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Macht Teilen glücklich?

„Zieh das Kleid aus, das ist mein Kleid!“ Meine Vierjährige hat sich mit ihrem für ihre Körpergröße doch enorm gewaltigen Willen vor ihrem fünfjährigen Bruder aufgebaut und verlangt ihr Eigentum zurück. Er findet die Forderung verständlicherweise nicht so super. Zumal sie es war, die ihm heute Morgen das Kleid großzügig angeboten hat, nachdem er traurig darüber war, dass sein Lieblingskleid noch in der Wäsche liegt. Außerdem hat er es jetzt den ganzen Tag getragen, es ist vollkommen verschwitzt und sie kann damit überhaupt nichts anfangen. Ganz sicher wird sie es jetzt nicht tragen. Bliebe nur noch die unmittelbare Befriedigung durch eine Machtdemonstration. Wir wissen beide, dass das mir gehört, gib es mir zurück. Es gibt verschiedene elterliche Strategien, mit solchen Situationen umzugehen. Bekannte von uns legen zum Beispiel klar fest, dass geteilt wird und kommentieren das immer mit dem gleichen Satz: „Teilen macht glücklich!“ Ich zucke innerlich dann immer ein bisschen zusammen. Erstens weil man teilen nicht erzwingen kann und zweitens (was für mich noch schwerer wiegt), weil man nicht über die Empfindungen anderer Menschen zu bestimmen hat. Schon gar nicht über die von Kindern. Die Vorstellung, festzulegen wie sich für andere etwas anzufühlen hat, ist mir sehr fremd, um nicht zu sagen unheimlich. Ich sage meinen Kindern nicht, was angeblich „kein Grund zum Weinen ist“ und ich höre mir von meinen beiden Großkindern auch nicht gerne Sätze an, die mit einem passiv-aggressiven „Entschuldigung!“ anfangen, obwohl sie sich klar hör- und erkennbar nicht entschuldigen wollen. Dann sollen sie es halt lassen. Ich bin in diesen Situationen also eher zurückhaltender. Viel mehr als meine Kleine darauf aufmerksam zu machen, inwiefern ihre Forderung überzogen und schwierig umzusetzen ist, und für meinem Kleinen noch mal festzuhalten, dass das tatsächlich ihr Kleid ist, mach ich nicht. Ich erwarte, dass sie das untereinander regeln. Das hat nicht zuletzt auch etwas damit zu tun, dass ich das Konzept des Teilenkönnens für eine ziemlich übergriffige Moralanforderung von Erwachsenen halte. Es gehört zu den Dingen, die man Kindern als Eltern gerne mit auf den Weg gibt, ohne wirklich selbst dahinterzustehen oder sie zu verkörpern. Davon haben wir eine ganze Menge: Freundlich sein, Großzügigkeit, Höflichkeit, Teilen, Gewaltfreiheit, Konsequenz, Zielstrebigkeit – um nur einige zu nennen. Ich finde mich selbst in all diesen Dingen nur teilweise wieder. Oft mache ich für mich Ausnahmen oder sie sind mir einfach zu anstrengend. Und vielen anderen scheint es ähnlich zu gehen. Wenn wir allein auf das Teilen schauen, scheint es damit bei uns Erwachsenen nicht wirklich weit her zu sein. Gerade erst haben wir uns mühsam aus Wochen herausgekämpft, in denen sich viele sich selbst die Nächsten waren, Toilettenpapier und Mehl gehortet haben und vor allem die eigenen Bedürfnisse im Blick hatten. Wir streiten mit einer wachsenden Zahl von Leuten herum, denen es zu viel ist, eine Gesichtsmaske zu tragen, damit Menschen aus Risikogruppen sich nicht mit der Seuche infizieren. Wir besetzen Strände und Hotelliegen mit Handtüchern, wir drängeln uns am Büffet vor und davon, wie viel besser es dem Staat ginge, wenn er nicht jährlich um Milliarden von Steuergeldern betrogen würde, brauchen wir gar nicht erst anfangen. Und das ist nur unser kleiner Teller, über dessen Rand wir zu selten blicken. In Griechenland brennen die Lager für Geflüchtete, alle sechs Sekunden stirbt ein Kind unter 5 Jahren an Unterernährung. Wenn Teilen wirklich glücklich machen würde, wären wir alle miteinander ein ziemlich unglücklicher Haufen. Also hören wir besser auf, unseren Kindern Moralpredigten vom Schönen, Wahren, Guten zu halten und leben das alles einfach nach Kräften vor: Teilen, spenden, helfen. Was Gerechtigkeit ist, erfahren Kinder nicht durch Erziehungsätze, sondern durch die praktische Umsetzung der goldenen Regel, dass man andere so behandelt wie man selbst behandelt werden will. Dann macht Teilen vielleicht tatsächlich glücklich.

Nils Pickert ist vierfacher Vater, Journalist und Feminist. Jeden Monat lässt er uns an seiner Gedankenwelt teilhaben.

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Carl-Otto Heer

Rechtsanwalt und Notar Fachanwalt für Familienrecht

Frank Beckröge

Rechtsanwalt und Notar Mietrecht und Verkehrsrecht

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