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Umgestellt

Angesprüht

Ende März werden die Uhren auf die Sommerzeit umgestellt – für immer. Das Für und Wider einer Zeitreform.

Mischa Most, Graffiti-Künstler aus Moskau, sprüht gegen Gleichgültigkeit, Willkür und Großkapital.

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S. 12 itar-tass

mischa most

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

mittwoch, 2. märz 2011

Flammender Abschied

pointiert

Zeit, Doktoren und Diktatoren Alexej Knelz

chefredakteur

K

ria novosti

arl-Theodor zu Guttenberg hat sich‘s mit seinem Doktortitel leichter machen wollen und wurde durch den medialen Fleischwolf gedreht. Hunderttausende deutsche Facebook-Nutzer hielten dies für eine Hetzjagd und forderten ihr Ende. Internet-Usern aus Tunesien und Ägypten wären solche Aktionen zu unbedeutend: Sie haben dank Facebook binnen zwei Wochen dreißigjährige Diktaturen gestürzt. Wenn diese Russland HEUTE erscheint, wird vielleicht auch der libysche Staatschef Gaddafi abgedankt haben. Und bestimmt wird das vielen FacebookNutzern weltweit „gefallen“. Für eine differenziertere Meinungsäußerung wird den meisten die Zeit fehlen - so, wie zu Guttenberg und Putin bei ihrer Doktorarbeit. Ja, auch dem russischen Premier wurde vor Jahren Plagiat vorgeworfen. Damals war Facebook zwar nicht weit verbreitet, hat aber in Russland auch kaum jemanden interessiert. Denn in der Politik – denken Russen – gibt es wichtigeres als Doktorentitel.

Kalender integriert. Zur Masleniza verzehren die Russen Berge von gefüllten Pfannkuchen, „Bliny“ genannt. Alkohol gehört – im Unterschied zum deutschen Karneval – traditionell nicht dazu. Als Höhepunkt der Feierlichkeiten wird eine Strohpuppe verbrannt.

Zu Sowjetzeiten wurde die Masleniza nur auf dem Land gefeiert, heute ist sie ein beliebtes Volksfest, wie hier in der Stadt Nowgorod. Nach der Völlerei zur Masleniza fasten die Russen, allerdings etwas länger als in Deutschland: vom 7. März bis zum 23. April.

rentner in Russland

Rubel gegen Terror

Russland reformiert den Freund und Helfer

Die Babuschka wandert aus

reuters/vostock-photo

Eine Patrouille in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala Auf den Terroranschlag am Moskauer Flughafen im Januar folgten mehrere kleine Anschläge im Süden Russlands. Das Land blickt wieder mit Sorge in Richtung Nordkaukasus. Es sucht nach Rezepten, mit dem das Gebiet, in dem sich soziale Probleme, Korruption und Islamismus zu einem gefährlichen Cocktail vermischt haben,

befriedet werden kann. „Wir müssen die Aufständischen aus den Wäldern herauslocken“, sagt der Politologe Orchan Dschemal. Der Kreml hat ein milliardenschweres Wirtschaftsprogramm für die Region aufgelegt. das thema des monats weiter auf den Seiten 6 und 7

„Ich habe meine Datscha für eine kleine Wohnung an der türkischen Riviera verkauft“, sagt Jelena Degtjewa. Mit 63 Jahren hat sie in ihrem Leben noch einmal alles verändert. Eine neue Generation Rentner wandert auf die Sonnenseite der Erde aus oder überwintert trickreich im Süden. Viele russische Rentner jedoch können von ihrer kleinen Pension nur schwer existieren. weiter auf Seite 9 itar-tass

Die Milizionäre auf dem Revier im Südwesten Moskaus können es nicht mehr hören: Bestechlich seien sie, unfähig und kriminell. „Aber was erwarten Sie bei diesem Gehalt?“, entgegnet der junge Polizist Sergej, wenn er solche Äußerungen über die russische Polizei hört. Ab dem 1. März soll sich das nun ändern: Dann tritt ein neues Polizeigesetz in Kraft. Es wurde im vergangenen Jahr monatelang öffentlich diskutiert, im Netz konnte man dazu seine Meinung abgeben. Die Miliz soll einen neuen Namen bekommen und deutlich mehr Gehalt. Auch den Bürgern werden mehr Rechte eingeräumt. Kritiker vermuten allerdings einen Etikettenschwindel. Russland HEUTE besuchte ein Moskauer Polizeirevier, um zu erfahren, was die Betroffenen sich von der Reform erwarten. Weiter auf Seite 3

ruslan suchuschin

Während in Deutschland die Narren los sind, beginnt in Russland dieser Tage die „Masleniza“, übersetzt die „Butterwoche“. Die Feier, mit der das Ende der kalten Jahreszeit begangen wird, stammt aus vorchristlicher Zeit, wurde jedoch später in den orthodoxen

„Unfähig“ und „kriminell“? Die Polizisten selbst denken anders.


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Politik

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Opposition Mit Protestaktionen und einer neuen Partei startet die Opposition in die Wahljahre 2011 und 2012

verhaftet und im Eilverfahren zu fünf bis 15 Tagen Gefängnis verurteilt. Die drei Oppositionellen Boris Nemzow, ehemals stellvertretender Ministerpräsident, Eduard Limonow, Vorsitzender der verbotenen Nationalbolschewistischen Partei Russlands und Ilja Jaschin von der Partei Jabloko bezeichneten das Vorgehen der Behörden als „Lukaschenkisierung“ des PutinRegimes. Wie Alexander Lukaschenko, der in Weißrussland nach massiven Repressionen wiedergewählt wurde, versuche Putin, alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Die außerparlamentarischen Anti-Kreml-Bewegungen haben sehr unterschiedliche Zielsetzungen. Aber in diesem speziellen Punkt sind sie sich einig. Nikolai Petrow vom Moskauer Carnegie-Zentrum geht in seiner Analyse der Situation noch in eine andere Richtung: Das Vorgehen der Behörden lasse nicht zwingend auf neue Repressalien von Staatsseite schließen: „Straßenproteste sind überall in Russland an der Tagesordnung, und Behörden und Miliz sind schlicht überfordert.“ Die Hoffnung der Oppositionellen, dass offensichtliche Erfolge in den letzten Monaten ein Zeichen für das Nachlassen der staatlichen Kontrolle sein könnten, haben sich jedenfalls vorerst nicht bewahrheitet. Die sogenannten Chimki-Proteste gegen ein Straßenbauprojekt durch den Wald von Chimki nahe Moskaus waren zunächst ökologisch

veronika dorman russland heute

Es ist Montag, der letzte Tag im Januar, Rushhour im Zentrum von Moskau. Aber es herrscht nicht der übliche Stau am Triumfalnaja-Platz. Heute kommt hier Russlands neu formierte Opposition zusammen, wie sie es seit einiger Zeit an jedem 31. eines Monats macht. Die Oppositonellen sind hier, um Artikel 31 der russischen Verfassung einzuklagen, der ihnen das Recht auf Versammlungsfreiheit garantiert.

„Russland ohne Putin!“

Jeder denkt an die Proteste in Ägypten, und wer hier für die Opposition das Wort ergreift, zögert nicht, Wladimir Putin mit Husni Mubarak zu vergleichen. Mit dem Unterschied, dass in Moskau nur tausend Demonstranten zusammengekommen sind , umstellt von 2000 Polizisten und Soldaten. Vergangenen November gaben die Behörden erstmals grünes Licht für die Demonstrationen am Triumfalnaja-Platz. Allerdings verzichteten sie damit nicht auf ihr Recht, gehörig mit dem Säbel zu rasseln und Dutzende Aktivisten vom Platz zu schleifen. Am 31. Dezember letzten Jahres wurden dann mehrere Oppositionsführer

Oppositionelle demonstrieren am 31. Dezember in St.Petersburg - und werden permanent überwacht.

die opposition

Wladimir Ryschkow Oppositionspolitiker , mitbegründer der Partei der Volksfreiheit (PARNAS)

"

Die vier Kernpunkte unseres Parteiprogramms beschäftigen sich damit, wie man gegen Korruption systematisch und effizient vorgehen kann, wie man staatliche Verwaltung und den Polizeiapparat unter Kontrolle hält, wie man freie und ehrliche Wahlen etabliert und wie man gute Voraussetzungen sowohl für die Unternehmer als auch die Zivilgesellschaft schafft.“

itar-tass

Angesichts hoher Umfragewerte des Tandems Medwedjew/ Putin und unter staatlichem Druck hat sich die Opposition zusammengeschlossen.

reuters/vostock-photo

Für eine ungelenkte Demokratie

begründet, wurden jedoch schnell zu einem Politikum, und gegen Ende des Sommers sah es ganz so aus, als könnten sie erfolgreich sein: Denn angesichts der Massenproteste entschied Präsident Medwedjew, die Bauarbeiten zu stoppen. Im Dezember wurden sie dann aber wieder mit Volldampf aufgenommen. Im selben Monat schlossen sich die Wortführer der liberalen Bewe-

gungen zur Partei der Volksfreiheit zusammen. Ihr Slogan: „Für ein Russland ohne Willkür und Korruption“. Für den 16. April ist eine große Aktion in Moskau geplant, bei der die offizielle Registrierung der Partei gefordert wird. 45 000 Mitglieder muss sie zu diesem Zweck vorweisen. Damit wäre die Möglichkeit gegeben, Kandidaten für die Parlamentswahlen 2011 sowie 2012 einen Präsident-

Jahrestage Im Frühjahr feiert Russland die Jubiläen zweier wichtiger Staatsmänner

Nicht alle schicken Glückwünsche Michail Gorbatschow und Boris Jelzin – letzter Präsident der Sowjetunion und Geburtshelfer der Russischen Föderation. Der eine wird, der andere wäre in diesem Jahr 80 geworden. Moritz Gathmann

Die Emotionen kochten hoch, als in einer russischen Talkshow ein liberaler Journalist und ein konservativer Politologe das nüchterne Thema „Der Zerfall der UdSSR – Boris Jelzin und Michail Gorbatschow“ angingen. Auch 20 Jahre nach dem Zerfall der Sow jetu n ion w ird über die Bedeutung der beiden Politiker in der russischen Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert. Was haben sie – außer seiner Auflösung – für das Land getan? In der Telefonabstimmung am Ende der Sendung erhielt der Politologe, der eine Fortsetzung des „roten Projekts“ prophezeite, sechsmal mehr Stimmen als sein Gegner. Dieser Tage feiert Russland zwei Jubiläen, die der Diskussion neue

reuters/vostock-photo

Russland Heute

Reformer, Befreier, Zerstörer? Die Russen sind 20 Jahre nach Ende der Sowjetunion geteilter Meinung.

Nahrung geben: Am 1. Februar wäre Boris Jelzin, der 2007 verstorbene erste Präsident der Russischen Föderation, 80 geworden. Dmitri Medwedjew enthüllte in seiner Heimatstadt Jekaterinburg ein Denkmal für den Reformer. Die ältere Generation jedoch

würde Jelzin, in dessen Regierungszeit Wirtschaft und Politik in die Hände der Oligarchen gerieten, diese Ehre nicht erweisen. Laut einer Umfrage des russischen WZIOM-Instituts für Meinungsforschung hätten heute nur noch ein Viertel der Bevölkerung im

Wahljahr 1991 für ihn gestimmt. Und im Jahr 2000 glaubten 67 Prozent, dass die Jelzin-Ära Russland eher geschadet als genutzt habe. „Nach Jelzin sorgte erst Putin für Ordnung und Stabilität“ – eine Aussage, die Anfang der 2000er in Russland sehr häufig zu hören war. Michail Gorbatschow, letzter Präsident der Sowjetunion, der die Demokratisierung seines Landes anstieß, den Ostblock in die Freiheit entließ und die deutsche Einheit ermöglichte, feiert am heutigen Tag seinen 80. Geburtstag, dort, wo er mehr geschätzt wird als in seiner Heimat: in London. Gorbatschow und Jelzin stehen für die Ambivalenz von Freiheit und Unsicherheit. Das scheinen die Menschen inzwischen begriffen zu haben: 2009 glaubten nur noch 56 Prozent der Russen, dass die Jelzin-Ära dem Land geschadet hätte. Lesen Sie mehr auf www.russland-heute.de

schaftskandidaten aufzustellen. Doch selbst in dieser neuen Formation stehen die Chancen dafür unter den Bedingungen der „gelenkten Demokratie“ schlecht. In einer TV-Fragestunde spach es Putin ganz unverblümt aus: Er werde es nicht zulassen, dass die Opposition „an den Futtertrog“ komme. Namentlich erwähnte er Nemzow, Ryschkow und Wladimir Milow, Gründungsmitglieder der Partei der Volksfreiheit. Der Opposition fehlt weiterhin eine breitere Basis in der Bevölkerung. Ihre Botschaft sei für die einfachen Russen zu abstrakt, erklärt Denis Wolkow vom Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum. „Die Leute verstehen nicht, warum das Recht auf Versammlungsfreiheit so wichtig sein soll, wenn sie nicht einmal das Recht auf ein Leben in Würde haben.“ Auch zweifelten sie am Führungspotenzial der Oppositionellen. „Die Menschen sind grundsätzlich bereit, ihre Rechte zu verteidigen. Aber sie sehen in Boris Nemzow keinen Mann, der sich wirkungsvoll dafür einsetzen könnte.“

Die lebende Bombe kam aus dem Kaukasus Nach der Identifizierung des Attentäters von Domodedowo suchen Geheimdienst und Polizei nach den Hintermännern. Anfang Februar hatten die russischen Ermittler den 20-jährigen Magomed Jewlojew aus der Republik Inguschetien als den Mann identifiziert, der sich am 24. Januar am Moskauer Flughafen Domodedowo in die Luft gesprengt hatte. Er stammte aus einem Dorf in der Nordkaukasusrepublik Inguschetien, war jedoch schon seit dem letzten Sommer verschollen. Im Laufe des Monats wurden mehrere Familienangehörige festgenommen, die Jewlojew bei der Vorbereitung der Tat geholfen haben sollen. Darunter seine Schwester, deren Mann zum islamistischen Untergrund gehörte und im letzten Jahr bei einer AntiterrorOperation getötet wurde. Ob Terroristenführer Doku Umarow, wie dieser behauptet, den Anschlag in Auftrag gegeben hat, ist bislang nicht erwiesen.


Politik

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

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Reform Die russische Miliz wird reformiert und erhält einen neuen Namen: Polizei

Kampf gegen Bakschisch und Korruption Ab dem 1. März tritt das neue Polizeigesetz in Kraft. Die Redaktion wollte von den zukünftigen Polizisten wissen, was sich alles ändern wird und was beim Alten bleibt.

Es ist dieses routinemäßige Einfordern kleiner Summen, etwa bei geringfügigen Geschwindigkeitsübertretungen, das die Russen so sauer auf ihre Polizei macht. „Was erwarten sie denn für das Geld, das wir bekommen?“, fragt Alexej, ein Polizeibeamter, der seinen Nachnamen nicht nennen will. „Die guten Beamten nehmen Geld nur für Kleinigkeiten. Damit man über die Runden kommt.“

ARTJOM SAGORODNOW RUSSLAND HEUTE

Milizionär Michail Menschenin versucht gerade, eine um sich schlagende 86-jährige Rentnerin zu beruhigen, während er ihren rudernden Armen ausweicht. Menschenin und sein Kollege wurden von der Sozialarbeiterin Ljudmila in die Wohnung der Frau gerufen. Die Rentnerin habe sie angegriffen, schluchzt Ljudmila. „Sie ist völlig durchgedreht.“ Die Beamten Alexander Kusminow, 23, und Menschenin, 25, gehen in einem Bezirk in Moskaus Südwesten auf Streife. Stolz erzählen sie, wie gewissenhaft sie ihre Pflicht erfüllen. Doch als Beamte der Moskauer Miliz, wie die Polizei in Russland heißt, gehören sie einer Behörde an, die als korrupt verschrien ist.

Der Amoklauf des Polizeimajors Denis Jewsjukow, der in einem Moskauer Supermarkt 2009 zwei Menschen tötete und sieben verletzte, veranlasste Präsident Medwedjew, eine grundlegende Reform des Polizeiapparates einzufordern. Der Entwurf eines neuen Polizeigesetzes wurde im Internet zur Diskussion gestellt. Als vertrauensbildende Maßnahme schlug Medwedjew vor, zum Begriff „Polizei“ aus der Zarenzeit zurückzukommen – in Abgrenzung zur gegenwärtigen Miliz, einem Überbleibsel aus der Sowjet-Ära. Ferner soll künftig die Befugnis eines Beamten auf seinen Bezirk beschränkt bleiben, im Falle einer Festnahme hat man das Recht auf ein Telefongespräch und kann vom Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen. Beträchtliche Gehaltserhöhungen bei gleichzeitiger personeller Verschlankung des Polizeiapparats sollen Bestechungsgelder hinfällig machen. Einige Abgeordnete bezweifeln, dass die Reform der Bevölkerung ihr Vertrauen zurückgebe. „Statt eines neuen Sicherheitssystems geben wir der Miliz nur einen neuen Namen“, klagt der DumaAbgeordnete Gennadi Gudkow. Die Pro-Kreml-Partei Einiges Russland habe Versuche blockiert, die Polizei einer umfangreiche-

Mageres Gehalt, viel Stress

„Ich liebe meinen Job. Ich habe Kontakt zu Menschen, ich kann Gutes tun“, sagt Menschenin. „Psychologisch ist es hart, aber harte Arbeit wird auch belohnt. Das Gehalt ist nicht besonders gut, und wir schlagen uns mit Prämien durch.“ Menschenin verdient etwa 25 000 Rubel im Monat, das sind ungefähr 600 Euro, eine lächerliche Summe für Moskau, und erst recht für einen verheirateten Mann mit zwei Kindern. Der niedrige Verdienst bringt viele Beamte dazu, Bestechungsgelder anzunehmen, was dem Ruf der Polizei beträchtlich schadet. Umfragen zeigen, dass 60 Prozent der russischen Bürger mit der Arbeit der Polizei nicht zufrieden sind.

RUSLAN SUCHUSCHIN

Polizei statt Miliz

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„Man kann auch ehrlich arbeiten“: Die Moskauer Polizisten Menschenin (links) und Kusminow auf Streife.

ren öffentlichen Kontrolle zu unterziehen. Auch einige höhere Polizeibeamte haben Kritik an dem Gesetz geübt. Es müsse eine allumfassende Offensive vor allem gegen Korruption geben. Dies schlösse staatliche Institutionen und öffentliche Meinung gleichermaßen ein. „Wenn wir die anderen Institutionen nicht zusammen mit der Polizei reformieren und die Zuständigkeitsbereiche abgrenzen, werden weder Entlassungen von Mitarbeitern noch Gehaltserhöhungen viel ändern“, sagt Juri Matjuchin, Polizeichef des Bezirks Südwest-Moskau. Nikolai Petrow von der Moskauer Carnegie-Stiftung glaubt, dass hinter der geringen Wertschätzung der Polizei etwas ganz anderes stehe, nämlich eine „gärende Unzufriedenheit mit staatlichen Institutionen“. „Nach

KOMMENTAR

Zu viele Fragen bleiben offen

Das neue Polizeigesetz bietet keine Antwort auf die gegenwärtigen Probleme der russischen Polizei. Zu kritisieren waren bisher in erster Linie die fehlende Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen sowie die Kriminalität innerhalb der Miliz. Auch verfehlt Präsident Medwedjew sein Ziel, mit dem Gesetz sein Profil als Verfechter eines

liberalen Rechtsstaats zu schärfen. Obwohl das Gesetz im Einleitungsteil den Schutz des Bürgers zur Aufgabe der Polizei erklärt, wird dieser Ansatz in den einzelnen Bereichen nicht konsequent umgesetzt. Vielfach fehlt es dem neuen Gesetz an Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen. Eine ernst gemeinte Reform müsste sich auch die anderen Sicherheitsapparate vornehmen und eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit schaffen.

meiner Erfahrung gibt es eigentlich nichts, was bei der Polizei schlechter als woanders wäre.“ Ein wichtiger Aspekt der Reform ist noch nicht geklärt: Die Eig-

nungsprüfung der Milizionäre beim Übergang in die Polizei. Das Prozedere soll in naher Zukunft durch einen Ukas von Präsident Medwedjew geregelt werden.

Caroline von Gall

RECHTSEXPERTIN

Reisen Russland hat die Einreisebestimmungen für EU-Bürger verschärft. Zu welchem Zweck?

Berlin – Moskau: keine Chance ohne Visum Die verschärften Einreisebestimmungen für die Russische Föderation üben Druck auf die EU aus. Zuvor war noch die Rede von einer visafreien Zone. DIANA LAARZ

Ein Blatt Papier kann für viel Unruhe sorgen. In diesem Fall ist es ein Dämpfer für alle, die an einen baldigen visafreien Verkehr zwischen Russland und Deutschland geglaubt haben. Seit dem ersten November vergangenen Jahres müssen Russlandreisende mit ihrem Visumantrag auch ihre „Rückkehrwilligkeit“ nachweisen. Dafür reicht entweder ein Kontoauszug oder eine formlose Bestätigung des Arbeitgebers. Das russische Außenministerium begründete den Schritt mit dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Für Russen, die nach Deutschland reisen, gelten schon seit längerem ähnliche Bedingungen.

PHOTOXPRESS

FÜR RUSSLAND HEUTE

Warten auf das Visum vor dem deutschen Konsulat in Moskau

Dabei hatten die Ampeln bereits auf Grün gestanden. Beim EURussland-Gipfel im Juni 2010 war die Visafreiheit noch in aller Munde. Präsident Dmitri Medwedjew überreichte dem EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy den Entwurf für ein Abkommen über

Visafreiheit. Entsprechende Verhandlungen sollten aufgenommen werden, hieß es nach dem Treffen in Rostow am Don. Von „notwendigen Visaerleichterungen“ sprach auch Bundespräsident Christian Wulff bei seinem Moskau-Besuch im Oktober.

Die neuen Visabestimmungen Russlands haben deshalb viele vor den Kopf gestoßen. „Unverständlich und kontraproduktiv“ nennt sie Andreas Schockenhoff vom Auswärtigen Amt Berlin. Dabei hatte Russland selbst schon seit Langem für bessere Einreisebedingungen geworben. Die Bremser saßen eher in Brüssel und in manchen Regierungen der EU. Die nämlich befürchteten einen wachsenden Immigrantenstrom aus Zentralasien. Zu den Fürsprechern für Visaerleichterungen gehören Deutschland, Frankreich und Italien. Gegenwind kommt vor allem aus den baltischen Staaten. Manch europäischer Unterhändler mag gehofft haben, Russland werde die Geduld verlieren und die Visapflicht einseitig aufheben, um Investoren und Kapital für die reformbedürftige Wirtschaft anzulocken. Immerhin hat der Kreml dafür gesorgt, dass ausländische Führungskräfte seit diesem Jahr

einfacher an Arbeitsvisum und -erlaubnis kommen. Doch das Kalkül, diese geschäftliche Regelung gelte auch für den Normalreisenden, ist nicht aufgegangen. „Ich halte es durchaus für möglich, dass das russische Außenministerium mit diesem Schritt die Deutschen dazu bewegen wollte, sich in der EU aktiver für die Visafreiheit einzusetzen – zu ihrem eigenen Nutzen“, sagt Nikolaj Petrow vom Moskauer Carnegie-Center. Er verweist auf das Prinzip der Gegenseitigkeit: „Ungleiche Bedingungen zeugen von einem ungleichen Status.“ Brüssel müsse das Thema endlich ernsthaft angehen. „Es wäre schon sehr hilfreich, wenn es wenigstens einen konkreten Zeitplan oder einen detaillierten Forderungskatalog gäbe.“ Diana Laarz ist Redakteurin der Moskauer Deutschen Zeitung.


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Wirtschaft

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Branchen Der russische Pharmamarkt auf Wachstumskurs

laif/vostock-photo

Die Mitarbeiterin eines Pharmaunternehmens in Stawropol arbeitet an einem Impfstoff gegen die Schweinegrippe.

Pillen aus eigener Herstellung Internationale Pharmakonzerne verlegen ihre Standorte nach Russland. Denn 2011 treten neue Vorschriften für importierte Medikamente in Kraft, die den Binnenmarkt ankurbeln sollen. Rachel Morarjee russland heute

Ende letzten Jahres legte die russische Regierung einen ZwanzigJahres-Plan zur Modernisierung der einheimischen Pharmaindustrie auf. Demnach sollen sich russische Phar maunter nehmen aktiver an den internationalen Märkten beteiligen. Dafür sind Subventionen von jährlich 2,9 Milliarden Euro geplant mit dem Ziel, bis 2020 90 Prozent der lebenswichtigen Medikamente und die Hälfte der medizinischen Ausrüstung im Inland zu produzieren. Die Exporte sollen um das Achtfache erhöht werden. Ausländische Pharmaunternehmen und Hersteller von medizi-

Wirtschaftskalender lesen sie mehr über die russische wirtschaft auf

russland-heute.de

nischen Geräten müssten künftig mit Einschränkungen beim Verkauf ihrer Produkte in der Russischen Föderation rechnen, wenn sie ihre Technologie und ihre Produktionsanlagen nicht ins Land bringen, kündigte Premier Wladimir Putin unlängst an. Die Handelsbarrieren würden sodann Schritt für Schritt eingeführt.

Das Sowjet-Erbe lastet schwer

Dmitri Genkin, Vorstand der russischen Pharmasintez, die beim Börsengang im November 13 Millionen Euro generierte, glaubt, dass Russland nach wie vor gegen sein sowjetisches Erbe kämpfe: Da m a l s s e ie n d ie m e i s t e n Pharmaunternehmen in Osteuropa aufgebaut worden. „Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben wir eine riesige Kluft zwischen Grundlagenund angewandten Wissenschaf-

Umwelt Sankt Petersburger Ökowochen

ten wie der Medizin“, erklärt er. Russische Unternehmen warten schon lange auf staatliche Unterstützung, denn gegenwärtig liegen die Subventionen im Pharmabereich weit hinter den Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der EU und den USA. Disproportional dazu wächst der russische Arzneimittelmarkt doppelt so schnell wie die Märkte in den Vereinigten Staaten und Europa und ist bereits zu einem umkämpften Terrain für ausländische Pharmaunternehmen geworden, deren Umsätze auf westlichen Märkten gesunken sind. „Der Arzneimittelmarkt wird durch die Subventionen der Regierung und die Nachfrage der Konsumenten angekurbelt und überflügelt die Wachstumsraten des russischen BIP, während das zersplitterte regionale Pharmasegment führenden Unternehmen ein großes Potenzial zur Konzernbildung bietet“, heißt es in einem Bericht der Uralsib-Bank in Moskau. Westliche Pharmariesen bereiten sich derweil auf die Importschranken vor und errichten eigene Produktionsanlagen in der Russischen Föderation, um vom Wachstum des Markts zu profitieren. Ende 2010 kündigte der NovartisKonzern 370 Millionen Euro Investitionen in den kommenden fünf Jahren an. Die Schweizer wollen eine Produktionsanlage in Sankt Petersburg errichten und gemeinsam mit russischen Unternehmen die Entwicklung neuer Pharmaprodukte vorantreiben. Berlin-Chemie, Tochterunternehmen der italienischen MenariniGroup, baut in Kaluga bei Moskau ein Werk für 30 Millionen Euro. Auch Nycomed mit Sitz in der Schweiz und das dänische Unternehmen Novo Nordisk haben Pläne zur Arzneimittelherstellung in Russland angekündigt.

Kooperation bei Impfstoffen

Die britische GlaxoSmithKline hat im November einen Vertrag mit der Moskauer Binnofarm über eine Kooperation im Bereich Impfstoffe abgeschlossen, und auch die Franzosen rückten nach: Im Januar stellte Sanofi-Aventis ein Team für die Erschließung von Emerging Markets zusammen; ein besonderes Augenmerk gälte dabei Russland. Unterdessen nehmen russische Unternehmen ausländische Märkte ins Visier. So will Pharmasintez einen Teil seines Kapitals zum Kauf von Pharmaunternehmen in Europa, Israel und den USA aufwenden: „Wir suchen kleine, wachsende und gewinnträchtige Unternehmen mit eigenen Produktionsstandorten“, so fasst Dmitri Genkin die Pläne seines Unternehmens nach dem Gang an die Börse zusammen.

Wachstum Keine Verdopplung des BIP

Propheten und der real existierende Kapitalismus Vor rund zehn Jahren versprach der damalige Präsident Wladimir Putin, das russische Bruttoinlandsprodukt innerhalb eines Jahrzehnts zu verdoppeln. Sein Ziel hat er knapp verfehlt. natalja fedotowa für russland heute

Es erinnerte an die Zehnjahrespläne aus sowjetischen Zeiten, als Präsident Wladimir Putin im Jahr 2000 ankündigte, bis 2010 das Bruttoinlandsprodukt seines Landes zu verdoppeln. Auf dem Internationalen Investitionsforum in Sotschi bekräftigte er 2008 noch einmal den Plan. Da ahnte er allerdings noch nichts von der kommenden Finanzkrise, die sein ehrgeiziges Ziel zunichte machen sollte. Im Januar wurde in Russland die Studie der Consultingfirma FBK diskutiert, die zu dem Schluss kam, das reale BIP sei im vergangenen Jahrzehnt lediglich um das 1,6-Fache gewachsen. „Die BIPVerdoppelung binnen eines Jahrzehnts ist nur zur Hälfte gelungen“, stellt Igor Nikolajew fest, bei FBK verantwortlich für strategische Analysen. Und das läge nicht nur an der Weltwirtschaftskrise. „Andere Länder haben sich von der Krise schließlich auch nicht beeindrucken lassen.“ So wuchs im gleichen Zeitraum das BIP Chinas ums 2,6-Fache, in Kasachstan um das 2,2-Fache und in Weißrussland um das Zweifache. Allerdings, so Nikolajew, habe die Krise auch seine positive Seite: Die russische Wirtschaft entwickle sich – wenn auch langsam – vom Rohstoff hin zum innovativen Sektor, glaubt der Experte.

Alexander Osin von Finam Management erklärt den BIP-Zuwachs vor allem durch einen Anstieg der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt. „Die wichtigsten Produktionsanlagen in der Industrie sind zu 80 Prozent veraltet, die Unternehmen können aber nicht modernisieren, da sie keinen Etat dafür haben.“ Investitionen von außen fließen in die lukrativen Bereiche Rohstoffe, Einzelhandel, Dienstleistungen, Finanzmärkte oder Immobilien. Der einzige Weg aus dieser Sackgasse sei aber eine Erhöhung der Investitionen im produzierenden Gewerbe. 2010 stieg die Industrieproduktion schneller als das reale BIP – erstmals seit 2005. Der Grund waren staatliche Subventionen der

Die Produktionsanlagen sind zu 80 Prozent veraltet, aber den Unternehmen fehlt das Geld zur Modernisierung. verarbeitenden Industrie, die private Anleger nach sich zogen. Für 2011 sind noch einmal 1,6 Billionen Rubel (40 Milliarden Euro) für weitere Modernisierungsmaßnahmen eingeplant. Das reicht aber längst nicht aus: Experten schätzen, dass für eine umfassende Modernisierung mehrere Billionen Rubel nötig sind. Trotz steigender Produktionskosten sind die Prognosen für 2011 aber optimistisch: Die RatingAgentur Fitch sagt ein BIP-Wachstum von 4,3 Prozent voraus, der Internationale Währungsfonds gar von 4,5 Prozent.

Das russische BIP 2000 bis 2010

Quelle: Internationaler Währungsfond

Automobil Russian Automotive Forum

Maschinenbau Technical Fair St. Petersburg

Energie Russia Power 2011

14. bis 31. März, Sankt Petersburg

15. bis 17. März, Renaissance Monarch Centre Hotel, Moskau

15. bis 17. März, Lenexpo-Zentrum, Sankt Petersburg

25. bis 27. März, Expo Center Moskau

Auf dem Lenexpo Messegelände dreht sich alles um eine umweltfreundlichere Lebensweise. Vorgestellt werden neue Technologien in den Bereichen Abfallentsorgung, Wasseraufbereitung und Verbesserung der Luftqualität.

Regierungsvertreter tauschen sich mit Managern der führenden Autohersteller über die Zukunft des russischen Automobilbaus aus. Ein AnalyseWorkshop zu den wichtigsten Bereichen der Branche und ein Networking-Tool runden das Forum ab.

Die Technische Industriemesse von Sankt Petersburg ist eine internationale Fachmesse für Maschinenbau, Metallverarbeitung, Werkzeuge, Gießerei, Metallurgie, Schweißen, Automatisierungstechnik, Antriebstechnik und Subcontracting.

Die führende Energiefachmesse Russlands findet dieses Jahr zum neunten Mal statt. 5000 Besucher und Aussteller aus über 50 Ländern werden erwartet. Die Messe bietet eine ideale Plattform für neue Strategien und Technologien aus dem Energiesektor.

›› ecoweek.lenexpo.ru/en

›› adamsmithconferences.com

›› ptfair.ru

›› russia-power.net


Wirtschaft

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

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Technologien Sonne und andere erneuerbare Energien – Energiewende in Russland

Sonne im neuen Jahrtausend Russland ist zwar nicht das sonnigste Land der Erde, doch die Nutzung von Sonnenenergie gilt als vielversprechende Alternative bei der Gewinnung von Elektrizität und Wärme. Irina Filatova

Russland – da denkt man wohl eher an lange dunkle Winter als an strahlend sonnige Tage. Doch das hindert private Unternehmen keineswegs daran, in den wachsenden Markt für Solarenergie einzusteigen. Die Entscheidung darüber, ob die Sonne langfristig mit herkömmlichen Energiequellen konkurrieren kann, steht zwar noch aus, aber nach Meinung einiger führender Anbieter hat Solarenergie ein sehr hohes Potenzial. Das sieht die Regierung anders. Sie setzt noch immer auf Erdöl und hat bislang wenig Förderprogramme für erneuerbare Energien – wie aus der Sonne – lanciert. Handelsminister Viktor Christenko drückte es so aus: „Gott hat Russland mit Kohle, Gas und Öl gesegnet, daher gibt es für die Produktion alternativer Energien keine Stimuli.“ „Zu Unrecht“, sagt Marat Saks von Solar Wind, einem Hersteller von Photovoltaikmodulen mit Sitz im südrussischen Krasnodar. „Russland ist auch mit viel Sonne gesegnet. Außerdem: Beim Verbrauch von Solarenergie ist Deutschland weltweit führend, und scheint dort etwa immer die Sonne?“

getty images/fotobank

the moscow times

Brennholz kombiniert mit Sonnenschein: Ein Haushalt in Ostsibirien nützt zur Wärmeerzeugung beide Energieformen.

energieeffizienz

Modernes Outfit für Chruschtschow

ria novosti

Saks Firma produziert Module für den Export, aber man setzt auch auf einen expandierenden Binnenmarkt. „Wenn wir einen Auftrag von einem russischen Kunden bekommen, bearbeiten wir ihn bevorzugt, um die Entwicklung auf dem Binnenmarkt anzukurbeln“, sagt Saks. Eine Reihe russischer Privatunternehmen gründete Joint Ventures mit dem staatlichen Technologieunternehmen Rusnano, um auf die lokale Nachfrage reagieren zu können. Gemeinsam mit Rusnano startet Solar Wind gerade ein 4,8 Milliarden Rubel (rund 120 Millionen Euro) teures Projekt zur Produktion doppelseitiger Photovoltaikmodule für den Binnenmarkt. Sie können auf beiden Seiten Sonnenenergie aufnehmen. Laut Saks gibt es weltweit nur wenige Hersteller für Solarmodule dieser Art. Bisher sei das Marktvolumen in Russland noch wesentlich kleiner als das Exportvolumen, erläutert er. Seine russischen Kunden seien Privatfirmen und Regionalverwaltungen, exportiert werde hingegen in mehr als 22 Länder, darunter Deutschland, England und die USA. Energiespezialisten gehen davon aus, dass Sonnenenergie in einigen Regionen eine echte Alternative zu herkömmlichen Energiequellen wie Gas und Öl ist. „Die G ege nd u m K r a snod a r a m Schwarzen Meer und die meisten Regionen Sibiriens haben eine Insolation (durchschnittliche Zeit

photoxpress

120 Millionen für russische Solaranlagen

Wasserkraft wurde in der Sowjetunion zu einer wichtigen Energiequelle. Heute decken die großen Wasserkraftwerke mit 165 Milliarden Kilowattstunden fast 20 Prozent des russischen Energiebedarfs ab.

Die Zahlen

964,4 Mrd. kWh.

betrug der Energieverbrauch Russlands im Jahr 2009. Deutschland verbrauchte im gleichen Jahr 596,8 Mrd. kWh.

40

Prozent

30

Bis zum Jahr 2020 soll die Energieeffizienz Russlands laut Plänen der Regierung um 40 Prozent steigen.

der Sonneneinstrahlung) vergleichbar mit Südfrankreich. Die Region Transbaikalien östlich des Baikalsees weist sogar mehr Sonnentage als Spanien auf“, sagt Wassili Malacha, Umweltspezialist beim GUS-Rat für Elektrizität und Energie.

Mehr Sonne als in Spanien

Laut Malacha beträgt in Krasnodar die tägliche solare Einstrahlung pro Quadratmeter 4 bis 4,5 Kilowattstunden. Hier wurde man auf die Möglichkeiten der Solarenergie aufmerksam, als 2006 von der Regierung ein Energieeffi-

Prozent

des Energieverbrauchs könnten mit erneuerbaren Energien bestritten werden. Heute sind es etwa zwei Prozent.

zienzprogramm ins Leben gerufen wurde. Inzwischen sind in der Region Sonnenkollektoren auf einer Fläche von insgesamt 7000 Quadratmetern installiert. Die Zellen werden auch zum Erwärmen von Wasser genutzt: Das städtische Krankenhaus in Ust-Labinsk, einer Stadt 60 Kilometer nördlich von Krasnodar, wurde mit rund 600 Quadratmetern Photovoltaikzellen ausgestattet, die im Sommer den kompletten Warmwasserbedarf abdecken. Durch die Solarenergie spart das Krankenhaus jährlich ca. 1,5 Millionen Rubel (rund 40 000 Euro).

Die Millionenstadt Jekaterinburg 1500 Kilometer östlich von Moskau ist nicht nur die Hauptstadt des Urals, sie spielt momentan auch bei der Entwicklung von modernen und effizienten Energiekonzepten eine tragende Rolle. Derzeit wird dort unter Beteiligung deutscher Unternehmen ein ModellWohnhaus aus der ChruschtschowZeit unter Aspekten der Energieeinsparung grundsaniert. Nach dem Umbau soll der Energieverbrauch um bis zu 73 Prozent sinken. Wenn das Experiment gelingt, wird auch ein Großteil

der umliegenden Wohnhäuser auf diese Weise saniert. Gleichzeitig prüft man weitere Möglichkeiten der Energieeinsparung in Gebäuden, aber auch im Verkehr und in der Abfallund Wasserwirtschaft, etwa durch den Einbau von Thermostaten an Heizungen, Gebäudeisolierungen oder Energiesparlampen. Doch das hat seinen Preis: Nach einer Berechnung der deutschen Experten würde eine Investition von 3,6 Milliarden Euro eine Primärenergie-Einsparung von 44 Prozent ermöglichen.

Jewgeni Nadeschdin, Direktor des Internationalen Entwicklungszentrums für nachhaltige Energien der UNESCO (ISEDC), plädiert dennoch für einen besonnenen Ausbau der Solarenergie.

kömmlichen Energien“, bestätigt Brigitte Schmidt von Eurosolar Deutschland. Ein weiteres Hindernis beim Ausbau der Solarenergie sind die hohen Baukosten der Kraftwerke. Sie liegen zwischen 7000 und 12 000 Euro pro Kilowatt installierter Leistung. Im Vergleich dazu liegen die Kosten für Kernkraftwerke bei 2200 Euro, für Wasserkraftanlagen nur bei 730 Euro pro Kilowatt. Eine Energieversogung duch Wasserkraftwerke und Biokraftstoffe sei deshalb letztendlich doch die bessere Option für Russland, meint der Kritiker Nadeschdin.

Sonne im Verbund mit erneuerbaren Energien

Zumindest Mittelrussland verfüge über zu wenig Sonneneinstrahlung, man solle sich deshalb auf den Süden und die Kaukasusrepubliken konzentrieren. „Solarenergie hat auch in Russland Zukunft, doch nur in Verbindung mit anderen erneuerbaren und her-


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Thema des Monats

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

region Nordkaukasus

Rasul Magomedow (rechts) ist Vater einer „schwarzen Witwe“: Seine Tochter sprengte sich 2010 in der Moskauer Metro in die Luft.

in dagestan gab es 2010 die meisten terroranschläge Die Fronten stehen sich unversöhnlich gegenüber

Saira, eine zarte kleine Frau aus Machatschkala, der staubigen Hauptstadt Dagestans, hat einen Sohn geboren. Doch die Menschen hier sehen sie nicht als junge Mutter, sondern als potenzielle Mörderin. Kürzlich, so erzählt sie, hätten Kunden im Supermarkt auf sie gezeigt und gesagt: „Da kommt die Märtyrerin!“ Die junge Frau bleibt jetzt lieber zu Hause, anstatt sich den vorwurfsvollen Blicken von Fremden in dieser vorwiegend muslimischen Region im Süden Russlands auszusetzen. Was sich für Saira zu einem wahren Albtraum entwickelte, begann im letzten Frühjahr, als sich zwei Frauen aus Dagestan in der Moskauer U-Bahn in die Luft sprengten. 40 Menschen wurden getötet, mehr als 100 verletzt. Die Attentäterinnen hatten mit Saira mehr als nur die geografische Herkunft gemeinsam. Wie Sairas Mann waren auch ihre Ehemänner aufständische Islamisten, die bei Kämpfen mit russischen Sicherheitskräften ums Leben gekommen waren. Immer wieder begehen in Russland solche Witwen Selbstmordattentate, weshalb die Medien sie als „schwarze Witwen“ bezeichnen. Nach dem U-Bahn-Attentat

veröffentlichte die Zeitung Komsomolskaja Prawda Fotos von 22 potenziellen „schwarzen Witwen“, dazu persönliche Daten wie die Städte und Bezirke, in denen sie leben. Die Schlagzeile lautete: „1000 Witwen und Schwestern von Banditen aus Dagestan helfen Terroristen“. Auch Sairas Foto war unter den 22, mit dem Kommentar, man müsse solche Personen fürchten und beobachten. „Unglaublich, mich auf diese Liste zu setzen“, Saira ringt nach Worten. „Wenn ich einen Terroranschlag planen wollte, würde ich nicht so offen in Machatschkala leben. Ich hätte meinen Sohn nicht auf die staatliche Schule geschickt.“ In den letzten zehn Jahren neigen die Sicherheitsorgane dazu, Islamisten grundsätzlich als Terrorverdächtige einzustufen. Und laut Menschenrechtlern geht die Polizei mit äußerst brutalen Mitteln gegen sie vor. „Sie brennen dein Haus nieder, und es kann passieren, dass du und deine ganze Familie sangund klanglos verschwinden oder ermordet werden“, sagt Tatjana Lokschina aus dem Moskauer Büro von Human Rights Watch. „Solcherart Methoden und der fehlende Raum für eine eigene Meinung oder religiöse Überzeugungen drängen immer mehr Menschen in den Untergrund. Gerade Jugendliche!“ Als die Polizei die Witwenliste der Zeitung zuspielte, habe sie die negativen Auswirkungen auf die hinterbliebenen Ehefrauen bewusst in Kauf

genommen. Das sei eine neue, besonders hinterhältige Taktik in einem schmutzigen Konflikt. Vor Kurzem wurde die nächste angebliche „schwarze Witwe“ in der Republik Inguschetien verhaftet: Fatima Jewlojewa, 22, Schwester von Magomed Jewlojew, dem Selbstmordattentäter, der am Flughafen Domodedowo 36 Menschen in den Tod riss. Die Ermittler behaupten, an Fatimas Händen Sprengstoffspuren gefunden zu haben; sie habe ihrem Bruder beim Bombenbau geholfen. Fatimas Ehemann, ein Aufständischer, wurde letzten Sommer getötet. Im letzten Jahr starben in Dagestan bei 112 Anschlägen, fünf davon Selbstmordattentate, 68 Menschen, 195 wurden verletzt. Human Rights Watch berichtet von 20 Entführungen und acht Morden an Islamisten durch die Polizei im zweiten Halbjahr 2010. „Um eine wirkliche Diskussion über den Islam und vielleicht sogar Reformen in Gang zu bringen, müssen die Behörden versuchen, alle religiösen Führer zu hören, gerade auch die unbequemen“, so Lokschina. Gennadi Gudkow vom Sicherheitskomitee der Staatsduma fordert mehr politische Befugnisse für den Gesetzgeber, um den Antiterrorkampf der Sicherheitskräfte überwachen und kontrollieren zu können. Gudkow beklagt, das Parlament habe keine Kontrolle über das staatliche Anti-TerrorKomitee. „Wir als Abgeordnete sind bei der Terrorismusbekämp-

Dagestan

Inguschetien

Kabardino-Balkarien

Anna NemTsova

verloren. Ihren achtjährigen Sohn hat sie aus der staatlichen Schule genommen und schickt ihn nun auf eine private Koranschule. Zuvor hatte ihn ein Lehrer geschlagen, weil er Wahhabit sei. Und sie selbst werde immer wieder von der Polizei aufgesucht und verhört. „Wir wünschten, wir könnten dazugehören“, sagt sie. „Aber wir werden von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Das drängt viele in den Untergrund.“ Anna Nemtsova schreibt über den Kaukasus für die amerikanische Newsweek.

Saira beim Mittagsgebet in Richtung Mekka

Nordossetien

Tschetschenien

(5) lori/legion media

für russland heute

fung völlig ausgeklammert“, sagt er. „Wir haben keinen blassen Schimmer davon, wie die Sicherheitskräfte vorgehen und welche speziellen Methoden sie dabei anwenden.“ Der Fall Saira legt nahe, dass manche dieser Methoden eher kontraproduktiv sind. Seit ihr Ehemann getötet wurde, sagt Saira, habe sie alles versucht, um sich ein neues Leben aufzubauen. Sie hat wieder geheiratet, ein zweites Kind bekommen und eine Anstellung als Putzfrau in einem Geschäft gefunden. Das alles wurde von der Zeitungsliste zerstört. Saira hat ihren Job

oksana juschko

Saira sucht die Normalität. Sie will einfach nur ihre Kinder großziehen. Ihr Mann wurde von Sicherheitskräften erschossen. Deswegen sieht man sie als potenzielle Attentäterin.

reuters/vostock-photo

die „schwarzen witwen“ aus dem kaukasus

Fläche 50 300 km²

Fläche 3630 km²

Fläche 12 500 km²

Fläche 8000 km²

Fläche 15 700 km²

bevölkerung 2,7 millionen

bevölkerung 0,5 Millionen

bevölkerung 0,9 millionen

bevölkerung 0,7 millionen

bevölkerung 1,3 millionen

redaktion@russland-heute.de


Thema des Monats

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Warum Morgan Stanley noch zögert, in Dagestan zu investieren Der Nordkaukasus mit seinen sechs Republiken soll zum Tourismus-Cluster werden. Dafür sind bis 2025 15 Milliarden Euro eingeplant. Aber viele Investoren sind noch skeptisch. jelena danilowitsch

frage & Antwort

Alexander Chloponin

generalgouverneur des föderationskreises nordkaukasus

RG

Wodurch wird der Frieden im Nordkaukasus gestört? Die Region hat eine schmerzliche Vergangenheit. In Tschetschenien gab es zwei Kriege. Und noch immer sinnen viele Menschen auf Rache und führen Blutfehden. Kann man dem Terror mit höheren Lebensstandards begegnen? Niemand kann den Krieg gegen den Terror wirklich gewinnen, solange es im Nahen Osten brodelt. Dieser Terrorismus ist kein russisches Phänomen, er ist eine internationale Bedrohung. Welche Rolle spielt der Konflikt zwischen Sufis und Sunniten? Religiöse Diskussionen sind zu kompliziert und führen nirgendwohin. Wir sind kein Religionsstaat, doppelte Standards darf es nicht geben. Wo haben Sie als Generalgouverneur Ihre Prioritäten gesetzt? Oberste Priorität hat der Kampf gegen Terrorismus und Korruption. Und wir wollen neue Arbeitsplätze schaffen. Wo sollen diese entstehen? Im Tourismus, im Baugewerbe und im Energiesektor. Auch landwirtschaftliche Projekte sind im Gespräch, ebenso wie Logistikzentren und Industrieparks. Bis wann wollen Sie diese Pläne umsetzen? Die Regierung hat einen Ausschuss für die Entwicklung im Nordkaukasus gegründet. Schon bis 2015 sollen hier 400 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Diese Pläne klingen sehr ehrgeizig, doch wir wollen unser Bestes geben.

Hadschi-Murad Magomedrassulow hat neun Jahre in Moskau gelebt. Als er von den Plänen der Regierung hörte, aus dem Nordkaukasus ein Urlaubsparadies zu machen, ging er zurück in seine Heimat Dagestan. Zu Sowjetzeiten war die russische Teilrepublik ein beliebtes Reiseziel mit Hotels, sportlichen Einrichtungen und Jugendherbergen. Die schneesicheren Berge lockten Skifahrer aus der ganzen Sowjetunion an, und Badegäste aalten sich am Kaspischen Meer in der Sonne. Auch kulturell hatte Dagestan einiges zu bieten. Heute ist die Region ein Notstandsgebiet – touristisch wie wirtschaftlich. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 20 Prozent, und besonders hoch ist sie unter jungen Leuten. Um der Misere entgegenzuwirken, wurde im letzten Jahr ein staatliches Entwicklungsprogramm beschlossen, das vier Wirtschaftsbereiche umfasst: Tourismus, Landwirtschaft, Energiewirtschaft und Verkehrswesen. Auch die Jugend- und Bildungspolitik soll eine größere Rolle spielen.

Mehr Geld für Jugendarbeit

Grigori Schwedow, Chefredakteur des Internetportals caucasianknot.org, das sich dem Kaukasus widmet, sieht in der Jugendarbeit eine wichtige Komponente des neuen Regierungsprogramms. „Die Ansichten und Werte der jungen Menschen müssen sich ins Positive entwickeln, sie brauchen sinnvolle Lebensperspektiven.“ Momentan versinke die Region jedoch in der Gesetzlosigkeit. Der 30-jährige Magomedrassulow lässt sich davon nicht abschrecken. Er rechnet mit einem Anwachsen des Tourismus und will in der Hauptstadt Machatschkala ein Reisebüro eröffnen. Er hat vor, Badereisen, Wanderungen und Ethnotouren anzubieten. „Jedes Jahr kommen viele Touristen aus Moskau und Sankt Petersburg hierher. Und Ausländer, die von Bekannten gehört haben, wie schön es hier ist“, sagt er. Aber er räumt auch ein, dass die Republik keinen guten Ruf genieße. Der Wahhabismus treibe jedoch keinen Kaukasier dazu, einen Touristen zu überfallen, denn Gäste gelten im Kaukasus als unantastbar. Er jedenfalls fühle sich in Dagestan sicherer als beispielsweise auf Moskaus Straßen.

Thema der nächsten Ausgabe sti ria novo

Raumfahrt Am 12. Apri 1961 läutete der russische Kosmonaut Juri Gagarin die Ära der bemannten Raumfahrt ein.

lori/legion media

russland heute

Dombaj im Nordkaukasus: Das Skigebiet geht auf über 3000 Meter Höhe, umgeben von Viertausendern.

Manche ausländischen Investoren sehen das inzwischen genauso. Anatoli Karibow, Leiter der Tourismus-Agentur von Machatschkala, erklärt, die türkische Hotelgruppe Pegasos habe Interesse an drei Objekten bekundet, darunter ein Hotelkomplex am Kaspischen Meer. Mit einem einzigen türkischen Investor kommt man allerdings kaum auf die 15 Milliarden, die die Entwicklungsagenda vorsieht, eine Summe, die doppelt so groß ist wie das Budget für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi.

Vier Milliarden Fremdkapital

Deutsche Investoren etwa halten sich mit ihrem Engagement in der Unruheregion Kaukasus noch zurück, wie die Auslandshandelskammer in Moskau bestätigt. Laut caucasianknot.org wurde bereits bei Morgan Stanley, J.P.Morgan, Citibank, Allianz Group und anderen internationalen Investmentfonds mit Investitionsvorschlägen geworben – bislang jedoch ohne großen Erfolg. Von den 15 Milliarden Euro Investitionssumme werden etwa elf Milliarden vom Staat kommen, der Rest muss fremdfinanziert werden. Ihre Verteilung wird nach Meinung von Experten unter wenigen Akteuren erfolgen, und zwar den großen Tourismusunternehmen, den Firmen russischer Oligarchen sowie Energiekonzernen, die die Infrastrukturprojekte realisieren. Für den Mittelstand und Kleinunternehmer bleibe da nur wenig übrig.

kommentar

Es muss darum gehen, eine Brücke zu den Aufständischen zu schlagen Orchan Dschemal

kaukasus-experte

Vor einem Jahr wurde der Unruheherd Nordkaukasus aus der Föderation Südrussland ausgegliedert und zu einem eigenen Verwaltungsbezirk unter Generalgouverneur Alexander Chloponin zusammengeschlossen. Dieses Konzept erscheint mehr als sinnvoll. Hätte die Regierung schon vor zehn Jahren entsprechende Initiativen ergriffen, wäre die Situation in dieser Region nicht eskaliert. Doch so gab es einen idealen Nährboden für den Terrorismus. Die zunächst sozialen Proteste gingen schon bald in religiösen Widerstand über. Die sozialen Motive sind seitdem in den Hintergrund gerückt. Heute schließen sich dem islamistischen Untergrund „in den Wäldern“ alle Bevölkerungsschichten an. Die wirtschaftlichen Missstände verschärfen lediglich seine Ideologie. Inzwischen ist praktisch das gesamte öffentliche Leben im Nordkaukasus unter terroristischer Kontrolle. Deswegen leistet Alexander Chloponins Programm eher einen Beitrag zur Stabilisierung der Lage, ein Allheilmittel gegen Terrorismus ist es nicht. Im Nordkaukasus gibt es renommierte Reiseziele, die einen Ausbau des Fremdenverkehrs sinnvoll machen.

Noch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper russland-heute.de/e-paper

Jedoch wurden in Machatschkala Sprengsätze schon lange vor den Terroranschlägen in Moskau gezündet – als Warnung für die nach islamischer Auslegung allzu freizügig bekleideten Touristen. Zur Lösung des Problems müssten Vermittler gefunden werden, deren Beziehung zum „Wald“ gut genug ist, um Einfluss auf die Aufständischen auszuüben. Auch sollte man islamische Parteien zulassen, regionale Mandatsträger wählen lassen und Kompromisse zwischen Scharia und weltlicher Gesetzgebung finden. In diese Richtung ist bislang nur der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow gegangen. Indem er seinen ehemaligen Gegnern sinnvolle Aufgaben zuteilte, hat er sie aus den tschetschenischen Wäldern gelockt. Sie wurden Verwaltungschef eines Dorfes oder bekamen einen Posten bei der Polizei. Sowohl in Dagestan als auch in Inguschetien muss es vor allem darum gehen, eine Brücke zu den Aufständischen zu schlagen. Die Islamisten müssen die Möglichkeit haben, den Untergrund zu verlassen und politisch für ihre Ziele zu kämpfen.

Der Moskauer Politologe Orchan Dschemal ist NordkaukasusExperte, Publizist und ehemaliger Autor der r ussischen Newsweek.


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Gesellschaft

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Ehrenamt Die Russen entdecken die Philanthropie – ein völlig neues Gefühl der Empathie für Menschen in Not

Wenn Blogger zu Feuerlöschern greifen Der Raubtierkapitalismus der 90er-Jahre lehrte die Russen: Jeder stirbt für sich allein. Nun bildet sich über das Internet eine neue Bewegung von freiwilligen Helfern.

Zum Wohltäter ausgebildet

Galina Masterowa

ria novosti

für russland heute

Als Marina Litwinowitsch, bekannte oppositionelle Bloggerin, im Internet über die schrecklichen Waldbrände des letzten Jahres recherchierte, wurde sie auf zwei Arten von Kommentaren aufmerksam: „Die einen schrieben ‚Wir brennen‘, die anderen ‚Wie können wir helfen?‘ Diese beiden Strömungen galt es zusammenzuführen, und genau das taten wir.“ Innerhalb weniger Tage stellte Litwinowitsch mit ein paar Freiwilligen eine Seite ins Netz. Dazu benutzten sie Usahidi, ein Computerprogramm, das nach dem Erdbeben in Haiti dazu diente, die Hilfslieferungen zu koordinieren und an die Orte zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt wurden. Hunderte von Freiwilligen boten ihre Hilfe an. Die Freiwilligenbewegung ist in Russland auf dem Vormarsch, es entsteht eine Generation junger, interneterfahrener Aktivisten. Sie stehen für eine neue Mittelschicht, die entschlossen ist, soziale Probleme anzugehen und rasch auf Hilferufe zu reagieren.

Die Waldbrände im Sommer 2010 vereinten Blogger im Kampf gegen das Feuer.

lieferungen zu koordinieren, und unterstützten die Löscharbeiten mit ihren eigenen Fahrzeugen“, erzählt Maria Tschertok, Leiterin von CAF Russia, einer privaten Organisation für humanitäre Hilfen. Andere wohltätige Einrichtungen wie Miloserdie (Barmherzigkeit) von der Russisch-Orthodoxen Kirche beteiligten sich ebenfalls an der Hilfsaktion für die Brandopfer.

Das Feuer schürt die Solidarität unter den Menschen

Während der Brände „gab es eine Welle an freiwilliger Unterstützung: Menschen halfen, Spenden-

unhaltbaren Zustände und setzte alles in Bewegung, die Lage zu verbessern.“ Vertreter der örtlichen Behörden wurden entsandt, die Einrichtung zu überprüfen, und diese Publicity rief neue Freiwillige auf den Plan. Die Gesellschaftskammer der Russischen Föderation beriet kürzlich über eine bessere Koordinierung der staatlichen und ehrenamtlichen Dienste, damit die

Doch anders als im Westen, wo sich Menschen verschiedener Altersgruppen ehrenamtlich engagieren, sind es in Russland eher die Jüngeren. Die meisten sind unter 40 und schreiben Blogs, sie gehören weder Parteien noch Organisationen an. „Es gibt regelmäßige Internetkampagnen“, erzählt Tschertok. „Ein Blogger, der freiwillig in einer Reha-Einrichtung arbeitete, berichtete über die

Über Mut, Macht und Markt: Ein Blogger kämpft gegen Windmühlen

Wenn die Moskauer ihren Bürgermeister direkt wählen könnten, würden sie für Alexej Nawalny stimmen. Nach der Absetzung des früheren Stadthalters Juri Luschkow gaben ihm in einer Internetumfrage 45 Prozent der Befragten ihre Stimme. Vor dem Hintergrund einer undurchschaubaren Politiklandschaft und der korrupten Beamtenschaft avancierte Nawalny zu einer Art Held des öffentlichen Lebens. Seine Bühne ist das LiveJournal – 25 285 Menschen lesen Nawalnys Blog navalny.livejournal.com regelmäßig. Seit 2008 nutzt der studierte Jurist auch die Börse für eine neue Art zivilgesellschaftlichen Engagements – er kauft Aktien großer staatlicher Unternehmen wie Transneft, Rosneft oder

Alexej Nawalny sagt russischen Beamten den Kampf an. Gazprom und erhebt daraufhin als Shareholder Anspruch auf den Zugang zu den in Russland üblicherweise fest unter Verschluss gehaltenen internen Unternehmensdaten. Nawalny verbringt viel Zeit damit, Daten publik zu machen, die öffentlich zugänglich sein müssten. Vor Kurzem stellte er einen Bericht des Rechnungshofes ins Netz, der beweist, das der staatliche Transneft-Konzern den

Steuerzahler beim Bau der Ölpipeline „Ostsibirien – Pazifik“ um drei Milliarden Euro betrog. Der über 150 Seiten lange Bericht gibt Einblicke in unterschiedlichste Methoden der Unterschlagung – Scheinaufträge, fiktive Subunternehmer, überhöhte Preise. Die Regierung dementierte das Dokument nicht, der Pressesprecher von Premier Putin kommentierte lapidar: „Wenn es hier tatsächlich ein Problem gäbe, hätte der Rechnungshof uns das mitgeteilt.“ Bevor Nawalny solche Daten veröffentlicht, unterzieht er sie einer sorgfältigen Prüfung: „Ich bekomme viel kompromittierendes Material zugesandt – ich prüfe es gründlich und handle dann. Ich habe keine Zeit, zu untersuchen, wer von den Betrügereien profitiert. Doch wenn ich schriftliche Beweise für eine Unterschlagung habe, lege ich Beschwerde ein.“ Trotz aller damit verbundenen Risiken handelt er entschlossen. Der Jurist ist von seinem Recht überzeugt.

Um eine bessere Ausbildung ehrenamtlicher Mitarbeiter kümmert sich auch Podari Schisn (Schenk Leben) mit Sitz in Moskau. Die Organisation hilft Kindern, die an Krebs oder anderen schwerwiegenden Erkrankungen leiden. Anastassija Sewerina, 23, ist seit einiger Zeit mit großem Eifer ehrenamtlich tätig. Früher arbeitete sie als Freiwillige bei Nastenka, einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich ebenfalls für kranke Kinder einsetzt. „Wer in diesem Bereich tätig ist, trifft auf gute, freundliche Menschen“, erzählt sie. Als sie noch in der freien Wirtschaft tätig war, fühlte sie sich stets zu wohltätiger Arbeit und ehrenamtlichem Engagement hingezogen. Inzwischen schreibt sie einen Blog, über den sie neue Freiwillige anwirbt. Ihre jüngste gute Tat war der Aufruf, eine Familie mit sieben Kindern in Rjasan zu unterstützen, die sich mit der Bitte um Hilfe an sie gewandt hatte. „Sie leben in einem heruntergekommenen Haus und haben kaum zu essen.“ Sewerina berichtete in ihrem Blog darüber, was die Familie am nötigsten brauchte, und bekam spontan Lebensmittel und Kleidung zugeschickt. „Die Familie hat viele Probleme,“ sagt sie, „doch ich bin in der Lage, dies publik zu machen und gemeinsam mit anderen gezielt so zu helfen, dass sie ihr Leben meistern kann.“

Freiwillige Hilfe aus Deutschland Hunderte Freiwillige – vor allem auch junge - kommen jedes Jahr in die Russische Föderation, um bei Menschenrechtsorganisationen wie MEMORIAL, in einem Waisenhaus in Sankt Petersburg oder im Naturpark auf Kamtschatka mitzuarbeiten. Für viele ist es der erste Kontakt mit einem fremden Land. Die mehrmonatigen Aufenthalte sind eine einmalige Chance, Land, Leute und Kultur kennenzulernen – und gleichzeitig Gutes zu tun. Außerdem lernt man nebenbei die Landessprache. Freiwilligen wird meist Verpfle-

gung und Unterkunft gestellt und ein kleines Taschengeld gezahlt. Außerdem sind sie gegen Unfälle versichert. Eine Übersicht der Organisationen, die Freiwilligendienste in Russland koordinieren, bietet die Seite des Deutsch-Russischen Jugendaustausches www.stiftung-drja.de/russland/ wege-nach-russland. In Russland kann auch der sogenannte „Andere Dienst im Ausland“, eine besondere Form des Zivildienstes, geleistet werden, zum Beispiel bei der „Aktion Sühnezeichen“. Mehr dazu unter www.fsj-adia.de.

photoxpress

russland heute

sergey kiseljov_kommersant

Er ist 34, intelligent und wortgewandt: Alexej Nawalny klärt Blogger über die korrupten Seilschaften der Beamten auf. veronika dorman

humanitären Hilfeleistungen noch effektiver greifen können. Gegenwärtig entsteht auch eine staatlich gesteuerte Freiwilligenbewegung, zum Beispiel bei der Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 und die Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Drei Universitäten bieten Kurse an, die die Helfer auf diese hochrangigen Veranstaltungen vorbereiten sollen.

Hanna, eine Freiwillige aus Deutschland, schenkt behinderten Waisenkindern in einem Heim bei Tula Suppe aus.


Gesellschaft

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

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Lebensabend Russlands Rentner gehen massenhaft ins Ausland. Viele nur über den Winter, manche für immer

Lieber Gelato als Glatteis Russische Rentner vermieten ihre Wohnung zu Hause und ziehen nach Tunesien, Spanien oder Italien. Dort erwartet sie ein angenehmeres und erfüllteres Leben.

Moskau - eine Stadt ohne Rentner. Erfahren Sie mehr auf russland-heute.de

NINA WASCHDAJEWA MAGAZIN „ITOGI“

Unter den russischen Touristen, die Mitte Januar wegen der Unruhen in aller Eile Tunesien verließen, waren auffallend viele ältere. Im Rahmen des SeniorenReiseprogramms „Winter in Tunis“ hatten sie die Wintermonate in einem wärmeren Land verbringen wollen – ohne zweistellige Minusgrade.

Das Alter – eine Chance für Entdeckungslustige

Als die 57-jährige Moskauerin Larissa Petrowa mit 55 in Rente ging, brach sie sofort nach Goa auf. „Das war schon immer mein Traum, aber von einem Lehrergehalt kann man keine großen Sprünge machen. Jetzt habe ich meine Wohnung vermietet und in den letzten beiden Jahren in Indien, der Türkei und Montenegro gelebt. Larissa plant noch eine lange Reise durch Europa, mit Stationen in Frankreich, Spanien und Italien, danach will sie nach Moskau zurückkehren und sich um die zwei Enkelkinder kümmern. Sie ist Vertreterin einer neuen Generation Rentner, die auch in der postsowjetischen Zeit noch berufstätig waren und einiges von ihrem Verdienst beiseitelegen konnten. Sie stehen materiell passabel da und unterscheiden sich gravierend von den Großmüttern, die ihre Zeit auf der Bank vor der Haustür zubrachten. Die neuen Rentner Russlands haben gelernt,

Eine Gesellschaft mit zwei Gesichtern: die „neuen“ russischen Senioren, die den strengen Winter in Ägypten und Tunesien verbringen ...

mit Computer, Internet und Onlinebanking umzugehen. „In Russland hat sich eine Mittelschicht herausgebildet“, konstatiert Nikita Mkrtschjan, Migrationsforscher an der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Diese Leute verfügen über Ersparnisse und rentable Immobilien. In den 1990er-Jahren sind sie nicht ins Ausland gefahren, weil es unerschwinglich erschien. Jetzt ist Russland teurer.“ Ihre Rente können sie per Antrag auch außerhalb des Landes in Empfang nehmen und bargeldlos operieren – was vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wäre.

Kein Ticket für die Rückfahrt

Nach ein, zwei Jahren Auslandsaufenthalt haben sich einige Ruheständler entschlossen, ganz zu bleiben. Jelena Degtewa, eine Rentnerin aus dem westrussischen Kaluga, lebt seit sechs Monaten im türkischen Mahmutlar, zehn Kilometer von der Urlauberhoch-

burg Alanya entfernt. Mit 63 Jahren ist sie zur Aussteigerin geworden: Ihren Unterhalt bestreitet sie von den 600 Dollar, die ihr die Vermietung ihrer Wohnung in Kaluga monatlich einbringt. „Vor einem halben Jahr habe ich meine Datscha verkauft und mir dafür die Wohnung in Mahmutlar zugelegt“, erzählt die Seniorin. „Alle Nachbarn sind Türken, deshalb lerne ich nach und nach die Sprache. Für den Alltag reicht es schon.“ Jelena Degtewa hat nicht vor, offiziell auszuwandern, aber auch an eine Rückkehr nach Russland denkt sie gegenwärtig nicht. Ihren Aufenthalt in der Türkei regelt ein Gastvisum, für das sie 400 Dollar pro Jahr bezahlt. „Hier hat mein Leben neue Impulse erhalten“, erklärt sie. „Und in der Türkei kommt man ohne nennenswerte Einschränkungen mit 600 Dollar im Monat aus. In Russland kann man von so einem Betrag nur schlecht leben.“

Aus dem Verkaufserlös einer kleinen Wohnung in einem Moskauer Fünfgeschosser aus der Chruschtschow-Zeit bekommt man in Bulgarien ein solides Haus samt einem Stück Land. Diese Tatsache und die steigenden Lebenshaltungskosten treiben viele Rentner ins Ausland.

Für ein geregeltes Leben

Und es gibt noch einen dritten Grund, so der Psychologe Pawel Ponomarjow: „Für Menschen über sechzig bedeuten Stabilität und eine gute medizinische Versorgung sehr viel. Hier ist das Leben instabil, die Renten sind niedrig und in den staatlichen Polikliniken geht nichts ohne Warteschlange. Auch finanziell besser gestellte Rentner beklagen sich über das Gesundheitssystem, ihnen ziehen private Kliniken schamlos das Geld aus der Tasche. Die Senioren gehen in den Westen, um sich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu fühlen.“

Viele Rentner, die Russland verlassen haben, wären liebend gern geblieben. „Doch bei uns betrachtet man sie nach wie vor als Menschen, die den Rest ihrer Tage nur so herumbringen.“ Sie fühlen sich schutzlos und überflüssig. Damit die Ruheständler nicht ins Ausland flüchten, so Ponomarjow, müsse sich in erster Linie die Einstellung zum Alter ändern. Noch immer hieße es in offiziellen Dokumenten der Russischen Föderation „Ablebensalter“. An natürlichen Ressourcen hätte Russland durchaus einiges zu bieten. Seien es die heilkräftigen Mineralquellen des Kaukasus, die urtümlichen Nadelwälder mit ihrem unvergleichlichen Geruch rund um den Ladogasee oder die heißen Quellen auf der Halbinsel Kamtschatka. Dazu gleich zwei Meere mit mildem mediterranem Klima. In Russland gibt es alles für ein erfülltes und zufriedenes Alter. Nur glückliche Senioren sieht man wenig.

Ohne die Unterstützung der Kinder ist es nicht zu schaffen 2010 wurde die durchschnittliche Rente in der Russischen Föderation um 43 Prozent angehoben, 2011 sollen weitere elf Prozent hinzukommen. „Endlich müssen wir nicht mehr jeden Rubel dreimal umdrehen“, sagt die 74-jährige Alla Loktjuschina, Rentnerin aus Wolgograd. Ein Leben im Wohlstand, wie es manche Rentner im Westen kennen, bedeutet das aber noch lange nicht: 8400 Rubel im Monat erhält ein russischer Pensionär durchschnittlich – etwas weniger als 220 Euro. Dabei kosten in Russland Lebensmittel nur etwa 20 Prozent weniger als in Deutschland, in den Ballungsräumen sind sie sogar teurer. In Großstädten wie Moskau oder Sankt Petersburg gibt es zwar Rentenaufschläge aus den regionalen Kassen,

diese fallen aber mit ihren 20 bis 30 Prozent kaum ins Gewicht. Das Ehepaar Loktjuschin bekommt zusammen 21 000 Rubel im Monat – das sind 520 Euro. Davon müssen sie 80 Euro für ihre Wohnung und 120 bis 150 Euro für Medikamente ausgeben. „Unter dem Strich bleiben vielleicht zwölftausend Rubel zum Leben übrig“, klagt Alla Loktjuschina. Das reiche gerade mal so für die täglichen Besorgungen. „Aber wir haben ja unsere Kinder, die für uns sorgen.“ Eine Unterstützung durch die eigenen Kinder ist für viele Senioren ein Ausweg aus dem finanziellen Debakel im Alter. Kinderlose müssen sich hingegen selbst versorgen: 8 der 30 Millionen russischen Rentner gehen einer Arbeit nach.

ITAR-TASS

Seit der Jahrtausendwende überwintern Senioren aus Russland vermehrt in südlichen Gefilden. Denn – so stellten sie fest – das steigert nicht nur die Lebensqualität, es ist auch bezahlbar. Die Kosten für einen Dreimonatsaufenthalt in Tunis belaufen sich auf 65 000 Rubel, also knapp 1600 Euro. „Die Ruheständler bezahlen hier ungefähr 700 Rubel – etwa 17 Euro – pro Tag, ein Erholungsheim im Moskauer Umland kostet dagegen 1200 Rubel“, erklärt Alexander Orlowski, Direktor eines Touristikunternehmens, das seit drei Jahren Langzeitreisen für Senioren nach Tunesien anbietet, Tendenz steigend: „Die alten Menschen gehen auf Besichtigungstour, lassen sich die Meeresbrise um die Nase wehen, genießen Wellness- und Heilbehandlungen, während sie zu Hause in der Wohnung hocken und sich nur zum Brotholen auf die spiegelglatten Straßen trauen. Neben Tunesien überwintern die Russen gerne in der Türkei, Montenegro, Bulgarien, Spanien, Griechenland, Italien und Zypern. Insbesondere die Moskauer konnten erfahren, dass sie für einen langen Auslandsaufenthalt einfach ihre eigene Wohnung zu vermieten brauchen. Das reicht für die Reisekosten und einiges mehr.

ALEXANDR CHIZHENOK_KOMMERSANT

Mit den Zugvögeln gen Süden

... und die „alten“ Rentner zu Hause in ihrer Wohnung.


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Meinung

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Dmitri Medwedjew herr über die zeit publizist

dmitry divin

R

Wladislaw Inosemzew

D

Nikolai Troizki

usslands Präsident Dmitri Medwedjew bewies neulich, dass seine Vollmachten als Staatsoberhaupt bis in die am wenigsten erwarteten Sphären hineinreichen: Seine Entscheidung, ab Herbst 2011 den Übergang zur Winterzeit abzuschaffen, ist die natürliche Fortsetzung einer Initiative, die er bereits im November 2009 in seiner Jahresbotschaft an das Parlament und die Nation lancierte: eine Reduzierung der ursprünglich elf Zeitzonen in Russland. Bereits im vergangenen Jahr rückten fünf Regionen der Russischen Föderation um eine Stunde näher an Moskau heran, indem sie den Übergang zur Sommerzeit nicht mitvollzogen. Jetzt hat Medwedjew dem gesa mten La nd den Verzicht auf die Zeitumstellung verordnet. Das Vorpreschen des russischen Präsidenten ist beispiellos. In vielen Ländern wie den USA oder den Staaten der EU gehört das regelmäßige Vor- und Zurückstellen der Uhren zur festen Gewohnheit. Der Wechsel zwischen Sommer- und Winterzeit gilt dort als ökonomisch gerechtfertigt und medizinisch unbedenklich. In Russland wie auch zuvor schon in der Sowjetunion sind sich die Experten hingegen uneinig. Als am 1. April 1981 der Zeitwechsel im Sowjetreich Einzug hielt, wurden dafür hauptsächlich wirtschaftliche Gründe ins Feld geführt. Nach Einschätzung einiger Wissenschaftler hat Russland dank des Übergangs zur Winterzeit jährlich zweieinhalb Milliarden Kilowatt-

Grenzen der Macht tunesien - Ägypten

stunden Strom eingespart. Doch während der gesamten drei Jahrzehnte verstummten auch die Gegner einer rein ökonomischen Betrachtungsweise nicht. Sie argumentierten, der Zeitwechsel störe den Biorhythmus. Unter dem Einfluss der Sommerzeit müssten die Menschen zwangsläufig eine Stunde früher aufwachen und sich während der Herbst- und Wintermonate in einen unnatürlichen Arbeitsrhythmus hineinfinden. Mediziner steuerten das Argument bei, in den ersten fünf Tagen nach der Zeitumstellung erhöhe sich die Anzahl der Notrufe Herzkranker jeweils um 11 Prozent. Vor allem letztere Argumente führte Dmit-

ri Medwedjew bei der Begründung seiner Entscheidung an: „Die Zeitumstellung geht einher mit Stress und Erkrankungen.“ Man darf auch den Stromspareffekt nicht überschätzen. Nach dem Vorstellen der Zeiger auf die Winterzeit schalten die Menschen zwar tatsächlich das Licht in ihren Wohnungen früher aus, doch die Großverbraucher von Elektroenergie arbeiten in der Regel rund um die Uhr. Da fallen 60 Minuten nicht ins Gewicht. Es mussten jedoch 30 Jahre vergehen, bis sich diese Einsicht durchsetze. Dieser Artikel erschien bei Ria Novosti

volkswirt

as folgerichtige Ende, das zunächst das tunesische und danach das ägyptische Regime ereilte, ist nicht etwa der Beginn einer „neuen Demokratisierungswelle“, es bedeutet zunächst ein mal die Rückkehr zur einer politischen Normalität nach vielen Jahren der Unterdrückung. Tunesien und Ägypten zählen zu jenen Ländern, deren Wirtschaft sich langsamer als in anderen des Nahen Ostens entwickelte, bei gleichzeitig rasantem Anstieg der Bevölkerung. Folge war die Verarmung eines Großteils der Menschen – ein Viertel muss mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen. Eine kleine politische Elite hatte die Kontrolle über die Wirtschaft inne und steckte 90 Prozent des Volkseinkommens ein. Selbst der private Handel – der originäre Wirtschaftssektor der arabischen Welt – war der staatlichen Kontrolle unterstellt. Natürlich spielte auch die Altersstruktur der Bevölkerung und die neuen Kommunikationsmittel eine wichtige Rolle bei den wachsenden Unruhen. 34 Prozent der Tunesier sind jünger als 21, in Ägypten sind es gar 43 Prozent. Über 30 Prozent der Tunesier und 24 Prozent der Ägypter verfügen über Internet, über 80 Prozent haben ein Handy. Die Konstellation aus 30 Jahren Diktatur und dem hohen Anteil einer jungen Bevölkerungsschicht ergab letztendlich die hochexplosive Mischung, die irgendwann hochgehen musste. Und man kann den Menschen in beiden Ländern nur wünschen, dass sie weiterhin auf die Straße gehen, falls sich die neuen Machthaber wieder als Despoten herausstellen sollten.

Aus den jüngsten Ereignissen in Tunesien und Ägypten kann man eines jedoch nicht folgern: dass die Zeit der Obrigkeitsstaaten nun endgültig vorbei sei. Undemokratische Regime wie China und andere asiatische Staaten hatten bislang nichts zu befürchten: Weil sie ihre Kontrolle auf die Politik beschränkten, in die Wirtschaft aber nur wenig eingriffen und für allgemeines Wachstum und Wohlstand sorgten. Vor diesem Hintergrund erscheint Russland als „Grenzland“: Einerseits gibt es hier keine aktive, arbeitslose Jugend, wirtschaftlich sind wir im Aufschwung, und der Regierung ist es gelungen, den

Für Russland kann es nur einen Ausweg geben: die Kontrolle der Beamten auf unterster Ebene. Haushalt nach der Krise zu konsolidieren. Andererseits sind die Menschen durch undurchsichtige staatliche Regulierungsmaßnahmen, bürokratische Willkür und die Bestechlichkeit der Behörden zunehmend verärgert. Deshalb geben die Unruhen in den arabischen Ländern zu denken. Für Russland kann es nur einen einzigen Ausweg geben: Wenn ein Staat dauerhaft existieren möchte, darf er seine Bürger nicht gängeln und muss auch seine Beamten auf unterster Ebene im Griff haben. Wenn ihm dies gelingt, hat er nichts zu befürchten. Dieser Artikel erschien bei Iswestija

W ladi slaw Inosemzew i st G r ünd e r d e s Ze ntr um s f ür Studien zur postindustriellen Gesellschaft.

Der die Welt veränderte: Michail Gor batschow Lilija Schewzowa

Politologin

E

s gibt führende Politiker, die ihr Land in einer Zeit der Erneuerung regierten: Adolfo Suárez, Margret Thatcher, Helmut Kohl, Ronald Reagan und Václav Havel. Dann gibt es aber auch Politiker, die die Welt verändert haben. Einer von ihnen war Wladimir Iljitsch Lenin, der Begründer des kommunistischen Systems, das den Westen herausforderte. Der zweite war Michail Gorbatschow, der dieses System stürzte. Zwischen 1985 und 1990 stellte Gorbatschow unter Beweis, dass er

ein politischer Führer anderen Kalibers war. Als Erstes erkannte er die Sinnlosigkeit des amerikanischrussischen Wettrüstens. 1986 brachte er die Idee von einer atomwaffenfreien Welt auf den Tisch, als deren Folge umfangreiche Abrüstungsverhandlungen aufgenommen wurden; ein anderer sowjetischer Regierungschef hätte das gefährliche Spiel mit den Amerikanern wesentlich länger fortführen können. Gorbatschows zweite große Abweichung von seinen Vorgängern war seine tiefe Überzeugung, dass jede Nation das Recht habe, ihre eigene Regierung zu wählen – eine Überzeugung, die grundlegend für seine Entscheidung war, Osteuropa aus

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de Für sämtliche in dieser beilage veröffentlichten Kommentare, Meinungen und zeichnungen sind ausschlieSSlich ihre autoren verantwortlich. diese beiträge stellen nicht die meinung der redakteure von russland heute oder von rossijskaja gaseta dar.

den Klammern der Sowjetunion zu entlassen. Als Bürgerproteste die DDR, die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen erschütterten, riefen die dortigen Regierungschefs Moskau um Hilfe, doch Gorbat-

Sein Verhalten spielte eine entscheidende Rolle bei der Wiedervereinigung Deutschlands. schow reagierte mit einem nachdrücklichen Nein. Er wollte keine Wiederholung des Prager Frühlings.

Sein Verhalten spielte eine entscheidende Rolle bei der Wiedervereinigung Deutschlands und der Rückkehr der früheren Satellitenstaaten der Sowjetunion in den Schoß Europas. Mit dem Verzicht auf ein Monopol der Kommunistischen Partei und der Öffnung der Grenzen forcierte Gorbatschow den Zerfall der Sowjetunion. Vermutlich sogar ohne Absicht wurde er so zu einem großen Reformer. Seine Persönlichkeit wirkt vor allem so spannungsvoll, weil er nach Beginn der großartigen Perestroika die Reformen nicht bis zum Ende führte. Er war der erste Mann in der russischen Geschichte, der den Kreml verließ, ohne sich an die Macht zu klammern.

Andererseits kennt die Geschichte keinen Reformer, dem es gelang, ein etabliertes System zu zerstören und an dessen Stelle aus eigener Kraft ein neues aufzubauen. Reformer opfern ihre Popularität, wenn sie an den alten Lebensweisen rütteln, und das gilt auch für Gorbatschow. Selbst heute noch weckt sein Name in Russland gemischte Gefühle. Keine Gesellschaft hat ihre Reformer zu deren Lebzeiten als Helden wahrgenommen. Heute wird Michail Gorbatschow 80 Jahre alt. Lilija Schewzowa ist Senior Associate des Moskauer Carnegie-Zentrums.

layout; Andrej sajzew, bildbearbeitung; wsewolod pulja, chef vom dienst für online; Barbara Münch-Kienast, Proofreading Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, ZamdorferstraSSe 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, schützenweg 9, 88045 friedrichshafen copyright © fgu „rossijskaja gaseta“, 2010. Alle rechte vorbehalten herausgeber: jewgenij abow; chefredakteur deutsche ausgabe: alexej knelz aufsichtsratvorsitzende: Alexander Gorbenko; geschäftsführer: gastredakteur: moritz gathmann webredakteurin: Anastasia gorokhova pawel nEgojza; chefredakteur: WladislaW Fronin Anzeigen: Julia Golikova, gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114 Alle in „Russland HEUTE“ veröffentlichten inhalte sind urheberrechtlich geschützt. nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. produktion: milla domogatskaja, produktionsleitung; ilja owtscharenko, russland heute: Die deutsche Ausgabe von Russland heute erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschlieSSlich die Redaktion der Tageszeitung Rossijskaja gaseta, Moskau, verantwortlich. verlag: Rossijskaja gaseta, ul. prawdy 24 str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation. Tel. +7 495 775-3114 fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@ russland-heute.de


Feuilleton

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

zeigt. Nicht nur die Moskauer OffSzene brachte ihre Stücke heraus, auch etablierte Theater und das Kino waren auf die junge Frau aus Odessa aufmerksam geworden. „Mit ihr“, schreibt die russische Zeitung Moskowskij Komsomolez, „starb möglicherweise die Zukunft der russischen Kultur.“ Was genau ist es, das ihre Stücke, Gedichte, ihre Prosaskizzen kennzeichnet, sie so besonders macht? Egal ob sie schreiend komisch, schrill oder leise angestimmt sind, bei aller Verzerrtheit ist stets ein trauriger Kontrapunkt zu hören. Ihre Figuren sind entfremdet, verstrickt, meist unglücklich, brüchige Existen zen allemal – gezeichnet sind sie jedoch aus komisch-grotesker Perspektive. Auffallend ist die starke Bildlichkeit der Texte. Stoffe und Locations entstammen ganz dem heutigen postsowjetischen Russland und der Ukraine. Dennoch ist da eine frappierende Nähe zu Nikolaj Gogol, Jablonskajas großem Landsmann aus dem 19. Jahrhundert. Parallelwelten tun sich plötzlich im Alltag ihrer Figuren auf und lassen sie ins Phantastische oder Metaphysische stürzen. Wie durch Gogols berühmten Zerrspiegel blickt Anna Jablonskaja auf einen bestimm-

Ruth Wyneken

U

theaterwissenschaftlerin

nter den Opfer n des Terroranschlags auf dem Moskauer F lughafen Domodedowo am 24. Januar befand sich auch die Dramatikerin Anna Jablonskaja. Sie war nach Moskau geflogen, um einen Theaterpreis in Empfang zu nehmen. Doch sie kam nie an. Die ganze Nacht versuchten Angehörige und Freunde sie zu erreichen. Irgendwann meldete sich ein Mitarbeiter des Geheimdienstes ... Anna Jablonskaja, die eigentlich Maschutina hieß, wäre diesen Sommer 30 Jahre alt geworden; sie hinterlässt in Odessa ihren Ehemann und eine dreijährige Tochter. Die ukrainische Autorin und Lyrikerin, die eigentlich internationales Recht in Odessa studiert hatte, schrieb in russischer Sprache. 2004 erschien die Debütantin auf der Longlist der Literaturkritik, ab da ging es steil bergauf: 2006 Einladung auf die Theaterbiennale in Wiesbaden, im selben Jahr das Springdance Festival in Utrecht, letztes Jahr war sie am Londoner Royal Court Theatre zu Gast, das im April ihr letztes Stück „Die Heiden“ als szenische Lesung

itar-tass

Ich glaube, mir ist ganz wenig zeit geblieben

In memoriam: Anna Jablonskaja

ten Ausschnitt der Welt. Ihr Stück „Ödland“ handelt von einem Mann, der nach Armeedienst und Krieg mit dem Leben nicht mehr zurechtkommt. Wer aber denkt, er hätte nun ein psychologisches, düsteres Drama vor sich, irrt ge-

Ljudmila Ulitzkaja warnt vor neuem Stalinismus Darja Iwannikowa

ie wollte nicht und hat es doch wieder getan. Nach Erscheinen ihres Romans „Da n ie l St e i n“ h at t e Ljudmila Ulitzkaja, wichtigste russische Gegenwartsautorin und vor Kurzem mit dem Prix Simone de Beauvoir ausgezeichent, angekündigt, sich nicht mehr mit „großer Prosa“ befassen zu wollen. Nun, zwei Jahre später, legt sie das epochale, ein Vierteljahrhundert – von Stalins Tod bis zur Breschnew-Ära – umfassende Werk „Seljony schatjor“ (Das grüne Zelt) vor. Am 8. Februar stellte Ulitzkaja im überfüllten Saal der Moskauer Bibliothek für fremdsprachige Literatur ihren eben erschienenen Roman vor. Eine Warnung vor einer nostalgischen Verklärung der „ruhmreichen sowjetischen

kulturkalender erfahren sie mehr über russische kultur auf

russland-heute.de

photoxpress

S

journalistin

Vergangenheit“ nennt die 68-jährige Autorin ihr neues Werk. „Seljony schatjor“ ist ein Buch über Micha, Ilja und Sanja, Mitte der 1940er-Jahre in Moskau geboren und Freunde seit Kindertagen. In

ihrer Schulzeit übt der Literaturlehrer großen Einfluss auf die Jungen aus, denn er lehrt sie, frei und unabhängig zu denken. Später führt alle drei Männer – den Dichter, den Fotografen und den Mu-

Literatur im film Der passagier des Zuges Nr. 12 – Erinnerungen an Leo tolstoi und seine Familie

Fotografie Frédéric Chaubin. Cosmic Communist Constructions Photographed

10. März, Tolstoi-Bibliothek, München

Bis 27. März, ZKM Karlsruhe

Den Dokumentarfilm mit originalen Archivaufnahmen zu Leo Tolstoi und seiner Familie schuf 1998 der russische Regisseur Vladimir Makedonski.

Chaubins Fotografien zeigen Architektur der späten Sowjet-Ära, die sich durch ein utopisches Formenvokabular jenseits der Norm auszeichnet.

›› tolstoi-bibliothek.de

›› zkm.de

waltig. Denn alles ist überzeichnet und ins Absurde gekippt. Der Protagonist Zenturio lebt einerseits im heutigen Russland, in seiner Phantasie ist er aber Legionär des römischen Reiches zur Zeit seines Niedergangs. Beide Ebenen

siker – dieses freie Denken zu den Dissidenten, in einen Kreis, in dem so mancher dem Druck nicht standhält, zum Denunzianten wird und fortan im Bewusstsein der eigenen Schuld Gewissensqualen leidet. Auch reale Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Andrej Sacharow, Juri Daniel, Andrej Sinjawski oder Jossif Brodski spielen eine Rolle in Ulitzkajas Buch. Eigentlich, so berichtet die Autorin, habe sie den Roman geschrieben, um noch einmal die Zeit ihrer Jugend – die 1960er- und 1970erJahre – aufzuarbeiten, nach Abschluss des Manuskripts jedoch festgestellt, dass ein brandaktueller Text entstanden sei. „In letzter Zeit wird in Russland ganz bewusst eine Stalinisierung betrieben – was mir ganz und gar nicht gefällt. Die Generation der heute 30-Jährigen hat noch keine Schläge einstecken müssen, sie ist unverbraucht und risikofreudig, trotzdem spüre ich einen Anflug von Angst. Eigentlich haben wir den Sklaven aus uns herausgepresst, doch er macht sich wieder bemerkbar – in Kriecherei vor der ‚Obrigkeit‘, im Machtdünkel des Beamtenapparats.“

Zirkus Der groSSe russische Staatszirkus

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vermischen sich rasch, der Ex-Soldat von heute findet in einer Kläranlage eine römische Uniform, zieht seine Familie mehr und mehr in die andere Realität und soll schließlich von einem abstrusen Heiler erlöst werden, der schon in römischer Zeit als christlicher Sektierer Wunder tat. Was bleibt, ist das groteske Drama einer Welt mit vertikalen Machtstrukturen, in der Menschen als Sklaven zum Kämpfen und Töten herangezüchtet werden. In „Die Concierge“ zieht Jablonskaja noch mehr Register. Sie schrieb es in Shakespear‘schem Versmaß, inhaltlich macht sie jedoch Anleihen bei James Bond und dem Actionfilm. Ihre Texte sind krass, dabei jedoch feinfühlig und hellhörig. Sie hat dem Volk genau aufs Maul geschaut, mit wenigen Strichen zeichnet sie ihre Figuren so lebendig, dass man selber mitfährt im Liegewagen Kiew-Moskau und mit der 80-jährigen Frau vom Dorf an der Grenze aus dem Zug geholt wird, weil sie keinen Schimmer hat von den politischen Entwicklungen – nur ihren alten sowjetischen Pass, der zum Relikt einer alten Welt geworden ist. Unter der komischen Oberfläche liegt auch hier die alte Traurigkeit, Anna Jablonskaja kannte sie gut. Ihr Blog im Internet spricht oft vom Tod und von der Ahnung, dass ihr nur noch wenig Zeit bleibe. So war es denn auch. R u t h Wy n e k e n i s t DA A D Dozentin für Dramaturgie in Moskau und Expertin für russisches Theater.

Die von einem totalitären Regime zerstörten Lebensentwürfe der Protagonisten sollten, so Ulitzkaja, all jenen eine Mahnung sein, die der sowjetischen Vergangenheit nachtrauern und sich allzu gern erinnern, „dass wir damals stärker waren, unsere Raketen geflogen sind, unser Ballett tanzen konnte und es sich irgendwie leichter gelebt hat“, so die Autorin im Gespräch mit dem Publikum. Dem Roman „Seljony schatjor“ liegt eine bereits vor acht Jahren entstandene gleichnamige Erzählung zugrunde, die Ulitzkaja im letzten Moment aus der Anthologie „Maschas Glück“ herausnahm, weil sie ahnte, dieser Text könne die Keimzelle für ein größeres Werk bilden, doch „die Zeit unserer Jugend, schwierig und widerspruchsvoll wie sie war, sprengt natürlich selbst den Rahmen dieses 600-seitigen Werks.“ Ulitzkajas deutsche Leser müssen sich gedulden: Eine Übersetzung des Romans erscheint laut Hanser-Verlag erst im Herbst 2012. Dieser Artikel erschien bei Ria Novosti

Jahrestag getty images/fotobank

März bis Juni, bundesweit

Temporeich und traditionell. Mit einem Gala-Programm wird heuer der russische Clown Oleg Popow für sein einmaliges Lebenswerk geehrt. ›› staatscircus.com

Vor 25 Jahren ereignete sich der Super-GAU von Tschernobyl - mehr in der nächsten Russland HEUTE.


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Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Straßenkunst Mischa Most, Begründer der Graffitiszene in Russland, macht international von sich reden

Seid wachsam und pessimistisch „Satschem?“ Wenn Sie dieses Wort an einer Moskauer Hauswand lesen, wissen Sie, dass Mischa Most hier war. Aber der Graffiti-Künstler hat noch mehr Fragen als „Warum?“ ANASTASIA GOROKHOVA

Atelier mit Blick auf die amerikanische Botschaft

Mischa Most, 29, steht in der Mitte des Raumes, groß, dünn, mit zerzaustem braunen Haar und einem mit grüner Farbe bekleckerten T-Shirt. „Wenn du aus dem Fenster schaust, kannst du in die amerikanische Botschaft gucken. Die sehen die ganze Zeit fern“, sagt er. Er selbst hat natürlich keinen Fernseher, wie alle, die sich zu den Künstlern und Kreativen zählen. Er gehört dazu. Schon länger hat er den Schritt von der Häuserzur Leinwand gemacht. Seine Bilder hängen in den angesagten Galerien für Moderne Kunst in Moskau, Sankt Petersburg oder in Perm. Doch auch in Kiew, Baku und in Westeuropa weiß man inzwischen, wer Mischa Most ist. Gerade ist er aus Bologna zurückgekehrt, wo er auf der Arte Fiera mit elf weiteren Künstlern aus Russland seine Werke zeigen konnte. Er will Anstöße geben; in fast allen Bildern, ob auf der Straße oder in der Galerie, findet sich ein sozialpolitischer Kontext.

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Nichts ist selbstverständlich: „‚Warum?‘ ist eine Frage, die sich jeder Mensch viel öfter stellen sollte.“

KURZVITA

Mischa Most 1981 wird Mischa Most in Moskau geboren, mit 16 entdeckt er Graffiti für sich. 1999 gründet er die „Crew Satschem“, die zu großer Bekanntheit gelangt, unter anderem durch eine Ausstellung im Jahr 2000 in Moskau. 2005 schließt Mischa Most sein Studium als Erdkunde- und Englischlehrer ab. Seine engagierte Examensarbeit widmet er dem Umweltschutz. Im Jahr 2006 folgt der künstlerische Ritterschlag für Most: eine Ausstellung über Graffiti und Street-Art in der Moskauer Tretjakow-Galerie mit einigen seiner Werke. Es folgen Ausstellungen in Sankt Petersburg, Kiew und Baku. 2011 werden Mosts Werke zum ersten Mal im Ausland gezeigt, auf der Arte Fiera in Bologna.

Bereits vor zehn Jahren entstand Mosts Markenzeichen „Satschem? “, was ga n z ei n fach „Warum?“ bedeutet. „‚Warum?‘ ist eine Frage, die sich jeder Mensch viel häufiger stellen sollte“, ist er überzeugt. Wurden beispielsweise wieder einmal unter Denkmalschutz stehende Häuser abgerissen – wie es unter Bürgermeister Luschkow oft der Fall war –, konnte man darauf wetten, dass schon kurz darauf „Satschem?“ in der Umgebung auftauchte.

MISHA MOST

Ich will Mischa Most zu Hause treffen und wundere mich, dass er in einer so noblen Gegend wohnt – die amerikanische Botschaft links, das Weiße Haus gegenüber. Doch hinter der Adresse verbirgt sich ein gelbes, langgezogenes Haus, das aussieht wie ein abgewracktes Schiff. Mischa Most bringt mich zum „Ochrannik“, dem in Russland allgegenwärtigen Wachmann. Vor diesem liegt ein offenes Heft, in das Mischa meinen Namen und die Ankunftszeit notiert. Im zweiten Stock führt er mich in einen langen Korridor – Tür an Tür wie in einem sowjetischen Wohnheim. Putz bröckelt von der Decke, das Parkett ist mit Brettern und Karton gefl ickt. Doch die Türen haben polierte Stahlklinken. „Willkommen bei mir zu Hause,“ sagt Mischa. Ich blicke in ein riesiges Zimmer mit fünf Meter hoher Decke. Unerwartet. Das Fenster reicht über die ganze Wand, was für eine Aussicht!

MISHA MOST

RUSSLAND HEUTE

Sprüher-Pose: Seinen wirklichen Namen gibt Mischa Most nicht preis.

Auch die Zukunft des Menschen bewegt den Künstler. Sein Slogan „No future forever“ knüpft an die „No-future“-Bewegung der späten Siebziger an: „Ich will zeigen, dass die Zeit des Pessimismus nicht vorbei ist, vielleicht nie vorbei sein wird, wenn die Menschen nicht endlich aufwachen und begreifen, was sie tun.“ Er sprüht gegen Korruption, Umweltverschmutzung und Terrorismus. Er kritisiert eine Gesellschaft, die bequem ist und wegschaut. Er

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stellt die Mächtigen bloß, die allein ihren Profit sehen. Erst in jüngster Zeit sei für ihn die Politik interessant geworden, gesteht er. „Ein geplantes Gesetz soll Schriftzüge mit politischem Background unter den Verdacht der Volksaufhetzung stellen. Früher war das einfach nur Vandalismus ohne große Strafen.“ In Italien zeigte er ein Werk über den Artikel 31 der russischen Verfassung, der die Versammlungsfreiheit garantiert. Die Zahl ist

das Symbol von Menschen, die sich zu jedem 31. eines Monats im Zentrum Moskaus versammeln. Meist enden die Demonstrationen mit Festnahmen. Most hat den Paragraphen auf eine riesige Leinwand geschrieben und mit verschiedenen Farben so übermalt, dass fast nichts mehr zu erkennen ist. Demonstriert er auch selber? „Es ist gut, dass andere das tun. Aber ich mache Kunst und hoffe, dass jemand daran Anstoß nimmt und sich Gedanken macht, bevor die Ordnungshüter alles zupinseln.“ Mischa glaubt, dass seine Kunst verstanden wird. Vor ein paar Jahren bemerkte er zwei Frauen auf seiner Vernissage, „um die 50 – also nicht gerade meine Zielgruppe“. Es stellte sich heraus, dass sie Kunstlehrerinnen waren. „Die Schüler von solchen Lehrern haben Glück“, sagt Most. Zu oft werde Kunst als rein mechanisches Zeichnen verstanden. Der Kopf werde nicht genutzt. Im Westen sei man offener. Er selbst lebt in einem Experiment: Das Haus wurde 1928 als „konstruktivistisches Experiment“ erbaut, von der Form über die Materialien bis zum Lebensprinzip. Heute atmet es die Atmosphäre eines besetzten Hauses – mit Schauspielern, Fotografen und Künstlern wie Most, die an einer neuen Welt werkeln, damit „No future forever“ irgendwann kein Thema mehr ist.


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