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Kaffeeproduzent Joachim Munganga über Fairtrade und (Post-)Kolonialismus
Volles Haus beim Usina22 in Düdelingen
Prozent von sogenannten ‚no show’-Rate als in der Realität nicht voll ausgefüllt.” Das sei auch für die Künstler eine alles andere als zufriedenstellende Situation. Das Team vom „Atelier“ versuche konsequent gegenzusteuern „mit E-Mail-Remindern und Aufrufen in den sozialen Netzwerken”, allerdings sei das Unterfangen relativ schwierig und vor allem bei länger geplanten (und entsprechen oft verlegten) Konzerten scheint die „No show“-Rate höher ist als bei neu angekündigten Konzerten. Rockhal-Direktor Olivier Toth sieht allerdings noch einen weiteren Grund dafür, wieso Menschen nicht bei Konzerten auftauchen, wie er Mitte Juni in einem Interview mit dem Tageblatt verriet: „Menschen, die ihre Gewohnheiten geändert haben und verstärkt zu Hause bleiben. Die also etwas die Lust auf Konzerte verloren haben.” Und es gäbe auch noch die, die noch nicht bereit wären, wieder auf Konzerte zu gehen.
Der Sektor hat Long-Covid, wie es viele selbst aus der Branche sagen. Tatsächlich ist die Branche, wie bei einer Erkrankung, mit einigem an Nachwehen geplagt. Neben der „No show“-Rate und der schier unüberschaubaren Fülle an Konzerten, welche sich die Besucher quasi gegenseitig streitig machen, ist es mittlerweile nicht ganz so einfach an das Equipment zu kommen. Auch hier besteht eine Art „Materialknappheit“, wie Michel Welter bestätigt: „Es ist momentan schwierig, benötigtes Material anzumieten. Da aber aktuell sehr viel los ist und die hiesigen Firmen dementsprechend ausgelastet sind – die Nachfrage also weit über dem Angebot liegt – gehen die Preise durch die Decke und wir müssen teilweise Material von weit aus dem Ausland anmieten. So kommt zum Beispiel eine Bühne für eines unserer Konzerte jetzt aus Berlin nach Luxemburg.“
Das alles tut allerdings beim Angebot wenig Abbruch. Zum Beispiel läuft unter anderem aktuell – und noch bis zum Sonntag – das vom Trifolion organisierte Echterlive, wo morgen Abend etwa Max Giesinger auf der Bühne steht. Am zweiten Augustwochenende gibt es ebenfalls in Echternach das traditionelle E-LakeFestival (dieses Jahr in der 25. Auflage). Hier geben sich auf zwei Bühnen bekanntlich internationale und nationale Künstler die Klinke in die Hand. Am Start sind in diesem Jahr unter anderem die Antilopen Gang, de Läb, Mutiny on the Bounty, Paul Van Dyk oder auch noch die Orsons. Und wie gewohnt laden auch die Rotondes
bei den „Congés annulés“ zu einem musikalischen Sommer unter anderem mit Konzerten von Squid und Battles. Im September lädt das Atelier dann zu den „Pond Eclectic”-Konzerten im Park Kirchberg.
Wie es im Winter und im Herbst genau weiter gehen wird und ob Veranstaltungen und Konzerte weiterhin ganz ohne Einschränkungen möglich sind, bleibt natürlich zu hoffen, eine Garantie gibt es natürlich nicht und vieles hängt von der Entwicklung des Corona-Virus ab. In Sachen Planung geht man beim „Atelier“ eher vorsichtig an die kommenden Monate heran: „Ich bin zwar weder Mediziner noch Epidemiologie, doch mein Baugefühl sagt mir (und das irrt sich selten), dass wir wahrscheinlich auf die ein oder andere Art ausgebremst werden. Ein kompletter Lockdown scheint zwar nicht vorstellbar, aber Einschränkungen, wie Masken tragen oder 2-3G-Regeln scheinen mir durchaus denkbare Szenarien zu sein. Das sind allerdings alles Sachen, die sich nicht positiv auf das Geschäft ausdrücken, deshalb planen wir auch nicht blind in den Herbst hinein.”
Mein Baugefühl sagt mir, dass wir wahrscheinlich auf die ein oder andere Art ausgebremst werden.
Michel Welter, Geschäftsführer des „Atelier”
durch geänderte Verhaltensmuster der Kunden gebeutelte Veranstaltungsbranche gilt dies besonders. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass Konzerte und Veranstaltungen ohne Einschränkungen zur neuen – sprich alten – Gewohnheit werden.
Joachim Munganga
Aus der langen Nacht
Während afrikanische Produzenten mit Fairtrade-Partnerschaften den Weg aus der Ausbeutung beschreiten, sucht eine neue Generation postkolonialer Denker zukunftsweisende Lösungen für die Staaten und Gesellschaften Afrikas.
Kaffee als Lebenselixier – das gilt für Joachim Munganga in mehrfacher Hinsicht. „Der Kaffee ist unsere wirtschaftliche Grundlage”, sagt der Präsident der kongolesischen Kooperative „Société Paysanne pour la Promotion des Actions Café” (SOPACDI) in Kivu. Die Bürgerkriege der vergangenen Jahrzehnte haben in der Region im Osten der Demokratischen Republik Kongo nicht nur einmal die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstört. Flucht und Vertreibung gehörten zu ihrem Alltag. Eine Zeit lang musste der Kaffee über den Kivu-See nach Ruanda geschmuggelt werden. Das Risiko war groß, unter anderem weil Banden die Gegend unsicher machten – und der Preis für den Kaffee war niedrig. Nicht zuletzt deshalb hat Munganga die SOPACDI im Jahr 2003 gegründet.
„Wir hatten einige Anlaufschwierigkeiten, denn es war nicht einfach, Partner zu finden”, erzählt er. Heute ist seine Kooperative Partner von Fairtrade Luxemburg. Wir haben ihn im hauptstädtischen Nationalmuseum für Geschichte und Kunst getroffen, wo bis 6. November die Ausstellung „Luxemburgs koloniale Vergangenheit” zu sehen ist, die unter anderem Briefe, Fotografie und Kunstwerke sowie audiovisuelle Dokumente über die Luxemburger im Kongo zeigt. Mindestens 600 Personen aus dem Großherzogtum lebten gegen Ende des Kolonialreichs 1960 im Kongo.
Zu den Luxemburgern, die in die belgische Kolonie gegangen oder gar dorthin ausgewandert waren, zählte der Naturforscher Edouard Luja, der zur weltweiten Verbreitung des Robusta-Kaffees beigetragen hat, der vor allem im Tiefland angebaut wird. Fairtrade Luxemburg hat der Ausstellung zwei wichtige VideoTestimonials von zwei Männern aus der Demokratischen Republik Kongo überlassen. Eines davon ist von Albert Ngaboyeka Kayani, einem heute 79-jährige Mann, der schon als Kind auf der Kaffeeplantage arbeitete. Er wurde dazu gezwungen, einen Vertrag auf Lebenszeit zu unterschreiben. Außerdem hat die Nichtregierungsorganisation Joachim Munganga eingeladen. „Die Ausstellung hat mich überrascht”, sagt er. „Ich wusste nicht, dass Luxemburg in den belgischen Kolonialismus verstrickt war.” Er wusste aber von der Grausamkeit der Kolonialherren, die im kollektiven Gedächtnis der Kongolesen geblieben ist: „Sie schnitten
den Menschen die Hände ab oder begruben sie lebend, wenn sie nicht gefügig waren.” Das Kolonialregime des belgischen Königs Leopold II. galt als besonders grausam. Mungangas Eltern waren Plantagenarbeiter, er selbst wurde 1959 geboren, ein Jahr vor der Unabhängigkeit.
„Mein Vater hat mir viel erzählt. Wir wurden diskriminiert und schlecht behandelt aufgrund der ökonomischen Interessen der Kolonisatoren. Und wir wurden diskriminiert, weil wir Afrikaner sind. Sie setzten uns mit Affen gleich.” Der Rassismus war deutlich ausgeprägt in der Kolonialgesellschaft, weiß Munganga, dem seine Eltern es ermöglichten, die Schule zu besuchen. Später wurde er Krankenpfleger. „Ich hatte mit einigen Epidemien zu tun”, sagt der heute 62-Jährige. „Und ich habe viele Diktatoren erlebt: von Mobutu Sese Seko, der 32 Jahre lang brutal herrschte über Laurent-Désiré Kabila, der Mobutu stürzte, das Land aber erneut in einen Krieg führte, der wegen der Verwicklung mehrerer afrikanischer Staaten als ‚afrikanischer Weltkrieg‘ bezeichnet wurde, bis zu dessen Sohn Joseph Kabila.”
Die Kolonialzeit, die Bürgerkriege und die Diktaturen haben das zweitgrößte Land Afrikas geprägt. „Unsere Kinder wurden von den Milizen an den Waffen ausgebildet und zum Kriegsdienst gezwungen. Ihnen wurde die Zukunft geraubt”, sagt Munganga. „Heute wollen wir endlich einen Wandel. Wir wollen Frieden. Und wir wollen die Vergangenheit vergessen. Aber zugleich lehrt sie uns die Geschichte.” Es ist eine größtenteils blutige Geschichte, die die Kongolesen mit den Europäern und mit ihrer Einflussnahme in der postkolonialen Zeit wie ein roter Faden verbindet.
Trotz ihres Rohstoffreichtums zählt die Demokratische Republik Kongo aufgrund der jahrzehntelangen Kriege und Diktaturen noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt. Durch die Partnerschaft mit Fairtrade hat sich zumindest für die Kaffeeanbauer in der Kooperative einiges zum Besseren geändert. Die SOPACDI verfügt über zahlreiche Produzenten. Nach Mungangas Angaben zählt die Kooperative heute 13.246 Mitglieder, etwa 4.000 davon sind Frauen. „Sie müssen vieles leisten. Wir mussten die Männer erst sensibilisieren, damit die Frauen gleichberechtigt sind. Die nigerianische Schriftstellerin und feministische Aktivistin Molara Ogundipe-Leslie spricht von den „sechs Bergen auf den Rücken einer afrikanischen Frau“: vom (Neo-)Kolonialismus, von den repressiven Elementen der eigenen Tradition, von der Rückständigkeit, vom afrikanischen Mann, vom Rassismus und von einem internalisierten Minderwertigkeitsgefühl.
Derweil lobt Joachim Munganga das Fairtrade-System: „Es trägt zum friedlichen Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Gruppen in der Region bei. Mit der Kooperative geht das besser.” Zahlreiche Arbeitsplätze seien geschaffen worden. Mit Fairtrade haben die Kaffeeanbauer zudem einen „Kontakt nach draußen“, so Munganga, Beziehungen zum Westen seien aufgebaut, die nicht auf Ausbeutung beruhen. „Fairtrade hat uns einen Markt geschaffen, damit unsere Leute einen garantierten Mindestpreis erhalten. Die kleinen Produzenten werden geschützt.“ Der erste faire Kaffee wurde 2010 exportiert. Nicht zuletzt wurden Frauen – rund 4.000 Mitglieder von SOPACDI sind weiblich – stärker in verantwortliche Positionen im Management miteinbezogen. Ihnen wurde endlich eine Stimme gegeben. Allerdings weiß Munganga, dass es noch viel zu tun gibt. Vor allem im Bildungssystem: „Es gibt Schulen. Aber das kostet Geld, viele können sich das nicht leisten.“
Nicht nur der Kaffeeanbau oder das Kautschukgeschäft sei auf Ausbeutung aufgebaut worden, sagt Mungange. Man müsse auch über die Ausbeutung in den Minen reden und über die
Ein Kolonialverwalter aus Luxemburg in einem von kongolesischen Paddlern fortbewegten Boot. Das Bild ist in der Ausstellung „Luxemburgs koloniale Vergangenheit“ zu sehen (revue Nr. 16/2022).
Zwangsrekrutierung von Afrikanern im Zweiten Weltkrieg. Letztere wurden zwar „Freiwillige“ genannt, aber in Wirklichkeit sah es ganz anders aus, wie Kriegsveteranen berichteten – sie wurden dafür nie entschädigt. Selbst der Umstieg der Europäer von Verbrennungsmotoren auf Elektroautos verläuft zu Lasten kongolesischer Arbeitskräfte: Für die Herstellung von Batterien – für Smartphones und Tablets – wird Kobalt benötigt. Das wird im Kongo unter katastrophalen Bedingungen abgebaut. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlichte 2019 ein Interview mit einem Geowissenschaftler, der von seiner jahrelangen Erfahrung im Bergbau der DR Kongo unter anderem von Kinderarbeit berichtete: „Hier sterben Menschen für unsere Akkus.“
Zwar trat im vergangenen Jahr eine Verordnung der Europäischen Union über Konfliktmineralien in Kraft, die EUImporteuren sogenannter Konfliktmineralien – Zinn, Tantal, Wolfram und Gold – eine Sorgfalts- und Prüfpflicht entlang ihrer Lieferketten auferlegt. Aber diese Verordnung sei unzureichend, kritisiert Jean-Louis Zeien, Präsident von Fairtrade Lëtzebuerg. In der Tat erfasst sie nur Unternehmen, die Metalle importieren, abbauen oder schmelzen. Produzenten etwa aus der Auto- und Elektroindustrie werden damit nicht zur Verantwortung gezogen. „Was uns immer noch fehlt, ist ein effizientes europäisches Lieferkettengesetz“, sagt Zeien. Dies gilt auch für ein Gesetz auf nationaler Ebene. Der Luxemburger Fairtrade-Präsident brachte es kürzlich in einem Interview auf den Punkt: „Sklaverei und Ausbeutung sind nicht nur ein Teil der Geschichte. 16 Millionen Menschen arbeiten heute noch unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen und als Zwangsarbeiter. Ob auf Baumwollfeldern, Kaffee- und Kakaoplantagen oder in den Kobaltminen.“ Daher sei es wichtig, den Teufelskreis der globalisierten Wirtschaft zu unterbrechen.
Letzterer ist eine Fortsetzung des Circulus vitiosus aus Sklavenhandel, Kolonialismus und Rassismus, deren Folgen auch ein Angelpunkt des postkolonialen Diskurses ist und die „Afrikas dunkle Jahrhunderte“ prägten. Dieser Begriff geht auf den französischen Historiker und Afrika-Experten Raymond Mauny (19121994) zurück. Mehr und mehr rücken heute afrikanische Intellektuelle die präkoloniale Zeit in den Vordergrund. Dazu gehört der senegalesische Ökonom (und Musiker) Felwine Sarr. Der Autor des Buches „Afrotopia“ plädiert dafür, dass das heutige Afrika nicht einfach nur westliche Vorstellungen der Wirtschaft, der Politik und generell des Zusammenlebens übernimmt, sondern auf eigene Erfahrungen aus einem bis heute im Westen nur wenig erforschten Zeitraum zurückgreift.
Einige, wie der französische Historiker François-Xavier Fauvelle, sprechen von dem präkolonialen als dem „goldenen Zeitalter“ Afrikas: Gemeint sind jene acht Jahrhunderte von den nubischen Königreichen bis zum Jahr 1497, als die Kolonisation durch die Europäer begann. Mit der Wende des Mittelalters zur Neuzeit begann auch der transatlantische Handel mit afrikanischen Sklaven, zusammen mit der Ausbeutung von Mineralien sowie Kaffee-, Tabak-, Baumwoll- und Zuckerrohr, Teil eines weltumspannenden Kreislaufsystems. Für den aus Kamerun stammenden und heute in Südafrika lehrenden Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe stellte der Sklavenhandel und die Plantagenkultur das „Taufbecken“ der Moderne dar, in dem der Rassismus gedieh. In seinem Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“ erklärt er, dass das Rassekonzept eine nützliche Fiktion darstellt, um den Mythos von der angeblichen Überlegenheit der sogenannten weißen Rasse, der „white supremacy“, aufrechtzuerhalten.
Zwar beschloss die Berliner Konferenz von 1884/85, die sogenannte KongoKonferenz, das Verbot des Sklavenhandels, zugleich legitimierte sie die Besitzrechte der europäischen Regierungen an den eroberten Territorien. Europas Großmächte teilten sich die kolonisierten Gebiete untereinander auf. Nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Dekolonisation ein. Ihre Vordenker sind die aus den französischen Kolonien stammenden Intellektuellen wie Frantz Fanon (1925-1961), Léopold Sédar Senghor (1906-2001) und Aimé Césaire (1913-2008). Eine Lösung der Probleme des postkolonialen Afrikas boten auch ihre Konzepte von
Achille Mbembe
antikolonialer Gegengewalt über Négritude bis zur panafrikanischen Bewegung nicht. Die „bösen Geister“ von Imperialismus und Kolonialismus seien längst nicht passé, schreibt Mbembe in dem Essay „Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika“ (2010).
Aus der kolonialen Abhängigkeit gelangte ein Großteil der afrikanischen Länder in die Abhängigkeit der Entwicklungshilfe. Die aus Sambia stammende Wirtschaftswissenschaftlerin Dambisa Moyo kritisiert diese seit Jahren. Sie hält die Jahrzehntelange Entwicklungshilfe für verfehlt und sogar zerstörerisch. Die Armut auf dem afrikanischen Kontinent sei nicht trotz, sondern wegen der Hilfsgelder gestiegen. In ihrem Buch „Dead Aid“, mit dem sie 2009 weltweit Aufsehen erregte, zeigt Moyo Wege, wie Entwicklungsländer ihre Entwicklung selbst finanzieren können.
Das Bild von Afrika ist nach wie vor von der Kolonialzeit geprägt. Dabei haben heutige afrikanische Intellektuelle wie der kenianische Autor und Literaturwissenschaftler Ngugi wa Thiong’o, der in den 80er Jahren eine „Dekolonialisierung des Denkens“ und höhere kulturelle Wertschätzung Afrikas forderte sowie für die Bewahrung der einheimischen Sprachen stritt. Nicht ohne zuzugeben, dass die europäischen Sprachen wie Englisch und Französisch die innerafrikanische Kommunikation vereinfachten, beklagt Ng ˜ug ˜1 wa Thiong’o die erzwungene kulturelle Hegemonie der Europäer: „Die gefährlichste Waffe aber, die der Imperialismus besitzt (…), ist die Bombe der Kultur.“ Den gesamten postkolonialen Diskurs durchzieht das Paradox, dass selbst die postkolonialen afrikanischen Denker der kolonialen und imperialen „epistemischen Gewalt“ unterliegen, wie es Felwine Sarr nennt. Diese spiegele sich in den Strukturen der Bildungssysteme, den Formen der Produktionen und der Elitenformierung wider.
Sarr knüpft in „Afrotopia“ an vorkoloniale Formen an, angefangen bei den zwischenmenschlichen Tauschbeziehungen, denen Nachhaltigkeit, sondern auch Solidarität zugrunde liege. Er kritisiert die afrikanischen Staaten, die sich in „die Abhängigkeit kreditfinanzierter Großprojekte europäischer und chinesischer Entwicklungsmaßnahmen im Tausch gegen die Nutzung von Ressourcen“ begeben. Im Vordergrund sind dabei nicht die Bedürfnisse der Bevölkerung, sondern ökonomische Interessen. Sarr erkundete übrigens zusammen mit der französischen Kunsthistorikern Bénédicte Savoy im Auftrag von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Kriterien der Restitution kolonialer Kulturgüter französischer Museen an afrikanische Länder. Denn von den einstigen Kolonialherren fordert Sarr nicht nur die Aufarbeitung der diskriminierenden, rassistischen Sprache und Politik, sondern auch Wiedergutmachung und Reparationszahlungen.
Dambisa Moyo
Die Ideen von Mbembe und Sarr sind alles andere als rückwärtsgewandt. Grob zusammengefasst, ergeben sie eine Verschmelzung von präkolonialen afrikanischen Elementen mit der positiven Kraft der Modernisierung und des Universalismus. Gemeinsam mit anderen Intellektuellen und Künstlern haben sie in der senegalesischen Hauptstadt Dakar eine Dependance der „Atéliers de la pensée“ von Avignon gegründet. Ihnen geht es unter anderem um das „wer sind wir“ und um neue Formen der Staatsbürgerlichkeit. Sind die Menschen in Afrika jahrhundertelang nach eurozentrischen und. rassistischen Vorgaben herabgestuft, infantilisiert und entmenschlicht worden, hat man ihnen jede Kapazität zu einem eigenem konzeptionellen und systematischen Denken abgesprochen, haben die Nachfolger von Fanon und Césaire, Senghor, Nkrumah, Kaunda und Nyere mehrere postkoloniale Denkströmungen entwickelt, die Afrika einen hoffnungsvollen, weil konstruktiven Weg ins 21. Jahrhundert weisen.
Achille Mbembe etwa spricht sich für einen „kritischen Humanismus“ vor und plädiert für einen Universalismus, der auf der Diversität menschlichen Lebens basiert. Wie die Autoren der Négritude kritisiert er den eurozentristischen Humanismus, rechtfertigt aber auch den Humanismus als Grundlage der Kritik am Kolonialismus. Im. Postkolonialen Denken wird häufig von „Ubuntu“ gesprochen. Der aus dem südlichen Afrika stammende Begriff steht für Menschlichkeit, aber auch für Gemeinschaftlichkeit. Ubuntu wird oft als Idealbild einer präkolonialen Dorfgemeinschaft betrachtet, hat jedoch auch das Potenzial, einen postkolonialen afrikanischen Humanismus zu begründen.