Buchbesprechung Klaus von Dohnanyi:
NATIONALE INTERESSEN Allgemeines treue Kameraden 3/2022 84
Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche Rezensent: Richard Drexl Europa ist weit weg von einem Weltmachtstatus. Die Macht Europas ist auf viele Staaten ohne klaren Hegemon verteilt. Klaus von Dohnanyi verlangt in seinem Werk, dass wir Europäer und auch wir Deutschen unsere eigenen Interessen vertreten und uns nicht automatisch von einer ’Wertegemeinschaft‘ leiten lassen. Damit zielt er auf die USA, die ihre ‚Freundschaft‘ „ohnehin nicht im europäischen Sinne praktiziert … . Wenn es den USA in ihre Politik passen würde, würden Sie dann Europa genauso fallen lassen wie jetzt Afghanistan oder andere Staaten zuvor? Ich wage keine Antwort. … So wie die USA ihre Werte leben und wie sie sich selbst verstehen, könnte die EU sie als Mitglied gar nicht aufnehmen!“ – Mit diesen provokanten Sätzen geht der Autor auf deutliche Distanz zur Welthegemonialmacht Vereinigte Staaten. Von Dohnanyi sieht die Welt vor stürmischen Zeiten, auch der bedrohliche Systemwettbewerb mit China verlange Flexibilität und mutige Anpassung. Demokratien müssten mit mehr Vertrauen in den demokratischen Prozess handlungsfähiger werden. „Irrtümer mutig zu korrigieren, (sei) kein Merkmal autoritärer Systeme. … Europa muss sich endlich eingestehen: wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren niemals wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitsprache.“ Der Verfasser geht in seiner Argumentation zurück bis auf den Briten Halford Mackinder, der bereits 1904 in der Beherrschung des geopolitischen Herzlandes und im Gleichgewicht gegenüber Russland einen Dreh- und Angelpunkt sah. Deutschland wäre nach dem Ersten Weltkrieg als Folge dieses Denkens von den USA der Rache der Sieger überlassen worden.
nicht militärische Gefahren (sind), die uns in erster Linie bedrohen.“ Diese Bewertung dürfte von Dohnanyi inzwischen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vermutlich so nicht wiederholen. Unabhängig davon weist er auf Entwicklungen hin, an denen kein Vorbeikommen ist. In den internationalen Beziehungen wie auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft stünden mittlerweile nationale Interessen im Vordergrund. Russland war für Klaus von Dohnanyi vor 20 Jahren, als die NATO sich in Afghanistan engagierte, „noch ein Staat mit vergleichsweise geringem weltpolitischem Einfluss“. „Heute ist Russland auf dem besten Wege, für das von den USA zurückgelassene Chaos im Nahen Osten eine politische Ordnungsmacht zu werden.“ Ob sich das im Gefolge des Ukraine-Krieges tatsächlich so entwickeln wird, ist zu bezweifeln. Jedenfalls könnte sich für die Europäer im Nahen Osten nun ein Feld auftun, auf dem sie sich im eigenen Interesse stärker engagieren müssen. Allein die Migrantenströme Richtung Europa wie auch die Energiesicherheit zwingen dazu. In den Hauptteilen des Buches kommen dessen große Stärken zum Tragen. Von Dohnanyi beklagt zu Recht, dass bei uns in Deutschland die Begriffe „Nation“ und „national“ noch immer verdächtig seien, er verlangt die Herausbildung einer nationalen Identität. „Nur Nationalstaaten verfügen über die notwendige demokratische Legitimation zu nationalem und internationalem Handeln. Sie können ihre Rechte übertragen, zum Beispiel auf die UN oder … auf die Europäische Union, bleiben aber immer in der demokratischen Verantwortung.“ Dem schwammigen Begriff „Wertegemeinschaft“ fehle die demokratische Legitimation.
Jahr der Umbrüche
Scheitert die Europäische Union?
Klaus von Dohnanyi beschreibt das Jahr 2021 als „Jahr der Umbrüche. Seuchen, Klimagefahren, ein außenpolitisches Desaster in Afghanistan, die Welt wirft Fragen auf, für die wir in Deutschland noch nach Antworten suchen.“ Im November letzten Jahres konnte der Autor sicherlich mit überwiegender Zustimmung noch schreiben, dass „es…
Eine Gefahr des Scheiterns sieht er darin, wenn „Interessen der EU-Kommission oder des europäischen Parlamentes einseitig und ohne Rücksicht auf die Interessen von Mitgliedstaaten vertreten werden“. In Bezug auf die Rechtsstaatsauseinandersetzungen mit Polen und Ungarn stellt er die Frage, „ob nicht mehr Dialog innerhalb der EU zweck-
mäßiger wäre als der Weg zum EuGH und die Androhung von Geldstrafen. Zu den Werten der EU gehört doch auch der Respekt vor der Selbstbestimmung der souveränen Mitgliedsstaaten.“ Die Schweiz habe 1971 auf Bundesebene das Frauenwahlrecht eingeführt, einzelne Kantone benötigten jedoch bis 1990 zu dessen Einführung. Niemals sei dort erwogen worden, die Kantone mit bundesrechtlichen Mitteln zur Umsetzung des beschlossenen Frauenwahlrechts zu zwingen. Auch in den USA besteht in einigen Mitgliedstaaten noch immer die Todesstrafe. Niemals habe Washington versucht, deren Abschaffung mit Bundesgewalt durchzusetzen. Von Dohnanyi fordert mehr Toleranz und weniger Prinzipienreiterei sowie das Abgehen von Mehrheitsentscheidungen. Europäischer Fortschritt werde sich nicht durch immer mehr Zentralisation auf Kosten nationaler Souveränität erzwingen lassen. Die souveränen Nationalstaaten bleiben für ihn das einzig mögliche demokratische Fundament der europäischen Integration. Den Brexit versteht er als deutliche Warnung. Von Dohnanyi wirft auch einen kritischen Blick auf wirtschaftliche Schwächen der EU. Hierzu zählt er unter anderem das Mitspracherecht der EU-Kommission über Beihilferegelungen in wirtschaftlichen Angelegenheiten. An unternehmerischen Projekten sollte keine Vielzahl von Mitgliedstaaten beteiligt werden, die privatwirtschaftliche unternehmerische Führung müsse stets eindeu-