subtilen Deephouse, über versonnene Jazzeskapaden, bis hin zum slammenden Floorfiller, dem besinnlichen Technoambiente und dem gelegentlichen Ausflug nach Detroit. Jeder Track auf jeden Fall mit Charakter und genau das macht die Cocoon 100 und Cocoon schon seit langem aus. Es geht nicht um die eine kleine Miniszene, sondern um die Charaktere in ihr, die die etwas jenseits von allem Mitlaufen zu sagen haben, egal wie groß oder klein. Eine schöne Sammlung. www.cocoon.net bleed Dale Cooper Quartet & The Dictaphones Quatorze Pièces de Menace [Denovali - Cargo] Wenn der Wind gerade ungünstig steht, dann können die Brandblasen, die Bohren & Der Club Of Gore in den 90ern hinterlassen haben, noch manchmal nässen. Beim vierten Album von Daly Cooper und seinen Dictaphones weht der Wind genau richtig. Und das führt zu ausgesprochen unterschiedlichen Ergebnissen. So in der Gefühlswelt und so. Da ist die scharrende und schnarrende (Gore halt) Darkness, der Noise und die Sound-Wand. Und Unverständnis. Jeder, und bitte wirklich jeder soll das komponieren, was ihm am besten gefällt. Und natürlich auch veröffentlichen. Sich dann aber auch mit den Erfindern dieses Sounds messen lassen. Und hier verliert Dale Cooper. Klar und deutlich nach Punkten. Das ist aber nur eine Stoßrichtung, die das Album nimmt. Immer dann, wenn die Stimmung heller wird, nicht alle immer und ständig auf den Boden oder in Richtung der Gewitterwolken im Himmel blicken, dann blüht das Album plötzlich auf, wird diverser, nimmt einem fast schon mit (also hakt sich ein für einen Herbstspaziergang). Es bleibt aber eine unausgeglichene Geschichte. Und irgendwie auch anstregend prätentiös über weite Strecke. Für frisch verliebte Darkness-Jünger vielleicht aber genau richtig. Wir bleiben lieber hinter dem Ofen hocken. Da ist es nämlich wirklich dunkel. thaddi

Matana Roberts Coin Coin Chapter Two: Mississippi Moonchile [Constellation - Cargo] "Mississippi Moonchile“ führt Matana Roberts reichhaltiges Projekt "Coin Coin“ über Sklaverei und afroamerikanische Musik in den Vereinigten Staaten von Amerika fort. Die Besetzung ist stark eingedampft, statt eines 15-köpfigen Orchesters von Musikern aus Jazz, Experimentalmusik, Indie Rock und Marching Band arbeitet die Chicagoer Saxofonistin hier nur mit einer Jazzband instrumentiert mit Trompete, Klavier, Bass und Schlagzeug sowie einem Opernsänger. Ein einziger albumfüllender Track durchkomponierter Musik, der trotz vieler Improvisationsparts wesentlich durchorganisierter klingt als Chapter One mit seinem kreativ unbändigen Durcheinander unterschiedlichster Stile und Klänge, musikalisch und textlich aber mindestens genauso spannend geraten ist. www.cstrecords.com asb Cibelle - Unbinding [Crammed Discs - Indigo] Cibelle Cavalli aus Brasilien ist eine irritierende Musikerin. Und irritierend heißt hier einen aus den Gewohnheiten heraus holend. Auch ihr viertes Album unterscheidet sich von den vorhergehenden, ohne den für Cibelle so typischen, im positiven Sinn eklektizistischen Charme zu verlieren. "Bassline" gleich zu Beginn ist ein minimaler Riesenhit, der auf jedem Dancefloor der besseren Welt heavy rotieren sollte. Hey, das ist ganz toller Pop direkt für den Tanzboden. Cibelle groovt (noch) mehr als eh schon, lässt das Hyperkulturelle ein wenig in den Hintergrund treten und die Gefühle und Rhythmen nach vorne. Die müssen jetzt auch mal ran. Hört mal "Itsu", da grüßen ja fast SND nochmal mit Vocals und Pop-Appeal. Das Experimentelle, was Cibelle auch immer kennzeichnete, ist ins Vocal Processing und den Mit-Produzenten Klose geflossen. Cibelle hat noch mehr Prince und Jamie Lidell durch ihren Fleischwolf gedreht und ein von theoretischem Überbau befreites Tanzalbum produziert. Toll. www.crammed.be cj Sebastian Plano - Impetus [Denovali - Cargo] Die "postklassische" Klavier/Streicher-Fraktion scheint in ungeahntem Ausmaß weiter anzuwachsen. Auch der Argentinier Sebastian Plano gehört zu den klassisch ausgebildeten Komponisten, die sich auf ruhig voranschreitende Harmonien spezialisieren, aber auch die Berührung mit elektronischer Musik außerakademischen Ursprungs nicht scheuen. Seine Stücke lassen sich irgendwo zwischen Dustin O'Halloran und Max Richter ansiedeln. Allerdings neigt Plano mitunter zu einer sehr gefühligen Breitwand-Malerei, die sogar eine gewisse Schnulzennähe nicht verleugnen kann. Das wird durch die Wahl der Instrumente noch einmal verstärkt: So taucht bei ihm neben etwas ätherischem Hintergrundgesang auch schon mal ein Bandoneon auf. Landsleute wie Astor Piazzolla mögen das ebenfalls getan haben, die Wirkung war da jedoch eine völlig andere, weniger kitschige. www.denovali.com tcb Holy Ghost! - Dynamics [DFA - Rough Trade] Eigentlich sollte man Holy Ghost! gleich nach dem neuen Album von Au Revoir Simone hören, denn beide haben ihre intensive Lektion in Sachen Synthie Pop gelernt. Wobei Holy Ghost! schon noch einen ganzen Schwung tanzbarer sind (und das ist ja für Au Revoir Simone auch nur gut). Um mal ganz alte und bekannte Vergleiche heraus zu kramen, sind Holy Ghost! doch noch deutlicher bei Yazoo als bei Depeche Mode, wenn man mal beide ursprünglich von Vince Clarke mitbegründete Projekte zu Rate ziehen will. Wobei dieses Duo deutlicher an Disco als an New Romanticism oder Synthie Pop dran ist. Holy Ghost! aus Brooklyn ziehen diese Vorklängler natürlich ins Jahr 2013, um direkt neben MGMT, Phoenix und LCD Soundsystem zu landen, die übrigens allesamt auch schon von Holy Ghost! geremixt wurden. Manchmal wird es sogar funky as hell ("Dumb Disco Ideas"). Lange keinen so passenden Album-Titel registriert. www.dfarecords.com cj Tigerskin - All Those Goodbyes [Dirt Crew - WAS] Sehr unentschiedene Angelegenheit. Dass Alexander Krüger jedes Studio blind bedienen kann, ist seit jeher klar, die Tracks auf diesem Album aber wirken blass. Zu blass. Und zu perfekt. Was ist da los? Frustriert über die Welt da draußen? Kontrarevolution? Ich mach mir die Welt, wie sie mir und so? Auch nicht. Zu viel Abstand wäre eine Möglichkeit. Vorgeschobene Abgeklärtheit. Zu glauben, alles verstanden zu haben, ist nicht immer gut. Und zu denken, jetzt gebe man den Menschen das, was sie verdienen, auch. Alles reine Theorie, versteht sich. Aber man wird dieses Gefühl nicht los, das hier jemand stumm brüllt, man möge ihm doch endlich zuhören. Haben wir doch 20 Jahre lang getan. Was also ist das Problem? Der Klärungsbedarf versandet im Desinteresse. Gäste: Ulrich Schnauss, Uffe, Till von Sein, Lazarusman, Eddie Richards und Sebastian Oehlschlegel. www.dirtcrew.net thaddi

70

dbg176_reviews.indd 70

22.09.13 15:48


176

ALBEN Valanx - Ejecta [diametric - DNP] Dieses zweite Album von Valanx alias Arne Weinberg auf seinem eigenen Label diametric setzt genau dort wieder an, wo das vorherige Album "Xenolith" 2012 aufhörte. Vielleicht geht es sogar noch tiefer, wird noch dunkler als es "Xenolith" bereits schon war. Mit einem minimalistischen Ansatz kreiert Valanx Klangcollagen zwischen Ambient, Downbeat, Dubtechno und Drone mit schauerlich kühlen, langsam pulsierenden Rhythmen. Teilweise erinnert der Klang dabei an einen gewissen Tribal- oder Ethnoklang, mit östlichem Kultureinfluss. Bei den Stücken "Legion V2" und "Trail of Conjuration" verliert man sich zwangsläufig in den hypnotisch und subbasslastigen Percussions und Drums, die mit ihrer Soundästhetik jedes Staubkorn im dunklen Raum bedächtig aufwirbeln. Dem Album folgt passenderweise eine Remix-EP mit ADMX-71, The Exaltics, CRC (Morphology) und Louis Haiman. "There is no light without darkness." jonas The Range - Nonfiction [Donky Pitch - Kudos] Das Debütalbum von The Range aus Providence/Rhode Island ist da, nach zwei Maxis auf Donky Pitch und Astro Nautico geht es nun auf die volle Distanz. Die “The Trick”-Ep hab ich damals bereits ausgiebig gelobt, und auch auf Albumlänge gibt es wenig zu meckern. Man hört dem Produzenten an, dass er bei seiner Frickelei auch ein Herz für warme Sounds behalten hat. Dadurch wird der Hörer nicht ganz so gefordert, die insgesamt elf Tunes sind nichts für leichte Entspannungsabende. Hat man sich aber erst einmal dem Sound geöffnet, erobert man eine spannende Welt, in der immer neue Ebenen erschlossen werden können. Alben, die sich nicht so schnell abnutzen, gehörten schon immer zu meinen Favoriten. Hier wird man zwar akustisch ganz schön gefordert, kann dafür aber viele Entdeckungen mehrfach vollziehen. Spannend, sodass ich erwartungsvoll bin, wann der gute Mann sich denn nun in Deutschland blicken lässt. Eine Europa-Tour ist angeblich in den Startlöchern. www.donkypitch.com tobi V.A. - 20 Years Downwards Compilation [Downwards - Import] 20 Jahre Downwards. Dazu kommt nun diese spezielle Labelcompilation mit Künstlern heraus, die alle in einer unterschiedlichen Form mit dem Label seit Gründung 1993 zu tun hatten und mitgewirkt haben - sei es direkt von innen oder aus dem weiteren Kreis auch von außen. Natürlich gibt es ein Stück von dem Gründer selbst, Regis alias Karl O´Connor. Doch auch die Liste mit den weiteren hier mitwirkenden Künstlerprojeken liest sich zweifelsohne enorm gut: Anthony Child alias Surgeon, Samuel Kerridge, Sleeparchive, Oake, Fret, Talker, Concrete Fence, Substance, Mark Farmer und Antonym. All diese Namen haben Downwards zu dem Mythos eines voranschreitenden, wegweisenden Techno gemacht, für welchen Downwards heute nun bekannt ist. Auch umgekehrt bot Downwards aufstrebenden Künstlern wie Samuel Kerridge die richtige Plattform zur Musikveröffentlichung. Eine wahre Win-Win-Situation, die sich über die letzten zwei Dekaden entwickelt hat. Zum Klang der Compilation dürfte es eigentlich schon jetzt nicht mehr viel zu sagen geben. Downwards. downwards.tumblr.com jonas Bill Callahan - Dream River [Drag City - Rough Trade] Bill Callahan hat mit seiner Band Smog Homerecording-ShoegazingIndie-Geschichte geschrieben. Typen werden älter, noch mehr Geschichten erlebt und erzählt, und manchmal lugt dann doch der gute alte Country, Folk oder sogar Jazz (wie in diesem Fall, wenn auch nur ganz sachte) hervor. Man merkt, dass Callahan stets ein Storyteller war, dass er nebenbei mittlerweile Bücher schreibt. Auf den neuen Songs bleibt alles zurückgezogen, wenn auch manches Mal eine verzerrte Slide-Gitarre durch die Flöten, orchestralen und beinahe loungigen Momente dringt ("Javelin Unlanding"). In Sachen leicht orchestraler Mini-Experimente scheint Callahan - wie soll man sagen - kleine Prisen Nick Drake und Jeffrey Lee Pierce mit eingestreut zu haben. Und "Small Plane" dürfte Kurt Wagner von Lambchop neidisch machen. "I always went wrong in the same place (…) I really am a lucky man." www.dragcity.com cj Washerman - Raw Poet [Drumpoet Community - Groove Attack] Alter Bekannter, dieser Washerman. Gianni Siravo releaste schon als Sequel und als Azuni. Und wenn man diese beiden Inkarnationen als Prequel einordnet, geht es jetzt um die Essenz, die reine Lehre der Maschinen. Glitzernde Tracks, die nur vom Glitzern zusammengehalten werden. Denn gehört hat man das alles schon hundertfach. Es ist eben nur nicht in der Kantine verrührt, sondern in einer extravaganten Molekularküche. Prise um Prise Deepness wird auf die klassischen Gerüste gewürzt, Ein Flirren hier, ein Knistern da. Vorne? Tummeln sich eh nur die stolzen Beats der Vergangenheit. Und wenn die 909 die

Stradivarius des Techno ist, die epische Konzentration, dann ist Sirava der Maestro am Pult. Keine Ecken, keine Kanten, nie egal. Es fließt, wie es fließen muss. House Music. www.drumpoet.com thaddi Nils Petter Molvaer + Moritz Von Oswald - 1/1 [Emarcy - Universal] Brian Eno und Robert Fripp veröffentlichten 1973 den Meilenstein "No Pussyfooting" und die Welt war danach nicht mehr dieselbe. Ambient war geboren und in den 40 darauf folgenden Jahren wurde der Sack interessanter Veröffentlichungen purer oder genreerweiternder Art immer größer und vor allem dichter gedrängt. Die gute Nachricht ist, dass "1/1" hier nicht zum Platzen desselben beiträgt, und leider ist das auch gleichwohl die schlechte; um beim Thema Sack zu verbleiben, kein Tuch so groß, den Duddelkram dieser Welt zu fassen. Da passte "1/1" eher hin, die beiden Artists sind vom Label zu dieser Session geladen worden, und die sieben Tracks des Werkes (Ricardo darf einen Mix Dig zusteuern) sind echte, öde Schrubbware. Hier ein Quietsch, dort ein Wubb Wubb, Nils Petter Molvaer & Moritz Von Oswald sind hervorragende Vertreter ihrer Gefilde, aber das hier... Da hilft kein Schütteln und kein Klopfen, daneben geht der schlichte Tropfen. www.universalmusic.com raabenstein V.A. - Welcome to the Robots [Embassy of Music - Warner] Raphael Krickow vom Pophouse-Duo The Disco Boys war einst Stammgast im Frankfurter Dorian Gray und legte ab 1986 im Vogue (dem Vorgänger des Omen) auf. Die Musik der frühen und mittleren 80er prägten nicht nur ihn, sondern war auch die Blaupause für Techno und den Sound of Frankfurt, die kurz darauf folgten. Neben den ganz großen Namen wie ABC, Yazoo, Talk Talk, Soft Cell, Heaven 17, Duran Duran, New Order oder Human League finden sich auch heute fast vergessene Artists wie Blancmange, Propaganda, Telex, Scritti Politti und Logic System wieder. Angenehm ist, dass bei den großen Namen überwiegend nicht ihre Riesenhits vertreten sind und dass generell Clubversionen von den 12"-Maxis bevorzugt wurden. Besonders Soft Cells "Torch" bietet Marc Almonds Stimme in der Extended viel mehr Raum und Propagandas "Die tausend Augen der Mabuse" erzeugt viel mehr Spannung durch das längere Instrumentalbreak. Insgesamt changiert der Mix zwischen den epischen Klangwelten des Dorian Gray (an diese musikalische Räumlichkeit kommt auch keine Function One heran) und dem Nobeldisco-Pop des Vogue, was man je nach Gusto als mehr oder weniger angenehm empfinden kann. Als Sammlung seltener Mixe und für die Retrofreude ist die Compilation ideal, als DJ-Mix nur bedingt. Auch damals gab es schon DJs in Frankfurt, die beim Mixen mehr experimentierten. Sehr schön und besser als jedes Retroformat im TV. www.welcometotherobots.com bth Kirk DeGiorgio - Sambatek [Far Out Recordings] Über alle Zweifel erhaben. Egal wie lange es mittlerweile her ist, dass DeGiorgio ein ALbum veröffentlicht hat, egal, was seitdem passiert oder auch nicht. Er hat ihn noch, den goldenen Finger am Fader. Die Tracks sind dabei überraschend bullig und extrem geradeaus. Kann man sich aber weg denken, wenn es gerade nicht passt. Denn jeder Sound, jedes Detail ist schon für sich allein ein Universum der ganz besonderen Art. Ja, der Titel ist Quatsch, ja, wenn man will, dann kann man die thematische Richtung auch immer wieder raushören, aber die persönliche Blende hatten wir ja schon etabliert. Das ist der Mann, der die beste Photek-12" aller Zeiten bei sich veröffentlicht hat. Vergessen wir das nicht. Und dreht man den Fade um, funktioniert es genau so. Weiß man heute noch wirklich um die Schönheit einer Bassdrum? Um ihre Kraft und Energie? Eben. www.faroutrecordings.com thaddi Sergio Sorrentino _ Machinefabriek - Vignettes [Frattonove - A-Musik] Dem feinen Gespür des Rotterdamer Ambient-Zauberers Machinefabriek vertraut sich auf "Vignettes" einer der herausragenden zeitgenössischen Gitarristen Italiens an, Sergio Sorrentino. Bei der Kombination elektrische Gitarre plus elektronische Nachbearbeitung mag man zuerst an Fennesz denken, die beiden hier verschmelzen diese hier jedoch zu einem ganz anderen neuen Instrument, und erst wo sie Verzerrung in größerem Maß einsetzen, im elften der dreizehn knapp gehaltenen Stücke (siehe Titel), huscht jener durchs Bild. Statt Wolkenwänden und Tonkaskaden entfalten die beiden aus einem behutsam verwobenen Dialog der Tonsetzung von Hand und Maschine Landschaften stiller Kontemplation. Die filigran-transparenten, sich mal froh, mal trüb in sanftem Licht drehenden Mobiles aus gebrochenen Akkorden und einem Pointillismus angerauhter, singender Einzeltöne bleiben klischee- und geradezu provozierend genrefrei und dabei immer zugänglich. Sensibel, friedlich, und sehr schön. www.fratto9.com multipara Sergio Sorrentino Machinefabriek - Vignettes [Frattonove - A-Musik] Sergio Sorrentino ist Komponist und Gitarrist in zeitgenössisch klassischen, ambienten und experimentellen Zusammenhängen. Für diese Zusammenarbeit mit Rutger Zuyderveld hat er sich auf minimalste instrumentelle Ausdrucksformen beschränkt, spielt einzelne Töne, einfache Improvisationen und kurze Melodien, die Zuyderveld schließlich digital bearbeitet und zu Tracks formt. Der (manchmal manipu-

lierte) Klang des Instruments steht hier im Vordergrund, die Musik ist immer harmonisch, klangmalerisch und stimmungsvoll und, wie der Name des Albums schon sagt, eher ornamenthaftes schmückendes Hintergrund-Beiwerk; grundsätzlich aber einfach schöne Musik. www.fratto9.com asb Airchamber 3 - Peripheral [Frattonove - A-Musik] Ein frei improvisierendes Trio aus Italien musiziert mit Gitarre, Saxofon und Schlagzeug, mischt seine Sounds mit Synthesizerklängen und Computerbearbeitungen auf und hat sich für dieses Album zusätzlich mit Gastmusikern und Sängern verstärkt. Bekannt ist mir nur der Elektroniker und Carla-Bozoulich-Mitstreiter Dominic Cramp. Die Musik bewegt sich zwischen "Song“, Soundscape und Geräusch und ist richtig spannend, atmosphärisch und abwechslungsreich. Rockig verzerrte Elemente, dronige Cale-Celli, dubbige Passagen und schön obskure Gesänge halten ihre Musik zudem angenehm "unakademisch“ und sehr frisch. www.fratto9.com asb Small Pyramids - Slow It Down [Glasgow Underground] Schon irgendwie süß, wie aus Slowmotion-House langsam ein Popgenre wird. Das Album von Small Pyramids ist ein perfektes Beispiel dafür. Programmatischer Titel, jeder Track ein kleines zuckersüßes Popstück, vollgepackt mit allem was die Houseszene so liebt, von der funkigen Discogitarre, über die klassischen Claps bis hin zum souligen Jungsgesang und dem breiten Piano. Am Ende ist ein Album wie "Slow It Down" aber auch so voller Anzeichen dafür, dass es viel zu einfach ist, beliebige Retronummern zu machen, dass man das Genre gerne an die Kaffee-Häuser dieser Erde als verloren übergeben möchte. bleed Lucrecia Dalt - Syzygy [Human Ear Music - Cargo] Ungreifbar und ungreifbar ist nicht dasselbe. Wo die einen unschlüssiges Nasebohren zur ästhetischen Haltung erheben, zeichnen andere mit feinen Strichen präzise, irritierende Kippbilder oder beschwören auf seltsame Weise vertraute Stimmungen herauf, die an ganz bestimmte Befindlichkeiten rühren, ohne dass man sie genau benennen könnte. Die Kolumbianerin und Wahlberlinerin Lucrecia Dalt gehört zu letzterer Sorte Musiker. Auf ihrem dritten Album "Syzygy" gibt es so etwas wie Songs, auch wenn die Formsprache vielleicht nicht so recht dazu passt. Melodien werden angedeutet, Klänge so sorgsam arrangiert, dass selbst die unerwartetsten Geräusche völlig selbstverständlich erscheinen. Dalt singt dazu auf Spanisch, Englisch und Katalanisch, ließ sich in ihren Texten von Walter Benjamin, Italo Calvino oder Ingmar Bergman inspirieren. Der Rhythmus hält die verschiedenen Bestandteile stets zusammen, lässt vorsichtig einen Groove entstehen, der spröde wirken mag, einen in seinem Insistieren dann aber doch nicht loslässt und alles zu einem großartigen Freiform-Pop vereint. www.humanearmusic.de tcb Lucrecia Dalt - Syzygy [Human Ear Music - Cargo] Vielleicht muss man unter derartigen Umständen arbeiten, um zu so intensiven Ergebnissen zu kommen. Das Magnetfeld von Barcelonas U-Bahn war der winzigen Wohnung zu nahe, in der die geborene Kolumbianerin vor ihrem Umzug nach Berlin ihr zweites Album aufnahm: Ihr Hauptinstrument E-Bass gab hier nurmehr stehendes Brummen von sich. Stattdessen entschied sich Lucrecia Dalt für elektronische Produktion. Kein Fehler. Bass gibt es trotzdem, beklemmend tief. Und es spukt. Durch die kühle, schattige Unschärfe, in der verwaschene Lichter vor sich hin laufender, pochender, summender Maschinchen flimmern, streifen ihre somnambul flüsternden Vocals, irgendwo den langen Gang runter scheint etwas zu tropfen, eine E-Gitarre oder Drums irrlichtern vorbei, und mal um mal kriecht die Spannung an einem hoch, leise und zwingend. Filmisch ist dieser langsame, dräuende Sog aus Arpeggienfolgen, Drones in harmonischen Wechseln oder einfach Loops, ob grau in grau oder auch in Morriconescher Farbigkeit ("Volaverunt"). Filme von Antonioni, Bergman, Clouzot oder Godard (das Coverfoto erinnert an die Anfangssequenz von "Une femme mariée") ließ Dalt während der Produktion stumm mitlaufen, aber eigentlich ist es so etwas wie der zarte, stille Horror eines Kiyoshi Kurosawa, der ihr Album unwiderstehlich macht. www.humanearmusic.de multipara Ákos Rózmann - Images of the Dream and Death [Ideologic Organ - Anost] Zwei Stunden Kampf von Gut gegen Böse – in drei auf ebensoviele Schallplatten verteilten Sätzen, nichts weniger bietet dieses erste Hauptwerk Ákos Rózmanns, der zwar in Ungarn aufwuchs und studierte, dann aber in Stockholm wirkte – nicht zuletzt jahrzehntelang als Organist der katholischen Kathedrale, aber auch als Komponist. Wie auch das zuvor auf Ideologic Organ erschienene zweite Hauptwerk "12 Stationer" entstand "Images of the Dream and Death" im Stockholmer EMS (Studio für elektroakustische Musik) und zwar diesmal am Buchla Synthesizer. Die einzigartigen Kreatur- und Materiallaute, die er diesem entlockt (und zwar schon in den Siebzigern – auch wenn die Fassung, die wir hier hören, die vierte und letzte von 2001 ist), malen so etwas wie einen endlos stockfinsteren Soundtrack zu alptraumhaften Bildwelten eines Hieronymus Bosch, und im dritten Teil geht es dann richtig ab. Die spirituell-kosmisch-existenziellen Dimensionen

71

R E C O R D S TO R E • M A I L O R D E R • D I S TR I B U T I O N Paul-Lincke-Ufer 44a • 10999 Berlin fon +49 -30 -611 301 11 Mo-Sa 12.00-20.00

hardwax.com/downloads

dbg176_reviews.indd 71

22.09.13 15:55


176 — reviews

MIMU

VON MINNE UND KRIEG T Philipp L'Heritier

Alben und der heilige Ernst des Ganzen sorgen dafür, dass man Ende wenn nicht erschlagen, so auf jeden Fall transformiert aus diesem Sturm hervorgeht. Was bei diesem Label ja öfter vorkommt. editionsmego.com/ideologic-organ multipara V.A. - SMM: Opiate [Ghostly International - Alive] "SMM: Opiate“ ist der zweite Teil einer Ambient-Reihe von Ghostly International und schließt nahtlos an das Debut "SMM: Context“ an. Elektronische und orchestrale Entspannungsmusik, angesiedelt manchmal knapp über oder unter der New-Age-Grenze und ein wenig pathetisch, dann wieder fast ein Hörfilm oder angenehm funktionell, manchmal einfach soundtechnisch interessant und spannend, mal melodisch und dann wieder geräuschhaft dronig aus Fieldrecordings gebaut. Das ist einerseits recht abwechslungsreich, lässt sich dadurch aber auch nicht gut durchhören. ghostly.com asb

Von kaum weniger handle ihr Debütalbum, so meint Mimu im Interview. Die großen, ewigen und vielleicht letzten Themen fast jeder Kunst und Musik, ein vollmundig formuliertes und Bedeutsamkeit verheißendes Grundmotiv. Mimu sagt solche sicherlich ernst gemeinten und ernstzunehmenden Dinge, jedoch nicht ohne im selben Atemzug einen leisen, immerhin gefühlten Unterton des Schmunzelns mitzuliefern. Was die ursprünglich aus der steirischen Provinz stammende Musikerin und Rundumkünstlerin, die bevorzugt ohne weitere biografische Zusatzinformation einzig unter dem Namen Mimu firmiert ("Mimu so wie Bon Jovi"), auf ihrem ersten Solo-Longplayer namens "Elegies In Thoughtful Neon" da so an komischen Sounds, irren und irritierenden Klängen, im besten Sinne einlullenden und aufrüttelnden Gesängen und spröder Elektronik zusammengebaut hat, ist ohne Zweifel große Kunst. Es spricht aber auch immer Witz aus der Platte. Angerichtet hat Mimu diese konzentrierte und genau gesetzte Klangordnung neben der Unterstützung von einigen Gästen gemeinsam mit dem in der Wiener Experimentalszene beheimateten Peter Kutin, der Elektronik, Gitarre, Hammondorgel und – besonders prägnant - aus allen Ecken der Welt ins Aufnahmegerät gespeiste Field Recordings zu "Elegies in Thoughtful Neon" beigesteuert hat: Aus der Ferne dringen Stimmen ans Ohr, Schuhe klappern über den Asphalt, Vogelschwärme ziehen auf, dann wieder meint man das Zirpen der Grillen im Morgengrauen zu vernehmen. Diese weirde Verwebung akustischer Instrumente - Mimu selbst ist vor allem am Klavier und der Violine, ein bisschen auch am Akkordeon zugange – mit elektronischem Brummen, Summen und Rauschen und Umgebungsgeräuschen hat meist einen strengen, beinahe schon – möchte man sagen: akademischen Charakter. Gleichzeitig versprüht diese wie in Äther getauchte Musik auch immer Leichtigkeit und eine Idee von Pop. Über etwaige öde Grenzen zwischen E- und U-Musik muss man sich hier wieder einmal keine Gedanken machen. Das herausragende Merkmal der Platte ist Mimus Gesang: Sie haucht. Flüstert, spricht Poesie, singt mal kraftvoll, mal zerbrechlich und überlagert sich mit sich selbst zu vielstimmigen Chören. Auf Englisch und Deutsch singt Mimu in einer kunstvoll zusammenjonglierten Sprache von der Liebe, den Kämpfen, die sie so mit sich bringt, und ihrem Verlust. Sie singt aber auch von einem Mörder, der seine Freundin, schnippschnapp, zerstückelt. Oder davon, wie die Liebe zwischen dem Reh und dem Fuchs unerfüllt bleiben muss, und die beiden erst im Tode zueinanderfinden können: in der Fabrik, wo ihre Überreste zu einem Stück Seife gepresst werden. Nicht selten wird hier in Wortspielen und im Ausdruck die Künstlichkeit, das Exzentrische aufs Ärgste überspitzt, bis hinein ins angenehm Affektierte gedehnt und die Musik fast schon als – liebvolle, natürlich - Macke ausstellt. Es entsteht Reibung, da und dort auch leises Unbehagen. In solchen Momenten wird erkennbar, dass Musik eben auch Kunst, konstruiert und gemacht ist. Und nicht bloß "authentisch" gefühlter Singer/Songwriter-Schlonz, der in einer trüben Stunde der Macherin einfach so aus dem Herzen geflossen ist. Mimu selbst hat kein Problem, ihr ganz und gar bemerkenswertes und wunderbares Debüt und die Dinge, um die es darauf geht und wie es um sie geht, ohne falsche Koketterie als "schräg" zu bezeichnen: "Irgendwas zwischen völlig abgefuckter Love und dem Tod. Das Erstlingswerk eben. Das erste, pubertäre Machwerk, irgendwie." Mimu, Elegies Is Thoughtful Neon, ist auf Liska Records erschienen.

Forgotten Birds - Sahara [Karaoke Kalk - Indigo] Wenn der Besen der beste Freund ist. Nicht putzt, wegräumt, sondern vielmehr aufrauht. Blickwinkel, Bodenhaftung, Perspektiven. Klingt wie eine kleine Dampfmaschine ohne das rhythmische Ende des Fließbands. Liebe. Jan Gazarra und Judy Willms sind die Forgotten Birds. Und man spürt den Wind, der den beiden zusammen mit Jörg Follert bei den Aufnahmen an der Ostsee um die Nasen pfiff, vielleicht auch fast schon unanständig unter den Pullover blies. Das vertreibt schlechte Gedanken. Denn: Hier ist das Problem, mit dem solche Alben oft zu kämpfen haben. Sie gehen nicht auf. Wollen, aber können nicht erfüllen, was man schon so oft gehört und liebgewonnen hat. Pop. In aller Einfachheit. Gitarre (am besten zwei), ein bisschen Schlagwerk, irgendeine Tröte, in die man tröten kann, ein Bass, zwei Mikros. Kurze Songs mit um so längerer Halbwertszeit. Alles raus, geradeaus, keine Ecken, alle Kanten sind ausgebeult. Jeder hat solche Platten. Jeder liebt solche Platten. Und lässt nichts an sie rankommen, wimmelt alles Neue ab. Und das meiste Neue gehört auch abgewimmelt. Ein Blick auf das Regal mit den Schwedenpop-Veröffentlichungen der letzten drei Jahre genügt. Jeder hat so ein Regal. Aber die Müllabfuhr nimmt keine CDs mehr mit. Wohin also damit. Man ist doch verliebt. In den Pop, den die neueren Platten nicht erreichen. Gazarra und Willms schreiben Songs zum Reinlegen. Haben sich hoffentlich beim Einsingen auch angeschaut. In den Armen liegen geht ja schlecht. Gazarra und Willms machen das, was ich bei The Jazz Butcher immer vermisst habe. Und was Hamburg nie konnte. Woran Berlin nie gedacht hat. Was anderswo vielleicht sogar verboten war. Was bislang niemand so auf den Punkt brachte wie Shelleyan Orphan. Genau, das ist lange her. Deshalb sind die Vögel zwar jetzt schon vergessen, aber wartet ab, bis sie in der Luft sind. www.karaokekalk.de thaddi The Field - Cupid's Head [Kompakt - Kompakt] Als Willner 2007 mit "From Here We Go Sublime" seinen großen Crossover-Hit ablieferte, war das eine freudige Überraschung. Seine Nanosamples mit ihrem Drive, der immer kurz am Auf-dieNerven-gehen vorbeigeloopt war, hatten etwas gnadenlos Euphorisierendes. Wenn man sich heute Axel Willners viertes Album als The Field anhört, kommt einem das Jahr 2007 auf einmal ziemlich weit weg vor. Die Methode ist in ihren Grundzügen dieselbe geblieben, wird allerdings stärker variiert, vor allem nimmt Willner häufiger das Tempo raus. Das kann, wo es gut geht, hypnotische Effekte erzielen, wo es weniger gut geht, stellt sich irgendwann womöglich leichter Überdruss ein. Vermutlich hat es auch damit zu tun, dass die Beats bei The Field so konsequent repetitiv eingesetzt sind, dass sie paradoxerweise gerade da, wo sie sich nicht auf einen geraden Kick beschränken, mitunter einfach nicht recht vom Fleck kommen wollen. Genauer gesagt: Das Zusammenspiel mit den gedrosselten Loops offenbart die Anfälligkeiten dieses Konstruktionsprinzips eher, als dass es für die gewünschte Sogwirkung sorgt. "Cupid's Head" bleibt daher eine zwiespältige Angelegenheit. www.kompakt.fm tcb Poliça - Shulamith [Memphis Industries - Indigo] iTunes verpixelt das Cover von "Shulamith". Warum? Wegen des bisschen Bluts an dem Frauenkörper? Ach bitte. Zum wichtigen Teil: Gleich zwei Mal habe ich mich in Channy Leaneagh von Poliça verliebt. Einmal bei ihrem grandiosen Berliner Konzert 2012 und wenige Woche vorher, als sie mir gestand, keine Musikexpertin zu sein. Aber unsere imaginäre Beziehung bekommt jetzt erste Risse. Channy überschreibt ihr zweites Album mit dem Spruch "Drums. Bass. Synths. Me, Women" – hat sich also nichts geändert. Die Texte bleiben Selbstbeobachtungen und –findungen, die Musik noch immer R’n’B-infiziert, Stimmverzerrungen natürlich. Doch "Shulamith" ist dubbiger, deutlich mehr Groove, hin und wieder irgendwie laissez-faire auf eine wehleidige Art und Weise. Das Hofieren von Justin Vernon schlägt sich im gemeinsamen Song "Tiff" wieder, doch die Bon-Iver-typischen Uhhs und Ehhs sorgen nicht wirklich für einen besonderen Moment. Insgesamt fehlen die Hits, die hängenbleibenden Hooks, der Appeal, der sich Future Pop schimpft. Klar kommt hier viel Talent und auch eine sehr angenehm

durchlaufende Platte auf den Teller. Dennoch: Album Nummer zwei vielleicht einen Tick zu früh veröffentlicht, vieles wirkt noch fragmentarisch, hier und dort wäre eine Skizzenfusion schick gewesen, auch wenn Songs wie "Spilling Lines" oder "Very Cruel" tatsächlich wachsen. Wird live funktionieren. Na gut, das mit den Rissen war natürlich nur ein Scherz. www.memphis-industries.com Weiß V.A. - Mixatac #2: Essaouira [Marsatac] Im Rahmen des Festivals "Marsatac“ treten seit 2008 französische Musiker gemeinsam mit Künstlern aus Afrika auf. Nachdem der erste Teil der daraus entstandenen Compilationreihe mit Musikern aus Bamako, der Hauptstadt Malis aufgenommen wurde, ist diesmal Essaouira in Marokko die Heimat der afrikanischen Beteiligten. So kommt die Gnawa-Atmosphäre vom Guembri-Spieler und Sänger Maalem Hassan Bossou, französische Indie- und Elektro-Sounds vom Trio Nasser und Hip-Hop-Elemente von Rapper Oussama Dallouli alias Komy. Das Ergebnis ist kein lahmer Weltmusik/Rock-Mischmasch, sondern spannende und frische zeitgemäße Tanzmusik. www.marsatac.com/ asb Michaela Melián - Monaco [Monika Enterprise - Indigo] Neben der F.S.K. und der Kunstprofessur setzt Michaela Melián nunmehr und parallel ihre solomusikalische Städtereise nach "Baden-Baden" und "Los Angeles" mit "Monaco" fort. Ihre Songtracks schleichen unter der Tür durch wie der erste morgendliche Nebel im Herbst. Hm, seltsam kitschiges Bild, aber trifft den Ton irgendwie ganz gut. Alles etwas akustischer als zuletzt, weniger elektronisch, wenn auch im Resultat ganz ähnlich effektiv. Michaela Melián hat sich längst eine eigene Musik-Kategorie erschaffen. Wie die andere große Heldin für mehr als einen Tag, Gudrun Gut. Da muss gar nicht mehr einsortiert werden. Das liegt außerhalb von Raum und Zeit. Das kann auch gelassen werden, weil das hier so gelassen und doch unglaublich intensiv klingt. Wohl kein Zufall, dass Melián auf Guts Label erscheint. Ganz große, in sich ruhende, tiefe Musik, die hilft. Sich zu besinnen. Ohne irgendeinen Esoterik-Quatsch, einfach da, einfach für sich. Glitzernd einsam. Da darf dann auch mit "Scary Monsters" Bowie gecovert werden. www.monika-enterprise.de cj Michaela Melián - Monaco [Monika Enterprises] Nach Baden-Baden und Los Angeles nun also Monaco. Michaela Melián ist seit über dreißig Jahren Mitglied der ehemaligen Neue-Deutsche-Welle-Band F.S.K. (Freiwillige Selbstkontrolle), bildende (Klang-)Künstlerin und Hörspielautorin. Ihr drittes Soloalbum schließt atmosphärisch nahtlos an seine beiden Vorgänger an, die Stimmung ist getragen und "filmreif“, melancholisch spannungsvoll und gleichzeitig sehr zurückgelehnt. Melián spielt alle Saiteninstrumente selbst, dazu Orgel, Synthesizer, Kalimba, Glockenspiel und und und... Zudem singt sie in "Scary Monster“, ihrer Hommage an David Bowie und erinnert dabei stark an Nico. Melián selbst sieht "Monaco“ als Seite fünf und sechs eines Dreieralbums, und so führt das Album diese Reihe schöner und kontemplativer Klänge ohne stilistische oder musikalische Sprünge fort, ohne sich zu wiederholen oder gar langweilig zu werden. www.m-enterprise.de/ asb Aloa Input - Anysome [Morr Music - Indigo] Wieder was gelernt, diesmal ein neues Genre: New Weird Bavaria. Schon klar, das neologistische Auskotzen unserer schreibenden Zunft nervt. Trotzdem passt der Stempel ganz hervorragend zu Aloa Input, diesem bayrischen Trio aus den Käffern Eichstätt, Deggendorf und Chiemgau. Ihr Debüt "Anysome" ist ein wahnsinnig unterhaltsames Kaleidoskop, das nicht nur zur Lust an experimenteller Popmusik steht, sondern auch ihre Input-Geber ohne Scham zur Schau stellt: Sowohl das zwitschernde "Another Green World" als auch das mehrstimmige "Radio" sind von dem verschachtelten Habitus Animal Collectives gezeichnet. Während sich "Going Home" als CAN-Hommage entpuppt, lassen sich beim semi-morbiden "Rubbish" die Beatles im Subtext erkennen. Doch selbst wenn wir den Referenzkatalog aus der Hand legen, begeistert uns die freundliche Euphorie von "Chasing Shades" oder der Trip-Hop-Duktus der Elegie "Zweiklang". Aloa Inputs Erstling ist ein fluffiges Werk zwischen hypnotisch aber nie überfordernder Elektronik und variantenreichen Melodien, das sich weder einer Stimmung noch einem Gefühl verschreibt. Die Jungs fetzen. "Anysome" kann was. www.morrmusic.com Weiß Au Revoir Simone - Move In Spectrums [Moshi Moshi - Rough Trade] Heather D'Angelo, Erika Forster und Annie Hart mussten vier Jahre pausieren, bis sie ihr viertes Album veröffentlichten. Zwischen Neuentdeckung, Geheimtipp und Mainstream des Indie lagen beinahe unzählige Auftritte, Kooperationen und Projekte. Ihre tiefe Melancholie ist seichter geworden, ihr Synthie Pop fast noch poppiger, einfach mal "Somebody Who" anhören. Oder eigentlich jeden anderen neuen Song. Manchmal etwas nah an eine weibliche postironische Variante von Depeche Mode heran reichend, muss man sie dennoch dauermögen

72

dbg176_reviews.indd 72

22.09.13 15:52


176

ALBEN (also nicht nur David Lynch macht das). Mir persönlich fehlen die komplett düster-rausgeschossenen Stücke schon ein wenig (die dann wirklich verstehen lassen, warum Lynch sie liebt, hier am ehesten der "Boiling Point", dazu könnte schon ein Ohr im Garten liegen), aber warum sollen nicht auch Au Revoir Simone mal für ihre Verhältnisse geradezu fröhlich melancholisch sein dürfen. www.moshimoshimusic.com cj Mariam The Believer - Blood Donation [Moshi Moshi - Rough Trade] Mariam Wallentin ist bekannt geworden als die Hälfte von Wildbirds and Peacedrums. Nun heißt sie Mariam The Believer und reiht sich ein in große, sehr eindringliche weibliche Stimmen mit Pathos wie die von Kate Bush, Tori Amos oder Joni Mitchell. Bewusst werden hier gleich die ganz Großen genannt, eben weil Mariam The Believer sicherlich dort anschließt, eine Portion Soul von Joan Wasser kommt vielleicht noch dazu. Das kann unter die Haut gehen, erfordert gleichzeitig eine Offenheit für diese ausgeprägte Extrovertiertheit. Wobei die Musik hier bei Mariam leicht orchestral und dennoch bescheiden wirkt. Stücke wie das entspannt-ergreifende "Dead Meat" klingen ja wie kurz vor Laura Nyro. Doch durch die Nacht mit der transnationalen Nomadin Mariam, doch, doch. Immer näher. www.moshimoshimusic.com cj Royal Canoe - Today We're Believers [Nettwerk - Soulfood] Oh Kanada, oh Kanada, was ist denn nur los in Manitoba? Wisst ihr denn nicht, wie man Alben kompiliert? Warum bitte kommt der große Hit an der vierten Position? Warum sind die ersten drei Tracks dämlich gequälte Studien in gepresst klingenden Pseudo-Funk-Vocals mit HippieEinschlag und einem detailverliebtem Sounddesign von vorgestern? Erklärt das mal bitte. Ruft doch mal an. Wobei, nee, lasst mal. Jetzt ist alles klar. Das ist einfach eure Leidenschaft, diese Musik, mit der ich nichts anfangen kann. Und die Stücke, mit denen ich etwas anfangen kann, quasi eure Ausrutscher. Nichts für ungut. War schön, euch kennengelernt, äh, hörengelernt zu haben. Eilt nicht mit dem Wiedersehenhören. Art Rock und falsch verstandende Komplexität sind nämlich total out. www.nettwerk.com thaddi Pupkulies & Rebecca - Tibau [Normoton - Alive] Keiner schafft es dermaßen nach Club zu klingen, obwohl die Musik seit jeher eine Mischung aus Folk und Chanson ist beim Trio Pupkulies & Rebecca. Von daher haben es auch ihre Remixer einfach; Bassdrum drunter und fertig ist der Clubhit. Auf ihrem fünften Album holten sich Rebecca und Janosch Blaul sowie Sepp Singerwald noch Tibau Tavares aus Cabo Verde mit ins Boot und produzierten ihr Album auf dem schwarzen Kontinent. Heraus kam die typische Mischung poppiger Folklore mit Elementen verschiedener Musikarten wie Morna (der cabo-verdische Fado), Coladeira (poppig), Batuk (traditionelle Musik) und den flotten, rhythmischen Funana. Für Ungeübte: einfach gute Musik um afrikanische Elemente erweitert. Diese sind so behutsam eingebaut, dass die Vier nicht in die Ethnofalle heimischer Fußgängerzonenmusiker stolpern, wirken andererseits aber auch nicht wirklich ungewohnt. Wer Pupkulies & Rebecca mag, wird auch "Tibau" sehr schätzen. Alle anderen sollten sich spätestens jetzt die Band anhören. Schönere Erinnerungen an Open Airs und heiße Sommernächte wird es diesen Herbst nicht mehr geben. Klasse. www.normoton.de bth Boogarins - As Plantas Que Curam [Other Music - Rough Trade] Um Psychedelik aus Brasilien ist es hierzulande in den vergangenen Jahren ja etwas stiller gewesen, und die Os Mutantes gibt es auch eine ganze Weile nicht mehr. Dafür gibt es jetzt die Boogarins, ein jugendliches Duo, das sich seinen Vorbildern mit altersgerechter Unbefangenheit annimmt und aus der so bezogenen Inspiration lässig hingerotzte Songs zusammenrührt, die ihre fingerschnippende Lässigkeit mit genau der richtigen Menge an Garagenhall und technischer Unvollkommenheit vermischen (oder gibt es für so etwas längst eine App?). Angeblich haben die beiden Musiker Fernando Almeida und Bänke Ferraz ihre Band erst Ende 2012 gegründet und die Musik im Alleingang eingespielt. Die dabei entstandenen "Heilpflanzen" sind zwar zu einem gut Teil eine Verbeugung in Richtung Vergangenheit, zeigen aber zugleich ein Interesse an Klanggestaltung, das eine ganze Menge von der Gegenwart zu erzählen hat. Der gelegentliche Einsatz von field recordings gehört durchaus dazu. Ob auch Drogen zum Einsatz kamen, kann nur vermutet werden. So oder so ein entwaffnendes und eher unerwartetes Signal aus Lateinamerika. www.othermusicrecordingco.com tcb

Tim Paris - Dancers [My Favorite Robot Records/MFR086] Tim Paris war schon immer eine Ausnahmeerscheinung. Hier legt er mit einem Poptrack mit Georg Levin als Sänger erst mal los als wäre er eine Indieband, dann kommt rockender Funk für surfende 60s Freunde mit Coco Solid, dann ein wuscheliger Kleinkindertribalpartyhit, dann plötzlich darke Lederhousehymne mit Sex Judas, ein eigenwilliger Electrodiscowalzer, Musik für Wiskey-House-Orgien und bei jedem Track inszeniert er einfach eine andere Art von Pop-Welt ohne sich dabei je auf das Glatteis der Beliebigkeit zu bewegen. Jedes Stück ein Hit, jedes Stück ein anderes Genre, trotzdem passt alles zusammen und bei allem Gesang hat man nie das Gefühl hier macht jemand ein Feature nach dem anderen, weil ihm nichts anderes eingefallen ist, sondern entdeckt mit jedem Gesang für sich eine völlig eigene Szene von Musik, die immer direkt aus dem Herz summt. Brilliantes Album, das vom ersten Moment an so viel Spass macht, dass man sich wundert, warum Tim Paris eigentlich nie eine Ehrung für sein Lebenswerk bekommen hat und nicht längst als die besseren Daft Punk in die Geschichte eingegangen ist. Wer nach einem Pop-Album sucht, das Elektronik nicht verrät, hier ist es. bleed Agnes Obel - Aventine [PIAS - Rough Trade] Agnes Obel hat mich - ja, das funktioniert - durch eine traumhaft schöne Coverversion des John Cale-Klassikers "Close Watch" einst in einer Bar akustisch aufmerksam, neugierig gemacht und dann gefangen genommen. Hatte ich vollkommen überhört. Schien mir irgendwie eine weitere einfühlsame Musikerin zwischen Folk, Indietronics und Songschreiberinnentum zu sein. Und dann John Cale. Dieses Stück, das irgendwie von niemand, der langweilig ist, gespielt werden kann. Also, nachträglich sorry. Und darum jetzt mal beim neuen Album von Anfang an dabei. Obel hat Musik und Texte aller Songs geschrieben, sie aufgenommen, produziert und arrangiert. Die dänische Wahl-Berlinerin wirkt dabei noch wesentlich introvertierter als auf dem Debüt. Bei allen Instrumenten scheinen das Klavier und seine Verwandten hier die Basis von allem zu sein. Und Obels Stimme, ja, diese Stimme. Dieses mal bin ich sofort dabei. Und begeistert. cj Ghostpoet - Cold Win [Pias - Rough Trade] Der Titel “Cold Win” war einer der zentralen auf dem zweiten Ghostpoet Album, das von Richard Formby (u.a. Darkstar) produziert wurde. Auf der Singleauskopplung tobt sich als erstes Special Request alias Paul Woodford aus. Er erinnert an die Jungle-Anleihen, die sich bei Ghostpoet auch immer wieder finden und führt das ganze in düstere Garage/Drum'n'BassGefilde. Sehr gelungen ist diese Bearbeitung. TBT (kenn ich nicht) hält die düstere Atmosphäre, ist aber in den geraden Beats unterwegs, etwas weniger spannend. Lorca macht das Ganze für den Housefloor spielbar, finde ich persönlich jedoch nur mittelmäßig überzeugend. Rosca erfasst die Atmosphäre besser und hat die entsprechenden Mittel parat, um die Nummer intelligent gen Club zu führen. Gebrochene Beats stehen der Nummer einfach besser. An “Meltdown” darf dann noch Typesun aus Bristol ran, Luke Harney ist sein bürgerlicher Name. Er geht die Nummer schön deep an und kann ihr eine schöne zusätzliche Note geben. tobi Katie Gately - s/t [Public Information] Enorm guter Computer-Music-Pop mit hoher musikalischer Ambition. Und das, obwohl die Sounddesign-Studentin Katie Gately aus Los Angeles erst seit gut einem Jahr organisiert Musik kreiert. "Ice", der Opener ihrer Debütveröffentlichung, ist ein kühler, kratzend noisiger Clusterstorm von elektronischen Klängen inklusive regelmäßigen Ausbrüchen. "Last Days", das zweite Stück, ist dann hingegen fast schon charttauglich. Und in diesem Fall ist das ein Qualitätsmerkmal. Ihre anfangs geloopte Stimme bäumt sich zunehmend strahlend auf unterlegt von krachend, langsam stampfenden Drumschlägen. Auch in den folgenden Stücken tauchen immer wieder äußerst intelligent und stimmungsvoll gesetzte Vocals auf, so zum Beispiel in "Dead Referee", kombiniert mit teilweise heftigen, disharmonischen oder teilweise harmonischen computerprogrammierten Klängen und Field-Recording-Sounds. Eine hervorragende Veröffentlichung. Es wäre sehr verwunderlich, wenn wir nicht bald noch einiges mehr von Katie Gately hören würden. jonas François Bayle - L'Expérience Acoustique [Recollection GRM - Anost] Mit "L'Expérience Acoustique", zwischen 1969 und 1972 entstanden, hat der Akusmatiker François Bayle einen großen Essay über die zahllosen Facetten des Hörens vorgelegt. Bayle, der in den Sechzigern als Nachfolger des MusiqueConcrète-Pioniers Pierre Schaeffer die Leitung der Pariser Groupe de recherches musicales übernahm, lässt verschiedene akustische Prozesse als Punktereignisse an den Ohren seiner Hörer vorbeiziehen, damit sie vor allem eines tun: hören. Einige Passagen dieser Suite lassen sich klar zuordnen. So erkennt man hier und da Fragmente von Gitarren, Schlagzeug oder Klarinette, an anderer Stelle tauchen Stimmen auf – sogar ein kurzes Jimi-Hendrix-Zitat ist darunter –, doch die Elemente, ob nun akustischen oder elektronischen Ursprungs, sind in einer solchen Weise collagiert, dass die Aufmerksamkeit stets auf isolierte Phänomene gelenkt wird. Man kann aus diesen eine Erzählung herauslesen, doch eigentlich geht es Bayle um das Abenteuer des Akustischen als Phänomen zweiter Ordnung, um ein Hören, das sich selbst belauscht. Darum: Wer Ohren hat zu hören, der höre, wie sie hören! tcb

Huerco S - Colonial Patterns [Software - Alive] In Kansas City, der eher unscheinbaren Großstadt des Mittleren Westens (deutsche Partnerstadt: Hannover) hat Huerco S. aka Brian Leeds Kunst studiert mit besonderem Augenmerk auf Rauminstallationen. Als solche ist sein Debutalbum auf Lopatins Software-Label eigentlich schon ganz gut beschrieben. "Colonial Patterns" ist wirklich state-of-the-art. Leeds mag analoges Rauschen genauso wie digitale 128kBitÄsthetik, er gehört zu jenen, die ihre Loops mit Kassetten und Freeware basteln. Er baut gerade noch so viele Bezüge ein, dass man bei Pitchfork Querverweise zu Theo Parrish (oder so) wird ziehen können, droppt aber selbst lieber die Arcology von Paolo Soleri als mächtigsten Einfluss. Sein Platte klingt wie ein Rohbau, dessen offene Flanken das Andocken an den Kunstkontext ebenso ermöglichen wie das an den Dancefloor. Kurz: Huerco S. beherrscht die Klaviatur des elektronischen Hip-Musikers perfekt und bewegt sich auch musikalisch genau dort, wo die Studiowizards von neulich gerade alle wieder hinwollen (vgl. James Holden, vgl. Ricardo Tobar, vgl. vielleicht sogar Actress), dem fröhlich fragmentierten "offenen Kunstwerk". "Colonial Patterns", das sich wirklich ganz auf die basale Loop-Bearbeitung konzentriert, klingt manchmal wie der amerikanische Klangzwilling von Lee Gamble, vielleicht eine Nuance diffuser und wärmer als dieser, vor allem aber klingt es ziemlich fantastisch. Experimentierfreudig sind diese Klangkörper streng genommen natürlich überhaupt nicht, aber hier wird ein Sound, der nun seit ein paar Jahren im Raum ist, nahezu perfekt ausformuliert. www.softwarelabel.net blumberg Deepchord - 20 Electrostatic Soundfields [Soma - Rough Trade] Früher nannte man das einfach Ambient, heute sind die 20 Tracks "Audio-Skulpturen". Ok, abgespeichert und wieder vergessen. Bei der Musik bleibt sich Rod Modell wie nicht anders zu erwarten treu. Immerhin ist es "sein" Sound. Niemand vermengt die Geschichte der Dance Music so einzigartig mit einer Produktionstechnik, die auch 2013 einfach nicht zu durchschauen ist. Fokussiert auf den Loop, hört man diesen dennoch so gut wie nie. Ein stetes Sich-Abarbeiten an der Gefahr, eben doch den Knopf zu drücken und alles rollen zu lassen. Passiert hier so gut wie nie. Tatsächlich fast zu selten. Denn so sehr man dieses Herantasten an die Deepness auch schätzen muss - nichts anderes bleibt einem übrig -: Verstanden ist das allemal. Seit langem. Ist ja nicht das erste Album dieser Art von Modell. Doch wo so vieles so flüssig und nicht greifbar scheint, kann die Sammlung nicht überquillen. Wieder ein Gewinner. www.somarecords.com thaddi Unicorn Hard-On - Weird Universe [Spectrum Spools - Anost] Unicorn Hard-On, das Soloprojekt von Valerie Martino, weist auf den ersten Blick einige Gemeinsamkeiten mit der Musik ihres Labelkollegen Container auf, mit dem sie auch schon eine gemeinsame EP veröffentlicht hat. Beide haben eine ähnlich stoische Brutalität im Umgang mit Beats, die nicht unbedingt danach klingen, als sollten sie Menschen zum Tanzen bringen, sondern vermutlich eher Außerirdische oder irgendwelche obskuren Fertigungsanlagen. Das harte Schlagen, Treten und Klatschen ist aber bloß eine Ebene dieser Mindfuck-Exerzitien, denen man auf Martinos Debütalbum beiwohnen darf. Hinzu kommt bei ihr so einiges: Fiese Acid-Linien stehen neben fast friedlichen MelodieTupfern oder analogen Sequenzer-Figuren, die sich wie Bausteine zu einem befremdlich-bedrohlichen Gebäude auftürmen, durch dessen Räume man sich dann gleichwohl staunend führen lässt. Einzig der Name ihres Projekts ist ein bisschen dämlich. www.spectrumspools.com tcb Tattered Kaylor - Sombre nay Sated [Stasisfield - A-Musik] Tessa Elieffs ambisonische Arbeiten, ihr Interesse an Klang- und Wahrnehmungseffekten spezifischer Orte und deren Resonanzräumen, haben die Australierin in den letzten Jahren um die halbe Welt geführt – nicht zuletzt nach Österreich, wo letztes Jahr auf Moozak endlich ihr Debut-Album erschien. Ihre Musik läuft immer Gefahr, in ihrer vielstufigen Dimensionalität aus Diffusion und Weiterverarbeitung auf Tonträgern sich nur reduziert auffangen zu lassen. So auch zumindest teilweise bei dieser knapp halbstündigen Sammlung dreier Auftragsarbeiten. Die schattenhaften Granular-Wellen, komponiert für den Melbourner Event "Akousmatikoi" (mit Jacques Soddell), so ahnt man, komplettieren sich erst durch deren Ausstrahlung vor Ort. Fesselnd aber die beiden nachfolgenden Stücke fürs ORF Kunstradio, beide auf der Basis von Aufnahmen von Klanginstallationen österreichischer Künstler wie Uli Kuehn respektive Andreas Trobollowitsch. Ihr geheimnisvoll dräuendes Rumpeln und huschendes Sirren wird lebendig durch die in sie eingegangenen Fieldrecording-Prozesse, und besonders die Wetter- und Insektentöne auf "Taken to Booroomba" lassen einen auf ihre geplante Zusammenarbeit mit Chris Watson äußerst gespannt sein. stasisfield.com multipara Red Stars Over Tokyo - Melody Attack [Testtoon - Hardwax] Nach den vorgezogenen Remixes folgen jetzt die Originale auf Albumlänge. Die Tracks sind vor allem ... weit weg. Und passen sich damit nicht nur perfekt ihren entsprechenden Benamungen an, sondern vermitteln auch ein Gefühl der schwebenden Weite, die mir immer der Dreh- und Angelpunkt auf dem sympathischen Label gewesen zu sein

schien, ganz egal, wie die Musik in all ihrer Unterschiedlichkeit dann klang. Eine unvergleichliche, einzigartige Reise. Immer dark, aber nicht zwingend drückend. Immer überraschend, immer skizzenhaft, ausbaufähig, man will selbst Hand anlegen. Der Geschichte noch ein Kapitel hinzufügen, mitsummen, die Bassdrum imitieren, der sporadischen Kälte entgegenheizen, oder aber die Wärme durchlüften. Großartig, vollkommen und genau so ambient, wie es die heutigen Zeiten einfordern. Patina perfection. thaddi V.A. - Indian Summer [Touch Of Class Records/002] Tanner Ross, Safeword, Dave Aju, Machine Forrest, Tennis, ihr ahnt schon wohin das geht. Vom perfekten Introtrack mit Aquarius Heaven bewegt sich die Compilation tief in der Welt von süsslich beschwörenden Tracks für den Floor und vor allem die Seele. Immer wieder zuckersüsse Arpeggios, flausiger Gesang, deepe Sommernuancen in zurückgelehntem House mit leicht poppigem Charme, will das Album irgendwie die perfekte Nachmittags-Open-Air-Party sein, die schon immer läuft, die nie aufgehört hat, die den Floor mit ihrem charmant warmen Licht durchflutet, und das gelingt ihr selbst mit den gelegentlich leicht kitschigen Tracks immer perfekt. Hymnen für die pure Entspannung auf den Floor. bleed Moon King - Obsession [Tough Love - Rough Trade] Moon King aus Toronto stehen für dessen Melting-Pot-haftigkeit der ostkanadischen Metropole. Diese oft gescholtene, tolle Großstadt mit dem europäischen Flair hat Daniel Benjamin und Maddy Wilde den popmusikalischen Weg geebnet. Es gibt Verbindungen zu Majical Cloudz, Grimes, Austra und den Doldrums, dem Projekt von Daniels Bruder. Wobei Moon King schon fast noch etwas noise-poppiger als die Genannten rüber kommen. Dann erinnern Moon King schon eher sogar an verhuscht-luzide Achtziger-Sphärenbands wie Cocteau Twins oder This Mortal Coil mit leichtem Feedback- und Drummachine-Charme (z.B. auf "Crucified"). Um danach ein bisschen auf New WaveRock'n'Roll zu machen ("Big Dumb Blue Angel", "Violence"). Ein wilder kleiner Trip durch Indie-Ländereien. Macht Spaß, man kann auch prima den Kopf hängen lassen und rumstolpern dazu. cj Kwes - Ilp [Warp - Rough Trade] Verdammter digitaler Hühnerstall, was ist das denn hier? Voll psycho, voll süß, voll drogig, total raus und doch mitten drin, im Herz. Ganz schnell. Wow. Kwes geht ab. Und rein. Namedropping mal sein gelassen. Bei Kwes wird sich sowieso überall bedient. Charmant. Er selbst nennt sein Zeugs Free-Pop. Das ist nicht schlecht. Denn frei geht es hier zu. In jeder Hinsicht. Schon beim ersten, zunächst leiernd schleichenden, dann bombastisch ausufernden Ding, "Purplehands", verzaubert Kwes einen mit seiner souligen Frechheit. Oder Freiheit. Also, gute Nerven muss man haben. Schon. Sonst fliegt einem der freie digitale Soul um die Ohren und zittrigen Augen. Und das war erst der blutige Anfang. Ebenso nehmen einen süße kleine Teile wie "36" an die Hand. Nur bitte nicht den Dingern trauen. Ist das sexy smooth und odd zugleich. Ilp. cj Mathias Kaden - Watergate 14 [Watergate Records - WAS] Sehr gut, sehr gut, sehr gut. Obwohl mir Mix-CDs - nicht nur ob der schieren Flut derselben - eigentlich aktuell total auf den Sack gehen. Wurde dafür nicht Soundcloud erfunden? Für den schnellen Mix, das schnelle Promo-Tool, um die Bookings für die nächsten sechs Monate zu sichern? Ach nee, auf Soundcloud laufen jetzt ja diese Filter. Dann eben Mixcloud. Mit OneClick-Buy. Die Frage muss erlaubt sein. Wer kauft 2013 noch Mix-CDs? Gehen die gut an Tankstellen? Weil in Mietwagen immer noch diese CD-Player drin sind? Oder greifen eher Menschen zu, die für das Internet noch AOLs DialUp nutzen? Kaden hat Schwung. Auch wenn es eigentlich nach Schema F abläuft. Deep, vocalig, poppig am Anfang, dann trockene Zackigkeit und die großen Breakdowns gen Ende. Läuft dennoch. Und zwar richtig gut. Mit Koze, Ron Trent, Villalobos, Roman Flügel, Kink, Stefanik, Audio Werner, MCDE, The Mole, Kaden selbst und und und... www.water-gate.de thaddi V.A. - House Of 12 EP [12 Records/12R07 - DNP] Marin Bell, Rare People House Brand, Jacy und natürlich Deep88 rocken hier eine lässig schluffig smarte EP zusammen, die voller Nuancen der Oldschool, der abstrakt reduzierten Drumgrooves, swingenden Casios, flausigen Chords und discoiden Anleihen ist, ohne dabei aus dem Ruder zu laufen, denn 12 Records, das steht bei aller Eleganz immer auch für die richtige Portion Abstraktion. Was meinen wir eigentlich mit Abstraktion? Irgendwas Intelligentes? Was Schräges? Was Merkwürdiges? Nein, einfach diesen Überblick über den eigenen Sound zu haben und dabei zu sehen wohin er laufen muss, damit er nicht in den Milliarden Soundfragmenten, die wir im Kopf haben, ständig an das anstößt, was wir schon kennen, was uns überpräsent ist, und so etwas Neues erzeugen kann in dem unüberwindlichen Netz aus Referenzen, in denen alles bekannt vorkommen kann, es aber darum geht, diese Bekanntheit als eine Welt zu entdecken, die dennoch nie gewesen ist, und alles, auch die tiefste Erinnerung, in Bewegung versetzt. Exkurs zu Ende. Platte toll. Und das mit so vertrackt unerwarteten, aber dennoch gleitend elegant süßlichen Arrangements. bleed

73

dbg176_reviews.indd 73

22.09.13 15:52


176 — reviews

SINGLES The Exaltics - Das Heise Experiment [Abstract Acid/LP02] Ein Acid-Album. Doch, das gibt es noch. Und The Exaltics machen es in einer Art, die klingt, als hätten sie von den großen Italienischen Meistern gelernt. Abenteuerlich verwunschen, dark, aber nie zu dreist, tief in die Hallräume verwehend, magisch und irgendwie in einer Art phantastisch, die uns an futuristische Träume erinnert, in denen die Zukunft noch Geheimnisse hatte. Und ja, für alle die darauf nicht verzichten können, hier wird nicht selten auch wild auf der 303 geknödelt. Acid forever. bleed V.A. - Datafunk v.1.0 [Abstract Forms/AFSLP001 - D&P] Finde irgendwie die Idee immer besser, gleich ein Album auf Vinyl zu machen. Hier dabei: Shemale, DMX Crew, Elec Pt. 1, Stingray und viele andere, die sich in meist kurzen klingelnden Elegien versenken, die man früher mal als Electro bezeichnet hätte. Klingelnde Melodien, besinnliche Sounds, knabberd krabbelnde Synths, flausige Grooves, versonnene Szenerien, die natürlich irgendwie auch den nostalgischen Futurismus im Hinterkopf haben, aber nach all den Jahren gar nicht mehr futuristisch klingen müssen, sondern einfach nur noch wie Songs wirken können. Purer Genuss auf 10 sehr schnuffigen Stücken. bleed Tin Man [Acid Test/008] Und gleich noch mehr dieses aussergewöhnlichen Acidsounds von Tin Man diesen Monat. Und auch hier haben die Basslines irgendwie etwas barockes. Etwas so girlandenmässiges, so trudelnd süßliches, dass man sich gar nicht erst auf die Welt der Oldschool einstellen muss, auch wenn die Sounds natürlich manchmal auch so wirken. Rosa klingt das irgendwie. "Mystified Acid" ist kein schlechter Titel dafür. Acid zum mitsummen, zum glücklich werden, süchtig ist man ja ehwieso. Acid für Gruppentänze. Für Aufführungen. Und doch nicht kitschig, albern vielleicht, nicht gestelzt, aber doch mit einer gewissen Neigung der Hit auf den nächsten Debutantinnenball zu werden. Remixe von Rvds und Joey Anderson runden das Release ab, aber ich komme immer wieder zum Original zurück. bleed Ada Kaleh - Diafan Ep [Ada Kaleh Records/AK001 - Decks] Gilblich transparentes Vinyl, eine Orchidee in schwarz-weiß, ein Sound so knisternd und voller Verheißung, dass man sich vom ersten Moment an tief hineinlegt und die sanften schrubbernd krabbelnden Nuancen der Grooves genießt. Sehr pure Jams, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Musik, die nur Physis sein will und dabei doch gerade in den schnippischen Grooves immer wieder beherrscht wirkt. bleed Tobi Coffa - Get Over It [Amam/024] 4 sehr schöne langsame Tracks mit genüsslichen Orgelpassagen, federnden Grooves, swingender Attitude, einer genüsslichen Welt zwischen Jazzelementen und dunkleren Tönen, zwischen dem Willen immer wieder die Schönheit der puren Harmonie anzustaunen und dem manchmal fast schon etwas übertrieben säuselnden Gefühl, dass man doch einfach nur die Melodien geniessen sollte, statt sich mit dem Floor zu beschäftigen. Eine Platte die alles sehr ruhig angeht und einen lieber in die Welt der zitternden Glöckchen entführt. Mit einem perfekt breakig flausigen Detroitremix von Francis. www.am-am.org bleed Tree - Demons [Apollo/1310 - Alive] Sehr amüsant, wie Apollo plötzlich eine Art Indieband releasen kann. Tree ist zwar nur einer, Oliver Nickell, aus Santa Cruz, aber die Musik und der Gesang ist so voller klingelnder Elemente, so voller Tragik, so voller quietschig sympathisch direkter Gefühle, dass man es einfach wie eine Indie-Platte hört. Die verdrehte Stimme, das ständige Jammern, diese Strings überall, die flatternden Melodien. Irgendwie fühlen wir uns versetzt in die Zeit als die großen Indiebands die waren, die gerade Elektronik zum ersten Mal für sich entdeckt haben. Figurines z.B. Ach. Ein Juwel diese Platte. Drei Hits. Und in so unnachahmlicher Perfektion gleich, dass wir Tree wohl nächstes Jahr schon auf jedem Festival sehen werden. bleed t's Time To Decide [Appointment/009] Was für ein Monster. Wie immer nicht klar, wer hier was macht, aber die Tracks, böse, voller bissig hintergründiger Technosequenzen der ersten Stunde, die Drums slammend und kantig und irgendwie erinnert mich das an frühe Detroit-Tracks der wuchtig brachialen Art. Versponnen in der Dichte des analogen Sounds, reißerisch und dennoch an den richtigen Stellen so deep, dass die Platte einen wie ein Überfallkommando auf den Floor zwingt, dann aber doch in ihrer resoluten Tiefe wieder ganz bestimmt auf den richtigen Pfad bringt. Zwischen Fegefeuer und Entzückung. bleed

V.A. [Art-Zero/001] Es wird immer persönlicher. Die Exemplare des ersten Releases auf Art-Zero sind genau das: Kunst. Jede anders. Liebevoll bemalt erstrahlen die Labels. So kommt die Identifikation zurück. Nun ist es nicht das erste Mal, dass die reduzierten Möglichkeiten, die 12"-Labels bieten, besonders und einzigartig aufgeschmückt werden, hier stimmt aber alles, also die Tracks. Die A-Seite gehört Ohrwert. "Rundfunk" und "Shadow Fading" sind zwei dubbige Monster, die eher den einen Moment im Blick haben als die Reise dorthin. Also: full speed. Sehr gut. Weil in seiner Bulligkeit immer noch so filigran wie ein Bändchenhochtöner. Über die sollte man die Tracks auch hören. Die B1 vom Labelmacher selbst, Marco Supernak. Direkt aus dem Raumschiff, dieses "Knowledge Reduction". Die flirrende Einsamkeit klettert das Gerüst hoch und runter, der Verfolger peitscht in 8Bit. Killer, dieser Track. Die B2 von Oliver Deutschmann ist mehr Skizze als Track, leider. Denn den Track möchten wir umgehend als Zwölfminüter. Ganz, ganz tolle 12". thaddi Deetron - Count On Me [Aus Music/050 - WAS] Erst das 50ste Release auf Aus? Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Deetron zum Feiern ist eigentlich immer gut, auch wenn er in der letzten Zeit schon mal über die Stränge geschlagen hat und hier mit den Vocals auch hart an der Grenze liegt, so soulig übertrieben hittig wie die im Break stecken, aber dennoch ist der Sound von Deetron in seiner harmonischen Klarheit irgendwie immer wieder überzeugend, und es passt hier in dem Track, der eher an einen UK-Sound angelehnt ist, auch etwas besser. Kitschig bleibt es dennoch. www.ausmusic.co.uk bleed Dusky - Careless EP [Aus Music/051 - WAS] Bei Tracks wie "Careless" mache ich mir wirklich langsam Sorgen, dass House in England vielleicht doch noch zu einer Pop-Alternative zu EDM werden will. Das ist so durchkalkuliert, dass es weh tut, und auf "Rise For Love" ist der Gesang auch nicht besser. Tut einem leid um die schönen harschen Basslines und den sehr gut austarierten Sound, aber selbst auf der Rückseite sind die Anleihen bei Bass und Garage immer einen Hauch zu kitschig. www.ausmusic.co.uk bleed Alex Picone - It Takes Time [Be As One/BAO042 - WAS] Die Tracks von Picone werden auch immer entspannter. Einfache Drummachine, verhangene Chords, pure Konzentration auf das Wesentliche, das auf der Rückseite immer klarer Chicago und dessen hintergründige Hinwendung zum Jazz wird. Nonchalant durch und durch. www.beasoneimprint.com bleed Chocky Scherbe De:Pot - Soney Clouds EP [Big Bait/015] Die werden auch immer kunstvoller, diese BigBait Platten. Und perfekt klingen sie eh. Zum Einstieg (ich weiß leider nicht genau wer da wo untergebracht ist) ein schummernd blitzender Housetrack mit deepen Chords und elegant schluffig-shuffelnden Grooves, dann kantig und verwirrt mit einer so deepen Stimme, der wir die Wahrheit einfach abnehmen müssen, und plötzlich ein dampfend flausiger Jazztrack, der immer etwas sagt, das wie "Schtumm" klingen könnte, aber wer will schon wissen was die Wahreit ist, wenn er es eh schon vorher verrraten bekommen hat. Housemusik in Perfektion, die am Ende noch ganz kantig versenkt wird mit einem dieser Killertracks, bei denen man nach Sekunden nicht mehr weiß wo oben und unten ist. bleed V.A. - Black Key EP Vol. 2 [Black Key Records/BKR007] BLM, Ethyl & Flori und Pawas zeigen auf den drei Tracks ihre ruhigeren Seiten. Sehr smoothe dunkle Tracks mit vertrackten Melodien, einer alles durchflutenden Tragik und dennoch satt groovenden Beats. Musik die einen von einer anderen Welt träumen lässt, in der jeder neue Track eine Klage ist, aber auch eine Enthüllung. Musik die es lässig schafft zwischen der Melancholie und dem Glück keinen Unterschied mehr machen zu müssen. Alle drei jedenfalls liefern hier kleine Meisterwerke ab, die man bis auf den letzten Ton geniessen wird. bleed FunkinEven - Species [Broadwalk/BW006 - Clone] "The Joker" lacht sich tot. Wie auch sonst. Immer schön am Thema bleiben. Und während das leicht knarzende Drehrädchen für das Tempo an der 808 immer weiter hochgedreht wird, von ganz hinten dieser Mellotron-Chor kurz "Blue Monday" streift und doch noch nur die Geschichte von Electro erzählen will, ist eh schon längst alles geritzt. Dabei geht es zu diesem Zeitpunkt eigentlich erst in Richtung Himmel. Großer Track, nur für die großen Momente. "Mars" auf der B-Seite hat dann zwar tolle Stabs, ist aber einfach zu albern. thaddi

Daniel Paul & Honesty - Loveshock / Atrium [Cabinet/Cab35 - Decks] Trocken. Klassisch. Bassline. Ein Sound, die Szene ist gesetzt. Die beiden gehen es sichtbar lässig an auf ihrer neuen EP und lassen "Loveshock" einfach so in dieser puren Eleganz dahintrudeln. Ein Phantasma in gedoppelten Sequenzen, wühlend klassischen Basslines und einer gewissen 70e-Jahre-Jazzästhetik. Ziellos, aber genau so willenlos aufgenommen und mitgetrieben. "Atrium" zeigt eine eher dubbige Seite der beiden mit einem ebenso treibend losgelösten Sound. Sehr schönes Release mit einem Track mehr und einem Remix auf der Rückseite, der diese zeitlose, ganz auf die eine Harmonie weit weg konzentrierte Art, perfekt nuanciert durchhält. Wie immer ein perfektes Release auf Cabinet. www.cabinet-records.de bleed Takuya Yamashita - Daybreak [Cadenza/089 - WAS] Das Original ist einer dieser fast schon vergessenen, klassisch schwärmerischen Detroitflächentracks, die vom ersten Moment an so tief in den Strings stecken, dass direkt klar ist, da muss noch dieses funkige Bassline dazu kommen, und diese treibenden Chords, dann ist das alles klar und der Himmel zum greifen nahe. Die drei Remixe von Mirko Loko sind natürlich ein ganz anderes Thema, denn auch wenn er die essentiellen Sounds des Originals aufgreift, ist hier doch alles raschelnd tuschelnd abstrakt und in Punkto Minimal großes Tennis. So sehr das nicht zusammenpasst, so spannend sind die Versionen trotzdem. www.cadenzarecords.com bleed Beau Wanzer & Svengalighost - Untitled [CCCP/02 - Clone] Yup, Killer. Auf zwei ganz unterschiedliche Arten. Die A-Seite pflegt den staubtrockenen Großhallen-Sound, der auch im noch so kleinen Keller bestens funktioniert. Maschinen an und los. Tatsächlich bleiben hier alle außer dem Drumcomputer zu Hause. Das spart Platz und macht den Kopf frei. Die B-Seite aber ist der eigentliche Hinhörer. Zwischen Bigod 20 und The Klinik kommt hier ein Sound zurück, der nie hätte verschwinden dürfen. Vocals mit viel Hall, trancige Bleeps und der ganze Stumpfsinn, der unser Leben einst kongenial bereichert hat. Geht bestimmt bestens zusammen mit der Lassigue-BendthausNeuauflage von Uwe Schmidt. "Automotive" von ihm und "The Booth" von Wanzer und Svengalighost? Unbedingt. thaddi Space Dimension Controller - Correlation #1 [Clone Royal Oak/Royal 019 - Clone] Irgendwie die beste SDC aller Zeiten. Doch, doch. Sehr fokussiert, genau austariert und auf den Punkt. Keine Mätzchen, keine Plätzchen für Bömbchen. Nur für Bomben. Groß und mächtig und eben doch immer durch die Hintertür der Deepness. Wie gleich zu Beginn der Funk gegen die 303 einen Ringkampf verliert, gibt die Richtung dafür vor, was diese EP, der erste Teil einer ganzen Serie, will und auch bewerkstelligt. Material aus der Weltraumforschung für das Technikmuseum. Oldschool und newschool zugleich. Stichworte und Taktgeber aufsaugend und komprimiert als Steilvorlage wieder auf den Floor werfen. Vier Tracks, ein Outro. Und alle zusammen das epochale Intro für eine neue Zeit. Mit der Kraft eines Händedrucks für alle Ewigkeit gekittete Sternengucker-Sprühsahne. www.clone.nl thaddi Monoloc - Try [CLR/CLR070 - WAS] Keine Frage, wuchtiger Technosound, der schon bei der ersten Bassdrum im Monoloc-Remix so tief im eigenen Gewitter festsitzt, dass auch die Gräben die die HiHats langsam und beständig in der großen Maschinerie dieser drückend gewaltigen Welt schaufeln, nichts mehr rausholen können. Auch nicht wollen. Der Hangar, in den dieser Sound gehört, ist heute gar nicht mehr zu füllen. Schade, denn allein das Gesicht der Raver zu sehen, wenn da aus dem Nichts plötzlich diese Soulstimme auftaucht, was würde ich dafür geben. Skudge kommt mit einer brachial verkaterten Technostepper-Oper in kinsternd darker Inszenierung, in der einem wirklich Angst und Bange werden kann. Bleak bis über beide Ohren. Das Original ist im Vergleich zu den beiden Remixen fast hüpfig gut gelaunt und schnippisch im Sound, und gerade deshalb einer der besten, lustigsten Dur-Techno-Slammer, die mir in der letzten Zeit untergekommen sind. Die haben sich doch abgesprochen. www.clr.net bleed Revision - Farbaromat [Concorde Club - Straight] Keine Frage, diese Platte groovt mit klassisch wühlendem Bass, einfachen Chords, lässigen Vocals und einem so typischen Housesound, dass man sie fast überhören könnte, aber dennoch entdeckt man in den vier Tracks immer wieder überraschende Nuancen, tief technoide Elemente, smoothe Sequenzen und eine so lässig swingende Eleganz, dass man einfach jeden Track vom ersten Moment an lieben muss. House ohne Allüren und doch voller Attitude. Und Bonus. Diese Spoken-Word-Passage auf "Gallery" ist einfach unschlagbar. www.concorde-club.com bleed

Force/Emerge - Lumi [Counterchange Recordings/Counter 003 - Prime] Nie war ein Konzentrat konzentrierter. An jedem noch so kleinen und unscheinbaren Element wurde hier endlos gepfeilt, perfektioniert und poliert. Eine einzige Überholspur der Oldschool-Welt, ein Autorennen mit der Roboter-Liga. Detroit, klar, aber eben klarer und direkter als man es kennt. Modern, sicher, aber eben sicherer im Ergebnis. Immer überraschend in all seiner dringlichen Berechenbarkeit. Eine EP wie eine Revolution. Befreiend, den Weg weisend, mit epischer Offenheit und zwingender Reduktion. Farbton: tiefes Rot. https://www.facebook.com/counterchangerecs thaddi Kalisha - I Got Something Here The Remixes [Dance Club Records/DCR007 - WAS] Ja, das Sample kennt jeder. Den Groove irgendwie auch. Die Chords und sonstigen Sounds auch. Lauhaus, Brodanse, John Jastszebski und das Original vergnügen sich alle auf ihre eigene Weise, und nach Lauhaus (die die Simulation dieses klassischen Housesounds auf die Spitze treiben) ist es vor allem der wummernd abstraktere Remix von Jastszebski, der hier mit seinen kantig holzigen Bässen ohne Ende rockt. bleed S Crosbie - Dark Arts 03 [Dark Arts/003 - D&P] Klar und verspielt zwischen knorrig wummernden Oldschoolbasslines, verzückten Sequenzen in knuffiger Abstraktion, klassisch swingenden Drums und diesem immer wieder perfekt ausgeloteten Sound zwischen Detroit und moderner Klangästhetik, der dennoch nie zerrissen klingt. Bis hin zum steppend breakigen Flächenhimmel mit perlenden arhythmischen Glasklängen und dem wahnwitzigen Sequenzballett auf falschen Strings eine Platte, die voller unerwarteter Reminiszenzen an vergessen geglaubte Welten von Techno steckt, falls irgendwer unter Techno noch diese zweite Welle versteht. bleed Verano - Behind This Window [Deeper Meaning/DEME004] Was für ein schöner Track. "Behind This Window" ist eines dieser Stücke, die ganz in ihrer Grundharmonie aufgehen, langsam leise dahinplätschern, aber doch eine so deepe und mitreißende Qualität entwickeln, dass man mit offenen Augen davor sitzt und sich denkt, man höre alles zum ersten Mal. Perfekt. Musik, so einfach und so natürlich dabei, dass man das Vinyl gar nicht mehr vom Plattenteller nehmen müsste, weil man es sonst einfach so ganz direkt schrecklich vermisst. Und auch der dubbigere Track auf der Rückseite ist voll von dieser bezaubernden Atmosphäre zeitloser Deepness, die hier mit tiefdurchatmenden Strings noch einen Hauch hymnischer klingt. Der Remix von Paskal & Urban Absolutes passt perfekt dazu und ist doch einen Hauch "arrangierter". Magdeburg! bleed Floex - Gone [Denovali - Cargo] Wird ja wieder kalt. Und unschön. Da muss man von innen glühen. Und Floex hilft dabei. Tomáš Dvořák ist eh nichts anzuhaben. Allein, mit Sängerin oder im Remix: Sein Sound strahlt. Und das in perfekt durchdachter Langsamkeit, in austarierter Balance zwischen Akustik und Hall einerseits und Drums, die ob ihrer eigentlichen Wuchtigkeit in den dritten Stock verbannt wurden, andererseits. Vor allem im Remix von Hidden Orchestra. Das Original des Tracks, "Saturnin Fire And The Restless Ocean", zeigt, dass das eigentlich gar nicht sein muss, aber wie bei jedem guten Kunstwerk, verändert sich alles in neuem Licht. Hier? Flutlicht von oben. Wundervolle Stücke, von denen es hoffentlich bald mehr zu hören gibt. www.denovali.com thaddi Craig Clouse - Shit & Shine [Diagonal Records/DIAG004] Die vierte Veröffentlichung auf Oscar Powells Label Diagonal Records beschreitet einen etwas anderen konzeptionellen Weg als die vorherigen - sie hat wie auch die anderen Diagonal-EPs den Fokus auf der teilweise unorthodoxen Rhythmik, allerdings ist diese anders als üblich ansteckend funkig. Das erste Stück "Blowhannon" zeichnet dies schon in schmieriger JamesBond-Bösewicht-Soundtrack-Manier gekonnt ab. Der repetitive, energiegelandene Re-Edit von Theo Parrishs Stück "Synthetik Flemm" enthüllt dann zudem humorvoll eine neue, dekonstruierte, raue Ästhetik des Originals. Alles wie für die Tanzfläche geschaffen, zumindest für die von Outsider-Elektronik-, Funk- und Punk-Funk- sowie Proto-Techno-Hörern. jonas Imugem Orihasam - Grains [Diametric/17-Diam - DNP] Immer gut für eine unerwartet abstrakte Attacke, ist die neue EP von Imugem Orihasam wieder ein Meisterwerk voller vertrackter Stimmungen zwischen der sanften Eleganz der Hintergründe, dem knorrig rubbeligen Funk der verkatert funkigen Beats, dem lässigen Swing einerseits und dem durch alle Ritzen blitzenden, verdreht knisternden Wahnsinn. Bis zum Schluss zeigt sich auf den drei Tracks dieser Wille, die Sounds so leichtfüßig und phantastisch wie möglich zu hal-

74

dbg176_reviews.indd 74

22.09.13 17:07

1310-AZ


176

singles ten, aber doch irgendwie auf Detroit zuzusteuern. Ich liebe vor allem diesen lässigen Groove den Orihasam hier immer stärker in den Vordergrund stellt und der einen in träumerischem Groove mit geschlossenen Augen dennoch aufgrund der Sounds nie auf den Boden kommen lässt. Magisch. Plus funkig klassischer Remix von Optic Nerve, der mit merkwürdig krabbelnd platzenden Sounds immer ein wenig so klingt, als hätte man den Sound leicht verstört gemastert, der aber gerade durch diese leichte Irritation immens gewinnt und sich dennoch als pure säuselnde Detroitdeepness entpuppt. bleed Amo - Outside The Box [Dissonant/DS018 - WAS] Sehr subtil digitale Tracks, die in den Grooves obenherum klingen wie ein Stückchen vom großen Found-SoundKuchen, der vor sich hin knattert und unten mit dieser ultratiefen Bassdrum kommt, die schon mehr Ton ist als Kick. Schön. Hitzig. Purer Mikrobenjungle. Die Rückseite knattert etwas mehr und wirkt über längere Zeit so, als hätte jemand vergessen, die Erdung abzuschalten, bevor man sich im Studio eingeschlossen hat, um die Gedanken rauchen zu lassen. Verwirrt und betörend, dabei aber auch sehr straight. bleed DLA-001 [DLA-Schallplatten/001] Manchmal könnte so eine Platte auch mehr Slogans haben. "Kunst Ohne Gewöhr" ist da draufgestempelt. Trifft es auch. Das DLA und die 001 sind ins Vinyl gestanzt. Das könnte alles besser nicht aussehen, und die Grooves, Klassiker, Kunst, 303, 606, schnarrend und dennoch subtil mit genau den richtigen Resttönen versetzt, die es braucht, damit man irgendwie anfängt, das ganze als Halluzination zu geniessen. Acid der einem ganz hinten im Mund zergeht. Ganz tief, auch ohne Wummern. Eine brilliante Platte durch und durch, die es locker schafft, der Kiste noch mal eine ganz eigene Stimmung abzugewinnen. bleed Jovonn - Body'N'Deep EP [Dogmatik/Dogm 1204 - WAS] Während Clone gerade die Wiederveröffentlichung von "House Ala Carte" vorbereitet, kommt hier neues Material. "Welcome Dance" umtänzelt dabei in einem genau hingebogenen Stottern in den Vocals wundervoll die exakt auf den richtigen Dünnheitsgrad verfilterten HiHats, zu einem durch und durch in New York beheimateten Sound. "You" hingegen ist mir in seiner Repetivität dann doch ein bisschen zu stumpf. Wobei es wahrscheinlich schon geholfen hätte, die Vocals einfach wegzulassen. Nach einem Dub muss ich nach diesem Satz jedoch wohl nicht mehr fragen. Damn. "Let It Ride" versöhnt mich mit Jovonn auf Anhieb wieder und schiebt mit Schubersäuseln gleich noch ein Tränchen der Freude hinterher. www.dogmatikrecords.com thaddi Mint4000 / Sevenmint - Behind The Curtain [Drop That Records/001] Charmant. Dieser leicht überwarm brummige "Baby, take me for a ride"-Gesang, diese trudelnden Melodien im Hintergrund, die flausigen Bongos. Ein Track, der ganz von seiner lässigen Eleganz lebt. Und auch Sevenmint klingt ähnlich mit einem Hauch mehr Mystik in den Hintergrundsounds. Schöne, einfache, harmonisch dichte Tracks mit einer sehr ausgelassen groovenden Stimmung zwischen dunkleren Housewelten und sanftem Techno. Vielversprechendes Debut. bleed Tape Fresser Vol. 1 [Earth Modern/EM 08] Und auch auf der neuen Earth Modern scheppert es gewaltig. Die Beats dark und rumpelnd, der Funk klar und zischelnd, alles so analog wie es nur geht auf Tape gepresst und dabei dennoch voller zauseliger Klarheit zwischen den schillernden Verzerrungen. Vier Tracks zwischen klobig resolutem Außenseiterfundamentalhouse und dunklen Technoelegien in Drumwirbeln, die einen die letzten 20 Jahre Soundverfeinerung vergessen lassen. Mächtig und vom ersten Moment an mitreißend. bleed A Sagittariun - Across The Celestial Space [Elastic Dreams/E-Dreams 008] Erfrischend wirkt die EP von A Sagittariun. Irgendwie early-dayswarpig, wie bei "Clusters" der Basslurch schielt und freigeistig durch Maulwurfshügel der Amenbreaks wandert, während die Bleep-Echse immer dem kurzen Sonnenstrahl hinterherspringt. Als Glühwurm verkleidet begibt sich das Tierchen in "The DNA of Life" in die ElektronikaAue und lässt der allabendlichen Melancholie freien Lauf, während die

Seerosen aus weichen Rechteckbässen das passende Fundament liefern. Auch mit dem Hi-Tech-Funk von "Fire-Sign" trifft der Produzent aus Bristol ins Schwarze. Schnelles Tempo, Fraktus-Bassdrum und spinnennetzwebende Atmos um raschelnde HiHats pulsieren durch den Raum. Sehr gelungene und meine EP des Monats. bth V.A. - The Descent Of Man EP [Electronique.it Records/ELE-R003 - D&P] Hm. Irgendwie haben diese beschwörerischen Technotracks immer etwas mantraartig bedrückend auf Tiefe machendes, das mich nicht wirklich überzeugt. Die Tracks sind immer genau diesen Hauch zu dark und depressiv und in dieser Depression nicht wirklich konsequent genug, um aus dem typischen (wohlgemerkt, die Zeit als solche Tracks typisch waren, liegt bestimmt schon zwei Jahrzehnte zurück) außer, Ausnahme: Healing Force Project mit "Average Apogee". Das ist eine losgelöst zeitlose Acidnudel, in der einfach alles in dieser langsamen Plateauverschiebung der Basslines aufgeht und vor sich hinsiedet wie beim ersten Glitzern der silbernen Kiste im eigenen Studio. Eine Liebeserklärung. Büromaschinen sollten wir am Ende nicht vergessen, denn die sind auch so blumig und herzig auf ihrem "Thalamus Hardware Conversion"-Track, dass einem die Butter vom Vinyl schmilzt. bleed Quniak - Sentient Beings [Everest Records - Godbrain] Eine wagemutige Platte. Wie genau verstehe ich das. Jazz vermutlich. Gesang, schräger Gesang, Instrumente, Drums, nicht so elektronisch, wie wir es hier gerne gewohnt sind, aber dafür abstrakt genug, um einen in die merkwürdigsten galaktischen Nebenarme zu führen und einen dort mit einem wilden Keyboardwahn zu empfangen, der sich manchmal tiefer in die Tiefen dessen stürzt, was früher mal Konzeptrock hieß, nur ohne Rock. Joy Frempong beherrscht die seltene Kunst, dazu auch noch völlig passend singen zu können. Obskur im besten Sinn. bleed Cain - Mora [Fine Grains - Phonolife] Fine Grains machen weiter mit einer neuen EP des Schotten Cain. Polyrhythmik ist das Stichwort, das seine Produktionen ganz gut umfasst. Fünf eigene Tunes werden ergänzt durch eine Bearbeitung des Hyperdub-Acts LV. Der titelgebende Tune ist slawischen Ursprungs und heißt übersetzt etwa “Albtraum”. Moderne Bassmusik, die jazzige Einflüsse in elektronische Gefilde überführt, ist ja gerade wieder in voller Blüte, nicht zuletzt durch Produzenten wie Dorian Concept. Cain ist einer derjenigen, die sich in ihren Produktionen vom Gros der Kollegen absetzen können. Glasklare Sounds, die aber doch den rauhen Geschmack der Unvollkommenheit in sich tragen, die das Ganze so liebenswert machen. Charmant und für Menschen, die Broken Beats immer noch eine Spur experimenteller mögen. LV bringen dann noch etwas mehr Wumms in die Sache, sodaß die zweite Hälfte der EP durchweg clubtauglich wird. tobi Jürgen Vonbank & Kreis - Between EP [Freakadelle] Düster und dark mit genau dem richtigen Gefühl für den Moment an dem man denken könnte, jetzt ist aber mal genug mit diesem schwummrigen Groove, genau dann nämlich bricht hier alles wieder auf und verlässt die üblichen Pfade. Sehr dicht und digital knisternd intensiver Sound, dann plötzlich luftig housig, dann wieder deep und sanft verstört. 5 Tracks die ihre ganz eigene Welt aufmachen und sich von nichts beirren lassen. Konzentriert bis in die letzte Sekunde und mit einem Hauch von Elegie über allem. bleed Mary Velo - Manhattan Project [Frozen Border/FB014 - Hardwax] Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass es Frozen-Border-Veröffentlichungen schaffen, obwohl sie nun doch funktional sind, nicht nach diesem klassischen, modernen Tooltechno zu klingen. Sie sind in ihrer Konzeption subtiler. So auch eben jene Veröffentlichung. Die nunmehr bereits 14. Frozen Border kommt von Mary Velo und zwar mit insgesamt hart treibendem, ravigem Techno. Mit großer dunkler, schwingender Wucht arbeiten sich die Stücke vor, "Head Light" zum Beispiel ist ein wahres, wildes Peaktime-Technomonument. Der Silent-Servant-Remix des Anfangs- und Titelstücks "Manhattan Project" rundet die EP passend und intelligent ab. Wellenartig unterlegt und bewegt eine flächig-atmosphärische Synthstruktur das Stück und lässt den Hörer schließlich gänzlich darin versinken. Erst ein Breakpart bietet einem wieder die Option, aufzutauchen. Aber nichtsdestotrotz "got lost"! jonas

10 0 JAHRE WACH&KRACH GESCHICHTEN

DER FILM

1310-AZ-HarryKlein-debug_230x50.indd 1 dbg176_reviews.indd 75

Vitor Munhoz & Victor Ruiz So Far So Good EP [Frucht/004] Dunkel, wummernd, böse grollend, Techno halt. Klassisch und mit einem gewissen zurückhaltenden Fanfarenpathos, dann wieder blumig housige schwärmerische Momente im Remix, aber irgendwie versucht diese Platte einfach zu viel und kommt nie auf den Punkt. bleed

eigenwillig zerrissenen Funk aufmacht, der den Floor in Stücke bricht mit seiner sonnendurchflutet abstrakten, aber doch so nahen Art. Die Rückseite knuffelt sich verliebt in die kleinen funkigen Zauseln der verstrickt verdrehten Grooves und wirkt dabei eher in sich gekehrt, während die Vorderseite das pure Weltumarmen war, auch wenn die Welt irgendwie gar nicht weiß wie ihr geschieht. Sensationelle Platte auch das. bleed

SQL - Surrender EP [Gem Records/028 - WAS] Irgendwie kennt man alles an dem Titeltrack. Die langsam hochgefahrenen Chords, die breiten Flächen, die im Hitbreak immer lauter werden, die steppend einfachen Grooves, ach nein, das brauch ich jetzt wirklich nicht noch ein Mal, denkt man, und auch wenn die Chords sich leicht bewegen, ist dieses "Funky" kurz vor dem Höhepunkt einfach nicht funky. Zu gewollt das alles und die Rückseite dann wiederum zu blass. bleed

Felix Karl Raeithel Da beißt niemand einen Faden an dieser Maus ab [Immer am Bedarf vorbei/iabv 001] In einen baudrillardschen Strudel nicht nur medialer Klang- und Musikproduktion, sondern auch aus Komik, Ernst, Humor, Wunder und Ironie, lockt uns hier Felix Karl Raeithel, der anhand einer rhetorischen Preziose Friedrich Kittlers den ganzen Wahnsinn zum Swingen bringt. Ein Instant Classic und dann umseitig noch die Kür, die mit Modularsynth und midifizierter Piano- und Percussion-Bank Hypermodern Jazz und Michael Peters' Attraktoren-Musik vermählt und dabei die Durchvirtualisierung der Kopffüßler-Mimikry bis hin zum WDR-Plattenhall zelebriert. Immer am Bedarf vorbei: Ein ganz großes Versprechen, das diese erste Labelnummer hier macht. Und uns wieder ins Gedächtnis ruft: Knoten lösen sich am willigsten mit einem Fingerschnipps. multipara

Deep Mariano & Yoshitaca - That Slow Jam [Get Slow/004 - Decks] Ein überhitzer Killerhousetrack mit viel Vocals in einer Art, die natürlich jeden an die Detroit Grand Pubahs erinnert. Einfach zischelnder Groove, lässig slammend und völlig relaxt dem Titel entsprechend mit einem 70s-Harmoniebreak, in dem sich abenteuerliche Stimmharmonieeffekte mit kurzen schnippischen Frauenvocals mischen und dennoch alles perfekt rund läuft. Die Mixe sind ein wenig überflüssig, denn erstens kann man mit dem Original nichts falsch machen, ein Instrumental braucht man schon mal gar nicht, auch wenn die Sounds bis ins letzte Detail perfekt sind, und diese schlafwandlerische Balance des Tracks ist auch von Jay West nicht zu übertreffen. bleed Max Graef - Broken Keyboard [Heist Recordings/002] Sagen wir mal so. Graef kann Beats. Die rauschen und knistern so schön. Die klingen so echt. Wie direkt aus Brooklyn von der Streetparty reingerauscht. Aus den 70ern. (Erinnere mich jemand dran, dass ich immer noch die Box-Aus-Holz-Platten besorgen muss, bin wahrscheinlich hoffnungslos zu spät). Perfekte Konstellationen aus abstrakt klappernden Grooves, magischen kurzen Divenvocals, unerwartet konkret spartanisch eingesetzten Chords und diesem alles vorantreibenden Bass. Komplexer einfach kann man House kaum machen. Und die Rückseite mit "Ignorance Is Bliss" und "Zitze" geht so magisch weiter. Nein, diese Platte darf an niemand vorbei gehen und dürfte selbst die deepesten Deephouse und Discoafficionados aus dem Kämmerchen locken ans Licht. Wundervoll durch und durch. bleed Todd Bodine - Forcast Ep [Highgrade Records/137 - WAS] Vor allem "Endless Story" mit seiner swingend blubbrigen Ästhetik und diesem zeitlosen Gefühl für den warmen und langsam modulierten Chord hat es mir auf dieser EP angetan. Extrem entspannt und doch mit einem lässig treibenden Groove weht der Track einfach so in den Raum hinein, lässt alles glänzen und ist wie ein Geist auch wieder verschwunden. "North" zeigt ihn funkiger und mit leichten Acidanklängen und der Titeltrack mit einem etwas tragischen Sound scheint sich nicht ganz festlegen zu wollen ob er nun vor allem tribal treibend oder eher schüchtern soundforschend sein will. www.highgrade-records.de bleed Monica Hits The Ground - Reduced Life Expectancy [Horizontal Ground/HG014 - Hardwax] Monica Hits The Ground - in alter und bewährter Manier präsentiert das Label Frozen Border einen weiteren neuen, unbekannten Namen. Eine wirklich gute Veröffentlichung ist das Resultat, was wohl im Kern entscheidend an der enormen Energie und Dynamik in den Stücken selbst liegt. Drei Stücke des unbekannten Künstlers, die in faszinierender Weise Breakbeat, maschinell-industrielle Kühle und Härte, Tribalklang und Drone/Noise, unerlässlich mitreißend vereinen. Das erste Stück ist dabei mein besonderer Favorit - analoge, zwingende Drums generieren eine so fesselnde, auf das Wesentliche komprimierte und reduzierte Atmosphäre, dass man auf Anhieb nicht wirklich etwas formulieren kann, was noch zu optimieren wäre. Kein Wunder dass der obligatorische EP-Remix dann auch von Regis kommt. jonas Nicholas Desamory [I'm So Blasé/002 - DNP] Ich weiß irgendwie nicht, ob die Platte wirklich 1.000.000.000.000.000.000 oder ich da nicht ein paar Nullen vergessen habe. Aber es geht nicht um Nullen, es geht um die Schönheit. Die Wiederauferstehung dieses minimalen Grooves, der zuckelnden Schönheit von Klängen zwischen einfachen Housegrooves und abstrakten Hintergrundklängen. Es geht um die tiefe Melodie, die einen nach langer Vorbereitung mit purer Schönheit erwischt und irgendwo zwischen einer verträumten 60er Harmonie und dem Glanz der hippieesken 70er einen ganz

Downliners Sekt - Balt Shakt [Infiné/IF2055 - Rough Trade] Da, wo die britischen Nöler immer links abbiegen, ziehen Downliners Sekt nach rechts. Verkapseln den Geruch des Nachahmerischen immer dichter und lassen die Beats drüberrennen. Die beiden Teile von "Balt Shakt" haben mehr Etagen als Downtown Shanghai zusammen, und in genau dieser Komplexität liegt die Faszination der neuen EP. Denn nichts ist so tight, dass nicht doch noch etwas durschimmern könnte. Es muss kühl sein da oben, auf der selbst auferlegten Klippen-Tour, im Exil des Windes, wo der Dub von ganz allein kommt und der Irrsinn der Ordnung ad absurdum geführt wird. Zwei Mal sechs Minuten, zwei Mal Sensation. Offen und doch strukturiert. Wie Lego. Nur nicht so bunt. Dafür in dunklen Lieblingsfarben des Überlebens. www.infine-music.com thaddi Ex Versions - Harte Zeiten / Bassläufe [Italic/098 - Rough Trade] Irgendwie hatte ich fast gedacht, Italic mache nur noch Stühle. Aber weit gefehlt. Da wurde nur komplett umgedacht. Die neue Platte hat eigentümliche Beschreibungen für ihre Tracks. Bei "Harte Zeiten" z.B. steht: "Blues und die Schallplattenindustrie: Thematik und Persönlichkeiten nach der Depression". Und ich weiß auch nach dem Hören nicht, warum. Disco? Ist das Disco? Funk, eine Band, eine Simulation, eine Geschichtsstunde? Musik, die einem viele Fragen stellt und als Antwort einen Groove liefert, der irgendwie so konzeptuell wie klassisch ist. Und, ich sag mal, Lyrics wie "Rotkehlchen flieg" zur Melodie von Computerwelt sind sowieso schon unschlagbar. www.italic.de bleed Terrence Parker - Why After All This [JD Records/JDR004 - WAS] "My feelings can't explain"... Dieses Sample hab ich auch lange nicht mehr gehört. Terrence Parker darf das. Die drei Tracks sind so klassisch, wie man House nur machen kann, natürlich ganz schön rasant und voller Discosamples, smooth und roh zugleich und - wenn man es wirklich mal genau nehmen will - trotzdem meilenweit von der besten Simulation eines Oldschoolhouseklassikers entfernt. Ich weiß nicht, die wievielte Schraube von diesem Verwirrspiel ich jetzt durch bin, aber man bekommt es einfach nicht zu fassen. Lieblingstrack: "Your Love" mit seinen endlosen Orgelsequenzen, dem süßlich fragilen Sample und diesem glücklich klingelnden Sound in den Melodien. Zum Heulen schön. bleed James Ruskin [Jealous God/JG02] Jealous God. James Ruskin scheint hier selbstverständlich ganz bewusst seine Musik an die gesamte Leitthematik bzw. an das Leitmotiv des Labels, also etwas mystisch, religiös Sakrales darzustellen oder zumindest eine so geartete Ästhetik zu erlangen, angepasst zu haben. So gibt es neben drei tief hypnotischen, subtilen und doch funktionalen Technostücken eben auch drei monumentale, eher elegische Ambientstücke, die mit ihrem Klang doch sehr an Orgel- oder Choralmusik erinnern. Eben wohl mit klarer, bereits erläuterter Absicht. Zu dem Release gibt es auch wie beim ersten eine Mix-CD und diesmal auch ein "Artefakt", eine Postkarte, mit hinzu. Klar, auch die zweite Veröffentlichung auf diesem Label von Silent Servant, Ruskin und Regis ist einfach rund. Und somit auch eindeutig empfehlenswert. jonas

www.harrykleinclub.de/blog/derFILM

ZUM FILM >>>>>> >>>

10 JAHRE ZU VOLL, ZU LAUT, ZU HAUSE!

Eine retrospektivische ArtCollage - Zeitzeuge einer Dekade House&Techno.

09.09.13 17:07 16:10 22.09.13


176 — reviews

SINGLES Coco Lowres - Acid Reggae 91 / Dandy Lion [Karl Marx Land/KML 002 - Suburban Trash] Leider ja die Abschiedsplatte des nun Ex-Berliner Skweee-Flaggschiffs, das fürderhin von seiner Geburtsstadt aus an der geschichtlichen Topologie synthetischer Musik biegen, zupfen, knoten wird (und das ist nicht die Stadt, die im Labelnamen anklingt, oder erst recht im Namen seines Haupt-Soloprojekts). Eigentlich geht es jetzt erst richtig los. Im nächsten Jahr soll viel passieren, Gäste und Überraschungen auf dem Label und Bühnen wieder als Auftrittsort. Wie schon auf dem Labeldebut letzte Weihnachten heißt Skweee bei Coco Lowres: tapsender Trickfilm-Reggae, dessen verschlepptes Tempo den frohen Keyboard-Mitsingern den entscheidenden Twist gibt. Selbst wenn der Reggae nur im Tracktitel auftaucht wie beim sich als Quizshow-Thema verabschiedenden orangensaure 80er-Gummi-Elektro der A-Seite, oder auch so unverschämt wacklig wie auf der B, wo aber auch wirklich alles zu Melodie wird. Wunderbar vintage-analog, dabei abgetrocknet bis aufs letzte Tröpfchen Dub und kompakt auf den Punkt wie 7"s sein sollen. www.karlmarxland.com multipara V.A. - Klamauk 005 [Klamauk/klak005 - DNP] Neues aus der Fastnachtshochburg Mainz, die in letzter Zeit vor allem durch die enorme Reduzierung des Schienenverkehrs auf sich aufmerksam machte. Entschleunigung heißt das Stichwort. Dementsprechend klingt Keinzweiters "The Stomp" angenehm ruhig mit Streichern und viel Sonne im selbstgebrauten House-Sud. Auch die Wiener Roman Rauch & Philta bleiben gelassen und wirken mit kurzgehaltenen Leadsounds der barocken Opulenz entgegen. Tom Ellis vercuttet sich mit einem bassigen Wurm während die Italiener von The Clover den Killer der EP hinlegen. "Whitening the Cell" grooved untenrum wie Ian Pooley zu seinen guten Zeiten. In Kombination mit der trockenen Bassdrum und den Gitarren wirkt es wie ein durch eine Zündkerze getunter Toaster. Weiter so. www.klamauk.net bth Knowone [Knowone/013 - Decks] Sehr weit ausufernde klassische Dubs, die vom ersten Moment an genau den richtigen Ton finden, dieses leicht Zauselige in den Modulationen der Echos und Sounds, diesen statisch unverrückbaren Groove, diese Tiefe, die sich nach und nach bis zur Halluzination entwickelt. Wundervolle Dubstücke, die bis zum sanften Rauschen des Vinyls über den Sounds durchdacht und voller Tiefe klingen. bleed TM404 - Svans [Kontra Musik/030] Tilliander mit seinem Roland-Projekt hat zwar immer noch die unaussprechlichsten Nummernzungenbrecher als Titel für seine Tracks, das heisst aber nicht, dass wir jeden davon nicht in seiner bis ins letzte gereinigten Reduktion geniessen würden. Mich erinnert dieses Projekt ja irgendwie auch immer an die frühen Konzept-Ideen in minimaler Form, aber dennoch weiß ich eine endlos schlängelnde 303 in tiefen Echos auch einfach wie eine ausgedehntes Mahl zu ehren. Mystisch irgendwie, sehr konzentriert auf diese trudelnde Bewegung hin zum endlosen Zentrum in dem alles versinkt, aber doch mit einem sicheren Gefühl dafür, wie man einen Track von ganz unten zu einem Monster aufbaut und plötzlich einfach den Groove verdreht. bleed Evan Baggs - Race / Arises Passes Away [Kurbits/008 - Decks] Krempelige Breakbeats aus dem Sampler, sich überschlagend leicht angetrudelte Sounds, und das reicht für "Rage" schon, um irgendwie eigenwillig genug zu sein. Auch die Rückseite legt alles, was passiert, eher in den Hintergrund der einfachen, aber doch breakigen Grooves, und so wirklich will man sich nicht drauf einlassen, denn diese Balance zwischen dem Sprunghaften der Beats und dem zaghaft wuscheligen Hintergrund ist irgendwie aus dem Lot. bleed Sturqen - Neophobia [Kvitnu/030] Diese Platte sieht aus, als wäre sie in Handarbeit aus den Bütten geschöpft worden. Passend die Schrift im Silberdruck. Die Musik in digitalen Zauseleien der feinsten Art. Rauh, ungeschliffen, zerrig und überfrickelig zuweilen, aber gerne mit einem satten martialischen Groove in der Hinterhand, böse zeternd, aber doch subtil. Musik, die man bei der richtigen Lautstärke von seinem Ohrenarzt versagt bekommt. Nacher, wenn alles zu spät ist. Und man schon die wilden Exkursionen bis in die summendst, krabbeligen elektronischen Starkstrom-Elemente genossen hat. Swing hat das auch noch, kaum zu glauben. Ein Album durch und durch für Genießer. bleed Maxwell Church [Lab.Our Music/Lab.Our 02 - DNP] Immer gut. Rapide einfach die Beats, fast etwas holprig in ihrem holzigen Swing, diese eine einfache über alles hinwegwehende Sequenz, die dennoch irgendwie im Hintergrund bleibt, und ab auf den stampfig dampfenden Technofloor, in dem man sich in den Breaks in angetäuschten Dubtechnomomenten ausruhen darf und am Ende dann

völlig beduselt trudelnd in einer Melodie auflöst, die so beschwipst und glücklich verwirrt klingt, dass einem das Herz aus der Hüfte springt. Die Rückseite ist ein wuscheliger Acidtrack, der auf ähnlich abseitige Gedanken kommt und dabei dennoch immer wieder ganz blauäugig mit seinem puren Acidgedanken um die Ecke kommt. Verwirrend, verspielt, direkt und irgendwie völlig eigen zugleich. Humor und Oldschool in perfekter Allianz. bleed Nutia - Papo [Like Birds Records/LBR002 - Decks] Wunderschöne Platte - schon von außen - mit einem so eleganten dubbig warmen Sound voller Harmonie, der dennoch nie zu blumig oder zu elegant wird, sondern in seiner Tiefe in allen drei Mixen (Lake People, Hannes Smith) vom ersten Moment an einfach nur überzeugt. Musik, die nicht so sehr auf die Mystik von Dub setzt, sondern eher auf die innere Schönheit, dabei aber dennoch sanft abstrakte Momente kennt. Und am Ende dann noch dieser smoothe Jazztrack mit Kontrabass und betörenden Chords in diesem süßlich steppenden Groove und dem immer wieder lakonisch eingeflüsterten "Play On"-Sample. Muss man haben. bleed Julius Steinhoff - You Collect Secrets [Live At Robert Johnson/PLAYRJC 027 - Kompakt] Nach dem famosen Debüt des Quasi-Debütanten Orson Wells, legt Deepness-Bär Steinhoff nach. Wobei: Auch wenn die drei Tracks im gewohnt swingenden Tempo daherkommen, ist der Bär doch eher ein Erdmännchen. Flink und mit präzisen Bewegungen vor allem auf die Details bedacht, die am Ende alles ausmachen. Am offenen Herzen gräbt sich der Eröffnungstrack durch schwere Bass- und Bleep-Armeen bis zur treuen Begleiterin, der 909, durch und himmelt alles an, was schön ist. Was glänzt, Wärme verspricht und dieses Versprechen auch hält. Und bei all dem Geschwafel über die neue Klassik: Die passiert nicht am Piano, die passiert hier. Genau hier, nirgendwo anders. Einfach umwerfend. Schon klar, dass "She Can't Go". Klingt ja auch fast wie Chicago, wenn es nur genauso nuschelt wie der Track säuselt, während der oldschooligste Bass die Betten für die flirrenden Chords aufschüttelt. Nach so viel Anstrengung flattert der "Cloud Song" an uns vorbei in Richtung des zweiten Teils. Der hoffentlich schon morgen erscheint. www.robert-johnson.de thaddi The Rasundas - Casual Sessions Vol. 1 [Lonesome Hero/009] Breit wummernde Beats, berghohe Basslines, Disco weit hinten irgendwo verwischt, hör ich da Acid, verflixt, das rockt aber böse und kompromisslos. Musik, wie man sie auf dem Floor braucht, frech, schnittig, treibend, nie übertrieben und immer mit genau dem richtigen Sound, um alles aus den Angeln zu heben, sich dabei aber nicht in Kraftprotzerei zu verlieren. Und die housigere Rückseite mit ihrem fast albernen Discogroove, der dennoch nie über die Stränge schlägt und so sicher und wackelig zugleich ist, ergänzt das perfekt. Musik. Musik. Musik. bleed Marcellis - I Am Woman [Millions Of Moments/MOM025] Ach. Wie immer brillant. Die Grooves so runtergeschraubt und voller Soul, die Sounds immer bereit sich zu überschlagen, der Soul der Vocals irgendwie grandios und immer ganz knapp am Kitsch vorbei, der allerdings in den kuschelnd knisternden Sounds auch kaum einen Ort findet, um sich einzunisten. Vielleicht könnte man ihn für den Vladislav Delay unserer Zeit halten. Die verknisterten Beats, dieses perfekte Gefühl für den passenden Dub im richtigen Moment, das manchmal einfach ausufernd glückliche Klingeln der Melodien, dieses sehr feine Zusammenspiel von ausgelassenem Piano und kantig perfektem Groove, es gibt kaum etwas an dieser Platte, das einen nicht verzücken will, und es gelingt ihr immer. millionsofmomentsrecords.tumblr.com bleed Audiotech - Dark Side [Metroplex/M040 - Clone] Zwei Jahre war Pause auf Atkins' Metroplex, wenn ich das richtig sehe. Und jetzt: eben jener Atkins und Mark Ernestus. So klassisch, so zurückgenommen, so die Hand austreckend, so perfekt. Mit weit zurückgedrängten Dubs, den fast schon mit einer Schutzmarke versehenen Nuschel-Vocals über dem Echo und diesem Gefühl des Erhabenen. Was für ein eine wunderbare Weltraumfahrt. Leider verstehen Loderbauer und Villalobos auf ihrem gemeinsamen "Vilod"Remix nicht, worum es im Original geht. Das schmerzt, ist aber nicht weiter schlimm. Denn eben jenes Original hält auch dem schwersten Taifun stand. thaddi D-Ribeiro - Down You Will Get [Midlight/MID001 - Clone] Nach der famosen EP auf Syncom Data wird jetzt auf dem neuen Midlight nachgelegt. Was für ein Label-Name! Und was für ein Track! Nee, soo: !!! Weil trotz aller Fluffigkeit das Dringliche im orchestrierten Schwebezustand der Euphorie immer ganz vorne spürbar bleibt, weil der Vocal-Fetzen sofort Liebe auslöst, Erinnerungen weckt und diese mächtigen Swooshs im molligen Wabern tiefer gehen, als man sich das als möglich vorstellte. Natürlich heißt die B-Seite dann "Darckula", rattert den Rimshots entgegen und ist dabei so schmatzend uplifting, dass der Remix von Sotofett trotz angetäuschtem Break dagegen nicht ganz ankommt. Aber auch eine grundlegend andere Geschichte erzählt, insofern: Alle Daumen hoch. thaddi

Population One - Untitled [Minimalsoul/MSR007 - Clone] Und plötzlich passt wieder alles, oder zumindest das meiste. Hier zeigt Terrence Dixon auf vier Tracks genau und perfekt, wie das mit der Reduktion der alten Schule laufen muss. Kosmisch abgeplatzt, grabend hallig, stolpernd hochamtig und verwegen sandsturmig. thaddi

dann beim Remix von Walter Ego kotzen gehen. Leo Invisible macht das wieder wett, rollt sich in seinem Mix mit der 808 mitten in die Bassline, aktiviert die Sprinkler-Anlage des Clear-Warehouse und stellt ordentlich scharf. Leider muss man dann wieder kotzen gehen. Wenn die Band sich selbst remixt. Der Bonus-Track "Nighthawks" kommt dann zum Glück klopfend versöhnlich daher. Checken! thaddi

Dani Nydegger - Lewis [Miteinander Musik/MM006 - Decks] Unerwartet harsch beginnt die neue Miteinander. "Lewis" findet aber trotz seiner straighten Linie irgendwie nicht ganz auf den Punkt, und der Remix von M.in hat es mit seinem breakig knuffigen Groove weitaus besser raus, den Track in seinem abstrakten Flow zu halten, auch wenn man ihn am Ende gar nicht mehr wiedererkennt. Auch "Charles" gefällt mir im Remix weitaus besser, weil hier alles viel klarer strukturiert ist und der Groove in seinem Versuch, eine Art Oldschool-Pop zu machen, irgendwie amüsant wirkt. M.in ist aber der klare Gewinner und steckt so viel tiefer im Sound, dass man kaum mehr hinauskommt. www.miteinandermusik.ch bleed

Houz'Mon - The Resurrection EP [Orchid Records/Orchid 004 - Clone] Die gelernte Wort-Kombination "Chicago" und "Post" funktioniert nicht nur in der Gitarrenmusik. Dance-Mania-Mann Houz'Mon walzt kreuz und quer durch die Windy City, Gegenwart, Vergangenheit und hey, das wird dann wohl auch die Zukunft sein. Bis zum nächsten großen Ding. Natürlich zu schnell, natürlich mit sporadischem Schmunzeln, natürlich voller Vocals, Referenzen, Händedrücke. Und eben doch einzigartig. Irgendwie. Und sechs Tracks auf einer 12" ... das klingt dann auch so wie Platten aus Chicago früher eben klangen. thaddi

Sawf - Sand EP [Modal Analysis/MA03 - D&P] Knisternd kristallen, digitale Beats, raschelnd mystische, aber nicht darke Hintergründe, treibende Grooves, Musik, die wie silbern kühles Quecksilber in die Augen läuft. Eine Droge, klar, irgendwie, irgendwie ultrakonzentriert, langsam aufrollend von ganz weit unten in diesem Gefühl, das keine Grenze kennt, sondern nur den Sound, in dem man sich irgendwie zurechtfinden muss und kann. Mächtige Platte bis in die experimentelleren Brutzelklänge der Elektronik hinein, die dennoch nie vergisst, dass man am Ende auch mal mit voller knackend knarziger Gewalt losrocken kann. bleed Aquarian Foundation - Language Of The Hand [Mood Hut/MH002 - Clone] Die Tapes habe ich verpasst, die EP auf "Going Good" viel zu teuer nachgekauft. Den Fehler mache ich nicht nochmal. Preorder! Weil die Tracks so schillern. Dieses Glimmen haben, das Glimmen der Erschöpfung, der verlässlichen Andersartigkeit. Der Echtheit. Der Diversität. Graswurzel-Sound, direkt aus den Schaltkreisen der Krise. Immer anders. Immer irgendwie fehlerhaft für die Ohren, die nur noch blank polierte Perfektion kennen, die dann auch noch totkomprimiert durch den Schornstein der Afterhour rummst. Das hier, das ist Zukunftsforschung. Ein Sich-Bekennen zur Konventionslosigkeit, ohne dabei wirklich kompliziert oder gar anstrengend zu sein. Eine wahre Erleuchtung. thaddi Matthias Tanzmann - Tilt [Moon Harbour/MHR065 - Intergroove] "Tilt" trifft genau die richtige Balance zwischen Kantigkeit in den Grooves und Smoothness und kann sich darauf scheinbar lässig ausruhen, bis sich nach dem Break immer mehr Raum für Spielereien in wilden Bässen und Sounds ausbreitet, die Tanzmann den Track perfekt ins Ziel reiten lassen. Der "Extra Ball"-Remix von ihm selbst dreht die technoidere Breitseite auf und ist ein perfekter Einstieg für den fusselig verdrehten Remix von Kris Wadsworth, der sich nach und nach in einen - was sonst - Kris-Wadsworth-Track verwandelt. Den Abschluss macht "Private Traps" mit einem lässig swingenden abstrakten Oldschoolgroove. Klassischer Tanzmann. bleed Unknown Arist - Ode [Ode/Ode399] Funky. Sehr lässige elegante Breaks, warme Housechords, die Ruhe schlechthin, durch nichts aus dem Groove zu bringen, elegant geschnitten und so endlos, dass man gar nicht glauben will, dass hier noch etwas passiert. Muss auch nicht. Die Rückseite arbeitet die Lauri- Anderson-Vocals von "Oh Superman" noch mal auf und klingt trotzdem nach einer verrückten Baby Ford aus den Frühzeiten im Groove. Zwei Stücke, die genau wissen, dass sie ganz für sich stehen und sich auch um nichts weiter kümmern müssen. Weniger ist manchmal wieder viel mehr. bleed Neurotron [Neurotron/006 - Decks] Zwei sehr klassisch swingende Dubtracks für meinen Geschmack, die zwar sehr dubbig auf den Floor konzentriert sind, aber für mich irgendwie doch an die letzten Neurotrons nicht rankommen, weil, trotz aller Schönheit der Sounds und der durchdachten Hallräume, irgendwie dieses spezielle Moment fehlt, das Kribbeln hinter dem Dub, diese Idee, es nicht so einfach schon wieder, sondern trotzdem zu machen. Andererseits, gib mir eine laue Sommernacht, einen endlosen Floor, und dann passt das natürlich perfekt. bleed Stubborn Heart - Penetrate [One Little Indian/1213TP7 - Rough Trade] Hier ist eine Idee: Autechre produzieren mit den Synths der AmberPhase das nächste Album von James Blake. Dann könnten Stubborn Heart zwar einpacken, aber hey: Autechre! Amber! Da nimmt man auch das Genöle mit, den falsch verstandenen R&B und das Anweinen gegen den Regen. Die Bassline hier also ist schon jenseits der Booth/Brown-Inspiration. Einfach 1:1 adaptiert und Scheiße nochmal, funktioniert das gut. Da mag man sogar das Genöle. Leider muss man

Lewis James - Desire For Infinity [Original Cultures/OCEP006DD - Kudos] Diese Veröffentlichung hat mehrere Hürden genommen, viele Veränderungen wurden nach und nach vorgenommen, das Endprodukt kann sich aber umso mehr sehen lassen. Dunkel und warm zugleich klingen zu wollen, das gelingt nur wenigen Ausnahmemusikern. Lewis James gelingt das Kunststück, auf dem Höhepunkt "Midnight“ werden seine Beats durch die Stimme des Sängers Dolor veredelt. Crooning zu verspielt gebrochener Bassmusik, das ist wirklich eine außergewöhnliche Kombination. Doch auch die sechs anderen Eigenproduktionen sind spannende Kleinode, die man des Öfteren anhören sollte. Sert One aus Irland und LV machen sich dann noch an den Originaltunes zu schaffen. Letztere führen einen älteren Tune Richtung Club und machen keine Gefangenen. www.originalcultures.org/label tobi Wbeeza - Perfect High / I Like It [P Fly Music/PFLY001 - WAS] Wbeeza hat sein eigenes Label und lotet darauf erst mal die Welt obskur verkanteter Housegrooves neu aus. Das ist nicht nur allein vom Groove schon so phantastisch und abstrakt, sondern auch so kaputt um die Ecke gefleddert, dass es einen nicht wundert, dass die merkwürdigen Stimmen in eine ähnlich kaputte Richtung gehen. Immer wieder merkwürdig angebrochen, skippend fast, als wäre irgendwo der Wurm drin, bringt er es trotzdem fertig, über alles eine so soulig schimmernde Stimme zu legen und in der Bassline dann noch so unerwartet deep zu werden, dass ich bereit bin, das hier definitiv zu einem neuen Stil zu küren. Jetzt müsste man nur noch einen Namen haben. Ich nenne es liebevoll provisorisch für mich erst mal Grhouse. Und war noch gar nicht beim swingenden Beatmonster "I Like It" angekommen. Auch das eine Klasse für sich. I like it wäre eine echte Untertreibung. bleed Concrete Fence - New Release (1) [Pan/039 - Boomkat] Russell Haswell & Regis sind Concrete Fence. Noch Fragen offen? Concrete Fence ist genau, was man von dieser Paarung erwarten konnte: eine totale Überwältigungsmaschine. Eine massiveren Hybrid aus finsteren Drones und jener Form von Industrial Techno, die britische Tanzflächen anscheinend wieder fest im Griff hat, wird in diesem Herbst kaum zu finden sein. www.pan-act.com blumberg Terence Fixmer - Relapse Volume 1 [Planete Rouge/PLR1303 - Decks] Ha! Sind wir wieder mitten in den darkesten Welten der No-Wave? Fixmer konnte das schon immer gut. Holprige darke Beats und Basslines, zerrig düstere Stimme wie aus dem Megaphon eine Meile weg, leicht EBM-artige Harmoniewechsel und all das. Muss zugeben, irgendwann ist es auch genug mit dem Amboss. Am besten gefällt mir hier der wuschelig breakig deepe Technosound im Regis-Remix, der das "Warm" des Titels auch im Sample warm klingen lässt und nicht ganz so (überhaupt nicht) technofederboamässig wirkt. bleed Tin Man - Underdog EP Pt. 2 [Pomelo/POM34 - D&P] Eine neue Tin Man! Ich bin jetzt schon ganz Ohr. Drei Tracks mit diesem Sound zwischen Beschwörung alter Acidgeister und der Verzückung angesichts dieses Sounds, der so voller Harmonien und Gnade steckt. Tin Man schafft es immer wieder Acid zu machen, der dennoch irgendwie klingt, als wäre eine Indieband aus einem Paralleluniversum hereingerauscht. Wunderschön, breit, schwingend in dieser fast unsichtbaren Langsamkeit der Modulationen, die einen dennoch wie auf den Flügeln eines Giganten in eine Heimat zurückholt, die man gar nicht mehr glaubte zu haben. Drei perfekte Tracks zwischen Elegie, schnippisch abstraktem Funk und purer Statik auf der Eins. Wir geben zu, unsere Besprechung passt eigentlich nur auf die A-Seite. Denn hier hat jeder Track seine ganz eigene Bestimmung. Lassen wir euch also den Rest zum eigenen Entdecken. bleed Alexander Harre - Power To The People [Power To The People/PTTP01 - Decks] Ich hätte irgendwie eine kämpferische House-EP der alten Schule erwartet bei dem Layout, aber es ist Techno, klar und kernig, störrisch und gerne mal auf die Eins konzentriert, einfach, direkt, sanft gezerrte Bassline, nie zu hart, sondern irgendwie mit einem sanft spielerischen

76

dbg176_reviews.indd 76

22.09.13 17:09


MITMACHEN DAS NEUE HEFT JETZT AM KIOSK!

zeo2 erscheint viermal im Jahr. Ein Jahresabo kostet 22 Euro, eine einzelne Ausgabe am Kiosk 5,50 Euro. www.zeozwei.taz.de zeo2abo@taz.de T (0 30) 2 59 02-200

dbg176_reviews.indd 77

das Umweltmagazin

22.09.13 15:52


176 — reviews

Singles Grollen, das mich - weiß jetzt wirklich nicht, warum - an Plüschdinosaurier erinnert. Vielleicht ist es nur dieser grollend ausgedehnte Sound auf dem letzten Track. Blauäugig, einfach, aber sehr ehrlich. Charmante Technohymnen ohne Attitüde. bleed Submerse - Melonkoly [Project Mooncircle/PMC120 - HHV] Submerse bringt uns seine neue Single, vier eigene Tunes stehen neben Bearbeitungen von Deft, Daisaku Tanabe, Elaquent und RLP. Laut Info soll der Sinn dieser Veröffentlichung darin bestehen, die Sinne zu schärfen. Ich kann das jetzt nicht ganz beurteilen, kann der verspielten Melancholie, die hier zelebriert wird, dennoch eine Menge abgewinnen. Von den Remixen ist Deft für mich der eindeutige Gewinner, erst kürzlich erschien ja auch dessen EP beim gleichen Label. Elaquent fällt im Gesamtdurchblick leider etwas ab, aber ingesamt eine überdurchschnittliche Veröffentlichung. tobi John Swing / EMG I Don't Want It / Relations [Relative/011] Der John-Swing-Track ist mal wieder ein klassisch luftiger Houseslammer mit rasanten Divenvocals, scheppernd schillernden Beats und, funkig einfach, klassischem Basslauf. Pur, reduziert und gerade deshalb so gut und gerecht. Es kommt einem mit diesem Track gar nicht erst in den Sinn, dass die Geschichte von House etwas anderes sein könnte als immer wiederkehrend. Purer skelettartiger Killerswing. Die Rückseite ist wummsiger, brachialer, gebrochener, technoider, darker. Saugt einen auf wie ein Lappen aus tonalem Teer und klebt an der Seele wie ein Feuer aus Funk und der ewigen Baustelle der Entdeckung des ersten Mals. Große Platte. bleed New World Stretching / Night Stalker [Riotvan] Was für ein Gesäusel. Die Vocals von Jennifer Touch passen so perfekt zu dem leicht zerbrechlichen Discogroove, der nur so tut, als würde er in vollen Zügen den wummsig breiten Funk genießen, aber in Wirklichkeit sind die Sounds doch irgendwie so versponnen, dass es vor Glück nur so zittert. Und doch, ich gebe zu, irgendwie ist es noch schöner auf dem letzten Track, "Mirage", wo die Melodi-

en mal auch ohne Stimme alles übernehmen können. Als Abschluss noch einer dieser ultrahymnischen Remixe von Lauer, der natürlich die Finger vom Billigpiano nicht lassen kann, sich aber dennoch passend zum Track ganz auf das Schwärmerische einlässt und nie zu dick aufdreht. Sehr schöne und irgendwie dennoch fragile Platte, trotz Disco. bleed V.A. - Days Of Our Life [Room With A View/026 - WAS] Kyodai, Carlo, Roberto Rodrigues und Sahin Meyer teilen sich diese EP mit je einem Track und schon vom ersten Moment sind wir natürlich in der Tiefe von House gefangen, geniessen die warmen Chords, die swingend lässigen Grooves, die upliftenden Pianos, den sanften Discoanklang, und die gelegentlich mitten im Soul auch mal aufblubbernde 303. Eine EP die nicht selten die Welt umarmen möchte, mit ihrem blumig flatternden Sound und der wir gerne dabei helfen. www.roomwav.com bleed Echonomist - Blowback EP [Rotary Cocktail/RC039 - WAS] Es geht noch, dieses Yeah-Gefühl: schönes Intro, Sci-Fi-Steigerung und dann die dicke Basstrommel, die den ganzen Raum verzückt. Und die für die große Tanzfläche gemacht ist. Mit einem spacigen Lead zieht der Echonomist die Milchstraßenbewohner in den Strudel des schwarzen Lochs und schleudert sie als glühende Sterne wieder hinaus. Von "Blowback" gibt es für die härteren Sonnensysteme einen technoiden Remix von Nikola Gala, dessen Sound ich von Rotary nicht kenne, aber sehr schätze. Zum Rückflug empfiehlt sich "something from my mind", das statt Weltraum auf Blumenkübel setzt und an die schönen Momente des urbanen Selbstversorgertums denken lässt. Also Pflanzengießen nicht vergessen und rein ins Nachtleben. Yeah. bth Mole570 - Deescalation EP [Rudowflight] Es gibt wirklich ein Label, das sich Rudowflight nennt. Aus Eggersdorf. Und die erste Ep ist blau wie die See, knuffig und funkig mit analogem Gefühl für die perfekt auf den daddelig dubbigen Flächenkiller zusteuernde Euphorie, die aus der einfachen Welt der kleinen Sequenzen einen Killertrack macht, der dennoch irgendwie seltsam zurückhaltend bleibt. Deep ist das allemal und, wenn es will, auch verwirrend spleeniger Acid für alle, die ihre Basslines gerne wie ein Bonbon lutschen und nicht

davon ablassen können, weil es einfach so entzückend ist. Dazu kommt dann noch ein etwas verdaddelter, aber höchst charmanter Remix von Yüutsu und Christian Lange, und wir sind jetzt schon gespannt auf das zweite Release, so frisch, wie das hier klingt. bleed Abdulla Rashim & Axel Hallqvist - Sorunda [Semantica Records/SEMANTICA58] Mit der EP "Sorunda" präsentieren Abdulla Rashim und Axel Hallqvist eine Kollaboration, aus der zwei dicht konzentrierte, stoisch rhythmische Stücke entspringen, denen eine asketische Ästhetik innewohnt. Jedoch erst durch ihre ambienthafte, sich mäandernd in Trance wiegende Hintergrundatmosphäre, entwickeln sie ihren eigentlichen Spannungsbogen. Die in einem Acid-Synthmuster schwingende Musik lässt bei dem Stück "Skog" vor dem geistigen Auge zunehmend impressionistische Bilder von lichtdurchfluteten Ebenen sich bilden. Oder ist es vielleicht doch das Meer, an welches man denken könnte? Kühle, nautisch-anmutende Klänge lassen auch diese synästhetische Assoziation zu. Insgesamt hypnotischer, tooliger Ambienttechno. Das setzt das bisherige Werk von Rashim somit nahtlos fort. jonas Sensate Focus Sensate Focus 1.666666666 [Sensate Focus 1.666666666 - Anost] Also, da haben sich zwei gefunden. Und natürlich muss man fragen, warum nicht schon früher, als Labelkollegen – hatte doch Sasu Ripatti auf seinen letzten Releases für Raster-Noton vorgeführt, dass Clubsound (dort, als Vladislav Delay, ein eher postindustrieller) mit abseitigen Rhythmusstrukturen genau seine Hausnummer ist. Jedenfalls erweisen sich er und Mark Fell in dieser ersten (und hoffentlich nicht letzten) Kollaboration als Supergroup. Unter Ripattis Händen erfährt die runderneuerte Soundpalette eine Dynamisierung, der man Fells Placet bei der Endabnahme kaum zugetraut hätte. Querschlagender, nervöser Street Funk hält Einzug, kühle Windstöße aus Hiphop und sogar Juke schießen aus Hochhausschluchten hervor, ziehen sich zuckend in finstere Schatten zurück, und schon kommt die nächste Ecke. Letzter SheffieldSoundanker: ein Bassbleep-Monster erster Warp-Stunde auf der X; umseitig dekliniert sich ein Vocalsample-Splitter, Schwester von Phoenecias Liquid-Sky-Sample auf Odd Job, als Hackspecht in einen hypotisierenden Rausch, schraubt sich nach unten, dann nach oben. Das alles wie gewohnt auf polygonalem Knochenbrecher-Fahrgestell. Top. www.editionsmego.com multipara

IL Boy - Dubcore Vol. 9: Crisis Riddim / Version [Sozialistischer Plattenbau/ SPB7022 - Suburban Trash] Für die, die sich noch an Kartenspiele erinnern können: sowas nannte man ein Omablatt. Je ein Ass in den Farben Dubstep-Bass und FootworkBeat, und eine blanke Zehn (damit es für die Genossen spannend bleibt, haben wir nämlich das Ass in der Farbe FrüheD.A.F.-Sequenz gedrückt, hihi). Der Rest ist Trumpf und heißt Speedhall. Die Reihenfolge ist egal – wie man's dreht und wendet: läuft durch ohne Gegenwehr. Die Version auf der Rückseite verlegt uns in eine andere Zelle mit gleicher Schrittlänge, die mit Darbouka und Mey ganz subtil frisch nach Morgenland duftet und führt, ohne die Miene zu verziehen, vor, dass das wirklich stimmt mit der Reihenfolge. Neuer Name, alter Hase. Und der Osten währt am längsten! www.sozialistischer-plattenbau.org multipara Jordan Fields - Among The Kloudz / Keepin It Together [Subwax/1203 - WAS] Zugegeben. Dieser Bass. Was für ein wuchtiges rundes Dinge. So tief. Bin verliebt. Jordan Fields kann ja eh machen, was er will und es ist gut. Hier hat man 2 Tracks, und die ganze Breite und der Schnitt könnten besser nicht zum Sound passen. Ruhig pulsierender Acid für die schlängelnderen Momente, und irgendwie wollen sie uns auch erzählen, die Stücke wären aus den 80ern. Kann natürlich sein, aber in der Soundqualität? Die Rückseite, "Keepin It Together", ist so magischer Detroit-Sound, wie er nur aus Chicago kommen kann. Nein, zugegeben, das macht keinen Sinn. Gefühle machen nicht immer Sinn. bleed Friday Dunard - Syff001 [Syff/Syff001] Neues Label, neuer Name. Syff klingt dabei wie eine Neuformung aus Suff, TÜV und Siff und kommt aus Karlsruhe. Die Titel offenbaren alles und räumen jegliche spekulativen Anknüpfungen vorab vom Tisch. “Raver 87“ auf der A-Seite klingt eher nach fescher Email-Adresse als eigentlichem Rave; dafür ist dieses Ding hier viel zu monströs und pesante. Die krautigen Referenzen (A2 “Express“) funktionieren da schon eher: Düsseldorf in den 70ern statt England in den 90ern. Eine Grätsche zwischen unfassbarer Groovigkeit und kruder Rockerei, die sich so nicht selten in den Sets von Barnt wiederfindet. Ausufernd, und ja, trancig (“Trancer 04“). Ziemlicher Brocken für die erste Nummer im Katalog. Hut ab. malte

Phil Weeks - Sharks Look For Fishes [Supplement Facts/SFR039 - WAS] Ach. Phil Weeks mal ganz relaxt. Der Titeltrack swingt in zeitloser Tiefe erst ganz spät aus seinem Groove-Tank auf die untergründige Discowelt zu und bleibt selbst dann ein eher ruhig untergründiges Stück. Die Filter kommen auch in "Bee's Assault" selten über die 9-Uhr hinaus und erst auf dem letzten Track, "Hold Onto Memories" wird es etwas rabiater. Die ruhigste, besinnlichste EP von Weeks seit langem. Aber auch das kann er traumwandlerisch. bleed V.A. [Symbiostic/010] Eine Compilation mit Tracks von Donna Knispel, Steve Cole, Jackrabbit, MOHN, Skatemoss, Danjel Esperanza, Mike Wall und Danielle Kappetijn, die sich alle im Feld von elegant schwärmerisch, sanft melancholischen Tracks zwischen House und treibenderen Technomomenten aufhalten und für mich vor allem im blubbernd wirre sprudelnden Skatemoss-Track, dem verdrehten Oldschool-Sequenztrack von Esperanza und dem elegant hymnisch tragischen "Ohhmy" von Knispel ihre Höhepunkte haben. bleed D-Pulse - Keep On Running [Teardrop Music/TD008] Die Petersburger dürften auf dem Feld der süßlichen Discoduette hier definitiv die Nase vorn haben für das Jahr. So zuckersüße leicht vocoderartige Gesänge, wundervoll smoothe Bässe, slappende Killergrooves voller Verzückung und immer wieder endlos glückliche Melodien. Eine Hymne, die jeden Winter ganz heiß aussehen lässt. Aber was will ich da mit Remixen? Hm. Nichts eigentlich, komme immer wieder zum Original zurück. Immer und immer wieder. bleed Andrea Cichecki - Isometric Illusions [Telrae/018 - Decks] Sehr schöne, weit ausufernde Dubs, die mit ihren treibend eleganten, leichtfüßig zauseligen Chords und dem sehr klassisch knisternd warmen Sound manchmal fast in eine Atmosphäre hineingeraten, die weniger von Dub-Techno geprägt ist, als vielmehr von einem gewissen Indiegefühl, das ganz früher mal eine der großen Schnittstellen zwischen Elektronik und Bands war. Nicht, dass hier irgendwie

versucht würde, nach Band zu klingen, aber die Harmonien und selbst die lockere Acidline auf der Rückseite klingen irgendwie süßlicher, als man es erwarten würde. Bin gespannt auf mehr von Cichecki. bleed Oscar Barila & Sergio Parrado Les Enfants [Trapez Ltd. /127 - Decks] Ich liebe diesen Track schon lange. Jetzt endlich auf Vinyl, sind die Kinderstimmen auf dem Titeltrack einfach zu perfekt. Lustig klingelnder Groove voller Percussion, süßlich losgelöst dahindampfend, einfache Beats, und auch wenn es hier einfach nur um den Charme dieser einen Idee geht, ein Track, den man immer wieder genießt. Unbedingt für den nächsten Sommer aufbewahren, denn hier strahlen pures Licht und pure Wärme. bleed V.A. - 10 Years Of Voltage Musique Records [Voltage Musique/VMR050] Zur Feier gönnen sie sich ein gelb-transparentes Vinyl und zwei rockend funkige Tracks, die so voller Energie stecken, dass sie ständig ausbrechen möchten. Henneberg mit Stefan Krogmann lassen es auf "Mine" kantig soulig loskicken und Marquez Ill mit Daniel Nitsch kicken auf "I Feel Memory" mit überbordend poppigem Funk. Zwei leicht überdrehte Dancefloor Hits. bleed Tory Lane / Jesse Jane [xx Delfin/xx Delfin 02 - Decks] Pissgelbes Vinyl, trashig punkiges Layout, abenteuerlich in sich versunkene Dubs voller Restgeräusche, abstrakter Knistermomente, eiernder Sounds und so schleppender Grooves, dass man manchmal fast hintenüber fällt. Kaputte Musik voller kleiner Geheimnisse, die immer wieder überzogen flausig unter dem Sound herumjammt und dennoch auf die Füße fällt. Manchmal denkt man, da sei ein elektronisches Orchester auf Kreuzfahrt und die See kenne nur Nacht, manchmal aber, da blitzen die Kerzenleuchter im Ballsaal. Obskur. bleed Zee&Eli - Do Your Own Thing [ZiiZii Records] Keine Frage, wenn die Stimme von Revolution redet, dann ist das selten falsch. Zee&Eli bringen zum aufrührerischen Text einen Sound der sehr knorrig funky und auf den minimalen Grundlagen früher Cut-UpÄsthetik beruht, dabei aber sehr forsch und direkt ist. Das sitzt. Und auch "Love Cry" hat in den Grooves und Sounds etwas kämpferisches und "Nora" wandelt sich am Ende noch zum Pianoravehit. Schöne EP durch und durch. bleed

TRAPEZ 147

TRAUM V168

TRAUM V167

TRAPEZ DIG03

ACTIVIDADES PARA NORMALES

THE INKLING

CHIROPTERA

MIXED BY RILEY REINHOLD

TRAPEZ LTD 129

MBF 12107

MBF LTD 12052

TELRAE 019

GNOSTIC KNOWLEDGE

BAUMGARTNER

ALEX UNDER

JUST A MOOD SUNDAY MORNING QUESTION

EXTRAWELT

TIM LE FUNK & AMERICAN DJ

DOMINIK EULBERG

STONE OWL

EMBARK 03

VAN BONN

WWW.TRAUMSCHALLPLATTEN.DE JACQUELINE@TRAUMSCHALLPLATTEN.DE HELMHOLTZSTRASSE 59 50825 COLOGNE GERMANY FON ++49 (0)221 7164158 FAX ++57

78

dbg176_reviews.indd 78

22.09.13 17:09


DE BUG ABO Hier die Fakten zum DE:BUG Abo: 10 Hefte direkt in den Briefkasten, d.h. ca. 500.000 Zeichen pro Ausgabe plus Bilder, dazu eine CD als Prämie. Die Prämie gibt es immer solange der Vorrat reicht, wobei der Zahlungseingang für das Abo entscheidet. Noch Fragen?

DE:BUG Verlags GmbH, Schwedter Straße 8-9, Haus 9A, 10119 Berlin. Bei Fragen zum Abo bitte eine E-Mail an: abo@de-bug.de, Bankverbindung: Deutsche Bank, BLZ 10070024, Konto 1498922

ein jahr DE:BUG ALS … abonnement inland

UNSER PRÄMIENPROGRAMM

10 Ausgaben DE:BUG zum Preis von 34 € inkl. Porto und Mwst.

Huerco S. - Colonial Patterns (Software) House aus Kansas City. Zumindest der Ort stimmt. Wie man die Musik von Brian Leeds nun einsortiert, muss jeder unter dem Kopfhörer selbst entscheiden. Anlass zum nachdenken gibt es reichlich: Der thematische Rahmen des Albums ist das Amerika vor der Entdeckung.

abonnement ausland

10 Ausgaben DE:BUG zum Preis von 39 € inkl. Porto und Mwst. / Paypal-Adresse: paypal@de-bug.de

geschenkabonnement

10 Ausgaben DE:BUG für eine ausgewählte Person (“Beschenkt”-Feld beachten!) Wir garantieren die absolute Vertraulichkeit der hier angegebenen Daten gegenüber Dritten

Moritz von Oswald & Nils Petter Molvaer 1/1 (Universal) Zwei Großmächte, gemeinsam im Studio. Die gejazzte Trompete hier, das Mischpult als Waffe dort. Das Ergebnis ist überraschend, zurückhaltend, fast still. Gülden behauchtes Blubbern. Wenn doch die Weltpolitik auch so funktionieren würde.

BANKEINZUG Kontonummer:

Paypal

(Nur Auslandsabo)

Kreditinstitut:

DJ Rashad - Double Cup (Hyperdub) Jetzt endlich auf Albumlänge für Hyperdub. Der Footwork-Pionier aus Chicago schwurbelt auf "Double Cup" ein Mal quer durch alle Köpfe, holt zahlreiche Gäste mit ins Boot und zeigt erneut, wie stur und gleichzeitig gottverdammt funky die Überholspur sein kann.

nächste Ausgabe:

Überweisung

Bankleitzahl:

Mimu - Elegies Is Thoughtful Neon (Liska) Wundervolle Musik mit genau der richtigen Portion Crazyness. Das gilt genau so auch für die Texte von Mimu Merz, die damit - ganz unerwartet und bestimmt auch völlig unbeabsichtigt - die Tradition Österreichs weiterdenkt, die Gustav einst ebenso unbeabsichtigt etablierte.

Machinedrum - Vapor City (Ninja Tune) Dass sich die musikalische Geschichte von Travis Stewart nicht auf sein Projekt Sepalcure beschränkt, zeigt der Produzent auf seinem neuen Album eindrucksvoll. Drum and Bass. Bass sowieso, gebrochene Fundstücke, eingerahmt von einem überraschenden PopVerständnis.

Bar

deine daten

Geschenkabo für

Name

Name

Straße

Straße

PLZ, Ort, Land

PLZ, Ort, Land

E-Mail, Telefon

E-Mail, Telefon

Ort, Datum

Unterschrift

Von dieser Bestellung kann ich innerhalb von 14 Tagen zurücktreten. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs. Coupon ausfüllen, Prämie wählen und abschicken an: DE:BUG Verlags GmbH, Schwedter Straße 8-9, Haus 9A, 10119 Berlin. 34 € (Inland) oder 39 € (Ausland) auf das Konto der DE:BUG Verlags GmbH, Deutsche Bank, BLZ 100 700 24, Konto 149 89 22 überweisen. Wichtig: Verwendungszweck und Namen auf der Überweisung angeben. Das DE:BUG Abo verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn es nicht 8 Wochen vor Ablauf gekündigt wird.

DE:BUG 177 ist ab dem 1. November am Kiosk erhältlich / u.a. mit einem Spielzeug-Special (Roboter, Tablets, the lot), Insider-Wissen zum Breakbeat-Revival und dem neuen famosen Schweden-House von Jonsson/Alter

im pressum 176 DE:BUG Magazin für elektronische Lebensaspekte Schwedter Straße 8-9, Haus 9a, 10119 Berlin E-Mail Redaktion: debug@de-bug.de Tel: 030.28384458 Fax: 030.28384459 V.i.S.d.P: Sascha Kösch Redaktion: Timo Feldhaus (feldhaus@de-bug. de), Thaddeus Herrmann (thaddeus. herrmann@de-bug.de), Felix Knoke (felix.knoke@de-bug.de), Sascha Kösch (sascha.koesch@de-bug.de) Artdirektion: Lars Hammerschmidt (lars.hammerschmidt@de-bug.de)

Review-Lektorat: Tilman Beilfuss Redaktions-Praktikanten: Wenzel Burmeier (wenzel.b@gmx.net) Redaktion Games: Florian Brauer (budjonny@de-bug.de) Bildredaktion: Lars Hammerschmidt (lars.hammerschmidt@de-bug.de) Texte: Anton Waldt (anton.waldt@de-bug.de), Sascha Kösch (sascha.koesch@de-bug.de), Timo Feldhaus (feldhaus@de-bug.de), Felix Knoke (felix.knoke@de-bug.de), Benjamin Weiss (nerk@de-bug.de), Bjørn Schaeffner (bjoern.schaeffner@gmail.com), Wenzel Burmeier (wenzel.b@gmx.net), Bianca Heuser (bbheuser@gmail.com), Lea Becker

(lea_becker@gmx.net), Tim Caspar Boehme (tcboehme@web.de), Philipp L´Heritier (Philipp.LHeritier@orf.at), Multipara (multipara@luxnigra.de), Nina Franz (verninen@ gmail.com), Christian Blumberg (christian. blumberg@yahoo.de), Michael Döringer (doeringer.michael@googlemail.com), Elisabeth Giesemann (elisabeth.giesemann@gmx.de), Florian Brauer (budjonny@de-bug.de), Oliver Tepel (oliver-tepel@gmx.de) Fotos: Rachel de Joode, Franz Grünewald, Aram Bartholl, Marion Benoit, Frauke Finsterwalder und Christian Kracht, Benedikt Bentler, Benjamin Weiss Illustrationen: Harthorst

Reviews: Sascha Kösch as bleed, Thaddeus Herrmann as thaddi, Andreas Brüning as asb, Christoph Jacke as cj, Tobi Kirsch as tobi, Multipara as multipara, Bastian Thüne as bth, Tim Caspar Boehme as tcb, Martin Raabenstein as raabenstein, Christian Blumberg as blumberg, Christian Kinkel as ck, Sebastian Weiß as weiß, Wenzel Burmeier as wzl

Marketing, Anzeigenleitung: Mari Lippok, marketing@de-bug.de, Tel: 030.28384457 Andreas Ernst, andreas.ernst@de-bug.de, Tel: 030.28388892 Es gilt die in den Mediadaten 2013 ausgewiesene Anzeigenpreisliste.

Vertrieb: ASV Vertriebs GmbH, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Tel: 040.34724042 Fax: 040.34723549

Aboservice: Bianca Heuser abo@de-bug.de

Druck: Frank GmbH & Co. KG, 24211 Preetz

De:Bug online: www.de-bug.de

Eigenvertrieb (Plattenläden): Tel: 030.28388891

Herausgeber: De:Bug Verlags GmbH Schwedter Str. 9a,

10119 Berlin Tel. 030.28388891 Fax. 030.28384459 Geschäftsführer: Sascha Kösch (sascha.koesch@de-bug.de) Debug Verlagsgesellschaft mit beschränkter Haftung HRB 65041 B, AG Charlottenburg, Berlin Gerichtsstand Berlin UStID Nr.: DE190887749 Dank an Typefoundry OurType und Thomas Thiemich für den Font Fakt, zu beziehen unter ourtype.be

79

dbg176_79_abo.indd 79

22.09.13 18:34


176 — de:bug präsentiert

30.10 - 3.11. Frankfurt/Main und Rhein-Main-Region

11. - 13.10. Krems, Mautern, Theiss

noch bis zum 2.3.2014 Dortmund, Dortmunder U

B3 - Biennale des bewegten Bildes

Kontraste 2013 Dark As Light

New Industries Festival

Die B3 Biennale bringt Künstler, Filmemacher, Designer, Internetspezialisten, Social-Media-Aktivisten, GamesEntwickler und Wissenschaftler zusammen, um über die Chancen und Möglichkeiten des bewegten Bildes zu sprechen. Denn Bild hat noch Möglichkeiten. In dem Maße, in dem sich die Medien-Grundlage ändert, ändern sich auch ästhetische und semantische Bezüge. Dem trägt B3 etwa mit dem Ultrashort-Wettbewerb Rechnung, für den erstmals Vine- und Instragram-Videos prämiert werden. Das Leitthema der B3 ist passend: "Expanded Narration. Das neue Erzählen". Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen in den Themenfeldern Serien, Games, Transmedia, Kino, Kunst und Wissenschaft. Das Programm birgt große Namen und Vielfalt: Theater-Regisseur Robert Wilson wird über seinen Umgang mit unterschiedlichen Medien erzählen, Laurie Anderson gibt - nachdem sie den B3-Preis für ihr Lebenswerk erhalten hat - ein Konzert. Aber auch sonst ist das Programm randvoll mit interessanten Beiträgen zu narrativen Räumen und Immersion, zur Charakter-Entwicklung für Computerspiele und den Mitteln der Computerspielbasierten Prävis-Technik für's Kino. Es werden spannende Projekte in Internet- und Chip-Medien präsentiert und populär - die neuen Serien als "Mega Movies" unter die Lupe genommen. Mit etlichen Vorträgen und Screenings werden außerdem verwandte Verhandlungen aus Kunst und Wissenschaft zur Diskussion gestellt. b3biennale.com

Im österreichischen Krems und Umgebung strebt das Kontraste-Festival gen Himmel, den Blick nach oben. Der Festival-Titel spielt auf die spirituelle Eroberung der Nacht durch Johannes vom Kreuz an. Passend ist der Ort der Premiere des Vertical Cinema in der Minoritenkirche in Krems gewählt, in der zehn Filme von Avantgarde-FilmemacherInnen, MusikerInnen und bildenden KünstlerInnen in einem neuen Format - hochkant - projizieren werden. Die Filme sollen zeigen, "was Kino sein kann, wenn Konventionen wie die horizontale Orientierung über Bord geworfen werden" - der Himmel als Projektionsfläche, die Projektionsfläche als blendender Himmel. Das Streben zur verbergenden Intensität des Lichts wird auch in der Veranstaltungsreihe Spire zelebriert, in der die Kirchenorgel mit elektronischer Musik in Verbindung gebracht wird. Mit einem Mix aus neuen und alten, komponierten und improvisierten Stücken erneuert Spire in der Pfarrkirche St. Stephan in Mautern die Traditionsgeschichte der Orgel: Installationen von Franz Pomassl und Finnbogi Petursson erobern die Kirche, Christian Fennez und Mike Harding und Philip Jeck. Es geht weiter mit - unter anderem - Morton Subotnick, Thomas Ankersmit und Phill Niblock, die etwa mit analogen Synthesizern Klangexperimente vollziehen. Catherine Christer Hennig & The Chora(s)san Time-Court Mirage wollen mit subtilen mikrotonalen Drones ein transzendentales Hörerlebnis bieten - "Pforten in eine andere Zeit- und Raumdimension, hinauf zu den Sternen, aus denen wir gemacht sind." Das Kontraste-Festival muss nicht tiefer pokern. kontraste.at

Ein Begriff im Wandel der Zeiten. Industrialisierung, Großkonzerne, Wir tschaft, Rohstoffe, Umweltverschmutzung, Gewerkschaften, Fortschritt: Wo sonst in Deutschland könnte man dem Thema Industrie besser ein fünfmonatiges Festival widmen als in Dortmund, im Herzen des Ruhrgebiets. "Industrie" wird folgerichtig im Industriedenkmal U dabei sowohl historisch beleuchtet, in der Gegenwart verortet und fit gemacht für die Zukunft. In Ausstellungen, Konferenzen, Workshops, Installationen, Perfomances und Filmvorführungen geht es dabei um alle nur denkbaren Assoziationen des Begriffs. Von Industrial Music bis zur Finanzindustrie, dem Strippenzieher des globalen Wahnsinns. Das vom HMKV initiierte Festival spinnt dabei seine thematischen Fäden um drei Hauptveranstaltungen. "Industrial (Research)" ist keine Ausstellung im klassischen Sinne, sondern versteht sich als Arbeitsplatz, Forschungslabor und Fundgrube. Hier beschäftigt man sich mit dem Strukturwandel ehemals stark industrialisierter Landstriche und analysiert Folgen, Chancen und geographische Verschiebungen nicht zuletzt auch in Hinsicht auf Kunst, Sub- und Popkultur. Die Ausstellung "Requiem für eine Bank" widmet sich der Finanzwirtschaft und zeigt vielzählige Arbeiten aus Architektur, Medienkunst, der bildenden Kunst und Peformances zu diesem Thema. Axel Brauns "Zugunsten einer Gesellschaft von morgen, für die wir heute schon bauen" schließlich ist Installation, die die zweifelhafte Geschichte der mittlerweile zerschlagenen WestLB unter die Lupe nimmt. Deren futuristische Gebäude bilden den perfekten Ansatzpunkt für längst vergangene Utopien. www.hmkv.de

80

dbg176_80_81_praesis.indd 80

22.09.13 18:38


176

noch bis zum 13.10. Graz

24. - 27.10. Berlin, HKW

23. - 27.10. Graz

3. - 6.10. Essen

Musikprotokoll

Böse Musik

Elevate

Denovali Swingfest

Wie jedes Jahr breitet auch 2013 der ORF seinen öffentlich-rechtlichen Mantel über allerhand Kunstdisziplinen, die immer noch viel zu selten zusammen gedacht werden. Die "Festivalplattform für zeitgenössische und experimentelle Musik" ist gesetzter tragender Teil des Steirischen Herbstes. Orchestermusik - heuer mit dem Radio-Symphonieorchester Wien -, Ensembles, Kammermusik, Performance, Klanginstallation: Inhaltliche Gräben sind dazu da, gestopft zu werden. So wagt sich beispielsweise Cheap-Boss und Techno-Legende Patrick Pulsinger in den Orchestergraben des bereits erwähnten RSOs. Oder die Klangkunstprofis von Alien Productions: Sie haben Sounds entwickelt, mit denen waschechte und vor allem lebende Papageien interagieren sollen. Über dies und alle anderen Konzerte und Aktivitäten wird der Schriftsteller und Dramaturg Patrick Hahn täglich akribisch Buch führen. Das Musikprotokoll hat sich einen eigenen Archivarius ins Boot geholt. Das wie immer sehr umfangreiche und intensive Programm kann online eingesehen werden. Einige unserer Favoriten: Werner Dafeldecker, Stefan Németh & Kassian Troyer. musikprotokoll.orf.at

"Grundlegende Fragen nach der menschlichen Natur anhand von musikalischen Werken beispielhaft zu beantworten" - so das geballte Vorhaben einer aktuell laufenden, dreiteiligen Festivalreihe im HKW. Teil eins fragte nach unmenschlicher Musik - Musik also, die nicht von Menschen gemacht wird. Im Kontrast steigt der zweite Teil nun in die tiefste aller menschlichen Substanzen ein: das Böse. "Gewalt, Tod und Teufel" lauten die bedeutungsschwangeren Schlagworte, denen hier nachgegangen wird. Alle Pop-Romantik darf sich also hinter ihren eigenen Schatten verkriechen, wenn Francesco Sbano über die Musica Della Mafia referiert, das Duo Eblis Alvarez und Pedro Ojeda die dunkle Seite kolumbianischer Musik erkundet oder Kode9 und Anke Eckhardt sich über Schall als Waffe und Musik als Kriegsführung Stichwort "sonic warfare" - unterhalten. Gefolgt von einem Marsch-Konzert des Bundespolizeiorchesters, wie auch immer die Kuratoren Holger Schulze (Professor für Sound-Studies an der HU) und Detlef Diederichsen (Musikalischer Leiter des HKW) das zu Stande gebracht haben. Bei aller Fülle an Konzerten, Performances, Installationen, Filmen und Gesprächen zwischen Death Metal, Dark Step und Gangster Rap, hilft ein Blick auf die Seite: www.hkw.de

Seit neun Jahren bietet das Elevate ein avanciertes Diskurs- und Musikprogramm – großteils sogar bei freiem Eintritt. Diskurstechnisch hat man es dieses Mal auf das "Offen" abgesehen. Unter dem Themenfeld "Elevate Open Everything?" werden Offshore-Leaks, Digi-Affären um die Bespitzelung unbescholtener BürgerInnen und die Ambivalenz neuer Technologien produktiv gemacht: Von Transparenz von Geldflüssen und Machtverhältnissen, neue Möglichkeiten der Demokratie, Totalüberwachung bis zum 3D-Drucker. Beim Elevate gilt: "Open" ist kein Wert an sich. Und Musik? Geht ab. Neben Brian-Eno-Kollaborateur Jon Hopkins bietet das Programm viel Abwegiges, Irres und Schönes - genau wie wir es mögen: Bibio DJ-Set, Ritornell & Mimu, Daedelus, Felix Kubin & James Pants, Dorian Concept und ganz viele andere fantastische Acts. Besonders freuen wir uns aber auf das L.I.E.S. RecordsShowcase mit Ron Morelli, Xosar und Delroy Edwards. Und "Magic Mountain High", die Live-Kollaboration von Move D und Juju & Jordash, die live komplett ohne die Unterstützung von Computern auskommt. elevate.at

Das Swingfest von Denovali hat sich in den vergangenen Jahren zu einer festen Institution des Musikfestival-Zirkus gemausert, nicht nur im Ruhrgebiet. Mittlerweile gehören auch Berlin und London zu den festen Standorten der umfangreichen LabelShow: 2014 sind die nächsten Termine. In der Ursuppe Essens öffnen sich die Tore jedoch schon Anfang Oktober wieder. Die sechste Ausgabe des Festivals glänzt wie nicht anders zu erwarten mit einem vorbildlich kuratierten Lineup, das zwischen laut und leise, Solo und Band, elektronisch und akustisch (oder eben dazwischen) nicht einfach nur Musiker um Musikerin über die Bühne schiebt, sondern auf das große Ganze achtet. Auf Flow, Konsistenz und Diversität. Highlights 2013: Biosphere, Nils Frahm, Deaf Center, Emika, AUN und Piano Interrupted. Letzterer (hinter dem Projekt steckt Franz Kirmann) eröffnet das Festival sogar. Am Donnerstag, den 3. Oktober, bei einer, wie es die Veranstalter nennen “Post Classic Piano Vorabendveranstaltung”. Für 90 Euro kann man sich alle Konzerte anschauen, Tagespass kostet 30 Euro. denovali.com/swingfest

81

dbg176_80_81_praesis.indd 81

22.09.13 18:39


text & illu harthorst.de

176 — Für ein besseres Morgen

Der Letzte macht das Gesicht aus Neulich bei den Jammerlappen auf der Insel der Seligen: Niemand will mit 3D-Brille auf dem Coach sitzen, lernende Maschinen berechnen, was als Nächstes geschieht, und der Letzte macht das Gesicht aus. Anschließend marschieren die Nahdransider der Urban Assholery durch die angenagtesten sinnlichen Erlebniswelten und haben schon wieder keine Hand frei: Verysmartphone links, Drinkability geproofte Dose rechts. Idiotenbrille auf der Nase, Trendsausen im Ohr, Raubtierkopie an der Leine - letzter Schrei: das Olinguito, zu Deutsch: AndenMakibär. Sieht aus wie eine Mischung aus Katze und Teddy, gerade erst in den kolumbianischen Nebelwäldern entdeckt, nachtaktiv, riecht streng, frisst Shorts oder irgendwelches, bestimmt total angenagtes Hassgemüse, sogar die für ihre Gnadenlosigkeit berüchtigten BrokoliBrigaden machen sich nass, wenn der Anden-Makibär nächtens durch den Nebelwald pirscht - So viel aber nur mal kurz nebenbei, sozusagen zwischendurch, bevor es - nun aber husch! - auf einen Sprung in den Zwischendurchladen geht, natürlich für ein ZwischendurchUpdate, Clownhoden zum Downloaden, ihr wisst schon. Hauptsache jetzt schnell den Noppenstecker ins Verysmartphone stöpseln - oder auch nicht, weil: Noppenstecker? Schon wieder nicht dran gedacht, das Teil anzustecken, da hat der Vorausschauassistent aber voll gepennt, da dampft die Kacke mit Haaren zu Berge und Herzrasen - Das Leben der angenagten Lifestyle-Hisbollah auf der Überholspur ist aber auch die reine Hetze, Brennpunkt-Event-Hopping ohne Punkt und Komma sozusagen: Morgens Hechtsuppe, Mittags Hechtsuppe, Abends Hechtsuppe - alter Falter! Und Erholung im Schlaflabor suchen: Pustekuchen! Denn die Schlafforscher (Geh mir nicht auf den Wecker!) schlagen Alarm: Sleep Texting!

Von wegen Schlafwandeln war gestern, denn heutzutage wird es immer schwieriger, zwischen wach und munter zu unterscheiden, also werden auch Nachts dauernd SMS geschrieben und dann kein tiefer Schlaf mehr gefunden, was die für die Leistungsfähigkeit des Gehirns so wichtige REM-Phase schwer beeinträchtigt, weil in der REM-Phase werden die bei der Myelin-Herstellung beteiligten Hirnzellen produziert und Myelin: ganz wichtig! Weil: das Zeug die Hirnzellen ummantelt und dadurch elektrisch isoliert, weshalb ohne Myelin im Oberstübchen Kurzschluss droht, Verkopfungsschmerzen in der Durchdenkmaschine sozusagen. Autschi? Auftritt Hirnforscher (Ohne Belohnung läuft gar nichts!) mit Politmagazinmoderatorinnenmimik: Oben runzelbereite Stirn - Die Lage ist bedenklich! - unten schmal gekniffene aber lächelbereite Lippen - Aber keine Panik, wir sind ja Experten! Jedenfalls haben die Hirnforscher (unser Gehirn führt ein Doppelleben!) gerade einen 3D-Atlas des menschlichen Gehirns erstellt: Big Brain! Damit soll dann die Struktur in der Großhirnrinde aufgeklärt werden, Nervenverbindungsmuster und so weiter, jedenfalls ein echtes Problemlöserprodukt so ein 3D-Atlas, Pornodeutsch ausgedrückt sozusagen. Wozu man vielleicht noch wissen sollte, dass das Teil scheibchenweise entstanden ist, die Hirnforscher (Wie Bitte?) haben nämlich als Vorlage das Gehirn einer 65-Jährigen in exakt 7.400 Scheiben von nur 20 Mikrometer Dicke geschnitten, wozu ein spezielles Gerät namens Mikrotom zum Einsatz kam, mit dem man wirklich wirklich dünne Scheiben schneiden kann. Für ein besseres Morgen: der Identitygang die Echtzeiterlaubnis entziehen, mal wieder oberawesomehausinger Mitgemeintwerden und immer daran denken: auch Hirnforscher sind nur angepasste Hosenscheißer.

82

dbg176_82_abt.indd 82

20.09.13 12:29


Carhartt Radio App

www.carhartt-wip.com Photos by Alexander Basile

db_mstr_anzeigen_2010.indd 2

19.09.13 17:08


FA�TORY FLO�R BEI DAS NEUE ALBUM „FACTORY FLOOR“ STREAMEN UND MILLIONEN VON SONGS, TÄGLICH NEUE MUSIKEMPFEHLUNGEN UND PLAYLISTEN ENTDECKEN.

Scanne den Code oder surfe direkt zu

www.wimp.de

JETZT GRATIS TESTEN!

Streamen mit dem Testsieger ++ Bester Sound ++ Für alle Endgeräte ++ Alle Genres ++ Tägliche Musiktipps ++ 100% legal & werbefrei db_mstr_anzeigen_2010.indd 2

19.09.13 17:08


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.