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Interview mit Nico Helminger über seine Literatur
Labyrinthische Rachenabschnitte
Seine Experimentierlaune ist ungebrochen. Nico Helminger hat einen Sonett-Band und das Buch „Von der schönen Erde“ veröffentlicht. revue sprach mit dem Schriftsteller unter anderem über Sprachwahl und Sprachspielereien.
Wir haben uns im Casablanca in der Escher rue d‘Alzette verabredet. Nico Helminger wartet schon auf mich und liest in Samuel Hamens Buch „Quallen“ aus der Reihe Naturkunden. Gleich sind wir in medias res.
Herr Helminger, Sie haben jüngst in kurzer Zeit zwei Bücher veröffentlicht: ein schmales Gedichtbändchen namens „Saumes Kinoplakat“ sowie „Fragmente und Skizzen“ unter dem Pseudonym Tomas Bjørnstad mit dem Titel „Von der schönen Erde“. Stehen die beiden Bücher in Bezug zueinander?
Ja, aber nicht direkt. Das sind zwei ganz unterschiedliche Bücher. Aber was sie miteinander verbindet, ist die künstliche Intelligenz. Sie spielt in dem Bjørnstad-Buch eine
Rolle und wird noch in anderen Büchern der Reihe vorkommen. Und sie ist der
Ausgangspunkt des Gedichtbandes. Denn die darin enthaltenen Sonette in der Tradition von Petrarca und Shakespeare sind im
Computer mit einem Algorithmus erarbeitet worden. Ich war dabei nur eine Art Kurator, der die Gedichte zusammengestellt hat, ausgehend von insgesamt Zehntausenden von Zeilen. Es handelt sich um Anagramme und eine Auseinandersetzung mit der Künstlichen Intelligenz.
Was war der Ausgangspunkt?
Ich habe Ihnen etwas mitgebracht (er holt ein paar Karten mit Fotos). Claude Conter, der Direktor der Nationalbibliothek, hatte diese Ausstellung des Fotografen
Marc Theis, der Fotos vom Kirchberg gemacht hatte.
Conter hat ein paar Dichter aus Luxemburg gebeten, sich jeweils ein Foto auszusuchen und einen Text dazu zu schreiben. (Er zeigt eines der Bilder) Das ist ein
Foto des RTL-Gebäudes, sehr abstrakt. Es könnte auch ein künstliches, mit dem Computer erstelltes Gebilde sein. Dann dachte ich mir, dass das genau das Thema sei, zu dem ich schreiben möchte. So schrieb ich das Gedicht „Rachenabstrich posthumaner Gebilde”. Was wir auf dem Foto sehen, ist wirklich ein posthumanes Gebilde. Ich habe davon einen – literarischen – Rachenabstrich gemacht. Die Texte sind alles Anagramme. In jeder Zeile stehen die gleichen Buchstaben, nur in einer anderen Reihenfolge. Zum Teil sind daraus absurde Texte entstanden,
Der Grund aber auch Lautgedichte. Zugleich ist es eine Hommage an die Dichtung, von der für die Wahl Renaissance über Dada bis zu zeitgenössischen Experimenten, gemischt mit theoreder Sprache tischen Überlegungen.
findet sich Einige der Gedichte lassen sich fließend lesen und haben einen gewissen während des Rhythmus. Experimentieren Sie gerne mit der Sprache?
Schreibens. Ich habe schon früh damit angefangen. Bereits im Gymnasium (Lycée des Garçons in Esch, Anm. d. Red.), und zwar in verschiedenen Sprachen, weil ich mich nicht entscheiden konnte. Mit 16 verfasste ich ein Theaterstück auf Luxemburgisch, das dann von Schülern aufgeführt wurde. Zugleich schrieb ich für eine Schülerzeitung auf Deutsch. Die ersten Gedichte von mir erschienen auf Französisch, editiert von der Société des Ecrivains Luxembourgeois de Langue Française, die es heute nicht mehr gibt. Und ich habe englische Lieder geschrieben. Ich habe alles ausprobiert. Das Luxemburgische war für uns damals jungen Leute, die sich mit Kunst und Literatur beschäftigten, die Alltagssprache, in der wir miteinander sprachen und uns mit unseren Eltern stritten. Wenn ich eine andere Sprache auswählte, war es zuerst das Englische, das anders war als das gestelzte Französisch, die Sprache der Bourgeoisie.
Sie haben also früh damit angefangen, Luxemburgisch zu schreiben.
Ja, vor allem die Theaterstücke schrieb ich auf Luxemburgisch. Weil es die gesprochene Sprache ist. Ich schrieb aber auch Prosa auf Luxemburgisch, als Erstes eine Erzählung, die später, im Jahr 1979 erschien. In der MOLReihe von Cornel Meder, der viel für die luxemburgische Literatur getan hat.
Die „Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge“ haben Sie auf Luxemburgisch geschrieben, die beiden aktuellen Bücher auf Deutsch. Was war der Grund?
Für mich war klar, den Bjørnstad auf Deutsch zu schreiben. Das wird auch so bleiben. Helminger hingegen hat bisher mehr auf Luxemburgisch als auf Deutsch veröffentlicht. Von daher gab es nicht viel zu überlegen. Interessant ist aber die Frage, wieso ein Werk in welcher Zeit in welcher Sprache entsteht. Wenn ich für ein deutsches Theater ein Libretto verfasse, ist es doch selbstverständlich, dass ich es auf Deutsch schreibe. Meistens weiß ich nicht, wieso ich den Text in einer bestimmten Sprache anfange. Ich lege einfach los. In über 90 Prozent der Fälle habe ich auch die richtige Wahl getroffen. Der Grund für die Wahl der Sprache findet sich dann während des Schreibens.
Wie war das, als sie Ende der 90er Jahre aus Paris nach Luxemburg zurückkamen?
Ich entdeckte das Land neu, vor allem den Luxemburger Süden, dessen veränderte Industrielandschaft ich in verschiedenen Formen beschrieb. Es gibt zum Beispiel ein Theaterstück mit dem Titel „Schwarzloch“, das ich auf Deutsch schrieb. Das Stück hatte dadurch eine bestimmte Distanz erhalten, was auch die Kritik so sah. Brecht hätte es vielleicht „Verfremdung“ genannt. Wäre es auf Luxemburgisch entstanden, wäre es vielleicht zu naturalistisch geworden.
Nico Helminger
Der 1953 in Differdingen geborene Schriftsteller ging in Esch/Alzette zur Schule und studierte nach dem Abitur 1972 Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft in Luxemburg, Saarbrücken, Wien und Berlin. 1980 zog er nach Paris, wo er hauptsächlich als Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte arbeitete. 1999 kehrte er nach Luxemburg zurück, wo er als freier Schriftsteller in Esch lebt. Er wurde u.a. mit dem Prix Batty Weber für sein Gesamtwerk ausgezeichnet und erhielt zweimal den Prix Servais (2014 und 2018). Er ist der ältere Bruder von Guy Helminger (Jahrgang 1963).
Die beiden neuesten Bücher von Nico Helminger sind dieses Jahr in der Éditions Guy Binsfeld erschienen: Tomas Bjørnstad: Von der schönen Erde, 456 S., 26 Euro. Nico Helminger: Saumes Kinoplakar. 155 S., 16 Euro.
Die Wahl der Sprache hatte demnach einen bestimmten Einfluss auf den Inhalt?
Es ist ein Zweipersonenstück über ein Paar. Der Mann geht in Rente. Sie blicken auf die vergangenen 30 Jahre zurück, die sie im Süden Luxemburgs, in der sich die Gesellschaft veränderte, verbracht haben. Durch die Sprachwahl ist das Stück ein anderes. Ich habe sehr früh festgestellt, auch anhand meiner verschiedenen Heteronyme, dass ich anders schreibe, wenn ich auf Deutsch oder auf Luxemburgisch schreibe.
Fiel Ihnen die Rückkehr schwer oder leicht?
Ich brauchte eine Weile um anzukommen. Ich hatte Luxemburg gleich nach dem Abitur verlassen. Zwar kam ich immer wieder zurück, aber es ist etwas anderes, ob man drei Tage hier ist oder fest hier wohnt. Es war jedenfalls ein fröhliches Wiederentdecken. Ich ging sehr viel zu Fuß. Etwa von Differdingen bis Esch oder von Esch nach Düdelingen.
Sie sind freier Schriftsteller. Im Alter von nunmehr 69 Jahren dürften Sie kaum unter Druck stehen, etwas abzuliefern, oder?
Ich fühle mich auch nicht unter Druck. Ich schreibe lieber, wenn ich frei bin. Mein Bruder hingegen schreibt sehr gerne unter Druck. Wir haben viele gemeinsame Punkte, aber darin unterscheiden wir uns. Außerdem arbeite ich immer gleichzeitig an mehreren Texten. Wenn ich mit einem nicht weiterkomme, dann wechsle ich zum anderen. Er wiederum muss immer etwas abschließen. Wenn ich Schwierigkeiten habe, etwas zu Ende zu bringen, mache ich halt etwas anderes.
Woher haben Sie die Idee mit den Heteronymen? Ich muss dabei an Fernando Pessoa denken.
Das geht weit zurück. Als ich den Malkowitsch schrieb, kam ich mit Marc Binsfeld ins Gespräch. Er fand die Idee interessant und fing auch an, die BjørnstadBücher zu publizieren. Ich sehe mich, was die Heteronyme angeht, aber ohne mich mit ihm vergleichen zu wollen, in der Tradition mit Pessoa. Schon vorher benutzte ich sehr unterschiedliche und auch widersprüchliche Autorennamen. Dies ist der erste, bei dem es auch wirklich bekannt ist, dass ich es bin. Dabei ist Bjørnstad viel jünger als ich. Er ist 1984 in Trondheim geboren. Ich habe ihm eine eigene Biografie erarbeitet. Seine ersten Bücher sind autobiografisch. Damit hat er sich als Autor etabliert. „Von der schönen Erde“ ist aber anders. Es kommt zum Urknall. Insgesamt gibt es acht verschiedene Erzähler.
Sie ermöglichen dem Leser verschiedene Lesarten, indem sie unterschiedliche Reihenfolgen der Kapitel anbieten. Nach jedem Kapitel steht die Nummer des danach zu lesenden Kapitels. Außerdem wird zwischen einer schwarzen Lesart, die bei Kapitel 66 beginnt, und einer weißen unterschieden, die mit Kapitel 8 ½ beginnt und durch das Labyrinth des Romans führt.
Es ist kein Roman, aber man kann sich vielleicht einen Roman oder verschiedene Geschichten erlesen. Man muss seine Lesegewohnheiten bei Seite legen. Die angegebenen Reihenfolgen sind aber nur Vorschläge. Man muss es nicht so lesen.
auch Humor genauso wie Momente, die nachdenklich stimmen. War es so geplant, dass Sie Ihre Identität als Autor preisgeben?
Es war geplant, dass ich es irgendwann mal preisgeben würde. Aber dann kam diese Sache mit der Frankfurter Buchmesse 2019. Damals war Norwegen Gastland. Die Norweger hatten auf welchem Weg auch immer den Namen Tomas Bjørnstad gefunden. Sie riefen bei Binsfeld an und fragten, ob sie seine Bücher bei der Buchmesse ausstellen dürften. So kam es dazu, dass meine Bjørnstad-Bücher „Fjorde“ und „Die Tanzenden“, wie es der Zufall wollte, direkt neben dem neuen Buch des norwegischen Autors Ketil Bjørnstad standen. Ich hatte damals noch Interviews auf der Messe und verließ Frankfurt freitags, als ein Mann und eine Frau zum Luxemburger Stand kamen. Der Mann stellte sich Marc Binsfeld als Ketil Bjørnstad vor und fragte nach Tomas, dem Sohn seines Bruders. Dieser war seit über einem Jahr untergetaucht und galt als vermisst. Marc Binsfeld sagte ihm, dass es sich bei unserem Tomas Bjørnstad um ein Heteronym handelte. Ketil Bjørnstad antwortete, dass aber der, der das geschrieben hatte, also ich, den echten Tomas Bjørnstad gekannt haben muss. Er sagte, dass in dem Buch und in der Romanperson vieles von seinem Neffen stecke. Zu dem fiktiven Tomas Bjørnstad war also ein real existierender Tomas Bjørnstad hinzugekommen – oder war aus ihm geworden. Ketil gab Marc Binsfeld seine Adresse. Wir korrespondierten eine Weile. Mir war nicht sehr wohl. Aber wir klärten die Sache. Dieses Ineinandergreifen von Fiktion und Wirklichkeit hat mich, obwohl ich mich ja schon viel mit dem Thema beschäftigt hatte, dann doch sehr beeindruckt.
Kam daraufhin der Entschluss, sich als Bjørnstad zu outen?
Zuerst beschlossen Marc und ich, die Reihe fortzusetzen und beim Erscheinen des neuen Buches das Geheimnis um das Heteronym zu lüften.
Das Experimentieren mit den Kapiteln findet man schon bei Julio Cortázar und seinem Meisterwerk „Rayuela“, nach dem spanischen Namen des Kinderspiels „Himmel und Hölle“.
Eine Spielerei ist es auch bei mir. So kommt immer wieder die Zahl 64 vor. So viele Felder hat ein Schachbrett.
„Ich stehe inmitten eines gesellschaftlichen Scherbenhaufens“, heißt es sogar auf dem Schutzumschlag. Das Buch ist in der Tat gesellschaftskritisch.
Ja, es ist auch mit viel Witz und Ironie gemacht. Ausgangspunkt sind die Suizide bei der Consultingfirma Gus Clinton. Das ist ein wenig ein Vorwand für das Ganze, aber auch Realität und Auslöser für Bjørnstads Überlegungen. Da sind Leute, die sich in ihrem Arbeitsalltag umbringen. So wie die Arbeit in der Consultingfirma beschrieben wird, ist es eine Kritik an der Leistungsgesellschaft. Meine Entscheidung war es nicht, einen klassischen Roman zu schreiben. Der Grund für das Experimentieren und Spielen mit der Sprache ist zugleich die Frage nach der Möglichkeit der Literatur. Es ist aber auch ein Buch über das Scheitern des Schreibens, was zwischen den Personen Tomas und Guy thematisiert wird. Tomas hat keine Lust mehr, sein Drehbuch weiterzuschreiben. Einerseits wird das Scheitern der Gesellschaft mit ihrem Konsumismus aufgezeigt, andererseits das des Künstlers und des Schriftstellers, der nicht mehr weiß, wie er mit dem Ganzen umgehen soll.
Schon in „Menn Malkowitsch“ spielt das Bruchstückhafte und Fragmentarische eine Rolle. Der Roman ist sowohl kritisch als auch satirisch gegenüber einer Gesellschaft, die von Konkurrenzdruck, Materialismus und Doppelmoral gekennzeichnet ist. Der Protagonist will ausbrechen und landet in einer Nervenklinik und dann in der Portiersloge einer Behörde.
Während „Von der schönen Erde“ eine Hommage an Cortázar ist, greift Malkowitsch weiter zurück. Ein Autor, den ich immer sehr mochte, ist Laurence Sterne (17131768, Anm. d. Red.). Sein Roman „Tristram Shandy“ ist der erste große Roman und auch schön völlig verrückt. Darin stecken viel Philosophie und Gesellschaftskritik. Und die Erzählstruktur wird auf den Kopf gestellt. Mich haben schon immer die Randgebiete der Literarischen Kunst interessiert.
Das Ende von „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ liegt vor seinem Anfang. Sternes Roman ist ein Formexperiment, ein moderner Roman. Das Massenkompatible scheint auch Sie wenig zu interessieren.
Wenn man mich fragt, habe ich keine Vorstellung davon. Ich sage nicht, dass ich für die und die Leute schreibe. Ich hoffe aber, dass es Leute gibt, die sich für das interessieren, was ich schreibe. Ich versuche, in dem, was ich an Literatur kenne, Sachen aufzugreifen und weiterzudenken in einer Fortschreibung des Geschriebenen etwas Eigenes zu machen. Wie sehr das gelesen wird… manchmal klappt es gut. „Menn Malkowitsch“ war ein Wagnis, das Binsfeld mit mir einging. Dass das Buch später den Servais-Preis gewonnen hat, hat dazu geführt, dass die Leute es kauften.
Ich habe es zum 50. Geburtstag geschenkt bekommen – von einem Guy.
Auch das noch. (lacht)
Sprechen Sie mit Ihrem Bruder Guy darüber, was Sie gerade schreiben?
Schon, aber wir lesen uns gegenseitig nicht vorher, immer nur nachher. Er hat sein Lektorat, ich meines. Wir sind uns sehr nahe und verstehen uns sehr gut.