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Richard Drexl: „Nationale Interessen“ Klaus von Dohnanyi
Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche
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Rezensent: Richard Drexl
Europa ist weit weg von einem Weltmachtstatus. Die Macht Europas ist auf viele Staaten ohne klaren Hegemon verteilt. Klaus von Dohnanyi verlangt in seinem Werk, dass wir Europäer und auch wir Deutschen unsere eigenen Interessen vertreten und uns nicht automatisch von einer ’Wertegemeinschaft‘ leiten lassen. Damit zielt er auf die USA, die ihre ‚Freundschaft‘ „ohnehin nicht im europäischen Sinne praktiziert … . Wenn es den USA in ihre Politik passen würde, würden Sie dann Europa genauso fallen lassen wie jetzt Afghanistan oder andere
Staaten zuvor? Ich wage keine Antwort. … So wie die USA ihre Werte leben und wie sie sich selbst verstehen, könnte die
EU sie als Mitglied gar nicht aufnehmen!“ – Mit diesen provokanten Sätzen geht der Autor auf deutliche Distanz zur Welthegemonialmacht Vereinigte Staaten. Von Dohnanyi sieht die Welt vor stürmischen Zeiten, auch der bedrohliche Systemwettbewerb mit China verlange Flexibilität und mutige Anpassung. Demokratien müssten mit mehr Vertrauen in den demokratischen Prozess handlungsfähiger werden. „Irrtümer mutig zu korrigieren, (sei) kein Merkmal autoritärer Systeme. … Europa muss sich endlich eingestehen: wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren niemals wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitsprache.“ Der Verfasser geht in seiner Argumentation zurück bis auf den Briten Halford Mackinder, der bereits 1904 in der Beherrschung des geopolitischen Herzlandes und im Gleichgewicht gegenüber Russland einen Dreh- und Angelpunkt sah. Deutschland wäre nach dem Ersten Weltkrieg als Folge dieses Denkens von den USA der Rache der Sieger überlassen worden.
Jahr der Umbrüche
Klaus von Dohnanyi beschreibt das Jahr 2021 als „Jahr der Umbrüche. Seuchen, Klimagefahren, ein außenpolitisches Desaster in Afghanistan, die Welt wirft Fragen auf, für die wir in Deutschland noch nach Antworten suchen.“ Im November letzten Jahres konnte der Autor sicherlich mit überwiegender Zustimmung noch schreiben, dass „es… nicht militärische Gefahren (sind), die uns in erster Linie bedrohen.“ Diese Bewertung dürfte von Dohnanyi inzwischen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vermutlich so nicht wiederholen. Unabhängig davon weist er auf Entwicklungen hin, an denen kein Vorbeikommen ist. In den internationalen Beziehungen wie auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft stünden mittlerweile nationale Interessen im Vordergrund. Russland war für Klaus von Dohnanyi vor 20 Jahren, als die NATO sich in Afghanistan engagierte, „noch ein Staat mit vergleichsweise geringem weltpolitischem Einfluss“. „Heute ist Russland auf dem besten Wege, für das von den USA zurückgelassene Chaos im Nahen Osten eine politische Ordnungsmacht zu werden.“ Ob sich das im Gefolge des Ukraine-Krieges tatsächlich so entwickeln wird, ist zu bezweifeln. Jedenfalls könnte sich für die Europäer im Nahen Osten nun ein Feld auftun, auf dem sie sich im eigenen Interesse stärker engagieren müssen. Allein die Migrantenströme Richtung Europa wie auch die Energiesicherheit zwingen dazu. In den Hauptteilen des Buches kommen dessen große Stärken zum Tragen. Von Dohnanyi beklagt zu Recht, dass bei uns in Deutschland die Begriffe „Nation“ und „national“ noch immer verdächtig seien, er verlangt die Herausbildung einer nationalen Identität. „Nur Nationalstaaten verfügen über die notwendige demokratische Legitimation zu nationalem und internationalem Handeln. Sie können ihre Rechte übertragen, zum Beispiel auf die UN oder … auf die Europäische Union, bleiben aber immer in der demokratischen Verantwortung.“ Dem schwammigen Begriff „Wertegemeinschaft“ fehle die demokratische Legitimation.
Scheitert die Europäische Union?
Eine Gefahr des Scheiterns sieht er darin, wenn „Interessen der EU-Kommission oder des europäischen Parlamentes einseitig und ohne Rücksicht auf die Interessen von Mitgliedstaaten vertreten werden“. In Bezug auf die Rechtsstaatsauseinandersetzungen mit Polen und Ungarn stellt er die Frage, „ob nicht mehr Dialog innerhalb der EU zweckmäßiger wäre als der Weg zum EuGH und die Androhung von Geldstrafen. Zu den Werten der EU gehört doch auch der Respekt vor der Selbstbestimmung der souveränen Mitgliedsstaaten.“ Die Schweiz habe 1971 auf Bundesebene das Frauenwahlrecht eingeführt, einzelne Kantone benötigten jedoch bis 1990 zu dessen Einführung. Niemals sei dort erwogen worden, die Kantone mit bundesrechtlichen Mitteln zur Umsetzung des beschlossenen Frauenwahlrechts zu zwingen. Auch in den USA besteht in einigen Mitgliedstaaten noch immer die Todesstrafe. Niemals habe Washington versucht, deren Abschaffung mit Bundesgewalt durchzusetzen. Von Dohnanyi fordert mehr Toleranz und weniger Prinzipienreiterei sowie das Abgehen von Mehrheitsentscheidungen. Europäischer Fortschritt werde sich nicht durch immer mehr Zentralisation auf Kosten nationaler Souveränität erzwingen lassen. Die souveränen Nationalstaaten bleiben für ihn das einzig mögliche demokratische Fundament der europäischen Integration. Den Brexit versteht er als deutliche Warnung. Von Dohnanyi wirft auch einen kritischen Blick auf wirtschaftliche Schwächen der EU. Hierzu zählt er unter anderem das Mitspracherecht der EU-Kommission über Beihilferegelungen in wirtschaftlichen Angelegenheiten. An unternehmerischen Projekten sollte keine Vielzahl von Mitgliedstaaten beteiligt werden, die privatwirtschaftliche unternehmerische Führung müsse stets eindeu-
tig geklärt sein. Jeder Staat sollte Unternehmen helfen können, wo er dies für richtig und verantwortbar halte, ohne um eine Beihilfegenehmigung nachfragen zu müssen. Als Beispiel für den Erfolg einer derartigen Politik nennt er Airbus, das ein Projekt nationaler Mitgliedstaaten und kein Projekt der EU sei. Wenn eine Mehrzahl von Staaten mit ihren jeweils spezifischen Standort- und Beteiligungsinteressen dabei mitreden dürfte, hätte man das Projekt vergessen können. „Klare nationale Führung, keine Einmischung der EU-Kommission, die Unternehmen müssen im Mittelpunkt stehen“ lautet die Devise von Dohnanyis. Nur die Regeln der Welthandelsorganisation WTO, die auch international gelten würden, seien zu beachten. Für von Dohnanyi ist die Russlandpolitik der USA eines der entscheidenden Hindernisse europäischer Souveränität und für deutsche Interessen. Die Vertreibung des christlich-europäischen Russland aus seiner europäischen Orientierung führe das Land an die Seite seines früher eher feindlichen Nachbarn China. Die Folgen des Ukrainekrieges dürften diese Tendenz eher noch verstärken. Nach dem russischen Einmarsch wirkt die Frage des Autors, warum die USA ständig die Angst vor gewaltsamen Aggressionen Russlands beschwören würden, allerdings wie aus der Zeit gefallen. Der Entwicklung seit Ende des Kalten Krieges kann nicht nachträglich eine andere Richtung mit einer ehrlichen Partnerschaft des Westens gegenüber Russland beginnend in der Zeit von Präsident Jelzin über Putins lange Herrschaftsjahre gegeben werden. Mit Sanktionen dürfte allerdings Russlands Politik weiterhin kaum änderbar sein, wie sie es bisher offensichtlich schon nicht war.
US-Russlandpolitik Hindernis für europäische Souveränität
Nach Dohnanyi beruhen nationale Mentalitäten auch auf Geographie und Geschichte, die sich vor diesem Hintergrund herausbilden würden. Einen Wandel autoritärer Regierungsformen von Xi oder Putin zu erwarten, bezeichnet der Autor als Illusion. Dies sei weniger eine Frage von Gut und Böse als Folge historischer Pfadabhängigkeiten. Demokratie brauche zur Herstellung ihrer Fundamente Zeit und eine Entwicklung aus sich selbst heraus. Die USA wollen dies aus Sicht des Autors offenbar nicht verstehen. „Ihre vielfachen Versuche, ihr Modell der Demokratie anderen Völkern notfalls auch mit Gewalt einzupflanzen,“ betrachtet von Dohnanyi als rundum gescheitert. Der Verweis auf Deutschland trage nicht, weil Deutschland seinen Kaiser über Jahrhunderte gewählt habe und in seinen vielen kleinen Einheiten schon rechtsstaatliche Strukturen herausgebildet hatte als es die USA noch gar nicht gab. Deutschland hatte bereits im Kaiserreich unter Wilhelm II eine starke parlamentarische Beteiligung und auch die Weimarer Republik sei ein demokratisches Beispiel gewesen. Diese scheiterte am Ende weniger an mangelnden demokratischen Traditionen als an den Folgen der von den USA 1929 ausgehenden Weltwirtschaftskrise. Die Nationalsozialisten erzielten 1928 lediglich 2,6 Prozent der Wählerstimmen. Von Dohnanyi behandelt ausführlich die äußere Sicherheit Europas, die letzten Endes über die NATO auf der Verteidigungsstrategie der USA und in erster Linie auf der nuklearen Abschreckung beruhe. Diese Waffen dürften nach seiner Auffassung vermutlich niemals absichtlich eingesetzt werden, „solange die andere Seite mit einer gesicherten Zweitschlagpotenz ausgerüstet ist“. Mit der Strategie der „flexible Response“ werde jedes mögliche Kriegsgeschehen in Europa ausschließlich auf die Staaten der EU verlagert. Aber, so Dohnanyi: „Kein vernünftiger Europäer, der die Sicherheitslage der USA zu Ende denkt, kann glauben, dass die von den USA in Europa gelagerten Nuklearwaffen bei einer terrestrischen Aggression Russlands durch die USA zum Einsatz kämen.“ In der „flexiblen Erwiderung“ sieht von Dohnanyi daher eine Strategie der Verlagerung des Kriegsgeschehens ausschließlich in das bedrohte Land selbst. „Nicht Europa zählt im Falle eines russischen Angriffs, sondern nur die Sicherheit der USA!“ Daher biete die nukleare NATO heute keinerlei Garantie für Europas Unversehrtheit. Dauerhafte Sicherheit in Europa könne es nur mit und nicht gegen Russland geben. Infolge des Ukraine-Krieges werden auch diese Sätze neu interpretiert werden müssen. Nach von Dohnanyi haben die USA unter Mithilfe Großbritanniens jede Chance für ein führungsstarkes und souveränes Europa unter französisch-deutscher Führung schon seit den 1960er Jahren blockiert. Auch heute drücke Washington seine „tiefe Beunruhigung“ darüber aus, dass die Regeln für den europäischen Verteidigungsfond PESCO … eine unnötige Konkurrenz zwischen NATO und EU auslösen würden. „Wenn Europa Geld für eine eigene, souveräne Verteidigungspolitik ausgibt, schwächt das die USbeherrschte NATO“, so der Autor.
Resümee:
Zusammenfassend einige Schlüsselsätze aus Dohnanyis Werk: „Es wird für viele Menschen nicht leicht sein anzuerkennen, dass es … keine Freundschaften zwischen Völkern und Staaten gibt, sondern nur harte Interessen; dass militärische Bündnisse keine Möglichkeit sind, Gefahren zu vermeiden; dass hoffnungsvolle Eiferer auch Möglichkeiten der Vernunft zerstören können; oder dass unsere moralischen Ansprüche an einer interessengepanzerten Welt abprallen können. … Volkes Stimmen und Stimmungen treiben über die elektronischen Medien ein böses Spiel, auch mit Politikern. Die Erreichbarkeit für das Wort der Vernunft nimmt ab, Parolen drängen in den Vordergrund. Und unsere wahren Interessen liegen nicht immer offen, entsprechen oft nicht gewohntem Denken; schon gar nicht in Zeiten tiefer Umbrüche. Was wir … in erster Linie brauchen werden, sind politischer Mut und die Geduld für eine große Debatte.“ Genau darin kommt die Stärke des Textes zum Ausdruck, die gesellschaftlichen und politischen Randbedingungen für diesen Prozess der Definition von nationalen Interessen herausgearbeitet zu haben. Er folgt nicht ausgetretenen Denkpfaden sondern fordert dazu auf, den Urgrund der eigenen Anliegen auszuleuchten und danach zu handeln. Trotz der Brüche in der Argumentation infolge der Ukraine-Invasion hat Klaus von Dohnanyi ein überzeugendes Plädoyer für die Ausbildung und Verfolgung nationaler Interessen vorgelegt. Mit dem Veröffentlichungsdatum November 2021 konnte der Autor diesen Rückfall in überholt geglaubte Zeiten bestenfalls ahnen. Sein Eintreten für eine nachhaltige Entspannungspolitik, für Diplomatie und den Ausgleich zwischen souveränen Nationen sollte auch in den gegenwärtigen kriegerischen Zeiten ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Zeit dafür wird wieder kommen. Was wir zu lernen haben ist, Entspannung nicht mit Wehrlosigkeit zu verwechseln und den Ausgleich von Interessen nicht zur Arglosigkeit degenerieren zu lassen. Ob sich die kriegerische Zuspitzung mitten in Europa durch eine souveräne europäische Interessenpolitik ohne die machtpolitischen Einwirkungen der Vereinigten Staaten hätte verhindern lassen, muss Spekulation bleiben. Der Leser wünscht sich, an einigen Stellen von Dohnanyis heutige Auffassung lesen zu können, nachdem Putin mit seiner Kriegspolitik bisherige Überzeugungen über den Haufen geworfen hat.
Prädikat:
Klare Leseempfehlung. Auch wenn infolge des Ukraine-Krieges einige Fragezeichen im Text aufgetaucht sind, überzeugt die stringente Argumentation des Autors für den Nationalstaat. Wer dem Nationalstaat das Fundament abgräbt, torpediert die europäische Einigung. In Brüssel und Berlin wird eine gegenteilige Politik verfolgt, sie wird die EU zum Scheitern bringen. Sage keiner mehr, das hätte man nicht ahnen können.
Klaus von Dohnanyi:
NATIONALE INTERESSEN
Siedler-Verlag, München, 2022. 240 Seiten. Hardcover mit Schutzumschlag. ISBN: 978-3-8275-0154-7. – 22 Euro