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Lifestyle

Kultur

Warum der Weg zum Moskauer Catwalk für russische Modedesigner über New York und Paris führt.

Die Moskauer Filmstudios haben ihre dunkle Zeit überlebt: zu Besuch bei Mosfilm S. 15

S. 14 GETTY IMAGES/FOTOBANK

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Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

MITTWOCH, 1. DEZEMBER 2010

POINTIERT

Integration im Vielvölkerstaat

Die Russen sind da

Viele Konfessionen, viele Ethnien, viele Gesichter: in einer Vorlesung an der Lomonossow-Universität Moskau

Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR

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Im Süden Russlands brodelt es weiter: Fast wöchentlich kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen islamischen Fundamentalisten und staatlicher Obrigkeit. Besonders angespannt ist die Lage in der Nordkaukasus-Republik Dagestan.

Jahrelang reagierte der russische Staat auf die Übergriffe mit Gegengewalt. Nun setzt er auf moderatere Strategien – auch in der Bildungspolitik: Mit Millionen Euro subventioniert er islamische Universitäten, die einen gemäßigten Islam fördern

sollen. In der russischen Hauptstadt kämpfen derweil Muslime um Gleichstellung: Für die über zwei Millionen Moslems, die heute in Moskau heimisch sind, gibt es nur vier Moscheen. Gegen den Bau eines neuen Gebetshauses protestieren die An-

wohner. Warum, erklärt im Gespräch mit Russland HEUTE der Islamforscher und KaukasusExperte Alexej Malaschenko. DAS THEMA DES MONATS WEITER AUF DEN SEITEN 6 UND 7

Liebe Leserinnen und Leser, Ihnen wird aufgefallen sein, dass Sie keinen Werbeprospekt und auch nicht das Fernsehprogramm in den Händen halten. Dies ist vielmehr die Erstausgabe der Beilage Russland HEUTE, die Sie ab Februar monatlich in Ihrer Zeitung finden werden. Mit Berichten über ein Land und seine 140 Millionen Menschen, über ein Land im Wandel, und das seit nunmehr 20 Jahren. Dass es dabei schmerzhaft und nicht immer rechtens zugeht, wissen wir aus den Schlagzeilen. Nach den Ursachen und Wirkungen dieser Prozesse müssen wir aber zwischen den Schlagzeilen suchen. Genau das werden wir machen. Wir möchten das heutige Russland von innen heraus betrachten, und vielleicht können wir Ihnen Dinge über dieses Land und seine Leute erzählen, die Sie noch nicht kennen. Schreiben Sie uns doch an redaktion@russland-heute.de, was Ihnen gefällt und missfällt – oder worüber Sie gerne mehr erfahren würden. WEITER AUF DEN SEITEN 8 UND 9

„Stalin muss endlich raus aus den Köpfen“

In Russland brummt der deutsche Motor

Als Präsident Medwedjew vor wenigen Wochen Michail Fedotow zum Vorsitzenden des russischen Menschenrechtsrats machte, erntete er unter russischen Menschenrechtlern Respekt. Fedotow, 61, gilt als „Persönlichkeit mit demokratischen Prinzipien“. Schon 1976 promovierte der Jurist über die „Freiheit der Presse als konstitutionelles Recht“. Nach dem Ende der

Der Automobilmarkt ist zurück: Nach dem Absturz 2009 wachsen die Verkäufe zweistellig an. Die Produktionsqualität in den veralteten Werken jedoch ist niedrig, daher wird die Autoindustrie nun komplett saniert. Um die eigenen Werke zu modernisieren – und sie damit krisensicher zu machen, gehen immer mehr russische Autobauer Joint Ventures mit westlichen Unternehmen ein.

INTERVIEW AUF SEITE 10

ITAR-TASS

Sowjetunion war er Mitautor des russischen Mediengesetzes. In der PutinÄra fungierte Fedotow als Sekretär des Russischen Journalistenverbandes und kämpfte für freie Wahlen. Als Berater des Präsidenten will er sich für die „Entstalinisierung“ und für das Recht auf Versammlungsfreiheit einsetzen. Fedotow vor dem Majakowskij-Denkmal am TriumfalnajaPlatz in Moskau - dem Protest-Ort der Oppositionellen

Aus Russland schlauer werden. Mit Russland HEUTE. Die nächste Ausgabe erscheint am

2. Februar 2011

Gleichzeitig haben in den letzten Jahren unter anderem Ford und Volkswagen eigene Werke in Russland gebaut mit dem Ergebnis, dass 67 Prozent der verkauften Fahrzeuge hierzulande gebaut werden. Jedoch plagt ein weiteres Problem die hiesigen Autobauer: der Mangel an hochwertigen Zulieferern. WEITER AUF SEITE 3

Jeden 1. Mittwoch des Monats in der Süddeutschen.

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Wirtschaft

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Energie Russland wird China mehr Gas und Öl liefern. Für Europa hat das laut Gazprom keine Folgen

aber, dass die chinesische Seite über eine Vergabe von Krediten nachdenke. Wahrscheinlich ist, dass die Finanzierung nach demselben Schema wie beim Bau der Öl-Pipeline laufen wird. Gegen Lieferverpflichtungen für die nächsten 20 Jahre wurden den russischen Ölfi rmen Transneft und Rossneft chinesische Kredite über 7,5 und rund elf Milliarden Euro zugesagt. „Die Unterzeichnung des endgültigen Gasabkommens mit China ist für den Juli 2011 geplant“, sagt Gazprom-Sprecher Sergej Kuprijanow. Die wichtigste Frage aber, der Preis, ist noch offen. In einer Studie von Exxon und CNPC sind die Lieferselbstkosten des russischen Gases mit 180 US-Dollar pro tausend Kubikmeter angegeben. Für australisches und turkmenisches Gas bezahlt China aber nur 150 bis 160 Dollar. „Fällt der Endbetrag kleiner als 200 Dollar pro tausend Kubikmeter aus, würde Gazprom Verluste einfahren“, schätzt Witalij Krjukow von der IFD Capital Group. Erst ab 230 bis 250 Dollar pro tausend Kubikmeter rechne sich das Projekt. Oder wenn der Staat die Exportzölle senkt, die derzeit 30 Prozent betragen. Dies aber sei laut Krjukow durchaus möglich, denn der Einstieg auf dem schnell wachsenden chinesischen Gasmarkt sei primär politisch motiviert – auch wegen des Rückgangs der Gazprom-Anteile am europäischen Markt. Die geringe Gewinnspanne sei andererseits der Grund, warum Russland kaum mehr als die genannten 30 Milliarden Kubikmeter Gas nach China liefern wird.

Ein Teil des russischen Erdgases geht zukünftig nach China – aus denselben Vorkommen, die auch Europa und Deutschland versorgen. OLGA SENINA FÜR RUSSLAND HEUTE

Es war mehr als eine Geste: Als Dmitrij Medwedjew bei seinem Staatsbesuch im September gemeinsam mit dem chinesischen Staatschef Hu Jintao symbolisch die erste Pipeline von Russland nach China fertigstellte, da lächelten die beiden zukunftssicher. Ein „geopolitisches Projekt“ hat Premierminister Wladimir Putin die Pipeline genannt. Beim jüngsten Gipfel war von einer „strategischen Partnerschaft“ die Rede. Der Energieriese Russland will dem Wirtschaftsriesen das geben, was er so dringend braucht: Energie. Und die 69 Kilometer lange Röhre, durch die ab 1. Januar 2010 15 Millionen Tonnen Öl pro Jahr aus dem sibirischen Skoworodino nach Daqing im Nordosten Chinas fließen, ist erst der Anfang. Ab 2015 will Gazprom jährlich 30 Milliarden Kubikmeter Gas nach China exportieren. Die Einzelheiten zu den Lieferungen wurden bei Medwedjews Staatsbesuch in China abgesprochen. Vertreter von Gazprom und CNPC, Energiepartner auf chinesischer Seite, unterzeichneten im September ein vorläufiges Lieferabkommen. Demnach sollen Exporte in den Osten über Hauptstränge in Sibirien laufen, die weiter westlich in diejenigen Pipelines münden, die auch Europa mitversorgen. Die Geldgeber für das Projekt stehen zwar noch nicht fest, von Gazprom hieß es

Eine Menge übrigens, die in keinem Verhältnis zum Exportvolumen des Energieriesen nach Europa stehe, sagt Stanislaw Tsygankow, Leiter der Abteilung Außenwirtschaft bei Gazprom. Er prognostiziert, dass durch langfristige Verträge rund 180 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich nach Europa geliefert werden – sechsmal so viel wie zukünftig nach China.

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Die Pipeline biegt nach Osten ab - zum Wirtschaftsriesen

Russen rechnen damit, dass die neuen Pipelines mit Krediten aus China finanziert werden

Pipelinesystem in Sibirien

Reicht das Gas für alle? Offizielle Stimmen garantieren Versorgungssicherheit für Europa: „Europa ist und bleibt der Markt Nummer eins für Gazprom“, versicherte Gazprom-Chef Alexej Miller in einem Gespräch mit Russland HEUTE. „Wir liefern aus Westsibirien nach Europa, die asiatischen Märkte werden jedoch über Ostsibirien versorgt“, so Miller. Andere Experten sind der Meinung, dass die deutschen Kunden von der chinesischen Pipeline sogar profitieren könnten. „Die geplanten Lieferungen nach China könnten die Zusammenarbeit mit Deutschland stabilisieren“, sagt Jaroslaw Lissowolik, Chief Economist der Deutschen Bank Moskau. Sich nur auf einen Absatzmarkt zu konzentrieren, berge zu starke Risiken sowohl für Lieferanten als auch für Abnehmer, so der Ökonom. Der europäische Markt ist für Gazprom äußerst lukrativ: Hier verlangen die Russen nach Schätzungen 305 bis 308 Dollar für tausend Kubikmeter, die Margen der Zwischenhändler nicht mitgerechnet. „Im ersten Quartal dieses Jahres hat Gazprom 46,7 Prozent seines Gewinns auf dem europäischen Markt

erzielt“, sagt Lissowolik. Einen großen Anteil daran habe Deutschland: Von den im letzten Jahr exportierten 140 Milliarden Kubikmetern gingen 31 Milliarden in die Bundesrepublik. Hinzu kommt, dass der deutsche Energieverbrauch schneller als in anderen Ländern wieder auf Vorkrisenniveau steigt – im ersten Halbjahr 2010 lieferte der Energiegigant bereits 20 Milliarden Kubikmeter. Ferner ist Deutschland seinem Zulieferer treu geblieben, im Gegensatz zur Türkei oder zu Italien, die den Import reduziert haben.

Mehrere Billionen Kubikmeter vorhanden Die russischen Förderstätten sollen in jedem Fall die Nachfrage aus Ost und West gleichermaßen befriedigen: Das Unternehmen Gazprom könne seine Fördermenge jederzeit um weitere 100 Milliarden Kubikmeter erhöhen, sagt Krjukow. Gazprom-Sprecher Kuprijanow bestätigt, dass 2010 bereits 600 Milliarden Kubikmeter möglich seien, was gegenüber 2009 einem Zuwachs von 139 Milliarden Kubikmetern entspreche. Bis 2020 könne die Fördermenge sogar noch einmal auf 650

bis 670 Milliarden Kubikmeter erhöht werden. Die 158,8 Milliarden Kubikmeter Erdgas, die Gazprom 2008 nach Europa lieferte, machten nicht einmal die Hälfte der Gesamtfördermenge von 512,2 Milliarden Kubikmetern in jenem Jahr aus. Russlands Erdgas wird überwiegend in Westsibirien gewonnen. Der Monopolist Gazprom verfügt nach eigenen Angaben über 33,6 Billionen Kubikmeter Erdgas, nach internationalen Schätzungen über etwa halb so viel - 18,6 Billionen Kubikmeter.

„Lieferunterbrechungen sind ausgeschlossen“

Warum will Russland Gas nach China liefern? Im letzten Jahr wurde die Energie-Strategie bis 2030 verabschiedet, die unter anderem auch eine Diversifizierung der Märkte und Produkte vorsieht. Damit ein Vertrag überhaupt zu-

ENERGIEMINISTERIUM

Irina Jessipowa, Beraterin im Energieministerium, spricht über Versorgungssicherheit und die Zukunft russischer Gaslieferungen nach Europa.

stande kommt, müssen beide Seiten ihre Vorteile daraus ziehen können. Und Genau das ist auch unser Bestreben. Gleichzeitig stehen stabile Beziehungen zu unseren traditionellen Abnehmern in Europa und ihre Versorgungssicherheit im Zentrum der russischen Energiepolitik. Wenn sibirisches Gas teilweise nach China geliefert wird, kommt es da nicht zu

Konflikten zwischen den europäischen und asiatischen Energie-Exporten? Russlands Energievorräte gehören zu den größten der Welt, darunter sind auch über ein Viertel der weltweiten Gasvorkommen. Das russische Energieministerium hat strategische Richtlinien verabschiedet, die eine Erschließung dieser Vorkommen vorsehen. Ferner werden in diesem Bereich im Laufe des nächsten Jahrzehnts mehrere Großprojek-

te realisiert, darunter auch die Flüssigerdgas-Produktion auf der Halbinsel Jamal. Zusätzlich werden heute schon neue Erdöl- und Erdgasvorkommen in Ostsibirien und anderen östlichen Regionen erschlossen. Weiterhin entstehen im Osten Russlands fünf durch Pipelines verbundene Zentren für Gasförderung und -weiterverarbeitung. Mit dieser Entwicklung werden sämtliche Exportverpflichtungen Russlands eingehalten.

Könnte es nicht trotzdem zu Engpässen bei der Lieferung von russischem Gas nach Europa kommen? Selbst theoretisch sind Lieferunterbrechungen ausgeschlossen. Die Inbetriebnahme der Nord-Stream-Pipeline nach Deutschland wird die Versorgungssicherheit über Direktlieferungen zu den europäischen Verbrauchern noch weiter festigen. Das Gespräch führte Olga Senina


Wirtschaft

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Übersicht Nach dem Krisenjahr 2008 schreibt Russlands Automobilbranche wieder schwarze Zahlen

Innovationen aus dem Bausatz ALEXEJ KNELZ RUSSLAND HEUTE

„Der Logan ist ein echt zuverlässiges Auto“, sagt Alexander, Taxifahrer in Moskau, während er im Feierabendverkehr stuntmanartig die Spur wechselt, hupt und den Fahrer eines Toyota-Geländewagens zusammenbrüllt. „330 Tausend hat meiner schon auf dem Tacho, trotzdem läuft er rund wie ein Uhrwerk“, sagt er, als staune er selbst darüber. 34 Jahre schon kutschiert er seine Fahrgäste durch die Metropole, zuerst in einem „Wolga“, einer sowjetischen Oberklassen-Limousine. Später, in den 90er-Jahren, als der städtische Taxistand aufgelöst wurde und er sich selbstständig machte, in rechtsgelenkten Japanern, rostigen Europäern und klapprigen Ladas. Einen Neuwagen konnte er sich nie leisten. Bis vor vier Jahren, als er für rund 7.000 Euro einen neuen Renault Logan (in Deutschland als Dacia Logan bekannt) kaufte. Die flitzigen und in Russland sehr populären Wagen werden im AvtoframosWerk in Moskau gebaut, einem Joint Venture zwischen der Moskauer Stadtregierung und Renault. Die Franzosen halten hier 94,1 Prozent der Anteile. Seit dem Produktionsstart 2005 rollten 260.000 Logans vom Band. Außer bei Avtoframos sind die Franzosen mit Nissan später auch beim LadaHersteller AvtoVAZ eingestiegen.

Russische Auto-Cluster Bis zur Krise wuchs der russische Automobilmarkt um bis zu 30 Prozent pro Jahr. Die Regierung hatte in einigen Regionen Technologieparks und Sonderwirtschaftszonen mit Steuervergünstigungen eingeführt, um internationale Hersteller anzuziehen. Einige Autobauer hatten aber den Trend schon vorher erkannt. In Kaliningrad sitzt der Automobilbauer Avtotor, der seit 1999 BMWs, Kias, Chevrolets und Hummer in Lizenz baut. 2006 kamen die Chinesen mit Chery und der Nutzfahrzeugmarke LCV dazu. Ford eröffnete 2002 ein vollwertiges Automobilwerk in St. Petersburg, wo Focus-Modelle für den russischen Markt vom Band laufen. Im gleichen Jahr wurde Sollers in Nabereschnye Tschelny in Tatarstan dazu, wo heute Fiat und Ssang Yong produzieren. Nebenan sitzt LKW-

Hersteller Kamaz, an dem die Daimler AG beteiligt ist. In einer Sonderwirtschaftszone bei Kaluga baut Renault zusammen mit Volvo Lastwagen. In der gleichen Zone legte schließlich VW nach: Seit 2007 betreibt der deutsche Konzern hier einen vollwertigen Produktionsstandort für VW- und Skoda-Modelle.

So modern wie ein deutscher Betrieb, allerdings auch durch ausländiscne Zulieferer: die VW-Produktion in Kaluga

Der tiefe Fall Bis 2008 schrieb der russische Automobilmarkt tiefschwarze Zahlen: 2,78 Millionen neue Pkws wurden selbst im Krisenjahr 2008 verkauft, davon kamen 1,68 Millionen aus russischer Fertigung. Ein Jahr darauf konnten nur noch 1,39 Millionen Neufahrzeuge abgesetzt werden - der Markt war fast um die Hälfte geschrumpft. AvtoVAZ und andere russische Hersteller standen vor dem Konkurs und konnten nur durch staatliche Investitionen in Milliardenhöhe gerettet werden. In diesem Jahr hat sich der Markt etwas erholt. Bis 2012 sagen Experten sogar einen Neuwagenabsatz auf dem Niveau von 2008 voraus. PSA Peugeot Citroën und Mitsubishi haben auf die Konjunktur reagiert und im April das lange geplante Werk ebenfalls bei Kaluga eröffnet. In Nischnij Nowgorod, 500 Kilometer weiter östlich, wird Volkswagen aktiv: Die GAZ-Werke verhandeln gerade mit dem deutschen Konzern über die Übertragung ihrer Kapazitäten an VW. Auch beim Industrie-Giganten AvtoVAZ, der jährlich ein Prozent zum BIP Russlands beisteuert, ist die Entwicklung jetzt wieder positiv: Nach einem Verlust von fast 1,2 Milliarden Euro im Jahr 2009 rechnet AvtoVAZ dieses Jahr mit einem Gewinn von 23 Millionen Euro. Von der Partnerschaft mit Renault-Nissan profitiert der angeschlagene Autobauer mit über 100 Millionen Euro, die seine Partner in die Produktionserweiterung gesteckt haben. Im Oktober hatte Russlands Premier Wladimir Putin mit Renault-Nissan-Chef Carlos Ghosn sogar eine komplette Übernahme von AvtoVAZ durch das Bündnis diskutiert.

DIE ZAHLEN

RIA NOVOSTI

Wo einst Lada, Wolga und Moskwitsch den Markt beherrschten, rollen heute Ford und VW. Durch Joint Ventures will Russland seine Autobauer modernisieren.

1,5

Millionen Neufahrzeuge wurden seit Anfang 2010 hierzulande verkauft, davon eine halbe Million von russischen, 240.000 von deutschen Autobauern.*

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Prozenz Wachstum erzielte der Absatz von Neufahrzeugen in Russland in den ersten zehn Monaten des Jahres 2010.

454

Pkw auf 1.000 Einwohner wird es in Russland 2030 geben, heute sind es 216. Der Markt soll sich also mehr als verdoppeln.**

* AEB (Association of European Businesses), **SIEMS (Skolkovo Institute for Emerging Market Studies)

rabiate Einfuhrzölle auf Import-Gebrauchtwagen erhob. Dass sich die Automobilindustrie aber nicht nur durch Schutzzölle entwickeln kann, weiß inzwischen auch der Kreml: „Man hat erkannt, dass man mit dem Export von Rohstoffen allein nicht weiterkommt, weil man so extrem konjunkturabhängig ist“, sagt Ewald Böhlke, Branchenexperte und Zukunftsforscher aus Berlin. Also müsse man die Industrie modernisieren, um mit eigenen Produkten am Weltmarkt überhaupt teilnehmen zu können. In vielen Werken ausländischer Hersteller wird aber heute noch nach dem Bausatz-Prinzip produziert: Die Teile kommen aus dem Aus-

land und werden vor Ort zusammengeschraubt. Denn die Qualität der russischen Zulieferer ist konkurrenzlos niedrig: Als AvtoVAZ im Jahr 2004 den komplett neu entwickelten Kleinwagen Lada Kalina vorstellte, meldeten sich bald darauf empörte Käufer wegen unzumutbarer Pannen. Selbst die Werksleitung räumte ein, dass die Qualität der neuen Produkte gering sei und machte dafür die Zulieferer mitverantwortlich. Deshalb setzten die Russen auch in diesem Bereich inzwischen auf internationales Knowhow: Ende Oktober eröffnete der Zulieferer Magna ein Werk im KalugaCluster, das VW, Peugeot und Citroën mit Kunststoffteilen versorgen soll. Gleich-

zeitig wechselte der ExMagna-Spitzenmanager Siegfried Wolf zu Russian Machines, einer großen Industrie-Holding, der auch die GAZ-Werke in Nischnij gehören. Der Experte soll die veralteten Produktionsanlagen modernisieren.

Konventionelle Antriebe reichen nicht Die Komplettsanierung der Automobilindustrie sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, kann aber nicht das langfristige Endziel sein, sagt Ewald Böhlke: „Im Westen ist man mit Effizienz- und Umwelt-Debatten viel weiter“, gibt der Zukunftforscher zu verstehen. Eine innovative Infrastruktur und eine eigene Technologieplattform wären

Die größten Automobil-Produktionsstandorte

Schlechte Qualität Bis heute zeichnen sich AvtoVAZ und andere russische Automobilbauer nicht gerade durch Qualität aus, bieten aber Wagen in einem anderen Preissegment an, als westliche Firmen. Ihre wichtigsten Konkurrenten waren lange Gebrauchtwagen aus Europa – bis Russland Ende 2008 äußerst

Russland baut seine Automobilindustrie neu auf. Neben den Autoriesen GAZ und AvtoVAZ existieren hier Tüftler und Autoschmieden, die erst am Anfang stehen. Wie und wo in Russland derzeit ein eigener Hybrid-Antrieb entwickelt wird, erfahren Sie in der nächsten Ausgabe von Russland HEUTE am 2. Februar 2011.

die Lösung: „Das deutsche Modell hätte in Russland eine Riesenchance“, sagt der Experte, „aber nur wenn man die Korruption einschränken kann“, fügt er an. Anzeichen für eine Weiterentwicklung gibt es bereits: Michail Prochorow, Oligarch und Großindustrieller, lässt gerade ein preiswertes Hybridfahrzeug komplett in Russland entwickeln. Taxifahrer Alexander sind moderne Antriebe jedoch egal: „Wenn die Qualität wie beim Logan ist, würde ich irgendwann vielleicht einen Hybrid kaufen“, sagt er, „aber wenn sie wieder so einen durstigen ‚Wolga‘ bringen, den ich länger reparieren durfte, als er dann fuhr, können sie mich als Kunden vergessen“.


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Politik

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MUAR

RIA NOVOSTI

Moskau Die Absetzung von Bürgermeister Jurij Luschkow markiert das Ende einer Ära

Lückenbebauung nach Moskauer Art: das Gelände der Johannes-der-Krieger-Kirche in den 90er-Jahren und heute

Luschkow hinterlässt ein schweres Erbe 2010 wurde Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow abgesetzt. Nach langer Misswirtschaft hat er die Stadt fast an den Rand des Ruins getrieben. DMITRIJ BUTRIN KOMMERSANT

Wie, fragt man sich, kann das gut gehen? Wie konnte eine Verwaltung, deren Budget (in diesem Jahr etwa 27 Milliarden Euro) in den vergangenen Jahren den Staatshaushalt der Ukraine übertraf, 18 Jahre lang ohne einen einzigen anerkannten Wirtschaftsexperten auskommen? Es konnte nicht gut gehen, und darin liegt die Erklärung für das Ende der Ära Luschkow. Es ist die Geschichte eines langsam entgleitenden Verwaltungsapparats, wachsender Finanzierungsprobleme und der wirtschaftlichen

er Automobilwerks AZLK und des Nutzfahrzeugherstellers ZIL. Trotz beträchtlicher Zuschüsse aus dem städtischen Budget und subventionierter Fahrzeug-Einkäufe balancierten beide Unternehmen ständig am Rande des Abgrunds, bis sie schließlich Konkurs anmelden mussten. De facto hat die Stadt beide Aktiva verloren, zusammen mit den vorangegangenen milliardenschweren Investitionen. Ähnlich erging es hunderten weiteren Betrieben in städtischem Besitz. Es ging weniger um Korruption als schlicht um ineffizientes Management. Gleichzeitig vollzog sich eine „graue“ Privatisierung der lukrativsten Moskauer Betriebe und Immobilien durch Luschkows Mannschaft. So gründete Wladimir Jewtuschenko, damaliger Leiter des Stadtkomitees

Unfähigkeit der Stadtverwaltung. Dabei genoss Jurij Luschkow während seiner Amtszeit den Ruf eines „fähigen Ökonomen“, ja eines „Herren über Moskau“, weil er sich stets für alle Wirtschaftsbelange interessierte. Trotz allem ist es der Stadtverwaltung in den 90er-Jahren nicht gelungen, eine funktionierende Wirtschaft und Industrie aufzubauen. Im Jahr 2008 lag der Wert aller von der Stadt kontrollierten Aktiva bei etwas mehr als zwei Milliarden Euro, während die realen Ausgaben bereits Dutzende Milliarden betrugen. In diesem Licht betrachtet scheint der Ruf eines „fähigen Ökonomen“ maßlos überzogen. Kennzeichnend für Luschkows Misswirtschaft ist auch die Geschichte des Moskau-

für Wissenschaft und Technik, 1993 die Sistema AG. Anfang 2000 übernahm Sistema die städtische Telekom, auf deren Basis später der größte Mobilfunkanbieter Russlands entstand. Heute gehören dazu ein Bauunternehmen und mehrere Elektronikwerke. Jewtuschenko, der sich schon vor Jahren von Luschkow distanziert hat, ist heute einer der reichsten und mächtigsten Unternehmer Russlands.

Landlose Kinder Die städtische Politik der letzten 20 Jahre orientierte sich am Wohnungsbau, wobei die Privatisierung von Kommunalflächen radikal einschränkt wurde. Und während staatliche Baubetriebe ihre tragende Rolle Mitte der 1990er-Jahre verloren, konnten private Bauunternehmen schalten und walten, wie sie

wollten, so sie denn über die nötigen „Ressourcen“ verfügten, sprich Seilschaften verschiedener Interessensgemeinschaften und Cash. Dieser Missstand hat das Stadtbild während der letzten beiden Jahrzehnte bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Eigentlich sollten in Moskau – laut Plan – neue Wohnareale am Stadtrand gebaut und alte Stadtbezirke saniert werden. Doch durch die ungebremste Korruption der Stadtbeamten und einen unregulierten Grundstücksmarkt fiel die historische Altstadt der Lückenbebauung zum Opfer. An den Moskauer Immobilienpreisen, den winkenden Gewinnmargen und den bereits im Kostenplan berücksichtigten Bestechungsgeldern, die schätzungsweise zwischen 35 und 70 Prozent der Baukosten betragen, orientiert sich inzwischen die ganze Wohnungsbaubranche Russlands.

Glanz und Elend des Sozialstaates Parallel dazu hat die „postsozialistische“ Ausrichtung des Ex-Bürgermeisters seit 1991 für weitere Probleme gesorgt. 1996 und in den darauffolgenden Jahren schlugen die städtischen Sozialabgaben mit mindestens zehn Prozent, die Ausgaben für Gesundheits-, Schulund Arbeitswesen mit weiteren 25 Prozent des Haushalts auf die Tasche. Durch diese sozialen Ausgaben steuerte Jurij Luschkow die Stadt in eine finanzielle Sackgasse, die dann auch der eigentliche Grund seiner Entlassung war. Hauptursache für den sozialpolitischen Kollaps Moskaus war jedoch der mangelnde Wille der Stadtregierung, den kommunalen Wohnungsbau als ausgabenstärksten Teil des Budgets zu reformieren. Seit 1991 verstrickte sich das Bürgermeisteramt in einen Widerspruch, der auch theoretisch nicht zu lösen war: Wie senkt man die Ausgaben bei permanent steigenden Kosten für die Dienstleistungen?

Das Luschkow-Team scheiterte so am gleichen grundlegenden Problem, wie zuvor sozial-demokratische Regierungen Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die gingen ebenfalls aus politischer Motivation soziale Verpflichtungen ein, die nicht finanzierbar waren, und sich für die Wirschaft als Wachstumsbremse ohne Beispiel erwiesen.

Die letzten Meter einer langen Straße Wäre Jurij Luschkow am Ruder geblieben, bliebe ein Haushaltskollaps nur eine Frage der Zeit. Kurz nach seiner Entlassung legte der russische Finanzminister Alexej Kudrin vor dem Föderationsrat dar, was aufgrund steigender Sozialausgaben beim kommunalen Wohnungsbau und bei Infrastrukturprojekten alles zurückgeschraubt werden musste. Hatte die Stadt im Jahr 2000 noch 26 Prozent ihres Budgets für den Straßenbau ausgegeben, waren es 2008 lediglich acht Prozent, im ersten Halbjahr 2010 noch 4,4 Prozent. Kein Wunder, dass Moskau tagtäglich im Verkehrschaos versinkt. Die Zahlen beweisen auch, dass die reichste Stadt Russlands schon heute wählen muss zwischen einer Finanzierung des Straßenbaus – oder des Gesundheitswesens. Jurij Luschkow musste sein Amt wegen seiner verfehlten Politik räumen: Der Aufschub dringlicher Reformen, der Aufbau von ausufernden Sozialleistungen, die daraus folgende unkontrollierbare Zuwanderung und eine zentralistische Verwaltung hätten die Stadt zwangsläufig in den Ruin getrieben. Jurij Luschkows Nachfolger bleiben nur zwei bis drei Jahre Zeit, das Ruder herumzureißen. Der Beitrag erschien erstmals im Moskauer Stadtmagazin Bolschoj Gorod (Großstadt). Der Autor, Dimitrij Butrin, ist Leiter des Wirtschaftsressorts bei der Tageszeitung Kommersant.

In den ersten Wochen seiner Amtszeit zeigt der neue Bürgermeister, dass er durchgreifen kann. Die Moskauer beobachten das mit gemischten Gefühlen. GISBERT MROZEK FÜR RUSSLAND HEUTE

Sobjanins Ankündigungen sorgten in Moskau für Hoffung: Er will den Schlendrian und die Korruption unter den 25.000 städtischen Beamten bekämpfen. Unter anderem sollen diese künftig schon um acht Uhr im Büro antreten, um den morgendlichen Pendelverkehr zu entlasten. Sobjanin will überprüfen lassen, warum

ein Kilometer neuer Straße unter Jurij Luschkow zehnmal teurer war als in Europa und wieso die Kosten für den U-Bahn-Bau ständig proportional zu den Erhöhungen der Subventionen anwuchsen. Auch der hoch umstrittene Plan für die Stadtentwicklung, der den Abriss weiterer historischer Gebäude vorsah, wird revidiert. Die Verkehrsprobleme will Sobjanin nicht durch noch mehr Straßenkilometer lösen. So ist ein neues, umfassendes Verkehrskonzept für Stadt und Umland geplant. Es soll Verkehrsleitzentralen geben, ein Park-

VASILI SCHAPOSCHNIKOV_KOMMERSANT

Der Nachfolger packt an, lässt aber keine Köpfe rollen

Steht vor schwierigen Aufgaben: Sergej Sobjanin

and-Ride-System und Parkplätze für die 3,5 Millionen Autos innerhalb der Stadt. Gleichzeitig will der neue Bürgermeister den öffentlichen Nahverkehr ausbauen. Auch der heute sechsspurige Moskauer Autobahnring MKAD, der für seine undurchdringlichen Staus bekannt ist, soll entlastet werden: Für die über 200 Einkaufszentren, die am MKAD liegen, sollen endlich Zufahrten gebaut werden – eine längst überfällige Maßnahme. Befürchtungen in der Moskauer Spitze, Sobjanin werde nach Amtsantritt die Köpfe rollen lassen, haben sich bisher nicht

bestätigt. Luschkows Nachfolger ersetzte lediglich einige wenige Führungsbeamte durch Vertraute aus dem staatlichen Verwaltungsapparat. Für Unmut sorgte dagegen Sobjanins Hauruck-Politik bei seinen Inspektionsgängen durch die Stadt: Vielerorts ordnete er den Abriss von Kiosken an, die seit Jahren rund um die Metrostationen stehen und Fußgänger wie Autofahrer behindern. Sie waren gute Einnahmequellen für die lokalen Bürokraten. Eben jene Bürokraten ließen die Kioske nun rücksichtslos niederreißen – und trafen

dabei auch solche, die eine Genehmigung hatten. Der neue Bürgermeister musste seine Mannen erst einmal zurückpfeifen, um die Aufregung zu dämpfen. Sobjanin wird auch weiterin Probleme mit dem Beamtenheer haben – ohne ist die Stadt aber auch nicht regierbar. Die 24 Strafverfahren gegen Moskauer Spitzenbeamte aus der Ära Luschkow, die die Staatsanwaltschaft derzeit führt, sind zumindest ein Anfang. Der Autor Gisbert Mrozek i st C h ef red akte ur d e r Internet-Zeitung RusslandAktuell.ru.


Politik

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Konflikt In Baden-Württemberg protestieren Bürger gegen einen Bahnhof - Russen kämpfen gegen eine Autobahn

Waldkampf in Stuttgart und Moskau Die Bilder, die in diesem Sommer aus Stuttgart und dem Moskauer Vorort Chimki um die Welt gingen, waren ähnlich: Hier trieben grüne Wasserwerfer deutsche Bürger auseinander, dort trugen russische Milizionäre Demonstranten davon. Russen wie Deutsche stellten sich Bauvorhaben von „übergeordneter Bedeutung“ entgegen, hier einer Autobahn, dort einem Bahnhof. Auf den ersten Blick ähneln sich die Bilder, doch zwischen Stuttgart und Chimki liegen Welten.

DPA/VOSTOCK-PHOTO

MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

Die öffentliche Diskussion über den Bau einer neuen Autobahn von Moskau nach Sankt Petersburg begann mit einem Beinahe-Mord: Im November 2008 wurde Michail Beketow, Chefredakteur der Zeitung „Chimkinskaja Prawda“, brutal zusammengeschlagen. Er überlebte dies wie durch ein Wunder und ist heute Invalide. Beketow hatte in seiner Zeitung über Korruption unter Wladimir Streltschenko, dem Bürgermeister des Moskauer Vororts Chimki, berichtet. Die Planung und Durchführung des Autobahnprojektes war alles andere als korrekt. Auf beiden Seiten der Trasse sollte den Plänen zufolge eine drei Kilometer breite Schneise durch den Wald von Chimki geschlagen werden, die als Raum für „Infrastruktur“ vorgesehen war – in Wirklichkeit handelte es sich um profitables Bauland für Baumärkte und Einkaufszentren. Diese Vorgehensweise ist symptoma-

URY TIMOFEEV

tisch: Bauprojekte werden häufig geplant und beschlossen, ohne dass die Öffentlichkeit in die Diskussion mit einbezogen wird. Und vermutlich wäre auch die Autobahn durch den Wald von Chimki ungeachtet der Proteste einiger Dutzend Ökoaktivisten am Ende gebaut worden – hätten nicht große Moskauer Zeitungen nach der Attacke auf Beketow über den Konflikt in Chimki berichtet. Der Kampf der Umweltaktivisten wurde so zu einem Lackmus-Test für den von Medwedjew verkündeten liberaleren Kurs. Der Protest der Schwaben gegen Stuttgart-21 hingegen ist ungewöhnlich: Üblicherweise sorgen in Deutschland demokratische Mechanismen dafür, dass bei einem derartigen Projekt ein Kompromiss gefunden wird, der am Ende für alle Beteiligten annehmbar ist. Über die Planungen für Stuttgart-21 diskutieren die Baden-Württemberger seit Mitte der 90er-Jahre. Aber die 50.000 Menschen, die Ende September auf die Straße gingen, fühten sich dennoch hinter-

gangen: Sie fürchten, dass die Kosten des Projekts anstatt der im Vertrag festgeschriebenen vier Milliarden Euro am Ende weit höher liegen werden. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen scheint geschwächt. Ihre größte Demonstration veranstalteten die ChimkiGegner am 23. August: Etwa 2.000 Russen kamen da unter dem Motto „Wir alle wohnen im Wald von Chimki“ auf den Puschkin-Platz im Herzen Moskaus. Den Großteil der Demonstranten stellten allerdings bekannte Oppositionelle und Moskauer Aktivisten – die Bewohner von Chimki halten sich von den Protesten eher fern. Süddeutsche Medien berichten über Stuttgart-21 seit die Idee geboren wurde. Mit der Zuspitzung im September wurde der Kampf um den Bahnhof zum bundesdeutschen Thema – und schwappte in die überregionalen Zeitungen und TV-Sender. Auf russischen Fernsehkanälen war vom Kampf in Chimki nichts zu sehen. Lediglich unabhängige Zeitun-

schen Kollegen unterscheidet. Der Stuttgarter Landtag hat inzwischen einen Ausschuss gebildet, der klären soll, wie es zu der Eskalation am 30. September kommen konnte. Während die Demonstrationen in Moskau einigermaßen friedlich verliefen, sind die Sitten im Vorort Chimki rauer. Die Ökoaktivisten, die mit einem Zeltlager im Wald die Bauarbeiten blockieren wollten, wurden von einer Schlägertruppe angegriffen, die ihren Auftrag möglicherweise von einer der Baufirmen erhalten hatten. Anfang November verprügelten Unbekannte mit Baseballschlägern Konstantin Fetisow, einen Wortführer der Umweltschützer, derart, dass er ins Koma fiel. Bis heute ist auch der Angriff auf Michail Beketow nicht aufgeklärt. In Stuttgart bemüht sich seit Anfang Oktober Heiner Geißler, Befürworter und Gegner des Projekts zu einem Kompromiss zu führen. Egal wie Stuttgart-21 am Ende aussehen wird: Die CDU, in Baden-Württemberg seit Ende des Zweiten Welt-

gen wie der „Kommersant“ und die „Nowaja Gaseta“ sowie Internet-Medien berichteten. Unabhängige regionale Medien gibt es in Chimki nicht mehr: Mit der Attacke auf Beketow verschwand die letzte nicht von der Verwaltung kontrollierte Zeitung. Die russischen

Russische Blogger stellen entgeistert fest: Die deutschen Polizisten sind ja genau wie unsere! Fernsehzuschauer erfuhren erst von dem Konflikt, als Präsident Medwedjew am 26. August die Regierung anwies, die Bauarbeiten zu stoppen und öffentliche Anhörungen zu organisieren. Die Methoden, mit denen die Stuttgarter Polizei gegen die Demonstranten vorging, sorgten nicht nur bundesweit für Empörung. Russische Blogger stellten entgeistert fest, dass der Umgang der deutschen Polizisten mit Demonstranten sich offenbar nicht von dem ihrer russi-

krieges an der Regierung, wird bei den Landtagswahlen im März aller Wahrscheinlichkeit nach von den Wählern abgestraft. Die Grünen – Zugpferd der Proteste – könnten in Stuttgart stärkste Kraft werden. In Russland versuchte sich Präsident Medwedjew selbst als Moderator: Anfang Oktober lud er die Vertreter von Baufirmen, Straßenbauexperten und Umweltschützer in den Kreml ein, um sich ihre Vorschläge anzuhören. Politische Folgen sind bislang jedoch nicht in Sicht: Wladimir Streltschenko etwa, Bürgermeister von Chimki, ist weiterhin im Amt. Die Umweltschützer haben jedoch einen wichtigen Etappensieg errungen: Vertreter der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die sich mit einer bedeutenden Summe finanziell an dem Bauprojekt beteiligen will, versicherten den Aktivisten, dass ein Vertrag erst dann unterschrieben werde, wenn ein Kompromiss über die Route der neuen Autobahn gefunden sein wird.

Modernisierung Russland will nicht nur sich selbst sanieren, sondern nun auch seine GUS-Nachbarländer

An der Modernisierung Russlands sollen auch die Nachbarn teilhaben. Dafür sind bis 2020 Investitionen von 133 Mrd. Euro geplant. MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

2009 rief Präsident Medwedjew die Russen zur Modernisierung auf – jetzt plant Russland, die Modernisierung auf seine Nachbarstaaten auszuweiten.

Nach einem Bericht des „Kommersant“ hat die russische „Behörde für Angelegenheiten der GUS“ (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) nun ein Programm ausgearbeitet, das die Vernetzung von innovativen Industriezweigen zwischen den Mitgliedsländern fördern soll. Im Frühjahr 2011 soll das Programm endgültig beschlossen werden. Das Programm sieht unter an-

derem vor, administrative Hindernisse für multilaterale Projekte zu beseitigen und die Ausbildung von Fachkräften zu koordinieren. Als „Priorität“ werden in dem Dokument die Bereiche Nano- und Biotechnologie, alternative Energieträger, Laser-Technologie, Raumfahrtindustrie und zivile Luftfahrt genannt. Die Kosten bis zum Jahr 2020 werden auf 74 bis 133

Milliarden Euro geschätzt. Ob das Geld aus den Staatsbudgets der Mitgliedsstaaten oder auch von privaten Unternehmen kommen soll, ist nach Angaben der Autoren bisher noch nicht geklärt. Die GUS ist ein Staatenbund, zu dem die meisten Länder der ehemaligen Sowjetunion gehören, darunter die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan.

ITAR-TASS

Länderübergreifende Innovationen

Der russische Präsident diskutiert mit seinem kasachischen Amtskollegen Nursultan Nasarbajew gemeinsame Projekte.


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Thema des Monats

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INTEGRATION

HALBMOND ÜBER MOSKAU IM KAUKASUS FÖRDERT DIE REGIERUNG DEN GEMÄSSIGTEN ISLAM, UM DEN FUNDAMENTALISTEN ENTGEGEN ZU TRETEN. DERWEIL STREITEN IN MOSKAU EINHEIMISCHE UND MUSLIMISCHE ZUWANDERER. Die Muslime Moskaus wollen ein neues Gebetshaus am Stadtrand errichten. Viele wehren sich, aus praktischen Gründen – und aus Fremdenfeindlichkeit.

ZAHL

2,5

Millionen Moslems sind in Moskau heimisch. Europaweit leben nur in Istanbul mehr Muslime.

KEVIN O‘FLYNN

Ein Bild, das in Moskau für Unruhe sorgte: Muslime beten an Ramadan auf dem Vorplatz einer Moskauer Moschee.

müssten die Hundebesitzer in die Innenhöfe der Plattenbauten ausweichen. Andere Einwohner geben sich erst gar keine Mühe, ihre Fremdenfeindlichkeit zu verbergen: Sie fürchten eine Zuwanderung ins Viertel – von Tschetschenen und anderen muslimischen Ethnien aus dem Kaukasus. Am 11. September kamen Hunderte Demonstranten an die Wolschski-Allee, dorthin, wo bald die Moschee stehen soll. Aber auch Vertreter der muslimischen Gemeinden Moskaus waren vor Ort. Der Austausch reichte vom konstruktiven Dialog bis zu offener Feindseligkeit. Eine Moschee-Gegnerin kritisierte ausrücklich jene Demonstranten, die versuchten, den Protest ethnisch oder religiös aufzuladen: „Wir Einwohner wollen diese Fläche erhalten, denn es gibt sonst keinen einzigen Park. Diese Leute aber provozieren und machen aus dem Alltagsthema jetzt einen politischen Konflikt.“ Die Russisch-Orthodoxe Kirche unterstützt die Moschee-Gegner nicht, zumindest nicht offen. Die Kirche sei nicht gegen die Moschee kritisiere aber die Behörden, weil sie den Bau einer Russisch-Orthodoxen Kirche am selben Platz nie bewilligt hätten, ließ ein Sprecher des Moskauer Patriarchats wenige Tage nach der Demonstration verlauten. Tatsächlich habe die Stadtverwaltung 2008 mehrere Standorte für eine neue Moschee vorgeschlagen, so Marat-Hasrat Murtasin, stellvertretender Vorsitzender des Muftirats. Der Rat hatte sich dann für die Vor-

rums in Moskau, das extremistische Aktivitäten untersucht, sieht bei den MoscheeGegnern eher fremdenfeindliche Motive. Hauptursache sei ein ethnischer Konflikt, der aufgrund der regen Migration aus den ärmeren Republiken nach Moskau in den letzten Jahren entstanden ist. „Wenn jemand gegen Moscheen ist, dann argumentiert er meistens, dass Aserbaidschaner, Tadschiken und Tschetschenen in die Nachbarschaft ziehen“, erklärt Werchowski. Das Problem sei also eher ethnischer als religiöser Natur. Und ein gefundenes Fressen für diverse rechtsextreme Gruppierungen. Doch nicht alle Einwohner sind gegen den MoscheeBau. Wera Kuitsch, eine 30-jährige orthodoxe Russin, die in einem Schlüsseldienst

stadt Textilschiki entschieden. Laut Murtasin benötigten Moskaus muslimische Bewohner dringend das neue Gebetshaus. „Und ich glaube nicht, dass sich die 500

Muslimische Geistliche fühlen sich von den Behörden hintergangen. Leute, die sich versammelt haben um zu protestieren, nur weil sie nicht mehr mit ihren Hunden spazieren gehen können oder auf ihr Bier im Park verzichten müssen, den fast 200.000 Muslimen in Textilschiki, ernsthaft entgegenstellen können“, so der Vorsitzende des Muftirats. Alexander Werchowski, der Direktor des Sowa-Zent-

am belebten Markt unweit der U-Bahnstation Textilschiki arbeitet, betont, „alle haben das gleiches Recht auf einen Ort zum Beten“. Auch Dmitri, ein älterer Herr und bekennender Atheist, ist für den Bau: „Warum soll das Christentum bevorzugt werden?“, fragt er und fährt fort: „warum sollte Jesus besser dran sein als Mohammed?“ Die Spannungen zwischen den russisch-orthodoxen Christen und dem Islam haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Viele Christen sind der Meinung, Migration aus den armen muslimischen Regionen des Kaukasus oder Zentralasiens verändere das ethnische und religiöse Gesellschaftsbild. Russische Muslime hingegen blicken mit Besorgnis auf die immer stärker werdene Verflechtung von Staat und

IM GESPRÄCH

„Von Integration oder Assimilation kann Alexej Malaschenko, Islamund Kaukasusexperte, spricht über die Probleme bei der Integration russischer Muslime.

Lässt sich die Integration der Muslime in Deutschland und Russland vergleichen? Es ist schwer, da Parallelen zu ziehen. Den Islam in Deutschland haben die Gastarbeiter im 20. Jahrhundert mitgebracht. Er ist Phänomen einer fremden Kultur. Russland dagegen war immer

GRIGORY TAMBULOV_KOMMERSANT

Als Muslime in Moskau das Ende des Ramadans feierten, veröffentlichten russische Medien ein Bild, das bei vielen Lesern für Irritationen sorgte: Es zeigt hunderte kniende Moslems vor einer Moschee. Ein Magazin titelte: „Moskau – Stadt der Muslime“, und meinte, es gäbe zu viele Moslems in der Hauptstadt. Dabei illustriert die Fotografie ein ganz anderes Problem: dass es in Moskau nur ganze vier Moscheen gibt, obwohl etwa ein Fünftel seiner rund 10,5 Millionen Bewohner muslimisch ist. Im industriell geprägten Bezirk Textilschiki im Südwesten der Stadt will die muslimische Gemeinde nun eine neue Moschee für ihre 3.000 Gemeindemitglieder errichten. Schon im November sollten die Bauarbeiten beginnen. Doch das Vorhaben hatte heftige Proteste bei den Bewohnern des Viertels ausgelöst. Sie forderten einen sofortigen Baustopp. In einem offenen Brief riefen über 6.000 Bürger Präsident Dmitri Medwedjew dazu auf, sich der Sache persönlich anzunehmen. Nafigulla Aschirow, einer der Vorsitzenden des Russischen Muftirats, machen die heftigen Debatten Angst. „Es gibt fast 900 Kirchen in Moskau, aber nur vier Moscheen für zwei Millionen Muslime. Da sollte doch jeder, ob Christ oder Muslim, einsehen können, dass das wirklich nicht ausreichend ist“, sagt Nafigulla Aschirow. „Wir sind überrascht, dass manche Leute dies schlicht ignorieren.“ Die Einwände der MoscheeGegner sind weitgehend identisch: Ein solches Gebetshaus werde den Freizeitwert der Viertels empfindlich einschränken und die bitter benötigten Parkplätze vernichten. Die Moschee soll auf der einzigen größeren Grünfläche stehen – wo der Bezirk früher einmal einen Park geplant hatte. Alexander Kusmitschjow, 55-jähriger Programmierer, erzählt, er und alle seine Kollegen seien gegen das Projekt: „Erstens ist dies eine Grünanlage, dann ein Wohnbezirk, und drittens gehen wir hier mit unseren Hunden spazieren.“ Im Falle des Moschee-Baus

SERGEY MUCHAMEDOV

RADIO FREE EUROPE/RADIO LIBERTY

Kirche. Als Fatich Graifullin, Großmufti für den asiatischen Teil des Landes, die Russisch-Orthodoxe Kirche im letzten Jahr um mehr Gebetsstätten für Muslime bat, glaubte er, diese Geste könne die beiden Glaubensrichtungen einander annähern. Radikal eingestellte orthodoxe Gruppierungen fassten sein Anliegen aber als Provokation auf und sahen in ihm kein Angebot zum Dialog. Derweil hat die RussischOrthodoxe Kirche geplant, innerhalb der kommenden drei bis vier Jahre allein in Moskau 200 neue Kirchen zu bauen, um einen engeren Kontakt zu ihren Anhängern pflegen zu können. Denn die meisten Kirchen stehen in Moskaus historischem Zentrum. „Die neuen Gotteshäuser sollen in den äußeren Wohnbezirken entstehen, die zu Sowjetzeiten errichtet wurden. Dort duldete die staatliche Ideologie damals keine Kirchen“, sagt Andrej Kurajew, Professor am Moskauer Priesterseminar. Nach russischen Zeitungsberichten wurden die Pläne für die 200 neuen Gotteshäuser nach der Absetzung des Moskauer Bürgermeisters Jurij Luschkow allerdings vorerst auf Eis gelegt. Viele muslimische Geistliche fühlen sich indes in ihrem Wunsch nach mehr Gebetsstätten übergangen: „Mit anderen Bauprojekten hat es hier noch nie Probleme gegeben. Man hat reihenweise Altbauten abgerissen und stattdessen Gasverteileranlagen, Restaurants und sogar Nachtclubs gebaut“, sagt Nafigulla Aschirow. „Wir dagegen kämpfen seit 20 Jahren um eine Moschee – ohne Erfolg.“

multikonfessionell. Der Islam ist hier seit dem 16. Jahrhundert heimisch.

Wie stark sind die russischen Muslime integriert? Die eine islamisch geprägte Region ist Tatarstan und Baschkirien. Die dortigen Muslime sind vollständig assimiliert: Sie unterscheiden sich kaum von der russischorthodoxen Bevölkerung, haben den gleichen Zugang zu Bildung und gleiche Karrierechancen. Sie haben dabei ihre Kultur, Tradition und Sprache bewahrt und somit die russische Kultur bereichert. Ein zweites isla-

misches Zentrum befi ndet sich im Kaukasus. Dort leben Muslime geballt in einem monokonfessionellen Territorium. Von Integration oder Assimilation kann hier keine Rede sein. Warum nicht? In Tschetschenien und Inguschetien ist die Bevölkerung zu hundert Prozent muslimisch. In Dagestan beträgt der muslimische Anteil 95 Prozent. In ganz Tschetschenien gibt es nur eine einzige


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Thema des Monats

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In Dagestan bestimmen radikale Islamisten die Schlagzeilen. Mit der Gründung von islamischen Universitäten wird nun der gemäßigte Islam gefördert. ANNA NEMTSOVA EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

An einem Wochenende im September warten sechs junge Frauen in langen, farbigen Gewändern und mit Kopftüchern ungeduldig auf ihren Bus. Er soll sie in die dagestanische Hauptstadt Machatschkala bringen, in die Nordkaukasische Universität für Islamische Bildung und Wissenschaft. Die Studentinnen sind ernst und schweigsam. Sie haben sich auf ihr erstes „Zairat“ vorbereitet – den Besuch bei einem Scheich. Ein altes sufistisches Ritual. „Dies ist der wichtigste Tag in meinem Leben“, sagt Renata, eine 18-jährige Studentin und Anhängerin des Sufismus. „Ich werde herausfinden, ob ich eine Murid, also eine Anhängerin meines Lehrers werden kann. Mein Herz wird die Antwort kennen, sobald ich persönlich vor ihm stehe.“ Die von Renata und ihren Kommilitoninnen ausgeübte Religion ist eine moderate Ausrichtung des Islam, die die Regierung verstärkt unterstützt, um dem religiösen Extremismus entgegenzuwirken, der sich in Dagestan und anderen russischen Republiken des Nordkaukasus ausgebreitet hat. In Dagestan herrscht eine Art Guerillakrieg. Selbstmordattentate, Morde an Polizisten, Bürgermeistern, religiösen Anführern und Zivilisten sind an der Tages-

ordnung. Die Verbrechen sind eng mit ethnischen Konflikten, Armut, Korruption und Arbeitslosigkeit verflochten. Um der aus dem arabischen Ausland finanzierten Rekrutierung islamischer Fundamentalisten entgegenzuwirken, will der Kreml nun an sieben islamischen Universitäten, in Moskau, Tatarstan, Baschkirien und vier nordkaukasischen Republiken die Ausbildung moderater religiöser Anführer und Lehrer finanziell unterstützen. Darunter auch in Dagestan. Zur Stärkung des gemäßigten Islam wurde ein Fördertopf eingerichtet: 9,6 Millionen Euro sollen jährlich für Bildung, Stipendien und Informationskampagnen ausgegeben werden. Auch an Renatas Universität soll eine Form des Islam gefördert werden, die die Regierung vertretbar findet. Neben religiös ausgerichteten Fächern besuchen die 1.500 Studenten Vorlesungen zu Journalismus, Betriebswirtschaft, Geschichte, Jura und Finanzwesen. „Als Reformer entwickeln wir einheitliche Methoden für die Lehrerausbildung“, erzählt Maksud Sadikow, Vorsitzender des Rats für Islamische Bildung. „Für die rund 2.500 Moscheen Dagestans müssen wir Imame ausbilden, Hunderte Lehrkräfte für Grundschulen, Koranschulen und muslimische Universitäten. Auch schulen wir Berater für die Polizei und für den FSB, um den Extremismus in der Republik zu bekämpfen.“ Manche Menschenrechtler glauben jedoch, dass die

keine Rede sein“ orthodoxe Kirche, die eher symbolisch errichtet wurde. Der dort praktizierte Islam hat eine radikalere Ausrichtung - insbesondere bei der Jugend - und orientiert sich am Nahen Osten, zum Beispiel an der Region um den Persischen Golf.

onsrate, und zwar sowohl im russischen Inland als auch bei der Zuwanderung aus dem Ausland. In die slawisch bevölkerten Gebiete kommen Muslime aus dem Kaukasus und aus muslimischen Nachbarländern wie Aserbaidschan.

Womit hängt dieses Interesse zusammen? Mit dem niedrigen Lebensstandard in den KaukasusRepubliken. Deswegen haben wir auch eine hohe Migrati-

Wie viele Muslime leben in Russland? Aufgrund der Migration ist es schwierig, die Zahl genau festzulegen: Sie liegt zwischen 16 und 20 Millionen

JURIJ KOSYREW

BildungsOffensive gegen Islamisten

Weitere Inhalte zum Thema www.russland-heute.de

Studium eines moderaten Islam: Studentinnen der Nordkaukasischen Universität für Islamische Bildung und Wissenschaft.

Der Aufbau und die Stärkung der Zivilgesellschaft sind die Lösung für die Probleme Sanktionierung einer bestimmten Form des Islam bei gleichzeitiger Marginalisierung anderer Richtungen den gewalttätigen Extremismus nur verstärken wird. „Um den Islam zu reformieren, muss der Staat alle religiösen Führer zu Wort kommen lassen, nicht nur die regierungstreuen“, sagt Tatjana Lokschina, Vorsitzende der Human Rights Watch in Moskau. Die Gründung zivilgesellschaftlicher Institutionen, die die Menschenrechte schützen – das ist die Lösung für die Probleme Dagestans.“ Unter den Dagestanern jedoch herrscht die Meinung vor, dass der Staat nur eine bestimmte Form des Islam akzeptiere. Wer sich einer konservativeren Ausrichtung anschließt, wird verfolgt. Aischa Jusupowa hat sich von ihrem Mann Eldar Narusow scheiden lassen – um sich vor Repressionen durch die Polizei zu schützen. Die Familie bekennt sich zum

Muslimen, 14 Millionen davon haben die russische Staatsbürgerschaft. Wie ist das Echo in der Bevölkerung? Die eigentlich tolerante Bevölkerung unseres multikonfessionellen Vielvölkerstaates ist unzufrieden mit dem Verhalten der als „dreist“ empfundenen Kaukasier. In der Folge wächst der Nationalismus. Bringt die Migration soziale Probleme mit sich? Migration führt nicht unmittelbar zu sozialen Spannungen: Die Einwanderer aus den GUS-Ländern arbeiten vor allem im Billig-

Salafismus, einer puritanischen, fundamentalistischen Richtung des Islam. „Mein Mann wurde immer wieder verhaftet, weil er angeblich die Extremisten in den Bergen unterstützt hat“, erzählt die 30-Jährige. Trotz ihrer Scheidung wird sie weiterhin überwacht. „Ja, ich bin Salafistin, aber auch friedliche Muslimin, und ich möchte meine Ruhe“, sagt Jusupowa. „Aber das versteht hier niemand.“ Nach dem Ende der Sowjetunion strömten arabische Ideologen in den Kaukasus und propagierten eine fundamentalistische Form des Islam. „Sie lehrten Arabisch und brachten lastwagenweise Wahhabiten-Literatur auf Russisch mit“, erzählt die 37-jährige Lehrerin Patimat Magomedowa. „Sie sagten uns, wir sollten unsere sufistischen Scheiche und unsere eigenen Islamtraditionen vergessen“. Junge Dagestaner studieren heute in Syrien, Ägypten, der Türkei und in anderen Ländern, die kostenlos islamische Bildung anbieten. Laut Schätzungen der Regierung studieren etwa 1.000 von ihnen im Nahen Osten, und zwar überwiegend religiöse Studienfächer.

„Der wichtigste Gedanke unserer Bildungsreform ist die Vermittlung eines grundlegenden Verständnisses des Islam daheim in Russland“, sagt Juri Michajlow, einer der Initiatoren des neuen Bildungsprogramms. „Später, mit 25 Jahren, können die Absolventen als Postgraduierte an Universitäten weiterstudieren, mit denen Russland Verträge hat. Der russische Staat muss registrieren, wer wo im Ausland studiert.“ Doch nicht alle islamischen Universitäten in Dagestan wollen von Moskau unterstützt werden. 5.000 Jahre alt ist die Stadt Gubden, 200 Kilometer südlich von Machatschkala. Zu Sowjetzeiten unterrichteten die „Alims“, wie die Lehrer hier genannt werden, die Kinder heimlich zu Hause. Im letzten Jahrzehnt hat die Gemeinde unter der Führung konservativer Imame ihre Koranschule aus eigenen Mitteln wieder aufgebaut. Doch 2009 wurde ihr die Lehrerlaubnis entzogen, was die rund 500 Zöglinge nicht davon abhielt, weiterhin am Unterricht teilzunehmen. „Die Regierung soll uns in Frieden lassen. Seit Jahrhunderten bilden wir unse-

lohnsektor. Aber nach ihrer Imigration pflegen sie weiterhin ihre althergebrachten Traditionen und folgen gesellschaftliche Normen, die mit den russischen nur schwer vereinbar sind. Aus dem Nordkaukasus, den manche Politiker als „inneres Ausland“ bezeichnen, kommen junge Leute, die auf traditionelle kaukasische Art erzogen sind und Vorstellungen haben, die für eine städtische Bevölkerung befremdlich sind, etwa ihre Vorstellung über Frauen.

achten im Nordkaukasus eine zweite Welle der Islamisierung, ja eine „Schariatisierung“. Unter den Sowjets waren die muslimischen Völker zu „kleinen Brüdern“ Russlands degradiert. Nach dem Zerfall der UdSSR begannen die kaukasischen Muslime, sich mit den weltweit eineinhalb Milliarden Anhängern der islamischen Gemeinschaft zu identifizieren. Sie haben keine Minderwertigkeitskomplexe mehr und sehen sich als Teil des Weltgeschehens, auch bezüglich einer Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen. Zum Motto vieler radikaler Muslime ist die Überzeugung

Birgt das nicht ein gewisses Aggressionspotenzial? Diese Potenziale sind durchaus vorhanden. Wir beob-

re Kinder im Islam aus, wir haben dazu, Allah sei Dank, unsere alten Bücher und unsere Alims“, sagt Direktor Akram. Er lud Journalisten dazu ein, sich ein Bild vor Ort zu machen. Hunderte Kinder hockten auf dem Boden, wiegten sich hin und her und lernten dabei den Koran auswendig. Die Ausbildung, welche die Bildungsbeauftragten des Kultusministeriums vor Augen haben, ist das sicher nicht. Ähnlich wie Lokschina glaubt aber auch Michajlow, dass unterschiedliche Ausrichtungen des Islam sich gegenseitig bereichern könnten - und nicht unterdrückt werden sollten. „Dagestan wird seine Probleme nicht ausschließlich durch politische Maßnahmen lösen können. So drängen wir lediglich die religiöse Opposition aus der Gesellschaft zu den Guerillas“, sagt er. „Stattdessen sollten Debatten in den unabhängigen Medien und in einer funktionierenden Zivilgesellschaft geführt werden.“ Anna Nemtsova schreibt über Russland und den Kaukasus für das amerikanische NewsweekMagazin.

geworden, dass der Islam unbesiegbar ist. Russland erlebte in den letzten 20 Jahren zwei blutige Tschetschenien-Kriege, in denen die Muslime mit radikalen Dschihad-Parolen aufwarteten. Darin gleichen die kaukasischen Muslime allerdings Teilen der europäischen islamischen Diasporas. Alexej Malaschenko ist Mitglied des wissenschaftlichen Rates des Moskauer Carnegie-Zentrums und ein führender Nordkaukasus-Experte. Das Gespräch führte Alexej Knelz


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Das Projekt

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RUSSIA BEYOND THE HEADLINES - EIN GLOBALES MEDIENPROJEKT Seit 2007 produziert die Rossijskaja Gaseta, die größte überregionale Tageszeitung Russlands, monatliche Beilagen über dieses Land. Sie erscheinen weltweit in namhaften Tageszeitungen – und ab jetzt auch in der Süddeutschen Zeitung unter den Titel Russland HEUTE. Ziel des Projekts ist es, das heutige Russland in all seinen Facetten zu präsentieren und das Land, seine Leute und die Stimmung in der Gesellschaft zu zeigen. So, wie es die Leser der internationalen Zeitungen vielleicht nocht nicht kennen, weil oft die nachrichtliche Aktualität im Vordergrund steht und wenig Platz ist für russlandspezifische Themen.

Im Gespräch Der Russland HEUTE-Herausgeber Jewgenij Abow

„Es ist ein Wandel, den Russland durchmacht“

Russland HEUTE fragt seinen Herausgeber, was die Beilage ist, was sie will und was sie in der Süddeutschen Zeitung macht. Herr Abow, die Schlüsselfrage zuerst: Wer finanziert dieses Projekt? Das Projekt wird aus dem Budget der Rossijskaja Gaseta finanziert, das im Staatshaushalt permanent festgesetzt ist, weil die Rossijskaja das amtliche Bekanntmachungsblatt für Gesetze, Regierungsbeschlüsse und Präsidialerlässe ist. Mit anderen Worten – die Regierung. Wie haben denn die anderen internationalen Zeitungen auf die Beilage reagiert? Die Reaktion war immer gleich: Sie fürchteten, sie würden in eine Аffäre hineingezogen, durch die der Kreml seine Propaganda in ihre Zeitungen durchschleusen will. Ist Russland Heute etwa keine Propaganda? Nein, wir machen Journalismus. Und im Qualitätsjournalismus haben Propaganda und Einseitigkeit keinen Platz. Wir erörtern von verschiedenen Seiten, zeigen unterschiedliche Meinungen und drängen keine Standpunkte auf. Wir bringen die Informationen über Russland, die am ausländischen Leser – wie wir glauben – vorbeigehen. Damit wollen wir die Russland-Thematik in der ausländischen Presse vertiefen. Genau das macht der staatliche TVSender Russia Today aber auch… RT macht Nachrichten, wie CNN.

The Daily Telegraph, Großbritannien Russia NOW Auflage 500.000

wollen wir natürlich deutsche Autoren für uns gewinnen.

Wir machen hintergrundstarke Russland-Berichterstattung. RT zeigt internationale Ereignisse aus russischer Sicht. Wir zeigen interne Ereignisse aus internationaler, wie aus unserer Sicht. Glauben Sie, deutsche Leser wissen zu wenig über Russland? Unter den internationalen Lesern sind die deutschen über die Ereignisse in Russland wahrscheinlich am besten informiert. In Russland arbeiten meines Wissens fast 40 deutsche Auslandskorrespondenten, freie Journalisten nicht mitgezählt. Das spornt an. Was wollen Sie einem SZ-Leser dann noch erzählen? Wir wollen mehr über Russland schreiben, und zwar aus der Sicht der Menschen, die dieses Land von Innen her kennen. Wen meinen Sie damit? Unsere Autoren, alles professionelle Journalisten führender und unabhängiger russischer Medien – wie beispielsweise Vedomosti, The Moscow Times, Kommersant, gazeta.ru. Auch schreiben für uns Korrespondenten englischer, italieniescher, französischer und amerikanischer Printmedien. Jetzt, da wir in der SZ erscheinen,

Und sie glauben wirklich, dass der SZ-Leser sich für Russland interessiert? Wie die Erfahrung zeigt, sind Russland-Informationen international doch sehr gefragt. Das Land verändert sich sehr schnell, die Anpassungsprozesse sind entsprechend heftig. Es ist ja auch ein dramatischer Wandel, den das Land gerade durchmacht. In einem Jahr legt Russland einen Weg zurück, für den Deutschland wahrscheinlich ein Jahrzehnt brauchte. Selbstverständlich rechnen wir damit, dass die Hintergründe dieser rasanten Transformationen den Leser interessieren. Wird ihre Arbeit „von oben“ überwacht? Derzeit nur „von unten“: Zwei Mal im Jahr lassen wir Leserumfragen durchführen. Sollte sich herausstellen, dass wir beim deutschen Leser kein Interesse wecken konnten, würden wir Russland HEUTE einstellen. Bis jetzt ist es jedoch in keinem Land so weit gekommen. Die letzte Frage: Werden sie nun im Kreml gelesen? Vor Kurzem hat unser Generaldirektor die Beilagen Dmitri Medwedjew gezeigt. Der Präsident war sehr erstaunt. Er wusste nicht, dass wir monatlich erscheinen. Er surfte ein wenig auf unserer Webseite und fügte sie seinen Favoriten hinzu. Wir haben also mindestens einen Leser im Kreml (lacht).

Die Rossijskaja Gaseta stellt sich vor

Im November feierte die Rossijskaja Gaseta ihren 20. Geburtstag. Die erste Ausgabe erschien am 11. November 1991. Die Tageszeitung ist damit in etwa gleich alt wie das moderne Russland. Die Rossijskaja Gaseta ist das offizielle Amtsblatt der russischen Regierung: Alle Gesetze, Regierungsbeschlüsse und Präsi-

Le Figaro, Frankreich La Russie d‘Aujourd‘hui Auflage 320.000

dialerlasse werden erst dann rechtskräftig, wenn die “Rossijskaja” sie veröffentlicht hat. Dadurch ist auch der amtliche Status der Zeitung bestimmt. Chefredakteur ist seit 2001 Wladislaw Fronin. Mit 31 Lokalredaktionen, 13 Auslandskorrespondenten und einer Auflage von 200.000 ist sie die größte überregionale Tageszeitung Russlands. An Wochentagen erscheint die Zeitung mit 16 Seiten. Die Samstagsausgabe ist doppelt so umfangreich. Russi-

sche Rentner erhalten sie kostenlos. Die Wochenendausgabe erreicht damit eine Auflage von fast 3,5 Millionen Exemplaren. Die Rossijskaja Gaseta wird in 45 russischen Städten und Ballungsräumen gedruckt. Verbreitungsgebiet ist die gesamte Russische Föderation – von Kaliningrad bis Sachalin. Laut TNS Media Intelligence war die Rossijskaja Gaseta im 1. Quartal 2010 die am häufigsten zitierte Zeitung Russlands. Alle Inhalte lassen sich auf russisch unter www.rg.ru abrufen.

El Pais, Spanien Rusia Hoy Auflage 461.000

The Washington Post, USA Russia NOW Auflage 583.000

Folha De Sao Paulo, Brasilien Gazeta Russa Auflage 245.000

Clarin, Argentinien Rusia Hoy Auflage 330.000

PARTNER, DIE ÜBER UNS SPRECHEN Étienne Mougeotte

CHEFREDAKTEUR LE FIGARO, FRANKREICH

Die Zusammenarbeit mit einer großen russischen Zeitung ist sehr wichtig für Le Figaro. Ich finde, die Qualität der Beilage war von Anfang an sehr gut, und sie ist auf diesem Niveau geblieben. Sie hilft uns zu verstehen, was Russland ist, wie sich dieses Land mit seinem riesigen Wirtschaftspotential und bedeutenden Kulturellen Werten entwickelt. Besonders schätze ich die Kompetenz und die Professionalität der Autoren.

Ricardo Roa

DEPUTY EXECUTIVE EDITOR CLARIN, ARGENTINIEN

Diese Beilage ist eine geradezu historische Erfahrung für uns. Selbstverständlich hatten wir anfangs Zweifel, wie das ganze wohl aussehen wird. Aber: die Beilage macht genau das, was unsere Zeitung auch macht und wir haben eine normale Beziehung aufgebaut. Das bedeutet, dass unsere Leser die Beilage nach denselben Qualitätsparametern beurteilen, wie wenn sie andere Beiträge in unserer Zeitung lesen würden.


Das Projekt

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DAS INHALTLICHE KONZEPT

DIE ZAHLEN

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Länder

Derzeit erscheinen die Beilagen von Russia Beyond The Headlines auf vier Kontinenten.

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Sprachen

Die Beiträge werden individuell für jedes Land übersetzt, respektive von russischen Autoren und Muttersprachlern verfasst.

Die Beiträge kommen von: 1. den Länder-Chefredakteuren, die zugleich ein Ressort verantworten. 2. freien Autoren, unabhängigen Journalisten und Korrespondenten, die das Land kennen. 3. einer Zentralredaktion, die Artikel zu Schwerpunktthemen liefert.

Redaktion

Das Team von Russia beyond the Headlines produziert alle Beilagen vor Ort in Moskau.

4. ausgewählten Tageszeitungen, Magazinen und Presseagenturen, darunter Kommersant, Vedomosti, Russkij Reporter oder RIA Novosti. Schließlich unterstützt ein Gastredakteur aus dem Zielland den Chefredakteur bei Themenwahl und Produktion.

Weitere Informationen über Russia Beyond The Headlines: www.rbth.ru

...ab jetzt in der Süddeutschen Zeitung Auflage 423.000

Die Menschen hinter Russia Beyond The Headlines: 40 Mitarbeiter – Länder- und Fotoredakteure, Layouter, Gestalter – produzieren von Moskau aus elf Beilagen in acht Sprachen. Die meisten Kollegen sind jünger als 30 Jahre. Alle haben in dem Land, über das sie ihre Beilage produzieren, jahrelang gelebt und studiert.

The Times of India, Indien Russia & India Report Auflage 600.000 The Economic Times of India Russia & India Business Report Auflage 380.000

Eine Zeitungsbeilage geht online RUSSLAND HEUTE

Duma, Bulgarien Rusia i Bulgaria Auflage 15.000

Russland ist groß, und hier passiert jeden Tag eine Menge. Unsere Printausgabe kann nur einen Teil davon erfassen. Auf www.russland-heute.de finden Sie mehr Informationen, mehr Geschichten aus dem russischen Alltag, Filme, Bildergalerien und Podcasts. Hier können Sie die Beiträge kommentieren, diskutieren, Fragen stellen und sich austauschen – auch über soziale Netzwerke.

RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE AUTORIN ÜBER RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Zu Hause in Moskau Nora Fitzgerald

CENTRAL DESK REDAKTEURIN, WASHINGTON D.C.

Geopolitika, Serbien Rusija i Serbija Auflage 19.000

La Repubblica, Italien Russia Oggi Auflage 300.000

AUTOREN, DIE FÜR UNS SCHREIBEN

Anna Nemtsova, Korrespondentin der Newsweek, gehört zu unseren ständigen Autoren. Sie berichtete etwa über russische Adoptivkinder im Ausland oder die Reform des russischen Strafvollzugs. Ihre Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Migration und der Kaukasus.

Kevin O’Flynn lebt seit 15 Jahren in Russland. Er berichtete für Newsweek, The Guardian und The Times, heute arbeitet er für The Moscow Times und Radio Free Europe. In seinen Beiträgen geht es zum Beispiel um Gesellschaftsthemen wie Minderheiten oder Glücksspiel.

Ich erinnere mich genau an meine Berliner Wohnung in den letzten Tagen meines Aufenthalts in Deutschland. Sie war so leer, dass die Namen meiner Kinder zurückhallten, wenn ich sie rief. Es kam mir unfair vor, diesen Ort verlassen zu müssen: Ich hatte viele wundervolle Menschen getroffen wie den Schriftsteller Ingo Schulze. Sein erster Roman half mir, die alltäglichen Brüche und den Heilungsprozess Deutschlands nach der Wende zu verstehen. Und ich bekam kalte Füße wegen des bevorstehenden Umzuges nach Russland. Sechs Jahre ist das nun her, und heute vermisse ich Moskau so sehr wie einst Berlin. Auf eine unerklärliche Weise wurde die Stadt für mich zu einem Zuhause. Ich lernte eine Romantik, Vertraulichkeit und Offenheit kennen, die man außerhalb des Landes gar nicht wahr-

nimmt. Als ich wieder in Washington war, fühlte ich mich fremd, mehr als je zuvor. Ich hatte aus Warschau, Berlin und Moskau für alle großen amerikanischen Blätter geschrieben. Nun suchte ich eine neue Herausforderung. Und ich fand sie. Die Washington Post brauchte jemanden, der eine neue Russlandbeilage namens „Russia Now“ mitredigieren sollte. Ich be-

fürchtete, die russischen Redakteure wollten über ein „Russland wie wir es gerne sehen“ schreiben, und nicht über das bewegende Land im Umbruch, das ich lieben gelernt hatte. Doch bald wurde mir klar, dass aus dem Projekt eine faszinierende Diskussionsplattform für Meinungsmacher, Intellektuelle und Russland-Experten werden könnte. Und ich könnte es formen. Wir haben mutige Reportagen gemacht: über russische Gefängnisse, über Waisenkinder und Drogentransporte aus Afghanistan, über „Monostädte“ und eine sich aufrappelnde Wirtschaft. Als wir in der Washington Post anfingen, gab es erst drei Beilagen. Heute sind es elf, und wir freuen uns, dass die Süddeutsche Zeitung dazukommt. Das setzt unsere Messlatte höher und bestärkt uns in unserem Ziel: Wie Ingo Schulze wollen wir „simple stories“ erzählen, über das Land und seine Leute. Wir hoffen, dass schon diese erste Ausgabe bei Ihnen ein etwas anderes RusslandGefühl hinterlassen wird.


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Gesellschaft

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Mord Die Kinder Anna Politkowskajas erinnern sich an ihre Mutter, die vor vier Jahren ermordet wurde

SWETLANA PRIWALOWA_KOMMERSANT

Zwei Leben nach dem Tod

Ilja und Wera: Die Kinder Annas gehen eigene Wege

Stand der Ermittlungen eine Überprüfung von Übergriffen an Journalisten zwischen 2001 bis 2005 an. Die Ergebnisse gab er Mitgliedern des Committee to Protect Journalists bekannt: Die Ermittlungen seien in einigen Fällen „nicht vollständig“ oder „mit Versäumnissen“ durchgeführt worden.

Kollegin Natalja Estemirowa, die im Jahr 2009 ebenfalls ermordet wurde, berichtete sie von den Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Ramsan Kadyrow. „Wir haben keine Hinweise darauf, dass Kadyrow für die Ermordung unserer Mutter verantwortlich ist“, sagt Ilja heute. „Die offiziellen Ermittlungen konzentrieren sich auf die eigentlichen Täter, nicht auf die Hintermänner. Es werden wohl viele Monate oder sogar Jahre vergehen, bis die Wahrheit ans Licht kommt“. Wera wohnt nach wie vor im Haus Nummer 8 der LesnajaStraße im Zentrum Moskaus, in dessen Treppenhaus ihre Mutter ermordet wurde. Ebenso wie ihre Mutter und ihr Vater ist Wera Journalis-

tin geworden, derzeit bei einer Nachrichtenagentur. Nach ihrem Abschluss am Moskauer Konservatorium wollte sie zunächst Musikerin werden. Aber der Journalismus lag ihr im Blut. Ilja, ein 29-Jähriger, arbeitet für eine große PR-Agentur. „Politik? Ist nichts für mich. Und das gleiche gilt für Journalismus. Ich will nicht mein ganzes Leben im Schatten meiner Eltern stehen”, sagt er. Auch Wera bleibt der Politik fern, aber aus anderen Gründen: Sie hält den gesamten Politbetrieb für korrupt. Anna Politkowskaja hatte immer wieder betont, schon zum Wohle ihrer Enkelkinder könne sie es sich gar nicht leisten, Optimistin zu sein. Ihre Berichterstattung war

jedoch weniger pessimistisch als vielmehr unerschrocken und ohne Scheuklappen. Das haben ihre Kinder geerbt. Dem demokratischen Prozess in ihrem Land stehen sie kritisch gegenüber. „Ich bin da recht pessimistisch“, gibt Wera zu. „Noch immer können wir nicht frei unsere Meinung äußern. Instinktiv betreiben die großen Fernsehsender Selbstzensur. Ich denke, politische Freiheiten können wir nur dann erwirken, wenn wir gemeinsam auf die Straße gehen.“ Ihr Bruder Ilja beteiligte sich an den politischen Aktionen zur Rettung des Waldes in Chimki. Aber er weiß auch, warum er in den Medien Gehör findet: „Meinen Einfluss schulde ich meiner Mutter“.

deren Verletzungen ihrer Rechte beschäftigt. Bei Journalistenmorden wird tatsächlich oberflächlich ermittelt. Dahinter steckt aber keine finstere Absicht der Regierung. Auch wenn die Behörden an der Aufklärung Interesse haben, können sie nur wenig tun, da die Umstände meist sehr komplex sind. Die Situation wird dadurch erschwert, dass unsere Rechtsorgane ihr Handwerk verlernt haben. Sie wollen nur dann arbeiten, wenn es lukrative Prämien gibt.

kratischen Rechtsstaat wollen, in dem Freiheit und Gesetze herrschen. Der Präsident demonstrierte mit meiner Berufung seinen Willen, das Prinzip „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ auch umzusetzen. Lange hat man ihm vorgeworfen, dass hinter seinen Worten keine realen Taten stünden. Hier haben Sie eine reale Tat.

in Moskau stoppen. Dann hätte ich schon viel erreicht. Die Oppositionellen haben ihre Demonstrationen zwölfmal angemeldet, bekamen aber jedes Mal eine Absage. Ich hoffe, ich kann einen Ausweg aus dieser Sackgasse finden.

PAWEL GOLOWKIN_KOMMERSANT

Am 19. Februar sprach ein Moskauer Gericht die Angeklagten im Prozess Politkowskaja frei. Am 26. Juni kassierte das Oberste Gericht das Urteil und ordnete an, das Verfahren neu aufzurollen. Vor wenigen Wochen forderte Alexander Bastrykin, der Leiter der Ermittlungsbehörde,

Für viele in Russland ist Anna Politkowskaja ein Symbol für Zivilcourage und Unabhängigkeit

Anna Politkowskaja wollte aufhören mit ihren riskanten Ermittlungen, ihrer Familie zuliebe. Gerade war ihre schwangere Tochter bei ihr eingezogen. Doch am 7. Oktober 2006 wartete im Treppenhaus der Mörder. MASCHA FOGEL EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Fünf Monate war der Mord an ihrer Mutter her, da brachte Wera Politkowskaja ein kleines Mädchen zur Welt. Anna heißt es, zu Ehren seiner Großmutter. Wera ist heute Anfang dreißig, ihre Tochter wird bald vier. Ihre Großmutter wäre in diesem Jahr 52 geworden. „Bevor Anna auf die Welt kam, haben wir extra noch die Wohnung renoviert“, erinnert sich Wera.

Erst eine Woche vor dem Mord war sie zu ihrer Mutter gezogen. Ihrer Familie zuliebe wollte die Journalistin einen Strich ziehen. Unter ihre Karriere als Kriegsreporterin im Kaukasus, als Ermittlerin zu den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und der Geiselnahme in einem Moskauer Theater 2002. Mehrfach hatte sie Morddrohungen erhalten, und auch eine Scheinhinrichtung musste sie über sich ergehen lassen. Nach dem Mord vermuteten ihre Freunde und Kollegen, dass die Ermittlungen dem in Russland üblichen Muster folgen würden: Keine Untersuchung, kein Verfahren, keine Aufklärung. Bislang trifft das weitgehend zu: Zwar gab es

einen Prozess, aber die drei Angeklagten wurden freigesprochen. Die beiden Kinder der Journalistin sind ihren eigenen Weg gegangen. Aber sie tragen eine Last: Ihre Mutter ist ein Symbol dafür, wie stark russische Journalisten unter Beschuss stehen, in einem Land, das ihnen keine Sicherheit bietet. Mindestens 22 Journalisten wurden seit 2000 nachweislich wegen ihrer Berichterstattung ermordet, Dutzende Fälle warten auf Aufklärung. Immerhin hat sich das Land im aktuellen Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ vom 153. Platz auf Position 140 hochgearbeitet. Anna Politkowskaja war bis zuletzt in Tschetschenien geblieben. Zusammen mit ihrer

GESPRÄCH MICHAIL FEDOTOW

„Hoffentlich kann ich einen Ausweg aus dieser Sackgasse finden“ DMITRIJ MEDWEDJEWS NEUER BERATER FÜR MENSCHENRECHTE ÜBER FREIHEIT IN RUSSLAND Michail Fedotow, ehemaliger Sekretär des russischen Journalistenverbandes, ist der neue Vorsitzende des Menschenrechtsrates und Berater des Präsidenten. JEWGENIJ ABOW RUSSLAND HEUTE

Anfang November wurde Oleg Kaschin, Journalist bei der Zeitung Kommersant, brutal zusammengeschlagen. Wird man dieses Mal die Schuldigen finden?

Ich bin sicher, die Behörden werden den Fall aufklären. Die Aussichten, dass sie die Täter finden, sind gut. Ob man die Auftraggeber ebenfalls ausfindig macht, ist jedoch fraglich. Präsident Medwedjew äußerte nach dem Vorfall, dass Angriffe auf Journalisten härter zu ahnden seien. Denn wer einen Journalisten behelligt, greift die ganze Gesellschaft an. Wir haben dem Präsidenten deshalb einen Gesetzesent-

wurf zum Schutz von Journalisten vorgelegt. Ich denke, dass er sehr bald vor die Duma gebracht wird. Westlichen Medien zufolge ist Russland für Journalisten eines der riskantesten Länder der Welt. Warum werden hierzulande Journalistenmorde so schlecht aufgeklärt?

Als Leiter des russischen Journalistenverbandes habe ich mich mit vielen Übergriffen auf Journalisten und an-

Also Korruption in unserem Rechtssystem?

Leider betrifft es nicht nur unser Rechtssystem. Korruption zerfrisst unseren ganzen Staat. Sie ist das schlimmste Übel heute. Nach Ihrer Ernennung sagten Sie, Sie seien ein Mensch „offener demokratischer Überzeugungen“. Was meinen Sie damit? Man sollte zu meiner Ernennung jene beglückwünschen, die für Russland einen demo-

Im Unterschied zu Ihrem Vorgänger genießen Sie den Status eines Präsidentenberaters. Was heisst das?

Der Status war mein Vorschlag: In dieser Position kann ich effizienter arbeiten, gerade mit Staatsbeamten. Medwedjew hat mir zugesichert, dass er auf Anrufe seiner Berater innerhalb eines Tages reagiert. Das heißt, ich habe wenn nötig immer eine direkte Leitung zu ihm. Was wollen Sie in Ihren ersten 100 Tagen erreichen?

Die gewalttätigen Konfrontationen (zwischen Oppositionellen und Polizei - Anm. d. Red.) auf dem Triumphplatz

Was planen Sie längerfristig?

Beim nächsten Treffen wollen der Präsident und ich drei Themen ansprechen: Familienpolitik, eine Polizei- und Justizreform und die „Destalinisierung des öffentlichen Bewusstseins“, bei der es darum geht, die Rudimente und Stereotypen der totalitären Vergangenheit zu überwinden. Wir wollen jedoch keine Straßen umbenennen oder Denkmäler abreißen, sondern im Gegenteil Neues erschaffen; zum Beispiel ein Denkmal für die Opfer des totalitären Regimes. Die junge Generation muss die Wahrheit über ihre Vergangenheit kennen. Herr Fedotow, wir danken ihnen für das Gespräch.


Zeitgeschehen

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Schicksal 60 Jahre lang wartete eine nach Kriegsende in die Sowjetunion verschleppte Deutsche auf ihre Rückkehr

Ursula Rossmeisel wurde 1931 auf der Insel Usedom geboren, auf Hiddensee wuchs sie auf. Doch ein Tag im Jahr 1946 veränderte ihr gesamtes Leben. CORNELIA RIEDEL FÜR RUSSLAND HEUTE

Es ist wie eine Zeitreise: Das geklöppelte Tischdeckchen, gemusterte Wandteppiche, die Sessel- und Couchüberwürfe mit Blumenmuster und Ornamenten im Zimmer von Ursula Rossmeisel - der „Reichsdeutschen“, wie sie sich selbst nennt. Im September 2006, Deutschland hatte gerade seinen schwarzrot-goldenen Fußball-Sommer hinter sich, ist sie zurückgekehrt. Endlich. Zurück von einer fast 60 Jahre andauernden Odyssee quer durch die Sowjetunion und Russland. Und fern, fern der Heimat. „Kommen Sie rein in mein Rattenhaus – obwohl – hier gibt es ja wenigstens keine Ratten wie in Nachodka“, sagt Ursula Rossmeisel zur Begrüßung. Ratten gab es in Nachodka, 8.000 Kilometer von hier an der russischen Pazifikküste, zuhauf. Die Deutsche wohnte dort jahrelang in einer „Kommunalka“, einer Baracke mit langem Gang in der Mitte und dutzenden Mietparteien. In ihrem Zimmer – Schlafraum, Wohnzimmer, Spielund Arbeitszimmer in einem – fand sich gerade mal Platz für ein Bett, einen kleinen Tisch und einen Schrank. „Deutschland“. Damals, vor fünf Jahren, füllten sich Ursula Rossmeisels Augen mit Tränen, wenn das Wort fiel. „Auf der Lüneburger Heide“ hatte sie dann leise angestimmt. Dort, wo Ursula Rossmeisel zuletzt gelebt hat, 130 Kilometer von Wladiwostok, haben Bahnstationen keine Namen mehr, Sie heißen nach der Entfernung zur nächsten Stadt „Kilometer 118“ oder „Kilometer 57“.

6.500 Kilometer sind es von hier bis Moskau. Luftlinie. 2010, Stralsund. Eine kleine Wohnung in einer Plattenbausiedlung am Stadtrand. Ursula Rossmeisel breitet alte Unterlagen aus, Geburtsurkunde, einen zerschlissenen BRD-Pass, russische Papiere und jede Menge Fotos. Ihr Balkon quillt über vor Blumen, an der Wand hängen Familienfotos. Alle Verwandten sind in Russland geblieben. 1931 wird Rossmeisel in Swinemünde, dem heute polnischen Swinoujscie, geboren. Ihre Eltern sterben früh, und die 14-Jährige lebt mit ihren drei Brüdern und der Großmutter im Dorf Vitte auf Hiddensee. Als die Insel zu Kriegsende von sowjetischen Truppen eingenommen wird, geht sie aufs Festland. Rossmeisel ist 16, als sie bei der Arbeit als Trümmerfrau in Stralsund von einer sowjetischen Patrouille aufgegriffen wird. Man zwingt sie zum Arbeitsdienst - ihre unfreiwillige Reise gen Osten beginnt. „In der sowjetischen Kommandantur musste ich zusammen mit anderen Mädels sauber machen, kochen und Wäsche waschen“, erinnert sie sich. Dann wird sie in das Sammellager Nr.69 in Frankfurt/Oder gebracht, später ins weißrussische Grodno. Die Jugendliche erlebt Gewalt und Hunger, wird gezwungen, einen russischen Namen anzunehmen. Eine verblasste Tätowierung, kyrillische Buchstaben, auf ihrem Arm erzählt noch aus dieser Zeit. Erst 1957 kann sie wieder ihren deutschen Namen führen und bekommt von den sowjetischen Behörden als Staatenlose ein Ersatzdokument. Weder die sowjetische noch die russische Staatsbürgerschaft wird sie bis zu ihrer Ausreise je annehmen. November 2010. In der Einzimmerwohnung in Stral-

CORNELIA RIEDEL

Ihr Herz schlägt für zwei Länder

Ursula Rossmeisel in ihrer neuen alten Heimat in Stralsund

sund serviert Ursula Rossmeisel Hühnchen mit Kartoffeln. „Fleisch esse ich nur manchmal, ich spare für einen Besuch bei den Kindern im Osten.“ Noch immer klingt ihr Deutsch ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Hier und da mischt sich ein russisches Wort ins Gespräch, sucht die fast 80-Jährige nach den passenden Worten in ihrer Muttersprache. In der Küche hängt ein Bild von Angela Merkel: „Die liebe ich, die will Gutes für Deutschland.“

Die lange Lebensreise von Ursula Rossmeisel

Wenn Ursula Rossmeisel von ihrem Leben erzählt, reihen sich Demütigungen, Ortswechsel und Vertreibungen wie Selbstverständlichkeiten aneinander. Sie lebt in Riga und in Leningrad, bei Archangelsk im äußersten russischen Norden und in der kasachischen Steppe. Ursula Rossmeisel hat hier einen Mann, dort einen, doch keinen heiratet sie, weil ihr die nötigen Dokumente fehlen – überall ist sie die fremde Deutsche. In den 60er-Jahren schreibt sie den ersten Brief nach Hause. Zwei Brüder hat sie noch in Stralsund. Ab 1962 wohnt sie in Karaganda, in der kasachischen Sowjetrepublik, später in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, wo sie als Gärtnerin arbeitet. Aus dieser Zeit stammt ihr BRD-Pass, den Rossmeisel nun hervorholt: Die Seiten lose, einige zerrissen, per Hand 1970 in Moskau ausgestellt. Die westdeutschen Verwandten hatten ihn beantragt. „Ich wollte zurück nach Deutschland“, sagt Rossmeisel. Mehrere Tausend Kilometer fuhr sie nach Moskau, um den Pass abzuholen. Dann sagte ihr Mann Nein. „Er wollte nicht in ein völlig fremdes Land“, erzählt sie. Zwei der fünf Kinder waren auf ihn registriert, gegen seinen Willen konnte sie also nicht gehen. Rossmeisel entschei-

„Meine Heimat ist hier, deshalb bin ich doch hergekommen! Doch ich liebe Russland.“ det sich für ihre Familie. Nach fünf Jahren verfällt ihr deutscher Pass und mit ihm der Traum von der alten Heimat – vorerst. Als die UdSSR zerbricht, beginnt in Tadschikistan ein blutiger Bürgerkrieg, Rossmeisel flieht vor dem Chaos mit ihren drei Enkeln nach Wladiwostok zu einem ihrer Söhne. Das Achselzucken, mit dem sie von dem neuerlichen Ortswechsel spricht, lässt die größeren Brüche in ihrem Leben nur erahnen. Nachodka soll die letzte Station vor der Rückkehr nach Deutschland werden. Es ist ein elendes Leben. 960 Rubel Rente, etwa 30 Euro, bekommt Ursula Rossmeisel pro Monat, dazu 1.500 Rubel Invalidenzuschlag. In der Gemeinschaftsunterkunft zapfen sie das Wasser aus der Heizungsanlage, wenn es gerade kein anderes gibt. „Ich will meine Heimat noch mal sehen, bevor ich sterbe“, sagte Rossmeisel damals. „Der Peti, der ist für mich wie ein Sohn, ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier“, sagt sie heute darüber. „Der Peti“, das ist Peter Schwarz, ein

Dozent, der damals in Wladiwostok unterrichtet. Durch die Bekanntschaft mit ihm wird ihr Traum wieder greifbar. Er organisiert ihr die nötigen Papiere für eine erneute Anerkennung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft und plant mit ihr minutiös die Umsiedlung nach Deutschland. Im September 2006 schließlich ist es soweit: Zusammen mit ihrer Tochter bricht Ursula Rossmeisel nach Moskau auf. In der Deutschen Botschaft erhält sie die Ausreisepapiere, ihre Tochter begleitet sie mit einem Besuchsvisum in die neue alte Heimat. Stralsund sollte es sein, das war klar: ganz in der Nähe der beiden Brüder und nicht zu weit weg von Hiddensee, dem Ort ihrer Kindheit. „An den Flieder am Zollhaus denk ich noch oft. Aber vieles aus meinen Erinnerungen ist jetzt weg. Die Leute sind anders geworden, sie denken nur noch ans Geld und an den Tourismus.“ Ihre Kinder und Enkelkinder nachzuholen, das ist ihr neuer Traum. Von ihrer kleinen Rente spart sie einen Teil für die Übersetzung von Dokumenten, um sie als Aussiedler nachzuholen. „Ich bin Reichsdeutsche, aber meine Kinder sind Russlanddeutsche, sie haben ein Recht, herzukommen.“ Ihre Rückkehr nach Deutschland, die bereut sie nicht. „Am Anfang war es schon sehr einsam hier“, sagt sie. Denn ihre Tochter ist bald zurückgekehrt, ins alte Leben nach Nachodka. Aber ihr Bruder besucht sie ab und zu, an anderen Tagen kommt die Nachbarin Agnes zum Essen vorbei. Dann gibt es russischen Borschtsch und Manty, zentralasiatische Maultaschen. Ursula Rossmeisel schwärmt von ihrem neuen Leben, erzählt von den üppigen Blumengeschäften, von sauberen Straßen und Hausfluren und den hilfsbereiten Mädchen einer kirchlichen Organisation. Sie würde sich ihre kleine Rente gern ein wenig aufbessern: „Selbstgemachtes auf der Straße verkaufen und sich etwas dazuverdienen mit dem, was man im Garten angebaut oder gestrickt hat, so wie in Russland.“ Doch ohne Gewerbeschein ist das in Deutschland nicht erlaubt. „Aber ich halte den Kopf hoch und schaue geradeaus, so gehört es sich für ein deutsches Mädel!“ Es ist, als schlügen in der Brust von Ursula Rossmeisel zwei Herzen. „Ich liebe Russland - und ich liebe dieses Land“, sagt sie irgendwann. Im Januar war sie mal wieder ein paar Wochen in Nachodka. Doch ganz zurück nach Russland, das will sie nicht. „Meine Heimat, das ist doch hier ...“


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Alltag

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fuhr ich mit hundertprozentiger Sicherheit, welche „leider überhaupt nicht gut schmeckt“. Wir hätten ewig so einkaufen können, doch eines Tages war Maria weg. Verschwunden von heute auf morgen. War sie festgenommen worden? Oder abgeschoben in die Ukraine? Ich stand vor einem riesigen Problem: Wie sollte ich meine Stammverkäuferin ersetzen? In der Tat eigneten sich bei Weitem nicht alle Stände zum täglichen Einkauf. Nach einigem Suchen fand ich dann doch Ersatz. Drei Buden weiter in Richtung Metro-Eingang versorgten wir uns von da an bei Gülya aus Aser-

Nachruf Meine lieben Obstverkäuferinnen - wo sind sie geblieben?

Friede den Konsumpalästen

Auf den Märkten gehörte Betrug zum Alltag wie das Gedränge in der Metro.

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Wo sich früher Babuschkas und Obsthändler aus den Sowjetrepubliken in dicke Mäntel hüllten ...

FÜR RUSSLAND HEUTE

Der Schneematsch reichte bis zu den Knöcheln. Eine riesige Menschenmenge quälte sich mit schweren Einkaufstaschen durch das Labyrinth aus Blechcontainern und alten Lastwagen, von deren Ladeflächen irgendwelche Waren verkauft wurden. „Großmarkt“ nannten sich die apokalyptischen Handelsplätze an den Stadträndern von Moskau, aber hier kauften keine Großhändler ein, sondern das einfache Volk. Auf diesen wilden Märkten gab es alles: steifgefrorene Fische aus dem Pazifik, deutsche Joghurts, schwedisches Erdbeermüsli, Toilettenpapier, Hundefutter und Sommerkleider. Damals, im unvorstellbar lange zurückliegenden Jahr 1995, liefen wir sehr häufig über den „Großmarkt“ an der Metrostation „Jugo-Sapadnaja“ – „Südwestliche” – fast schon am Stadtrand Moskaus. Einmal, als das Wetter wieder besonders schaurig war und uns der Schneeregen in die Gesichter wehte, meinte ein Kommilitone, der für ein Auslandssemester nach Moskau gekommen war: „Warte es nur ab: In zehn Jahren steht hier ein Supermarkt mit blank geputzem Boden.

Und das einzige, was beim Einkaufen stört, wird die Musik sein, die von der Decke plärrt.“ Ich schwieg dazu, aber ich erklärte meinen Bekannten insgeheim für völlig verrückt. Dabei erwies sich seine Zukunftsprognose als vollkommen korrekt.

Supermärkte fürs Volk 1995 gab es in ganz Moskau mit seinen zehn Millionen Menschen nur eine Handvoll Supermärkte. Die Preise waren in Dollar ausgezeichnet und so hoch, dass kaum jemand dort einkaufte. Später entstand mit der ersten Filiale der türkischen Ramstore-Kette ein Supermarkt für die ganz normalen Moskauer. Das war Ende der Neunziger noch eine kleine Sensation. Heute stehen die riesigen Einkaufszentren fast an jeder Straßenecke. Unser Stadtviertel an der Metrostation „Wojkowskaja“ blieb bis zuletzt supermarktfrei. Es gab nur ein paar kleine Lebensmittelläden für die alltäglichen Dinge. Ganz viele Waren kauften wir deshalb an der U-Bahn. Direkt an den Ausgängen waren ganze Reihen von Holzbuden, Zelten und kleinen Kiosken aufgestellt, wo es vor allem Obst und Gemüse zu kaufen gab.

Die Verkäuferinnen waren wohl allesamt illegale Einwanderer aus den früheren Sowjetrepubliken. Menschen, die oft sieben Tage in der Woche von morgens bis neun Uhr abends schufteten, ohne Rechte und für einen miserablen Lohn. Die junge Usbekin, die in einem Kiosk neben unserem Hochhaus in der Heizkörper-Straße rund um die Uhr Zigaretten, Bier und Kartoffelchips vorrätig hatte, schien in dem umgebauten roten Bauwagen ohne Räder auch zu schlafen. Für die Moskauer hatte dieses Ausbeuter-System einen enormen Vorteil. Sie konnten zu jeder Tages- und Nachtzeit wenige Schritte von der Haustür alles Notwendige einkaufen. Es gab aber auch einen nicht unerheblichen Nachteil. Auf den Märkten gehörte Betrug zum Alltag, wie das Gedränge in der Metro. Zu hoch abgewogene Äpfel, falsch abgezähltes Wechselgeld, verfaulte Paprika – über die Jahre kam da eine ansehnliche Summe zusammen. Nach einigen sehr ärgerlichen Erfahrungen hatte ich mir mein eigenes Einkaufssystem zurechtgelegt. Weil ich mich nicht mehr von anonymen Händlern übers Ohr hauen lassen wollte, die noch dazu ständig wechselten, beschloss ich, nur noch bei

ganz bestimmten Ständen einzukaufen. Mein Obst und Gemüse holte ich nach einigen Tests bei Maria aus dem ukrainischen Lwow (Lemberg) am hinteren MetroAusgang. Und die Rechnung ging auf. Der tägliche Besuch am Obststand wurde zum Ritual. Bald gab es zum Kilo Bananen noch regelmäßig eine Kiwi „für das kleine Mädchen“ oben drauf. Wenn vier Sorten Tomaten vor dem Stand ausgelegt waren, er-

ITAR-TASS

KARSTEN PACKEISER

baidschan mit Gemüse, Mandarinen, Äpfeln und netten Sprüchen. Das abendliche Einkaufen machte wieder richtig Spaß. Nach einigen Wochen freilich kehrte Maria an ihren angestammten Platz zurück – sie hatte sich alle ihre freien Tage für einen längeren Heimaturlaub zusammengespart. Nun stand ich vor einem wirklichen Dilemma. Auf dem Nachhauseweg von der U-Bahn kam ich gezwungenermaßen an beiden Ständen meiner Stammverkäuferinnen vorbei. Beide grüßten mich jedes Mal schon freundlich von Weitem, schließlich hatten sie sich an meine täglichen Einkäufe gewöhnt. Wir haben sehr, sehr viel Obst gegessen in jenem Herbst. Zugegeben: Die Stände, in denen die Verkäuferinnen im Winter versuchten, sich hinter durchsichtigen PVCPlatten vor der Kälte zu

schützen und die ausgelegten Früchte vor dem Erfrieren zu bewahren, passten eigentlich nicht mehr richtig ins 21. Jahrhundert. Und mit jedem Jahr wurde es verwunderlicher, dass der nette CD-Händler immer noch seine raubkopierten Auslagen präsentieren durfte. Mehrmals unternahmen die Behörden schließlich Anläufe, den ganzen Markt am Metro-Ausgang aufzulösen. Ihre Aktionen begründeten sie mit fehlenden Kassenbons, dem Kampf gegen illegale Zuwanderung und der Gefahr von Terroranschlägen. Über Nacht waren die Kioske dann geschlossen, aber nach einigen Tagen trauten sich die ersten zurück an die Arbeit, und spätestens nach zwei Wochen rollte wieder der Rubel, als wäre nichts gewesen. Tatsächlich waren meine Obstverkäuferinnen und ihre Kolleginnen da aber schon angezählt und mittlerweile sind alle fliegenden Händler von „meinem“ Metro-Eingang verschwunden. Stattdessen hat auf der anderen Straßenseite ein neuer, rund um die Uhr geöffneter, riesiger Supermarkt eröffnet - klimatisiert, mit Einkaufswagen und elektronischen Kassen. Die Moskauer finden das ganz gut so. Nur einmal im Jahr wird der Gehweg zur U-Bahn noch immer zum Basar. Im Herbst kommen die Lastwagen aus Südrussland und Mittelasien und laden direkt vor den Hochhäusern riesige Berge von Wassermelonen ab, mitsamt Melonen-Wächter, der neben seinen Waren oft auch übernachtet und seine Mahlzeiten zu sich nimmt. Denn eine Vorliebe lässt sich nicht so schnell ändern: Russen wollen ganze Melonen. Keine in Klarsichtfolie abgepackten 300-Gramm-Portionen aus dem Supermarkt.

... bieten heute gläserne Konsumpaläste in Plastik abgepacktes Obst und Gemüse


Meinung

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KASCHIN UND MEINE SCHÖNE WELT Swetlana Koltschik JOURNALISTIN

m Wochenende vorvier Wochen saß ich mal wieder an einer Kolumne über die Feinheiten der Romantik in modernen Beziehungen, als mich die fürchterliche Nachricht über den Angriff auf Oleg Kaschin, Journalist bei der Zeitung Kommersant, erreichte. Erst war ich fassungslos. Danach stellte ich mir mehrere Fragen: Warum mache ich das hier eigentlich? Warum schreibe ich über Liebe, Sex und Reisen statt über den Fall Chodorkowski oder Wirtschaftsskandale? Warum habe ich mich für einen risikolosen und oberflächlichen statt engagierten Journalismus entschieden? Fehlt mir Courage? Bin ich pessimistisch? Oder nur desillusioniert? Höchstwahrscheinlich von allem ein bisschen. Seit Mitte der 90er bin ich Journalistin. Der Beruf hatte damals ein romantisches Image. Vielleicht retten wir die Welt nicht, dachten wir, aber wir können sie ein bisschen verändern. Dieser Gedanke bedeutete uns viel, als wir im ersten Semester an der Fakultät für Journalismus der Moskauer Lomonossow-Universität unser Studium begannen.

A

Journalisten des Kommersant hielten bei uns Vorlesungen und Seminare. Und wurden unsere Vorbilder. 1996 fing ich als Stadtreporterin bei der damals unabhängigen und liberalen Wochenzeitung Argumenty i Fakty an. Fünf Jahre lang schrieb ich über die Stadtverwaltung, über Straßenbau, Schulen, Kommunalwesen, Obdachlose und zahllose andere Großstadtthemen. Bis ich eines Tages alles liegen ließ und zum Studium an die Columbia University in New York ging. Nach einem Job als Reporterin bei USA Today kehrte ich nach Russland zurück. Von Zeitungen wollte ich nichts mehr wissen. Vor mir lag die Welt der Hochglanzmagazine. Sie zahlten gut und waren flexibel bei Terminen. Sie suggerierten ihren Mitarbeitern den Lebensstil eines Kosmopoliten, was für mich damals wie heute sehr anziehend ist. Aber noch viel wichtiger: Ich konnte dort schreiben, was ich wollte. Unsere Realität war eine andere als die offizielle. Ich nahm eine Stelle als Redakteurin bei einem Frauenmagazin an und hüllte mich fortan in ein Informations-Vakuum. Das ist sehr angenehm: Mein Blatt sieht schön aus, es duftet gut, und es offenbart prêt-a-porter-Lösun-

gen für Leserinnen, die sich als „eine Frau, die alles hat“ fühlen. Es ist fast komplett politikfrei. Ein nachgedrucktes Interview mit Obama war es nicht. Als wir danach ein Porträt über die russische Präsidentengattin schreiben wollten, rief ihre Pressestelle nie zurück. Ein paar „harte“ Geschichten machte ich aber auch hier: Ich berichtete aus dem Nordkaukasus über Frauen

in Hilfsorganisationen oder aus Tschuwaschien über die Frauen in der Regierung. Ich finde es gut, dass mein Magazin einen konsumfreudigen Lebensstil predigt. Wir verkaufen Träume als Zuflucht vor der schmerzhaften Realität. Vielleicht brauchen Französinnen oder Britinnen diese Ablenkung nicht, die Russinnen schon. Gerade weil nur wenige sich die von uns beworbenen Dinge leisten können.

LEBEN SIE WOHL, HERR LUSCHKOW. UND AUF NIMMERWIEDERSEHEN Grigorij Rewsin KUNSTHISTORIKER

oweit ich weiß, hat Jurij Luschkow niemanden auf dem Gewissen. Keiner erfror, als er die RetschnikSiedlung abreißen ließ und die Polizei ihre Einwohner bei Minus 30 Grad aus den Häusern trieb. Niemand fiel dem Feuer zum Opfer, als manche Häuser Moskaus in Flammen aufgingen. Das erleichterte für Luschkow den Abriss, wenn es für mich auch häufig nach Brandstiftung aussah. Er ließ die Häuser ohne ihre Bewohner lodern, zumindest erhielten sie immer eine Chance, vorher rauszukommen. Hin und wieder wurde jemand unter

S

Trümmern begraben, wie beim Deckeneinsturz des Transwaal-Wasserparks 2004. Das kann aber auch böses Schicksal gewesen sein. Luschkow verfolgte eine ganze Reihe von Journalisten strafrechtlich und brachte sie vor Gericht. Und obwohl es bei diesen Prozessen nicht immer rechtens zuging, schickte er ihnen keine Bomben und ließ sie nie verprügeln. Es waren stets Prozesse, die für die Presseleute mit Strafen und Dementis endeten, nie aber im Knast. Ich habe Luschkow 15 Jahre lang kritisiert, ausgelacht und verhöhnt. Und er hat nie versucht, mich umzubringen. Ich bin der lebende Beweis. Könnte woanders aber auch ein toter sein. Und dafür kann

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de FÜR SÄMTLICHE IN DIESER BEILAGE VERÖFFENTLICHTEN KOMMENTARE, MEINUNGEN UND ZEICHNUNGEN SIND AUSSCHLIESSLICH IHRE AUTOREN VERANTWORTLICH. DIESE BEITRÄGE STELLEN NICHT DIE MEINUNG DER REDAKTEURE VON RUSSLAND HEUTE ODER VON ROSSIJSKAJA GASETA DAR.

Moskau hat eine gravierendere Stadterneuerung erlebt als unter Stalin ich ihm nur danken. In unserem Land gibt es Regionen, über die man so nicht schreiben könnte. Will man Jurij Luschkow bewerten, braucht man besondere Maßstäbe. Vor seiner Absetzung war meine Werteskala europäisch geprägt: Ich richtete ihn nach meiner Vorstellung Moskaus von 1992, als ich noch träumte, wie schön die russische Hauptstadt hätte werden können. Das war ein

Fehler. Luschkow wurde ja nicht in Kitzbühel geboren, da hat er nur sein Anwesen. Er ist Moskauer, geboren am Pawelezkij-Bahnhof. Er liebte Moskau aufrichtig und von ganzem Herzen Und er schenkte seiner Geliebten Gebäude-Diamanten und Verkehrsring-Colliers. Nun gut, statt kostbarer Juwelen und Meisterstücke der Goldschmiedekunst jubelte man ihm häufig billige Fälschungen und minderwertigen Modeschmuck unter. Er war ja auch kein Diamantenspezialist, er wollte es doch nur schöner haben. Luschkow war Baufanatiker: 20 Jahre lang hat er jede Woche jede Baustelle der Stadt persönlich abgeklappert. Er liebte das Schöne

Die anderen wollen träumen - und sich Ziele setzen. Ich sehe nicht fern und lese keine Zeitungen. Die Nachrichten hole ich mir aus dem Internet. Meine eskapistische Haltung ist ein Kompromiss, den ich bei meiner Rückkehr nach Russland einging. Nicht jeder kann für die Wahrheit kämpfen, redete ich mir ein. Und dass ein scharfsinnig und witzig verfasster Text über zwischenmenschliche Bezie-

und Laute. Er liebte Künstler und ihre Skulpturen. Darunter waren seltsame Gewächse wie der Bildhauer Zereteli oder der monarchistische Maler Glasunow. Doch leider fand Luschkow nie die Zeit, ernsthaft an seinem Geschmack zu feilen. Er liebte die Würze und die Schärfe des Lebens. Er liebte das Theater, er liebte Feste, auf denen alle lustig und zufrieden waren, tanzten, tranken und feierten. Sich selbst und anderen versüßte er das Leben mit seinem Imkerhonig aus eigener Produktion. Ein Russe durch und durch. Aufgrund seiner leidenschaftlichen Art wurden seine Interessen zum Thema der Öffentlichkeit. Mit einer Ausnahme: Von seiner Hobby-Imkerei ließen sich nur wenige anstecken. Ihm ist es zu verdanken, dass die Moskauer heute ein reges – wenn auch negatives – Interesse für Skulpturen, architektonische Meister-

hungen ebenso wichtig ist wie politische Recherche. Ich fl iege jeden Monat ins Ausland und schreibe darüber bei Facebook. Ich spiele mir vor, in einem freien und transparenten Land zu leben, fast im Westen. Vielleicht sogar besser als im Westen, weil es für die jüngere Generation dank der aufstrebenden Wirtschaft mehr Möglichkeiten gibt. Aber viele meiner Journalistenkollegen machen keine Wellness-Dienstreisen auf die Malediven. Wenn ich höre, dass sie für das, was sie sagen oder schreiben, fast getötet werden, dann will ich nicht mehr in diesem Land leben. Doch ich glaube an die Macht des geschriebenen Wortes und an den Wandel, den es bewirken kann – wenigstens in den Köpfen. Ich glaube, dass wir viel mehr Journalisten wie Kaschin brauchen. Leider wird man nicht gerade motiviert, wenn man sieht, was Menschen passieren kann, die diesen Job gut machen. Ich jedenfalls habe enormen Respekt vor Journalisten, die immer noch Journalismus machen. Dieser Artikel erschien bei der Nachrichtenagentur RIA Novosti

Swetlana Koltschik, 33, ist stellv. Chefredakteurin der russischen Marie Claire.

werke und Neubauten entwickelt haben. Ich hatte viele Gelegenheiten, Luschkow zu kritisieren und auszulachen. Danke, dass ich noch lebe, danke für die Vielzahl an Themen. Und sonst? Nichts zu danken. Moskau hat in den letzten 15 Jahren eine gravierendere Stadterneuerung erlebt als unter den Avantgardisten und Stalin zusammen, so gewaltig wie in Berlin oder Schanghai. Die Stadt hätte eine Welthauptstadt der Architektur werden können und wurde es nicht. Sie könnte einzigartig sein, mit Straßen, Häusern und Höfen, die Geschichte verströmen. Sie ist es nicht. Und deswegen bin ich untröstlich. Leben Sie wohl, Jurij Michajlowitsch, danke und auf Nimmerwiedersehen. Grigorij Rewsin ist Kunsthistoriker und Kolumnist der Tageszeitung Kommersant.

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COPYRIGHT © FGU „ROSSIJSKAJA GASETA“, 2010. ALLE RECHTE VORBEHALTEN AUFSICHTSRATVORSITZENDE: ALEXANDER GORBENKO; GESCHÄFTSFÜHRER: PAWEL NEGOJZA; CHEFREDAKTEUR: WLADISLAW FRONIN ALLE IN „RUSSLAND HEUTE“ VERÖFFENTLICHTEN INHALTE SIND URHEBERRECHTLICH GESCHÜTZT. NACHDRUCK NUR MIT GENEHMIGUNG DER REDAKTION. REDAKTION@RUSSLAND-HEUTE.DE

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Lifestyle

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Mode Designer von Moskau bis Magnitogorsk sorgen auf internationalen Modeschauen für Aufsehen

OLGA BORTE EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Für russische Designer gelten besondere Regeln: Erst müssen sie ausländische Trendsetter eingekleidet haben, bevor ihre eigenen Landsleute auf ihre Mode aufmerksam werden. Auch andere Hürden sind den jungen, unbekannten Modemachern in den Weg gelegt. Eine lokale ModeInfrastruktur existiert vielerorts nicht, hinzu kommen logistische Handicaps und ein Mangel an Qualitätsstoffen und Accessoires. Kein Wunder also, dass die modischen Einzelstücke hinterher meist viel teurer als erwartet ausfallen. Obwohl der Weg bis zum Catwalk hart ist, haben in letzter Zeit auch in der russischen Provinz Dutzende Boutiquen aufgemacht, die auf russische Modemarken spezialisiert sind. Die kreativsten Köpfe haben trotz aller Anfangsschwierigkeiten auf dem Laufsteg und in den Medien für Aufmerksamkeit gesorgt, und das nicht nur in Russland. Mit dazu gehören Alexander Terechow, Dmitrij Loginow, Max Tschernitsow, Vika Gasinskaja und Leonid Alexejew. Im Jahr 2009 erntete der junge Moskauer Alexander Terechow viel Lob auf dem

Portal Style.com. Angelina Jolie, Mischa Barton und Dannii Minogue defilierten in seinen Kleidern. Heute will er mit seinem Label, das jedes Jahr vier Kollektionen herausbringt, in Russland und den GUSStaaten expandieren. Terechow nennt seine Arbeitsphilosophie „demokratischen Luxus“. Seine Kundinnen müssten Weiblichkeit, Eleganz, Erotik und Schlichtheit schätzen. Dmitrij Loginow hatte den Nachwuchswettbewerb für junge Designer in seiner sibirischen Heimatstadt Krasnojarsk gewonnen, bevor er vor zehn Jahren nach Moskau kam. Kurz darauf flog er nach London und trat ein Praktikum in der russischen Redaktion des L’Officiel-Modemagazins an. Noch eine ganze Weile blieb er ein unbekannter Designer mit immer wenig Geld in der Tasche. Die Wende kam, als er vor einigen Jahren unter dem Label Arsenicum eine eigene Herrenkollektion herausbrachte. Seine elegant geschneiderten Anzüge ernteten auf Anhieb euphorisches Lob. Godfrey Deeny von Fashion Wire Daily, einem renommierten New Yorker Modenetzwerk, nannte Loginow den „neuen Stern am Mode-Himmel Russlands“. In diesem Jahr präsentierte er erstmals auch eine Damenkollektion auf der Aurora Fashion Week in St. Petersburg, die

Russian Fashion Week

MAX AVDEEV

Die Russian Fashion Week (RFW) hatte ihre Premiere im Jahr 2000, inzwischen findet sie zweimal im Jahr statt und ist eher zum Laufsteg für das Show Business als für professionelle Modemacher

gewoden. Trotzallem ist jede RFW ein großer Event, der Modemacher aus aller Welt anzieht, auch aus Deutschland: Oktober 2010 stellte Schunk & Rosenfeld bei der RFW seine Kollektion vor.

sich an kurzgeschnittenen klassischen Abendkleidern orientierte. Auch Wika Gasinskaja ist in der Szene bestens bekannt. Regelmäßig erschienen schrille Fotografien von ihr in den Blogs während der Russischen Modewoche. Tatsächlich lenkte ihr Äußeres zeitweise von ihrem Werk ab. Das konnte sie aber nicht davon abhalten, während der letzten beiden Modesaisons zu einer der einflussreichsten Designerinnen Russlands zu avancieren. Ihr Showcase wurde im vergangenen Sommer bei der Haute Couture-Woche in Paris im Mode-Tempel Collette vorgestellt, was reges Interesse für die junge Mode Russlands weckte und für Schlagzeilen sorgte. Gasinskaja ist Workaholic, viele ihrer Stücke fertigt sie in Handarbeit. Und sie verwendet Stoffe und Materialien von höchster Qualität. „Ich habe kein Kapital im Hintergrund“, sagt sie. „Ich wachse und entwickle mich nur dank meiner Arbeitseinstellung. So gesehen bin ich eine Vertreterin der alten Schule.“ Max Tschernitsow ist selbst unter den Paradiesvögeln der russischen Designer ein Rebell. Als promovierter Philologe der Universität Magnitogorsk und Theoretiker der zeitgenössischen russischen Mode provoziert er mit skandalösen Outfits, darunter einer Selbstmordattentäterin mit Sprengstoff-Attrappe. In diesem Jahr hat er vorrevolutionäre, sowjetische und zeitgenössische Elemente in einem Herrenanzug vereint. Seine T-Shirts mit exzentrischen Druckmustern sind Verkaufsschlager. Natürlich darf auch die nördliche Hauptstadt des Landes – St. Petersburg – nicht fehlen. Dort ließ Leonid Alexejew die zerbrechliche, edle und doch starke Femme Fatale wiederauferstehen. 2004 wurde er während einer gemeinsamen Show mit Leonid Alexejew entdeckt, als die beiden Designer einen katholischen Kirchenchor einkleiden durften. Danach ging der junge Modemacher nach London, wo er heute lebt und arbeitet. Letztes Jahr kürte ihn das russische GQHerrenmagazin zum Designer des Jahres.

Exzentriker Max Tschernitsow und seine Models präsentieren neue Kollektionen

Russen zwischen Luxus und Understatement Russland ist groß und Moskau sein Laufsteg. Durch das raue Klima sind die Moskowiter in der Farbwahl eher zurückhaltend. Das gleichen sie durch Formenvielfalt wieder aus. IRINA NIKITINA EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Die langen Jahre, in denen das sowjetische Regime den Russen die Möglichkeit verwehrte, die Modetendenzen jenseits des Eisernen Vorhangs zu verfolgen, sind nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. Das Ende der Sowjetunion ist allerdings schon 20 Jahre her - heutzutage erinnern nur noch Kleidermärkte unter freiem Himmel an diese Vergangenheit. Was sehen wir also auf den Straßen des Landes? So kreativ sich Frau modisch umhüllt, so eintönig kleidet sich der russische Mann. Die meisten Russen orientieren sich bei ihrer Kleiderwahl am Angebot der Massenware oder an Luxusmarken. Markenkleidung ist nach wie vor Kultobjekt, ihr ideeller Wert steigt mit dem Preis. Teure Dinge sind Statussymbol und Objekte der Begierde für viele, den meisten bleiben sie aber verwehrt.

KIRILL LAGUTKO

Russland HEUTE stellt fünf Nachwuchs-Designer vor, die international auf dem Weg nach oben sind.

ITAR-TASS

Russische Modemacher auf internationalen Laufstegen

Luxusartikel stehen noch immer noch hoch im Kurs.

Mode ist für die Russen bis heute kein Mittel, sich selbst auszudrücken. Sie sind von dem Wunsch geprägt, sich an ein Milieu anzupassen oder jemandem nachzueifern, etwa einem Politiker. Das gilt nicht nur für die ältere Generation, sondern auch für Teenager. Manchmal scheint es, als hätten sich all diese Jungs und Mädels in Röhrenjeans und Halstüchern verabredet, um ZARA zu stürmen. Alltagsmode in Russland funktioniert nach einem System von Vorbildern. Der Typ „Politikerin“ etwa muss

unabhängig vom Trend stets feste Locken haben. Zieht die „Lehrerin“ Jeans an, ist das russisches Understatement. Den Rock durch eine Hose zu ersetzen ist für sie nicht leichter als für Coco Chanel. Ein russischer Unternehmer wird eine große und teure Armbanduhr tragen und sie dabei auch rein zufällig zur Schau stellen. Ein Wissenschaftler wird mit seinem schäbigen Anzug, mit Hornbrille und vielleicht auch einer Baskenmütze jedem Kollegen auf wundersame Weise gleichen.


Kultur

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Aufschwung Die Studios, in denen „Solaris“ gedreht wurde, haben den Zusammenbruch der 90er Jahre überwunden

Neuanfang nach dem Filmriss Das berühmteste Filmstudio der Sowjetunion hat den Weg in die Moderne gefunden und sucht nun dringend Nachwuchstalente. VERONIKA DORMAN RUSSLAND HEUTE

ITAR-TASS

Es fällt schwer, alle MosfilmProduktionen aufzuzählen, die Geschichte geschrieben haben: Hier, auf dem 13.000 Quadratmeter großen Areal im Westen Moskaus, sind Klassiker entstanden wie Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, Romms „Lenin im Oktober“, Kontschalowskis „Onkel Wanja“ oder Tarkowskis „Solaris“. Die Filme haben Mosfilm international bekannt gemacht. 1924, in den Anfangsjahren der Sowjetunion, wurden die Studios als Experimentierwerkstatt gegründet, doch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs war Mosfilm mit eigenen Produktionsanlagen und Drehkulissen eines der am besten ausgerüsteten Filmstudios Europas. 1987 drehte Mark Sacharow hier „Tod dem Drachen“, eine Satire über Tyrannei und Duckmäusertum nach einem Drama von Jewgeni Schwarz. Es war eine der ersten Gemeinschaftsproduktionen der Perestrojka-Zeit: die Spezialeffekte entstanden in den Studios der BavariaFilm, München. Mit dem Ende der Sowjetunion hatte auch die einst mächtige russische Film-

„Der Zar“ - Pawel Lungin (rechts) drehte bei Mosfilm ein Epos über Iwan den Schrecklichen.

industrie mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Erst um das Jahr 2000 zeigte der bis heute staatliche Konzern Anzeichen von Erholung: Damals wurden die Studios grundlegend modernisiert. „Wir haben die Qualitätsmaßstäbe in jedem Produktionsbereich möglichst hoch angesetzt“, erzählt Karen Schachnasarow, Regisseur und Direktor von Mosfilm. Derzeit entstehen pro Jahr 40 bis 50 Filme, vor der Wirt-

schaftskrise waren es weit mehr. Neben dem finanziellen besteht jedoch noch ein weiteres Problem. „Das Kino von heute besitzt nicht mehr die gleiche ausdrucksstarke Kreativität wie zu Sowjetzeiten“, sagt der 58-jährige Schachnasarow etwas wehmütig. Es gäbe zwar junge, talentierte Drehbuchautoren, aber von einer „neuen Welle“ könne man nicht sprechen. Die Aufnahmestudios für Filmmusik, in denen bis zu 150 Musiker Platz finden,

wurden mit modernster Aufnahmetechnik ausgestattet. Durch das Musikstudio kam eine zusätzliche lukrative Einnahmequelle hinzu: „Die Hälfte unserer Arbeit macht inzwischen die Produktion von Musik-CDs aus“, erzählt Tontechniker Andrej. Mosfilms größte Besonderheit ist jedoch die eigene Drehkulisse, die ein komplettes Stadtviertel Moskaus aus dem späten 19. Jahrhundert nachstellt – Kopfsteinpflaster, Holzfassaden, Gas-

Die Töne zum Bild

DIE FILME

In dieser Tschechow-Adaption erkennt der Chefarzt einer psychiatrischen Anstalt in der Provinz in seinem Patienten ein Genie. Nach Gesprächen mit ihm verliert der Arzt selbst den Verstand.

Schritte streichen über das Laub, Kleider rascheln, Türen quietschen – all das ist die Arbeit der „Magier“ aus den Studios für Toneffekte. Seit über 40 Jahren experimentieren die Geräuschemacher von Mosfilm in ihrer „Rumpelkammer“, einem Raum mit einer riesigen Leinwand: Während der stumme Film läuft, erzeugen sie die entsprechenden Geräusche. Auf dem Boden liegen Pflastersteine, Bleche und Erde, an der Wand lehnen Türen, Fenster und Wasserhähne aller Größen und Epochen neben Schränken voll ausgewählter Exponate von der Müll-

halde. „Eine echte Kalaschnikow würde nicht das richtige Geräusch machen“, erklärt Faina Ianpolskaja und lässt ein großes Türschloss einschnappen. Tatsächlich klingt das wie das Durchladen einer Kalaschnikow. „Schwieriger wird’s bei leisen Geräuschen wie dem Schlagen von Schmetterlingsflügeln“, sagt sie und deutet auf ein Buntglasfenster, hinter dem Tontechniker Geräusche kreieren, deren Ursprung sich nur erahnen lässt. „Auch im digitalen Zeitalter wird ein computergesteuerter Sound nie so wirklichkeitsgetreu klingen wie der von uns.“

SCHAUSPIEL „DIE RUSSEN KOMMEN“

ELEKTRONISCHE MUSIK WORLDTRONICS

DEZEMBER BIS JANUAR, STAATSTHEATER NÜRNBERG

Wie ich diesen Sommer verbracht habe (2010)

laternen und historische Straßenschilder inklusive. In dieser Drehkulisse sind seit 2004 über 40 Spielfilme entstanden. Je nach Bedarf wurde aus dem „alten Moskau“ St. Petersburg, Tiflis oder Kopenhagen. Das einzige Problem stellt der Wolkenkratzer auf der gegenüberliegenden Seite der Studios dar, der sich gerne ins Bild schleicht. Neben der modernisierten technischen Ausstattung trägt der große Requisitenfundus zum internationalen Renommee der Studios bei: Sergej Plochow, Leiter der Kostüm- und Zubehörabteilung, wacht über schätzungsweise 400.000 Kleidungsstücke und Militäruniformen. Zehntausende Kostüme und Requisiten aus allen Epochen baumeln in einem solchen Durcheinander von den Decken, dass die Abteilung fast einer Tropfsteinhöhle gleicht. Das Juwel dieser Sammlung ist der studioeigene Oldtimer-Fuhrpark: Ein luxuriöser 1913er Rolls Royce und ein 1927er Packard teilen sich die Garage mit alten Postbussen und proletarischen Traktoren. Die durch russische Filmklassiker bekannt- und liebgewordenen Fahrzeuge, Objekte und Kostüme haben ihren Ehrenplatz im Mosfilm-Museum und werden nicht mehr bei aktuellen Produktionen eingesetzt.

Der Kostümverleih stellt eine weitere Einnahmequelle dar: Ob Pirat, Rotgardist oder Iwan der Schreckliche, alle erdenklichen Ausstattungen sind vorhanden. Das solideste Standbein von Mosfilm ist jedoch ein gigantisches Filmarchiv, von dem sich das Studio niemals trennen würde – wie etwa die Lenfilm-Studios aus St.Petersburg, die diesen Schritt aus finanziellen Gründen tun mussten. Die Filmklassiker von Mosfilm werden momentan digitalisiert und mit englischen Untertiteln versehen. Seit einigen Wochen lassen sich diese Schätze aus 90 Jahren Filmgeschichte für wenig Geld aus der Mosfilmvideothek im Internet herunterladen. Derzeit kommen den Studios keinerlei öffentlichen Fördermittel zu. Mosfilm finanziert sich selbst mit privaten Fernsehproduktionen. Diese dürfe man jedoch keineswegs unterschätzen, betont Schachnasarow, jeder Fernsehfilm erfordere den gleichen Aufwand wie ein Spielfilm. „Die Filmindustrie Russlands ist wiederauferstanden“, freut er sich. „Jetzt müssen wir zahlungskräftige Produzenten finden und talentierte Drehbuchautoren – am besten beides auf einmal“. Die virtuelle Mosfilm-Videothek finden Sie unter www.cinema.mosfilm.ru

Der Mann hinter Mosfilm

FASZINATION EIS MOSCOW CIRCUS ON ICE

TANZ STAATSBALLET

3. DEZEMBER, HAUS DER KULTUREN DER WELT, BERLIN

5. UND 31. DEZEMBER, HESSISCHES LANDESTHEATER MARBURG

AB DEZEMBER 2010 BUNDESWEIT, 4.1. FÜSSEN, 5.1. BAMBERG

DEZEMBER UND JANUAR, BUNDESWEIT

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

Russlanddeutsche: Einst zogen sie ins „gelobte Land“ gen Osten, dann kamen sie zurück in das vermeintliche „Paradies des Westens“. Was wissen wir über sie, die als Fremde wahrgenommen werden, obwohl sie ein Teil der Gesellshaft sind?

Die beiden Kosmonauten „Kim & Buran“ waren einst Helden eines sowjetischen Zeichentrickfilms. Jetzt sind sie Namenspatronen eines retro-futuristischen Quartetts. Mit dabei: ExperimentalLegende Pixelord und ElektroFolk-Spezialist Vikhornov.

Herbert Huber findet keinen Schlaf. Wie soll er bloß leben ohne Job? Er beschließt, Tuba-Weltstar zu werden. Die Satire „Der Selbstmörder“, 1928 von Nikolaj Erdmann geschrieben, wartete nach mehr als 80 Jahren auf ihre Uraufführung.

Fantasievolle Choreografien, mitreißende Musik, atemberaubende Akrobatik, dazu das Beste aus dem Russischen Zirkus - und das alles auf Kufen! Diese Elemente erschaffen ein magisches Schauspiel für die ganze Familie.

Das Klassische Russische Staatsballett präsentiert Peter Tschaikowskis „Nußknacker“ und „Schwanensee“ – das romantische Märchen vom Prinzen Siegfried und der Schwanenprinzessin Odette.

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› staatstheater-nuernberg.de

› hkw.de

› theater-marburg.com

› agenda-production.com

› friedmann-agentur.de

Auf der Berlinale ausgezeichneter Psychothriller von Alexej Popogrebski über einen Studenten, der seine Ferien mit einem Meteorologen auf einer Wetterstation verbringt.

Krankenzimmer Nr. 6 (2009)

KINOPOISK.RU

KULTURKALENDER

ANNA ARTEMEWA

SCHAUSPIEL „DER SELBSTMÖRDER“

KINOPOISK.RU

Karen Schachnasarow, 1952 in Krasnodar geboren, leitet die Studios seit 1998. Schachnasarow begann seine Karriere als Drehassistent, wurde dann Drehbuchautor

und Produzent. 1983 feierten Kritiker und Publikum gleichermaßen sein Musical „Wir kommen aus dem Jazz“. In dem Film thematisiert Schachnasarow die JazzAnfänge in der UdSSR der Zwanziger Jahre. Sein neuestes Werk, „Krankenzimmer Nr. 6“, ist die Verfilmung der gleichnamigen Novelle von Anton Tschechow über das Leben in einer psychiatrischen Anstalt. Die Handlung wurde jedoch ins heutige Russland versetzt. Schachnasarow erhielt für seine Filme vielfache nationale und internationale Auszeichnungen.


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Porträt

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BRANCHE IT DER HERR DER VIREN: JEWGENIJ KASPERSKY UND DIE ANFÄNGE DES BEKANNTESTEN SOFTWAREENTWICKLERS RUSSLANDS

JESSICA BACHMAN EXCEPTIONAL MAGAZINE

Denkt man an das Moskau der frühen 90er-Jahre, kommen einem die Männer mit Goldketten und schwarzen Lederjacken in den Sinn, die auf den Straßen mit Kalaschnikows ihre Konflikte um Geld und Macht austrugen. Abseits dieser Straßen machte ein junger Mathematiker sich daran, einen ganz anderen Ruf des post-sowjetischen Russlands zu begründen, nämlich den einer Nation wirkungsvoller Bekämpfer von Kriminalität. Genauer gesagt: von Cyberkriminellen. Jewgenij Kaspersky, heute ein lebensfroher Mittvierziger, begann in den späten 80er-Jahren damit, Computerviren zu untersuchen, in einer Zeit, als in Russland nur eine Handvoll elitärer Regierungseinrichtungen über Computer verfügten. Heute hat er ein Imperium aufgebaut, das einen Wert von 235 Millionen Euro hat und Software entwickelt, die weltweit Computerwürmer, Trojanische Pferde und andere virtuelle Störenfriede aufspürt und vernichtet, bevor sie bei den Usern Schaden anrichten. Als Kaspersky 1995 am Moskauer Institut für Kryptografie, Telekommunikation und Informatik sein Ingenieursdiplom in Mathematik erhielt, war die Sowjetunion,

zerfallen - und auch um Russland war es nicht gut bestellt. Seine erste Anstellung fand Kaspersky bei einer ukrainischen Computerimportfirma, für die er Virenschutzprogramme entwickeln sollte. „Ich hatte mich mit Viren spaßeshalber beschäftigt, aber ich hätte nie gedacht, dass ich damit Geld verdienen könnte“, sagt Kaspersky heute. Es folgte eine Stelle bei Kami, einem der ersten rus-

„Viren waren mein Hobby, aber ich hätte nie gedacht, dass ich damit Geld verdienen könnte.“ sischen Hard- und Softwareunternehmen. Die Firma gab Kaspersky einen Rechner und 100 Dollar im Monat. Der junge Russe schätzte sich glücklich, denn in den 90ern war jedes Einkommen ein gutes Einkommen.

Von Null an Doch die Firma kam trotz guter Ideen nicht aus den Startlöchern. „Wir bedienten vor allem den Binnenmarkt, aber der war praktisch nicht existent“, erinnert sich Kaspersky. Das Jahr 1994 brachte die Wende: Die Fakultät für Informatik der Universität Hamburg kürte Kasperskys Tool zum besten Antivirusscanner weltweit. Die Telefone begannen zu läuten. Kasperskys Drei-MannTeam wurde mit Aufträgen für Virensoftware von eu-

Fang den Virus: Jewgenij Kaspersky (Bildmitte) und seine Mannschaft

ropäischen und amerikanischen IT-Firmen überschwemmt. Bald wuchs ihnen der Verwaltungsaufwand über den Kopf - und es fehlte an Zeit für das Emtwicklungslabor. Zusammen mit seiner Frau verließ Kaspersky 1997 Kami und gründete mit seinen Kollegen eine eigene Firma. Eine gute Entscheidung. Heute ist Kaspersky Lab das viertgrößte Antivirenunternehmen weltweit. Mit Wachstumsraten von bis zu 76 Prozent hat Kaspersky es als einziges russisches Unternehmen unter die Top 100 der weltweit größten Softwarefirmen geschafft. 2010 wird er mit 342 Millionen Euro Platz 79 erreichen. Den ganz Großen hinkt Kaspersky freilich noch hinterher: Die US-Giganten Symantec und McAfee sowie Japans Trend Micro machten 2010 jeweils 3,9 Milliarden, 686 Millionen und 733 Millionen Dollar Umsatz. Der Russe reagiert gelassen: „Wir wissen vom Sport: Nicht die Mannschaft mit dem größten Budget gewinnt, sondern die, die am besten spielt“. Und während rund um den Globus jede Sekunde ein neuer Virus geschaffen wird, spricht Kaspersky über seine Strategie: Es habe höchste Priorität, für sein Team weitere Programmierer und Virenkiller zu gewinnen. Im Januar 2009, als Russland unter der Wirtschaftskrise ächzte, heuerte Kaspersky 25 Softwareingenieure aus Sankt Petersburg an. Zwischen 2000 und 2005 war das Unternehmen in allen großen Märkten eingestie-

Am Anfang war der Virus

2209 Mitarbeiter beschäftigt Kaspersky Lab weltweit, davon über 160 in der deutschen Niederlassung in Ingolstadt.

280 Millionen Euro Umsatz hat das Unternehmen 2009 erwirtschaftet, darunter 135 Millionen Euro in Europa.

gen, unter anderem in den Vereinigten Staaten, Japan und China. Weltweit beschäftigt Kaspersky mehr als 2.200 Mitarbeiter. Ein steigendes Interesse an Kasperskys Virensoftware in den Vereinigten Staaten, traditionell eine Hochburg von Symantec und McAfee, hat das Unternehmen dazu angespornt, einen Standort mit einem Expertenteam an der US-Westküste einzurichten. Auch wenn es schwierig bleibt, echte „Cracks“ aus Silicon Valley zu Kaspersky zu locken. „Wir sind immer noch keine Aktiengesellschaft, also können wir anders als die Konkurrenz keine Aktienoptionen anbieten,“ sagt Kaspersky. „Aber wir arbeiten ständig an unserem Vergütungsprogramm.“ Der Börsengang ist vorerst vom

Noch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper

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FIRMENPROFIL

ZAHLEN

russland-heute.de/abo

URY MARTIANOV_KOMMERSANT

Jewgenij Kaspersky hat Kaspersky Lab zu einem Zugpferd des Virenschutzes gemacht. Sein Traum: In 25 Jahren die Nummer eins weltweit zu werden.

DPA/VOSTOCK-PHOTO

Ein russischer Virenkiller nimmt Kurs auf Amerika

Im Oktober 1989 entschärfte der junge Programmierer Jewgenij Kaspersky seinen ersten Virus am Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums. 1991 gründete er zusam-

men mit seinem Team am ITZentrum Kami eine AntivirusAbteilung. 1994 stellten sie ihren ersten Antivirus „AVP“ vor, den die Hamburger Universität auszeichnete. 1997 wurde Kaspersky Lab gegründet.

Tisch. 2008 stand Kaspersky Lab kurz davor, aber die Finanzkrise hat den Schritt auf unbestimmte Zeit hinausgezögert. „Die Firma ist profitabel und benötigt keine zusätzliche Finanzierung“, betont Kaspersky. Allerdings werde der Vorstand zu den Plänen zurückkehren, sobald die Wirtschaft sich erholt habe.

für Kaspersky Lab, denn dazu gehören auch Serviceund Beraterverträge. In Europa sind die Russen schon heute die Nummer zwei, weltweit kommt das Lab aber nur auf einen Anteil von fünf Prozent. Das soll sich ändern: Schon 2011 will man Trend Micro überholen und weltweit an die dritte Stelle treten. Der Russe ist optimistisch: In 25 Jahren, glaubt er, könne man sogar international die Nummer eins sein. „Für die amerikanischen Wettbewerber ist der Binnenmarkt die cash cow“, sagt er. „Wir sind anders. Wir waren noch nie ein russisches Unternehmen, unsere Märkte lagen immer außerhalb Russlands. Wir wissen: In anderen Ländern müssen wir uns anders verhalten. Dieser globale Ansatz wird uns voranbringen.“

Zukunftspläne Um langfristig gute Geschäftsergebnisse zu erzielen, brauche man Vertragsabschlüsse, erklärt Kaspersky. Das Problem dabei: „Private Nutzer sind selten markentreu. Die Leute glauben nicht, dass es wichtig ist, welches Virenprodukt sie verwenden.“ Ganz anders verhalte es sich mit Unternehmen. Das sind die nachhaltigen Einnahmequellen

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