MANIFEST DER BÜRGER
MANIFEST DER BÜRGERINNEN UND BÜRGER FÜR EUROPÄISCHE DEMOKRATIE, SOLIDARITÄT UND GLEICHHEIT Anlässlich der Europawahl am 25. Mai 2014 Wir, die BürgerInnen Europas -‐ sei es von Geburt an, aus freier Wahl oder durch dauerhafte Umstände -‐ glauben, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten daran gescheitert sind, den BürgerInnen Wohlstand zu garantieren sowie den globalen und lokalen Herausforderungen entgegenzuwirken, die Europa seit den letzten fünf Jahren durch die Banken-‐ und Finanzkrise verstärkt erschüttern. Wir glauben, dass Europa eine gemeinsame Zukunft hat, befürchten aber, dass wir die Kontrolle über unser Schicksal verlieren. Statt im nationalen Denken und Handeln behaftet zu sein, wollen wir dazu ermächtigt werden, auf transnationaler Ebene zu handeln. Europa kann als Raum der Demokratie, Solidarität und Gleichheit eine starke Rolle spielen. Dazu bedarf es jedoch schneller und umgreifender Veränderungen der aktuellen politischen Rahmenbedingungen und der Prioritätensetzung der Europäischen Union. Das Jahr 2014 liefert die Gelegenheit eines Bruches mit der krisengeschüttelten Vergangenheit. Das Europäische Parlament sowie die Europäische Kommission werden neu gewählt. Eine neue Regierung muss mit erneuertem Bürgerengagement einhergehen. Gesunde Demokratien leben unserer Auffassung nach immer von dynamischer Teilhabe, die sich durch Zusammenarbeit, gesundes Streiten und kritisches Hinterfragen ausdrückt. Aus diesem Grund haben wir ein transnationales, partizipatives Manifest als Pakt zwischen den BürgerInnen Europas und den regierenden Strukturen erarbeitet. Dieses Manifest beinhaltet politische Forderungen, die in einem dreijährigen europaweiten, partizipativen Prozess entwickelt wurden, der mehrere tausend Menschen mit einbezog. Der Prozess umfasste über sechzig BürgerInnen-‐ Gremien, zwölf transnationale Foren, zwei Anhörungen im Europäischen Parlament, Onlinegremien und eine breit gefächerten Präsenz auf den Straßen und Plätzen Europas. All dies hat zur Formulierung von Vorschlägen geführt, welche die nationalen Patt-‐Situationen überwinden sollen. Die entwickelten Vorschläge stützen sich auf den legislativen und judikativen 1
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Rahmen der EU, um eine reale Politik-‐Blaupause für ein mögliches, alternatives und sofort veränderbares Europa zu bieten. Die hier aufgeführten Inhalte decken die Vielfältigkeit der Probleme nicht ab, denen wir gegenüberstehen. Sie spiegeln jedoch die Hauptthemen, die von verschiedensten TeilnehmerInnen dieses Prozesses betont wurden, wider. Dieses Manifest wird in Zukunft regelmäßig aktualisiert, um fortlaufend neue BürgerInnen-‐Vorschläge miteinzubeziehen. Dies soll somit ein lebendiges Dokument werden, das die Forderungen der Menschen abbildet. Wir fordern BürgerInnen, Organisationen und soziale Bewegungen, denen diese Themen am Herzen liegen, dazu auf, in einem offenen Beteiligungsprozess zu einer europäischen Reform mitzuwirken. Wir fordern PolitikerInnen, die sich auf lokaler, nationaler und besonders auf europäischer Ebene zur Wahl aufstellen lassen, dazu auf, sich den Vorschlägen in diesem Manifest anzuschließen, sie in ihre Wahlkampagnen miteinzubeziehen und sie während ihrer Amtszeit voranzutreiben. Die Grundsätze, die aus den spezifischen Vorschlägen hervorgehen, werden im Folgenden kurz präsentiert und können im Anhang dieses Dokuments als konkrete politische Handlung genauer nachgelesen werden. Europa befindet sich in einer wirtschaftlichen, ökologischen und demokratischen Krise. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir auf neue soziale Herausforderungen reagiert, indem wir z.B. einen funktionierenden Wohlfahrtstaat errichteten und Institutionen schufen, die den Frieden bewahrten. Die aktuelle Krise in Europa ist dabei nicht das Problem, sondern die fehlende Fähigkeit und Legitimierung der Europäischen Union, ihr entgegenzuwirken. Interessengruppen nutzen dieses Vakuum zu ihren Gunsten aus, indem sie ihren wirtschaftlichen Einflussbereich, die öffentliche Meinung und den allgemeinen Sinn für Gerechtigkeit monopolisierten. Eines der sichtbarsten Anzeichen dafür war eine „Abwärtsspirale“, die eine interne Konkurrenz innerhalb der Arbeiterschaft sowie zwischen Staaten selbst ausgelöst hat. Das Resultat war chronische Arbeitslosigkeit, verstärkte Prekarisierung und Armut, was wiederum den Wert von Arbeit aushöhlt. Dem muss mit einem europäischen Wohlfahrtssystem begegnet werden, welches den BürgerInnen soziale und wirtschaftliche Rechte zusichert. Diese müssen unabhängig von Herkunft, Wohnort und individuellen Umständen gewährleistet sein und die Grundbedürfnisse der Bürger nach Arbeitslosenversicherung, Rentenansprüchen, Mindestlohn oder Grundeinkommen erfüllen. 2
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Dies erfordert eine einheitliche und gerechte Fiskalpolitik, die den Steuerwettbewerb zugunsten großer Unternehmen einstellen. Wir lehnen es ab, unsere sozialen und wirtschaftlichen Rechte untergraben und beschnitten zu sehen, während enorme Geldbeträge dazu mobilisiert wurden, ein Finanzsystem zu retten, welches an unseren Bedürfnissen vorbei geht. Der ersten Schritt Europas muss sein, die Bankenrettungen zu stoppen. Zudem muss die Bankenbranche reformiert werden und zu ihren Ursprüngen als soziale Funktion zurück kehren, in der die Ersparnisse von Bürgern gesichert und kleine und mittlere Unternehmen finanziert werden. Beispielsweise würde eine EU-‐ Finanztransaktionssteuer dazu ermutigen, verantwortungsbewusstere Formen von Handel und Investitionen zu gewährleisten. Wir sollten uns den Erpressungen der Finanzmärkte sowie die Schulden gemeinsam zu schultern verweigern. Darüber hinaus sollten wir den Mechanismus bekämpfen, der uns die nicht nachhaltige Staatsverschuldung aufbürdet und damit die minimalen sozialen Standards gefährdet. Europa braucht eine neue ganzheitliche Wirtschaftspolitik, die Vollbeschäftigung bei sinnvoller und angemessen bezahlter Arbeit fördert. Zugleich sollte sie weniger von fossilen Brennstoffen abhängig sein und nicht auf Handelsabkommen beruhen, die für die Staaten außerhalb der Europäischen Union ungerecht sind. Die Europäische Union ist der größte Wirtschaftsraum der Welt. Deshalb können koordinierte und ehrgeizige Entscheidungen einen großen globalen Einfluss auf Themen wie Umweltschutz, vernünftige und angemessene Arbeitsbedingungen, weltweite Gerechtigkeit in Handelsbeziehungen sowie den Wandel einer konsumorientierten konkurrierenden Gesellschaft hin zu einer, die eine Ökonomie der Zusammenarbeit und des Teilens verfolgt. Der gemeinsame Markt hat unsere Freiheiten erweitert. Aber seine aktuellen Strukturen haben den großen Unternehmen mehr Gelegenheiten gegeben, ihrer sozialen Verantwortung, Steuern zu bezahlen, zu entgehen. Lücken in den Gesetzgebungen wurden außerdem von organisierten Verbrechergruppen dazu genutzt, illegale Aktivitäten jenseits der Grenzen zu vervielfachen. Die EU sollte Steueroasen bekämpfen und darüber hinaus befugt sein, illegal angeeignete Besitztümer zu beschlagnahmen und deren Wiederverwendung für soziale Zwecke anstreben. Die Demokratie in Europa steckt in der Krise. Wahlbeteiligungen und Parteizugehörigkeiten sind anhaltend rückläufig. Viele BürgerInnen fühlen sich in ihren Möglichkeiten entmachtet, Veränderungen durch die aktuellen institutionellen Wege zu erzielen -‐ vor allem auf europäischer Ebene. Deshalb müssen wir die demokratischen Strukturen der EU grundsätzlich transformieren, indem beispielsweise eine komplett gewählte Europäische Regierung erschaffen wird und das Europäische Parlament vollständige legislative Befugnisse erhält sowie transnationale Listen bei den Europawahlen eingeführt werden. 3
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Wir müssen den Prozess der Entscheidungsfindung der gesamten Zivilgesellschaft eröffnen. Dies bedeutet auch, dass die Menschen, die bereits langfristig in der EU leben, Wahlrecht für die Europawahlen erhalten. Wir verlangen benutzerfreundliche und effektive Instrumente, die direkten Wandel ermöglichen – von der Verbesserung der European Citizens' Initiative bis hin zur Möglichkeit, die Verwendung von öffentlichen Geldern nachzuprüfen. Um den Prozess der radikalen Reformierung zu starten, schlagen wir einen Europäischen Konvent vor, bei dem BürgerInnen und PolitikerInnen zusammenkommen, um gemeinsam eine neue demokratische Architektur für Europa zu entwickeln. Jedes demokratische System braucht Freiheit und Vielfalt der Medien. In Europa wird dies zwar garantiert, aber nicht immer umgesetzt, da es immer wieder Stimmen gibt, die von der öffentlichen Debatte ausgeschlossen werden. Wir benötigen unabhängige Institutionen, die die Transparenz der Eigentümer überwachen und klare Regeln gegen jegliche mediale Monopolisierung aufstellen. Wir fordern grundlegende Investitionen in unabhängige öffentliche Medien und das Internet als offen, frei zugänglichen Raum. Wir fordern außerdem den Schutz der Privatsphäre, damit sie der Überwachung durch Unternehmen oder Staaten nicht ausgesetzt ist. Zugleich sollen umfangreiche Investitionen in den Ausbau der Fähigkeiten, mit Medien umzugehen, getätigt werden. Die Zukunft, die sich die BürgerInnen Europas wünschen, benötigt eine spürbare Umverteilung der Machtverhältnisse. Demokratie in einem gemeinsamen Europa muss bedeuten, dass Entscheidungen von allen für alle BürgerInnen getroffen werden und nicht bloß von Einzelnen zum Vorteil Weniger. Wir rufen die EU auf, die leitende Rolle in der nachhaltigen Überwindung gemeinsamer Probleme zu übernehmen. Die Umverteilung der Macht erfordert, dass niemand in seinem Recht des Genusses gemeinsamer lebenswichtiger Ressourcen benachteiligt werden sollte. Unsere junge Generation wird mit einer Erinnerung an einen begangenen fatalen Schaden leben, wenn der unverantwortliche Wettbewerb weiter wie bisher voranschreitet. Die Europäische Union muss handeln, indem sie den Zugang zu Gemeinschaftsgütern, wie sicherem Trinkwasser, garantiert. Sie stellen die Basis für den Genuss weiterer Grundrechten dar. Wir haben eine einmalige Gelegenheit, Europa wieder zum Funktionieren zu bringen und die weltweit größte Wirtschaft sauberer und nachhaltiger zu machen. Europa muss die Energiewende von zerstörerischen Energieressourcen weg hin zu sauberen, erneuerbaren Energien einleiten. Die Umverteilung der Macht erfordert, dass private Handlungen mit Einfluss auf die Umwelt der Zustimmung der BürgerInnen Europas unterliegen, da alle abhängig von der Natur sind. Die EU muss mit vorbeugenden Richtlinien entgegenwirken, wenn BürgerInnen schädliche Umweltgefahren identifiziert haben. 4
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Die Krise hat insbesondere Gruppen getroffen, die bereits benachteiligt waren, darunter MigrantInnen, Frauen, Kriegsflüchtlinge, Menschen der LGBT-‐ Gemeinschaft und Roma, deren Zugang zu fundamentalen Rechten, Sozialleistungen und Allgemeingütern ebenso wie zur politischen Teilhabe eingeschränkt oder gar verweigert wurde. Es besteht die Dringlichkeit, das EU-‐Motto „Einheit in Vielfalt“ in die Tat umzusetzen. Dazu müssen alle BürgerInnen dazu befähigt werden, AkteurInnen des Wandels auf EU-‐Ebene zu werden und gleichzeitig in den Genuss von adäquatem Schutz und, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Geschlechteridentität und deren Ausdruck, ihrer sexuellen Orientierung, ihrem sozialen oder ethnischen Hintergrund sowie ihres Herkunftsort, einen gleichberechtigten Zugang zu den Grundrechten zu erhalten. Im Einzelnen muss die EU in Zeiten der Krise ihren Ambitionen gerecht werden, den Schutz der Menschenrechte zu garantieren -‐ nicht nur innerhalb der Union, sondern auch an ihren Grenzen. Die EU sollte sicherstellen, dass die kulturellen und Menschenrechte von MigrantenInnen in der EU, geachtet werden. Das Grenz-‐ Management sollte transparent und verantwortungsbewusst sein. Präventive Festnahmen sollten als Standardprozedur ausgeschlossen werden. Das Inhaftieren von Kindern sollte insgesamt verboten werden. Um die Würde der MigrantInnen zu gewährleisten, sollten sie während sie die Entscheidung der Verwaltungsinstitutionen über ihren Migrationsstatus abwarten, das Recht zu arbeiten erhalten. Abschiebungen sollten nicht die Trennung von Familien zur Folge haben. Die Erfahrungen und die intellektuellen Kapazitäten von MigrantInnen sind genauso bedeutend wie ihre Arbeitskraft. Frauen wurden von der Krise und den anhaltenden Einschnitten in der Sozialpolitik überdurchschnittlich stark getroffen. Die EU sollte Frauenrechte und die Gleichheit der Geschlechter garantieren, insbesondere indem alle Formen der Gewalt gegen Frauen ebenso wie das geschlechtsspezifische Lohngefälle bekämpft werden. Krisen sind die Nährböden, die die Angst vor dem „Andersartigen“ schüren, um Sündenböcke zu identifizieren. MigrantInnen und Roma sind regelmäßige Zielscheiben von Hassreden und Verbrechen aus Hass, genauso wie die LGBT-‐ Gemeinschaft, die oft wegen ihrer angenommenen Andersartigkeit sozial ausgeschlossen werden. Die EU-‐Staatsbürgerschaft sollte kein leeres Konzept sein oder BürgerInnen erster und zweiter Klasse zulassen. Alle Vorteile, die sich daraus ergeben, wie die allgemeine Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit und die Mitnahme dieser Rechte über Ländergrenzen hinweg, sollten von allen Menschen gleichermaßen genossen werden. Die LGBT-‐Gemeinschaft sollte aufgrund ihrer Geschlechtsidentität und deren Ausdruck oder ihrer sexuellen Orientierung nicht davon abgehalten werden, sich frei zu bewegen. Dies bedeutet nicht, dass bestimmten Gruppen zusätzliche Rechte zugesprochen werden sollen, sondern dass benachteiligten Gruppen spezifischer Schutz und dadurch der Zugang zu gleichen 5
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Rechten zugesichert wird. Wenn Staaten dafür verurteilt werden können, wie sie mit ihren Minderheiten umgehen, sollte die EU dafür verurteilt werden, wie sie mit den Roma umgeht. Letztere stellen die möglicherweise transnationalste europäische Gruppe des Kontinents dar und sind zugleich auch am öftesten ausgegrenzt. Die Roma sollten als integrativer Teil der europäischen Gesellschaft anerkannt werden und sie sollten auf allen Ebenen der politischen Diskussionen teilnehmen können. Europa steht heute an einem Scheideweg. Der Prozess der Integration, wie er bisher stattgefunden hat, schuf eine politische Einheit, ohne aktive Zivilbevölkerung, die auf diesen Prozess Einfluss nehmen kann. Wir müssen zu den ProtagonistInnen werden, die den dringend benötigten Wandel der Europäischen Union in einen Raum der Demokratie und Partizipation herbeiführen. Die Zeit ist nicht auf unserer Seite: ein europaskeptischer und xenophober Diskurs verbreitet sich auf dem Kontinent und birgt das Risiko zu einer immer größeren Stimme innerhalb der europäischen Institutionen zu werden. Die anstehenden Europawahlen müssen als Gelegenheit verstanden werden, über die Art und Weise zu entscheiden, wie unsere Zukunft gestaltet werden soll. Wir brauchen ambitionierte politische Vorschläge von den KandidatInnen und den Parteien und wir müssen zugleich selbst einen Teil des Wandels gestalten. Die EU hat die Möglichkeit, zur Avantgarde der politischen Reformation zu werden, ein neues globales Modell der repräsentativen und partizipativen Demokratie in einer multi-‐ lingualen, multi-‐ethnischen und multi-‐kulturellen Gesellschaft zu begründen. Dieses Modell muss sowohl den lokalen als auch den globalen Herausforderungen stand halten, die zügige und radikale Antworten brauchen. Europa hat seine Fähigkeit mehrmals unter Beweis gestellt, aus der Asche wieder auferstehen zu können und muss sich als Träger des Wandels einmal mehr bestätigen. Die Zeit ist reif. www.citizenspact.eu
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