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Der Direktor der „Santé“ Jean-Claude Schmit über die Entwicklung in Sachen Corona-Virus
In Sachen Corona dazugelernt
Vierte Welle, Herdenimmunität und Impfbereitschaft… Im Interview spricht der Direktor der „Santé“, Dr. Jean-Claude Schmit über die aktuellen Herausforderungen in Sachen CoronaPandemie und mögliche zukünftige Entwicklungen.
Letzte Woche wurden die gratis PCR-Tests abgeschafft. Fehlt der Gesundheitsbehörde dadurch nicht eine wichtige Informationsquelle in Bezug auf die Zirkulation des Virus innerhalb der Bevölkerung?
Wenn man sich anschaut, aus welchen Quellen aktuell die positiven Fälle stammen, sind die PCR-Tests nicht mehr so wichtig. Zum einen sind dies nämlich die ärztlichen Verschreibungen, wo Ärzte aufgrund von Symptomen einen Test angeordnet haben. Zum anderen sind es Menschen, die wir aufgrund des Contact Tracing zum Test bitten. Diese Quellen werden so unverändert weiter laufen wie bisher. Parallel dazu stellen wir fest, dass im Large-Scale-Testing aktuell sehr wenige Menschen positiv getestet werden.
Jetzt rücken also andere Kriterien verstärkt in den Vordergrund…
Unabhängig vom Wegfallen des Large-Scale-Testings sind aktuell schon Faktoren wie Krankenhausaufenthalte wichtiger als die Zahl der Neuinfektionen. Das haben wir übrigens schon in den letzten Wochen bemerkt, wo die Zahl der Neuinfektionen leicht angestiegen ist, die Krankenhausaufenthalte zwar auch, aber beileibe nicht mehr in demselben Ausmaß wie etwa im vergangenen Jahr. Hierin liegen der Hauptunterschied und auch die Erklärung, wieso die Lage in den Krankenhäusern aktuell eines der wichtigsten Kriterien ist.
Rechnen Sie in den nächsten Wochen und Monaten mit einer vierten Infektionswelle?
Die Zahlen hatten Anfang September leicht angezogen, haben sich dann Mitte des Monates stabilisiert. Was noch etwas Ungewissheit mit sich bringt, sind die Reiserückkehrer, die durchaus einen gewissen Einfluss auf die Zahl der Neuinfektionen haben können. Das war zumindest im vergangenen Jahr so. Außerdem ist aktuell schwer vorherzusehen, welche Entwicklung es geben wird, wenn die Menschen im Herbst und Winter sich wieder verstärkt in Innenräumen aufhalten werden. Es ist also durchaus möglich, dass es bei den Neuinfektionen zu einer vierten Welle kommt. Dann muss man sehen, wie sich diese in Bezug auf Krankenhausaufenthalte ausdrückt.
Im Herbst letzten Jahres wurde trotz Infektionswelle lange gewartet, bevor die Regierung strengere Maßnahmen ergriffen hat. Müsste man bei einer vierten Welle nicht schneller reagieren?
Die Ausgangslage ist diesmal eine andere, weil die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem ganz andere sein werden, vor allem weil die älteren und die besonders gefährdeten Menschen mehrheitlich geimpft sind. Das zeigt sich aktuell schon dadurch, dass es kaum noch Neuinfektionen in Alters- und Pflegeheimen gibt. Es kommt hinzu, dass wir mehr über die Infektion wissen als noch vor einem Jahr.
Letztes Jahr wurde versucht, progressive Schließungen vorzunehmen, nachdem der erste Lockdown mit sehr strengen Regeln verbunden war. Jetzt wissen wir auf jeden Fall besser, an welchen Schrauben man drehen muss, um eine Infektionslage in den Griff zu kriegen. Wir haben sicherlich etwas aus den letzten anderthalb Jahren CoronaPandemie gelernt.
Und das wäre?
Wir wissen mittlerweile, dass es vor allem die Situationen sind, in denen Menschen eng zusammen sind, welche ein Risiko mit sich bringen. Das haben wir auch festgestellt als es zu den letzten Lockerungen kam. Dort wo Menschen zusammenkommen, laut miteinander diskutieren, singen und feiern, ist das Risiko für eine Übertragung sehr hoch. Zudem ist klar, dass nach wie vor das familiäre Umfeld, wo eine Person den Rest der Familie ansteckt, eine Konstante für Neuinfektionen ist. Sollte wieder strenger reguliert werden müssen, müsste man sicherlich an diesen beiden Schrauben zuerst drehen. Natürlich ist uns nach wie vor bewusst, wie wichtig es ist, ältere und gefährdete Menschen vor einer Neuinfektion zu schützen. Mit einer dritten Impfung, welche im Raum steht, werden wir hier aber das Risiko minimieren können.
Dänemark hat am 10. September mit einer Impfquote von rund 83 Prozent alle CoronaMaßnahmen abgeschafft. Wird dies hierzulande – vorausgesetzt man erreicht eine ähnliche Quote – auch geschehen?
Das Entscheidende ist tatsächlich die Impfquote. Ein paar Prozent mehr machen da jede Menge aus. Allerdings sind wir sehr gespannt, wie sich die Lage jetzt in Dänemark entwickeln wird. Es bleibt abzuwarten, ob das Aufheben aller Maßnahmen gut geht. Luxemburg hat auf jeden Fall den Vorteil, dass wir auf die Erfahrungen aus Dänemark zurückgreifen können, auch wenn wir in einem Monat über die nächsten Covid-Regelungen für Luxemburg sprechen werden. Sollten wir bis dahin eine entsprechende Impfquote haben und sollte die dänische Erfahrung positiv verlaufen, könnte man durchaus über einen ähnlichen Weg für Luxemburg nachdenken.
Wie würden Sie einen Impfskeptiker überzeugen, sich doch für die Impfung zu entscheiden?
Hier muss man zwischen zwei Arten von Menschen unterscheiden, welche oft unter dem Schlagwort Impfskeptiker in einen Topf geworfen werden. Zum einen gibt es die richtigen Impfgegner, die einen sehr kleinen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen. Diesen Menschen kann man sagen, was man will, sie werden sich trotzdem nicht impfen lassen. Zum anderen gibt es die Menschen, die aufgrund von falschen oder fehlenden Informationen einer Impfung eher kritisch gegenüberstehen. Mit diesen Menschen kann man diskutieren, erklären und argumentieren. Immer vorausgesetzt, man weiß, wieso sie diese Skepsis haben. Es gibt zum Beispiel viele junge Frauen, die sich nicht impfen lassen wollen, weil sie noch Kinderwünsche haben und welche die Befürchtung hegen, dass die Impfung Auswirkungen auf ihre Fruchtbarkeit oder später auf die Kinder haben könnte. Mit diesen Frauen muss man dann genau über diese Angst sprechen. Mit Menschen, welche Angst vor den möglichen Nebenwirkungen haben, muss man wiederum schauen, wie diese begründet ist. Kurz gesagt: Man

Am 29. Februar 2020 geben Gesundheitsministerin Paulette Lenert und Dr. Jean-Claude Schmit bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz bekannt, dass es einen Covid-Fall in Luxemburg gibt.
muss die Zweifel und die Ängste der Menschen versuchen zu verstehen, offen mit ihnen sprechen und ihnen dann ehrlich erklären, was es mit der Impfung auf sich hat, um sie zu überzeugen.
Mit welcher Impfquote rechnen Sie hierzulande bis Ende des Jahres?

Es sind immerhin noch über drei Monate bis zum Jahresende, wir werden also sicherlich über 80 Prozent sein. Ich persönlich hoffe, dass wir über 85 Prozent wären. Das wäre in meinen Augen eine Art Idealszenario. Ob wir dies schaffen, kann ich ihnen im Moment nicht sagen. Wir sehen jetzt mit der Rückkehr aus den Ferien, dass eine ganze Reihe an Menschen gibt, welche sich jetzt für eine Impfung entscheiden.
Die 85 Prozent sind nötig, um die Herdenimmunität zu erreichen.
Ja, diese hängt natürlich vom Virus ab. Die aktuell dominante Delta-Variant ist aggressiver und verbreitet sich besser als vorherige Varianten. Deshalb ist aktuell eine höhere Impfquote notwendig, als ursprünglich angedacht.
Müssen, um diese Herdenimmunität zu erreichen, auch Kleinkinder geimpft werden?
Das habe ich persönlich noch nicht durchgerechnet, aber höchstwahrscheinlich muss man anfangen, auch die Kinder zu impfen. Eine Reihe an Firmen arbeitet an entsprechenden Impfstoffen und wahrscheinlich wird vor Ende des Jahres eine Zulassung von der EMA erteilt. Die Slowakei ist auf einen Sonderweg gegangen und impft bereits jetzt Kinder ab fünf Jahren. Einen solchen Sonderweg werden wir nicht gehen.
Was halten Sie von einer Impfpflicht in verschiedenen Berufen?
Ich finde es eigentlich normal, dass Menschen, die etwa in Krankenhäusern, Alters- oder Pflegeheimen arbeiten, geimpft sind, ganz einfach weil sie eine Verantwortung gegenüber den Menschen haben, welche sie pflegen.
Besteht die Gefahr, dass eine weitere Mutation des Virus sich durchsetzt?
Die Möglichkeit einer neuen Variante besteht natürlich immer. Momentan sieht es so aus, dass es eine Reihe anderer Varianten gibt, welche allerdings keine besonderen Vorteile gegenüber der DeltaVariante haben und sie sich deshalb wahrscheinlich nicht durchsetzen werden. Aber das Risiko, dass irgendwann ein aggressiveres Virus auftaucht, ist immer gegeben, was bedeuten würde, dass wir uns wieder an dieses anpassen müssten.
Forschen die Impfstoffhersteller momentan eigentlich an besser angepassten Impfstoffen?
Sicherlich arbeitet eine Reihe von Herstellern an einem Impfstoff, um besser gegen die Delta-Variante zu schützen. Es ist technisch gesehen nicht allzu schwer die mNRA-Impfstoffe anzupassen, was viel aufwändiger ist, ist die Tatsache, dass erneut der ganze Regulierungsprozess durchlaufen werden muss. Das ist für die Hersteller nicht nur mit viel Aufwand und Arbeit verbunden, es ist auch teuer. Es bleibt abzuwarten, was in den nächsten Wochen und Monaten vonseiten der Hersteller kommt.
Zu Beginn der Impfphase gab es größere Aufregung rund um Nebenwirkungen verschiedener Impfstoffe. Was können Sie heute zu den Nebenwirkungen sagen?
Es gibt zwei Arten von Nebenwirkungen. Erstens die, welche häufig auftreten und auch wenn sie unangenehm sind harmlos sind. Ich spreche etwa von Kopfschmerzen, Fieber und Müdigkeit. Diese Art von Nebenwirkungen kriegen wir sehr oft signalisiert. Die zweite Kategorie sind die Nebenwirkungen, welche sehr selten auftreten, aber Komplikationen mit sich bringen können. Zum Beispiel das Auftreten von Thrombosen im Gehirn bei AstraZeneca. Solche Nebenwirkungen muss man sehr ernst nehmen, der Vorteil ist allerdings, dass wir diese mittlerweile kennen und auch die Ärzte Bescheid wissen und die Diagnose dementsprechend früh erfolgt, was die Behandlung effizient macht. Das war am Anfang ein bisschen ein Problem, keiner kannte diese Nebenwirkungen und dementsprechend wurden sie auch nicht unbedingt diagnostiziert.
Wohl wissend, dass Gesundheitspolitik nicht in den Kompetenzbereich der EU fällt: Wären europäische Absprachen während der Pandemie dennoch sinnvoll gewesen?
Es wäre wünschenswert gewesen, dass während der sanitären Krise innerhalb Europa enger zusammengearbeitet worden wäre, nicht nur was die Impfstoffe anbelangt, sondern im Allgemeinen. Das gemeinsame Bestellen von Impfstoffen war zumindest ein

großer Erfolg, besonders für kleine Länder, wie unseres. Hätte Luxemburg alleine mit den Herstellern verhandeln müssen, wären wir wahrscheinlich schlecht weggekommen. In anderen Bereichen hätte man sich mehr Harmonisierung durchaus vorstellen können, aber wie Sie schon sagten, fällt die Gesundheit nicht in den Kompetenzbereich der Europäischen Union.
Die Covid-Task-Force hat regelmäßig in ihren Prognosen „worst case“-Szenarien aufgemalt, die so zum Glück nie eingetreten sind. Wie schätzen sie dies Vorhersagen ein?
Es hat mal einer gesagt: Vorhersagen sind besonders schwer, wenn sie die Zukunft betreffen (lacht). Nein im Ernst, bei einer neuen Krankheit sind solche Vorhersagen besonders schwer, vor allem weil man nicht genau weiß, auf welche Indikatoren man besonders aufpassen muss. Die Task-Force hat mit den Informationen, die sie hatte, das Bestmögliche
Aktuell ist schwer vorherzusehen, welche Entwicklung es geben wird, wenn die Menschen im Herbst und Winter sich wieder verstärkt in Innenräumen aufhalten.
Der Schulanfang ging ohne Maskenpflicht über die Bühne. Die „Santé“ beobachtet die Entwicklung der Zahlen genau.

gemacht. Die Voraussagen waren oft schlimmer als das, was am Ende eingetroffen ist. Sicherlich hat die Task-Force nicht absichtlich düstere Szenarien aufgezeichnet. Zum Glück wurde es in der Realität allerdings nie so schlimm.
Der Schulbeginn erfolgte letzte Woche ohne Maskenpflicht in den Klassensälen. Haben Sie sich Kriterien gegeben, ab wann eventuell zurückgerudert werden muss?
Im Stufenplan ist vorgehsehen, dass sobald CovidFälle in Schulen auftauchen, die Masken wieder Pflicht werden. Es wurde also für die Schulen kein enormes Risiko akzeptiert. Es gab viele Diskussionen über eine Maskenpflicht in den Schulen, vor allem weil verschiedene Kinder darunter zu leiden haben, vor allem die kleineren. Der jetzige Schritt ist in meinen Augen absolut annehmbar, auch weil wir uns mit den drei wöchentlichen Tests (zwei in der Klasse und einer zu Hause) andere Mittel, gegeben haben um die Situation überwachen zu können. Die Gesundheitsbehörde wird die Entwicklung der Zahlen in den Schulen ganz genau beobachten und sollte sich die Lage verschlechtern, können wir relativ schnell wieder auf eine Maskenpflicht zurückkommen.
Interview: Hubert Morang Fotos: Philippe Reuter,
Alain Rischard, Tania Feller, Hervé Montaigu
Dr. Jean-Claude Schmit
ist seit dem 1. Januar 2016 Direktor der Gesundheitsbehörde. Er kann auf eine 25-jährige Erfahrung im CHL zurückblicken, wo er 19 Jahre im Service für ansteckende Krankheiten gearbeitet hat. Schmit war ebenfalls Generaldirektor des „Luxembourg Institute of Health“.


Mit dem gratis „Large Scale Testing“ ist seit vergangener Woche Schluss.