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DAS ROLL-MODEL
DAS ROLLMODEL
Vor zehn Jahren war MARINA CORREIA, 24, eine schüchterne Migrantin in Nizza: mit dunkler Hautfarbe und brüchigem Französisch. Dann entdeckte sie das Longboard. Heute ist sie Weltmeisterin im Longboard Dance. Und rollt über Vorurteile einfach drüber.
Text MARIE-MAXIME DRICOT Fotos LITTLE SHAO
ROLLBAHN NIZZA
Marina auf ihrem liebsten Spielplatz an den Stränden von Nizza – hier zwischen der Promenade des Anglais und dem Hafen, am sogenannten Hashtag-Platz
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arina Correia war siebzehn, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Longboard sah. Sie weiß noch genau, was sie dachte: „Das ist ja superlang, viel länger als ein Skateboard. Wofür ist das denn gut?“ Die Länge diene einfach dem schnelleren und stabileren Fahren, sagte man ihr. Sie erinnert sich auch noch, dass sie dachte, das ist ja nicht normal, dass man mit so einem Ding einfach nur herumfährt.
Seither hat sie die Faszination für das Sportgerät nicht mehr verlassen. In ihrer südfranzösischen Heimatstadt Nizza begann sie zu üben, an der berühmten Promenade des Anglais, entlang der Opéra Plage, des ältesten Strands der Stadt. Jeden Tag, das ganze Jahr über seit 2015, stundenlang, und die Polizisten waren so freundlich, ein Auge zuzudrücken.
Heute, sieben Jahre später, ist Marina Weltmeisterin. Sie gewann den Titel 2020 in der Disziplin „Freestyle Longboard Dancing“, als erste schwarze Frau überhaupt. Der Wettbewerb wurde online abgehalten, gegen tausende Konkurrentinnen, die sich zunächst via Instagram bewarben. Die von einer Jury ausgewählten Finalteilnehmerinnen mussten dann noch ein Video nachliefern: mit einer „Line“, einer Kür ihrer Kunst mit einer Abfolge von Figuren, Tanzschritten und Tricks über eine Minute. Dreimal fragte die Jury bei Correia nach: ob sie nicht vielleicht die Videogeschwindigkeit verändert habe? „Ich musste ihnen erklären, dass ich einfach nur sehr schnell gefahren bin“, erzählt die Weltmeisterin heute lachend.
Weltmeisterin Marina Correia über das Verhältnis zu ihrem Sportgerät
Achtung, Suchtgefahr!
Beim Freestyle Longboard Dancing geht es um spielerische Tanzschritte auf dem Board, möglichst elegante und flüssige Fortbewegung; mit ein paar Tricks – Wheelies, Big Spins, Hippie Jumps etc. – zwischendurch, aber nicht zu vielen. Longboard Dancing entwickelte sich ursprünglich aus dem Surfsport und hat durchaus das Zeug dazu, Menschen, die darauf reinkippen, süchtig zu machen.
Für Marina Correia war es das perfekte Werkzeug, um sich daran aufzurichten. Mit vierzehn war sie mit Mutter und Schwester von den Kapverdischen Inseln gekommen. Die liegen bekanntlich im Atlantik, 570 Kilometer vor Westafrika. Damals hatte sie nicht unbedingt ermutigende Voraussetzungen: „Ich war aufgrund der kulturellen Unterschiede und der Sprache ein bisschen verloren“, sagt sie heute. Was eine sehr höfliche Umschreibung der wahren Verhältnisse ist. Denn das Mädchen mit brasilianischen und kapverdischen Wurzeln hatte eine andere Hautfarbe als die Mehrheit, sie trug einen Afro und sprach nur wenig Französisch mit einem schrecklichen Akzent. Darüber hinaus machte ihr, der Inselbewohnerin, der Trubel des Stadtlebens von Nizza zu schaffen. „Als ich hier ankam“, erzählt sie, „hatte ich null Selbstbewusstsein. Ich konnte spüren, wie man mich ansah, wegen meiner Hautfarbe und meiner Haare.“
Anfangs verhielt sie sich in der Schule sehr schweigsam, aus Angst, ausgelacht zu werden – eine Erfahrung, die sie im Grunde bis heute prägt. Kontakt zu anderen suchte sie im Sport. Zuerst mit Fuß-
„Ich hatte null Selbstvertrauen. Dann rollte ich los.“
HOCH HINAUS
Marina Correia zeigt uns einen Hippie Jump. „Es ist mir egal, ob ich mir blaue Flecken hole, solange ich Spaß habe“, sagt sie.
ball (wo man sie wegen ihrer dürftigen Französischkenntnisse ablehnte), in der Folge beim Taekwondo. Dann erst kam das Brett, das ihr nun die Welt bedeutet. „Es war“, erinnert sie sich, „das erste Ding, das mich zum Lächeln brachte, das mir Freude schenkte. Damit fühle ich mich frei.“ Und sie fügt hinzu: „Alles, was ich will, ist, weiter zu lernen und noch besser zu werden.“
Und offensichtlich kam zu diesem Willen auch noch Talent, denn nur ein Jahr nachdem Marina zum ersten Mal auf einem Longboard gestanden war, bekam sie bereits einen Sponsorvertrag von der kalifornischen Marke Sector 9, einem der bekanntesten Hersteller der Szene. Hatte sie es doch geschafft, einen ganz eigenen Fahrstil zu entwickeln. Sie selbst bezeichnet ihn mit einer Mischung aus gesundem Selbstbewusstsein und Stolz als „einzigartig“: unisex, wild, schnell und elegant. „Ich brauche von niemandem Bestätigung und versuche auch nicht, irgendjemanden zu beeindrucken“, beschreibt sie ihren persönlichen Zugang zum Sport. „Ich skate für mich selbst. Mein Stil ist wild, ich mag das Risiko. Es ist mir egal, ob ich mir blaue Flecken oder einen gebrochenen Finger hole, solange ich Spaß habe. Für mich liegt die Freude in der Herausforderung.“
Geteiltes Glück verdoppelt sich
Mit dem schüchternen Mädchen, das sie vor zehn Jahren war, hat die humorvolle und selbstbewusste junge Frau von heute so gut wie nichts mehr gemeinsam. Jetzt will sie das Glück, das ihr zuteilwurde, an andere weitergeben. Seit einiger Zeit gibt die Sprachstudentin (Englisch, Portugiesisch, Spanisch) an der Promenade des Anglais Unterricht im Longboard Dancing, ihre Schüler sind zwischen ganz jung und spät berufen. Eines jedoch eint alle, sagt Marina Correia: „Sobald sie ein wenig Vertrauen in das Board und ihre Fähigkeiten haben, läuft alles wie geschmiert, das ist faszinierend.“ Extra erwähnt sie Louise, eine Achtjährige voller Tatendrang. „Wenn die so weitermacht“, sagt die Weltmeisterin, „ist sie in ein paar Jahren besser als ich.“
Demnächst will sie einmal auf die Kapverdischen Inseln fahren, ihre ehemalige Heimat, und den Menschen dort ihren Lieblingssport näherbringen. Sie möchte ein Vorbild für junge Menschen sein, ein Role-, pardon, Roll-Model für junge, vielleicht farbige Menschen, die erst nach ihrem Weg im Leben suchen. Ein Vorbild, das sie selbst niemals hatte.
Aus diesem Grund hat sie 2017 auch eine Art „girls skate out“-Initiative ins Leben gerufen, weil sie der Ansicht ist, dass Frauen in der Szene noch immer unterrepräsentiert sind. Und auch deshalb, weil ihr das bisher vorherrschende Frauenbild in der Skaterszene gegen den Strich geht. „Viel zu lang war es von sexualisierten weißen Schönheiten geprägt“, sagt sie. „Das will ich ändern.“
Marina Correia hat gelernt, zu sich zu stehen – egal was andere denken. Das ist, was sie betrifft, bestimmt keine leichte Übung. Sie ist, wie sie selbst sagt: schwarz, lesbisch, stark und verletzlich zugleich. Und sie ist gehört zu den besten Longboard-Dancern der Welt. Nach dem WM-Titel 2020 wurde sie 2021 Vizeweltmeisterin, hinter Landsfrau Antonine Champetier.
Zu ihrem Longboard hat sie inzwischen eine ganz eigene Beziehung: „Ich habe mein Board immer als ein menschliches Wesen gesehen“, erklärt sie. „Das klingt vielleicht verrückt, aber ich hänge eben sehr daran.“
Und so kriegt Probleme, wer immer sich ihm unangemessen nähert. „Das ist nicht einfach nur ein Gegenstand, es ist ein Teil von mir. Wenn du das unerlaubt angreifst, ist es, als würdest du meine Intimzone verletzen. Wenn du mein Board berührst, bist du tot!“
Und irgendwie klingt das nicht nach einer leeren Drohung.