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Machtspiele

Horrortrip

Hängt wegen Gaddafi im Kreml der Haussegen schief? Alles bekannte Rollenspiele, meint Ingo Mannteufel.

Hunderttausende räumten in Tschernobyl auf. Der Liquidator Alexander Antonow lebt. Weil er Glück im Unglück hatte.

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KOMMERSANT

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

MITTWOCH, 6. APRIL 2011

Atomenergie neu bewertet Als Juri Wischnewski die Bilder aus Fukushima im Fernsehen sieht, werden in ihm Erinnerungen wach. „In Fukushima wurden die überhitzten Reaktoren per Hubschrauber manuell gekühlt“, sagt der Kernkraftexperte, der bis 2003 die russische Behörde für Atomsicherheit leitete. „Genauso hilflos und verzweifelt haben wir damals Sandsäcke auf den Reaktorblock 4 abgeworfen.“ Am 26. April 1986 erlebte die Welt den Super-GAU von Tschernobyl. 25 Jahre später verfolgen Menschen auf der ganzen Welt mit Angst die immer neuen Meldungen aus dem japanischen Atomkraftwerk Fukushima. Wieder ist guter Rat teuer. Blinder Technikglaube, so Wischnewski, sei im Umgang mit der Kernenergie die größte Gefahr. Viele, besonders in Deutschland, fordern deshalb die völlige Abkehr von dieser Art der Energiegewinnung. Russland dagegen will bis 2020 im ganzen Land 32 neue Reaktorblöcke bauen. Welche Konsequenzen wurden in den 25 Jahren gezogen? Russland HEUTE spricht mit russischen Experten, Umweltaktivisten, Tschernobyl-Zeitzeugen.

Das Ende des Atomzeitalters? Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR

VOSTOCK-PHOTO

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Die Techniker im Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Majak bei Tscheljabinsk

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FOCUSPICTURES

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Kaviar Moskau hebt das langjährige Exportverbot auf

NASA

„Ramsan, Ramsan“, skandieren Tausende begeisterte Fußballfans i m Zentr u m von Grosny an diesem kalten Tag im März. Auf dem Rasen des Stadions in der Hauptstadt Tschetscheniens läuft Präsident Ramsan Kadyrow zu seinem dritten Elfmeter an – der Torwart der Brasilianer lässt sich fallen wie ein Sack Mehl. Endlich trifft Ramsan. Das Spiel gegen die brasilianische WM-Auswahl von 2002 verliert er zusammen mit Lothar Matthäus und russischen Fußballveteranen im Team, aber das ist Nebensache. Der 34-Jährige hat an diesem Abend bewiesen: Tschetschenien bedeutet nicht mehr Ruinen, Terror und Tränen. Das Leben ist ruhig geworden in der Nordkaukasus-Republik, aber die Gesellschaft schlingert zwischen dem Islam und Menschenrechten, Despotismus und Demokratie.

ir wollen Wohlstand, Woh l s t a nd br auc ht Energie, Energie muss günstig sein, Atomkraft ist günstig – das war die Logik des Atomzeitalters, das zumindest in den Köpfen zu Ende zu gehen scheint. Deutschland dachte mit seinem mittelfristigen Atomausstieg weiter und denkt auch jetzt weiter: Gleich nach Fukushima wurden die ältesten Meiler vom Netz genommen, dort rückt der Atomausstieg in greifbare Nähe. Russland jedoch ist weit davon entfernt, denn Uran, Erdgas und Kohle sind kostengünstig, und ein Bewusstsein für Umweltprobleme bildet sich erst langsam aus. Was aber denkt man in den Entwicklungsländern, in denen Wohlstand sich gerade erst einstellt und ein riesiger Energiehunger herrscht? Würde man sich gegen Konsum und Luxus entscheiden und für erneuerbare E ne r g ie n? Woh l k au m . I n Deutschland entsteht sie, in anderen Ländern muss sie folgen: eine neue Energielogik.

INHALT

Ramsan und Lothar gegen die Brasilianer

Ein Länderspiel der anderen Art: Für Kadyrow lief es super.

POINTIERT

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

Der Kosmonaut Fjodor Juritschkin beim ISS-Einsatz im Orbit

WIRTSCHAFT

Als die Menschheit nach den Sternen griff An einem Mittwoch im April vor 50 Jahren, um neun Uhr und sieben Minuten, wurde Weltgeschichte geschrieben: Juri Gagarin stieg in ein Raumschiff und flog ins All. Noch unglaublicher war, dass er nach einer Runde um den Globus sicher zur Erde zurückkehrte. Nach dem Start des Sputnik vier Jahre zuvor hatte die Sowjetuni-

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Ostern Quarkpyramiden zur Auferstehung

on auch den zweiten wichtigen Schritt bei der Eroberung des Weltalls vor den Amerikanern getan. Das Rennen im All war in vollem Gange. Heute kooperieren die Gegner von einst. Das nächste große Ziel ist im Visier: der Planet Mars.

GESELLSCHAFT

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REISEN

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Krasnodar Die Stadt mit Charme und mediterranem Flair SEITE 9


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Politik

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Atomkraft Der Super-GAU in Tschernobyl vor 25 Jahren nahm den Russen ihren blinden Glauben an die Technik

Wie wir die Strahlung fürchten lernten 11. März 2011, Fukushima

Nach der Explosion im Reaktorblock 4 werden über 300 000 Menschen aus der 30-Kilometer-Zone um das AKW umgesiedelt. Eine halbe Million Aufräumarbeiter nehmen ihren Platz ein.

Nach Tschernobyl steckte Russland Milliarden in die Atomsicherheit. Heute exportiert das Land Atomkraftwerke. Auch nach Fukushima glaubt man in Russland an die Atomenergie. ANASTASIA GOROKHOVA RUSSLAND HEUTE

Den ersten Mai feierte man in der Sowjetunion mit prunkvollen Paraden, begleitet von stolzen Meldungen über wirtschaftliche Erfolge. 1986 wollen die Betreiber mit einem Test an einem neuen Spannungsregler im AKW Tschernobyl an diese Tradition anknüpfen, pünktlich zum Tag der Arbeit. Aus dem Test wird ein Super-GAU, tagelang verheimlicht die Staatsführung, was passiert war. Dann schickt sie Hunderttausende Aufräumarbeiter in die verstrahlte Sperrzone. Monatelang dekontaminieren diese das Gebiet und bauen einen Stahlbeton-Sarkophag um den havarierten Block 4. Journalisten

drehen Filme über das Desaster – und präsentieren der Öffentlichkeit schockierende Bilder der verstrahlten Opfer. Die Stimmung in der Gesellschaft kippt: Einst stolz auf die Kernforschung – von der offiziellen Devise „Friedliches Atom in jeden Haushalt“ angespornt –, werden die Sowjets nun mit den möglichen Folgen konfrontiert. Die vormals angesehene Branche gerät ins Wanken. „Es gab nur wenige, die sich dieser Gefahr aussetzen wollten. Deshalb herrscht heute in der russischen Atomindustrie akuter Fachkräftemangel“, sagt Wladimir Sliwjak, Gründer der russischen Umweltorganisation Ecodefense.

Seit dem Super-GAU in Tschernobyl herrscht in der russischen Atomindustrie akuter Fachkräftemangel.

KOMMENTAR

Atomausstieg für Russland? Bulat Nigmatullin ENERGIEEXPERTE

N

ach Tschernobyl hat man aus gravierenden Fehlern lernen müssen, die gewonnenen Einsichten scheinen aber nicht mehr abrufbar: Die staatliche Atomagentur Rosatom leiten keine Experten, sondern Manager. Wären sie fähig, in einer kritischen Situation die richtigen Entscheidungen zu treffen? – Neben dem gewaltigen Gefahrenpotenzial steht Atomenergie zugleich für Wohlstand, denn der lässt sich nur durch Energie erkaufen. In Japan gibt es daher für die Atomkraft keine Alternative: Das Land verfügt über keine natürlichen Energieressourcen. Auch die Japaner werden aus ihren Fehlern lernen müssen, dann aber weiterhin auf die Atomenergie setzen, ebenso wie Russland: Rosatom rechnete aus, dass sich bei zuneh-

mendem Wohlstand der Energieverbrauch um fünf Prozent pro Jahr erhöhen würde, und hat bis 2020 32 neue Reaktorblöcke geplant. Auf die immensen Energieverluste in konventionellen Kraftwerken wie auch im Stromnetz ist sie nicht eingegangen. Denn statt in Sanierung und Modernisierung investiert der Staat lieber in Atomkraftwerke, die man in dieser großen Anzahl nicht braucht. Genauso wenig aber braucht Russland den radikalen Ausstieg aus der Atomenergie: Es ist reich an natürlichen Energieressourcen wie Kohle, Gas und Uran, daher sind Alternativen wie erneuerbare Energien für das Land kein strategischer Weg und zudem viel zu kostenintensiv. Bulat Nigmatullin war Leiter des Forschungsinstituts für AK W-Sicherheit und VizeMinister für Atomenergie.

25 Jahre später: Nach einem Erdbeben der Stärke 9 und einem Tsunami fällt die Notstromversorgung im AKW Fukushima aus. Drei Reaktoren havarieren. Ein Kampf gegen den Super-GAU beginnt.

Aber das Land zieht seine Lehren aus Tschernobyl. Die Sicherheitsbestim mu ngen werden drastisch verschärft, alle Reaktoren modernisiert und von der Internationalen Atomenergiebehörde erneut abgenommen. „Um den menschlichen Faktor als Fehlerquelle auszuschließen, führten wir intelligente Systeme für passive Sicherheit ein“, sagt Igor Konyschew vom Nuklearausrüster Rosatom. Bei Rosatom ist man sich der modernisierten Kraftwerke so sicher, dass das Atomprogramm weiter ausgebaut wird, und zwar von Europa über die Türkei bis nach China: „Heute hält die Russische Föderation am Weltmarkt für AKW einen Anteil von 20 Prozent.“

Das lukrative Geschäft mit der Kernenergie Damit schwimmt das Land international gegen den politischen Strom, allerdings mit einer eigenen Logik: „Erdöl und Erdgas werden immer teurer und sind irgendwann aufgebraucht. Russland will aber seine Marktanteile als wichtiger Energielieferant nicht verlieren“, erklärt Sliwjak, „und vielmehr Marktführer auf dem Energiesektor werden.“ Lukrativ ist das Geschäft mit der Kernkraft allemal: Rund 3,5 Milliarden Euro kostet ein Meiler, hinzu kommen Erträge aus Wartung und Modernisierung. Allein in Russland will Rosatom bis 2020 32 neue Reaktorblöcke bauen

Atomaufsicht konsequent umsetzen würde“, sagt er. Seine Behörde wurde schon 2005 in Rosatom eingegliedert. Sliwjak, der russischen Atomindustrie längst ein Dorn im Auge, bringt es auf den Punkt: „Rosatom macht, was es will. Außer den Umweltorganisationen gibt es niemanden, der ihnen auf die Finger schaut.“ Die Fronten zwischen den Lagern sind verhärtet. „Was die Ökos auch erzählen, im Regelfall sind es Lügen“, kontert Konyschew. Neben internen Gremien gebe es Rostechnadsor, den „Föderalen Dienst für Technische Aufsicht in der Industrie“, kurz den Atom-TÜV. An eine Kontrollsicherheit durch Rostechnadsor kann Sliwjak nicht glauben. „Von 33 Reaktoren sind elf mittlerweile veraltet und müssten vom Netz“, sagt er. Im Jahr 2000 sei es in der Region Swerdlowsk zu einem rapiden Spannungsabfall der Elektrizität gekommen. Die Reaktoren des AKWs Majak waren 45 Minuten lang ohne Strom. „Ich sprach mit dem Mann, der damals im Kontrollraum saß. Wären es fünf Minuten mehr gewesen, hätten wir einen weiteren Super-GAU .“ Die russische Gesellschaft ist sich der Gefahren bewusst, wenn sie auch öffentlich nicht dagegen protestiert: 2007 ließ Ecodefense eine russlandweite Meinungsumfrage durchführen. 70 Prozent der Befragten äußerten sich gegen die Atomkraft und für erneuerbare Energien.

– zusätzlich zu den heutigen 33. Dabei setzt die Atomagentur auf moderne Reaktoren mit schnellen Neutronen: Die Technologie sei effizienter und umweltfreundlicher als die der konventionellen Reaktoren, da der verbrauchte radioaktive Treibstoff in den Zyklus zurückfließe und der Atommüll minimiert werde, warb Präsident Dmitri Medwedjew. „Wir sollten nicht die alten Reaktoren modernisieren, wir sollten moderne bauen“, so der Präsident.

Sicherer als Fukushima? Ob dadurch die Atomenergie wirklich sicherer wird, bezweifeln hochrangige Experten. Zwar seien bei den russischen Kraft-

„Kernkraftwerke sind technologisch komplizierte und gefährliche Objekte, es kann immer etwas passieren.“ werken Szenarien wie in Tschernobyl oder Fukushima schwer vorstellbar, glaubt Juri Wischnewski, früher Leiter der russischen Atomaufsichtsbehörde: Sie seien erdbebensicher bis Stärke 9, bei theoretisch möglichen 5. Und doch: „Kernkraftwerke sind technologisch komplizierte und gefährliche Objekte, es kann immer etwas passieren“, räumt er ein. Wischnewski sorgt sich um die Sicherheitskontrolle: „Es gibt heute kein Gremium mehr, das die

IM BLICKPUNKT

Atomkraftwerke in Russland Quelle: Rosenergoatom

Murmansk 1973 3/4 1360 Bilibino St. Petersburg 1973 3/4 3111

1974 3/4 21

Twer 1985 3/3 3105

Smolensk 1982 2/3 2067

Kursk 1976 4/4 4278 Nowoworonesch 1964 2/5 837 Jekaterinburg 1964 1/3 612 Saratow 1985 4/4 4200

Wolgodonsk 2001 2/2 2083

Inbetriebnahme Anzahl Reaktoren AKW-Leistung (Jahr) aktiv/gesamt in MWh

PHOTOXPRESS

RIA NOVOSTI

Wie sich die Bilder gleichen: In Fukushima versuchten japanische Techniker verzweifelt, die Reaktoren mit einem WasserSäure-Gemisch abzukühlen. „Genauso hilflos haben wir damals Sandsäcke über dem Reaktorblock 4 abgeworfen“, erinnert sich Juri Wischnewski, Gründer der russischen Atomaufsicht, der 1986 in Tschernobyl war. Dadurch sollte die ausdringende Radioaktivität eingedämmt werden. Viel genützt habe es jedoch nicht.

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

26. April 1986, Tschernobyl

Atomkraft in Russland: Was passiert in der russischen Atomindustrie? Wie steht es mit erneuerbaren Energien? Atomkraftexperten und russische Umweltschützer im Gespräch. Lesen Sie die Interviews auf www.russland-heute.de


Politik

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Entwicklung Ein Jahrzehnt nach dem Krieg gegen Moskau ist das Leben in Tschetschenien weitgehend friedlich

In Ramsans Stadt herrscht Ruhe

für die politische Rückendeckung und die finanzielle: Über 90 Prozent des tschetschenischen Haushaltsbudgets (2010 etwa 1,4 Mill ia rden Eu ro) kom men au s Moskau. Stabilität hat Kadyrow erreicht. Die Situation hat sich in den letzten Jahren entspannt, nur noch selten kommt es zu Angriffen der Islamisten, die sich in den Bergen versteckt halten. Doch auf Grosnys Straßen und an strategisch wichtigen Punkten patrouillieren noch immer schwer bewaffnete Polizisten: Im letzten Oktober attackierten Islamisten am hellichten Tag das Parlament. Menschenrechtler kritisieren, dass es im Kampf gegen den Terrorismus zu Entführungen und Fällen von Sippenhaft kommt. Auch politisch sitzt Kadyrow fest im Sattel: Vor wenigen Wochen hat ihn das Parlament für seine zweite Amtszeit bestätigt, was wenig verwunderlich ist, hat doch

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ILIA WARLAMOW

„Wenn die Menschen im Land Bilder von Ramsan Kadyrow aufhängen, dann lieben sie mich offenbar!“

Die neue Achmad-Kadyrow-Moschee: Symbol des Wiederaufbaus und des erstarkten Selbstbewusstseins

Ein Land berauscht sich nach 15 Jahren Krieg und Terror an seiner Wiedergeburt. Das Geld fließt aus Moskau, Präsident Ramsan Kadyrow ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

am Boden. Im Frühjahr 2011 ist Tschetschenien eine Republik, deren Wiederaufbau von Moskau in einem Maße finanziert wurde, dass Bewohner anderer russischer Städte mit Neid auf den Nordkaukasus blicken. Präsident Ramsan Kadyrow spricht viel von Stabilität, Frieden und einem gesunden Lebenswandel. Und vergisst dabei nicht zu betonen, dass Tschetschenien unwiderruflich zu Russland gehört. Das ist er Moskau schuldig –

die Regierungspartei Einiges Russland hier bei den letzten Wahlen satte 88,4 Prozent erhalten. Ein weiterer wichtiger Schachzug war es, in der von Clanstrukturen geprägten Region die Widersacher auszuschalten. Das Land ist gepflastert mit Kadyrow-Porträts. Geht der Personenkult nicht zu weit? „Wenn die Menschen meine Bilder aufhängen, dann lieben sie mich offenbar“, erklärt der Geehrte lapidar. Es ist schwierig, heute in Tschetschenien Gegner Kadyrows zu

Ruud Gullit und Lothar Matthäus: Botschafter einer runden Sache? Tschetschenien und Dagestan – das klingt für viele nach Krieg und Islamismus. Das soll sich nun ändern: Imagewechsel, Brasilianer und die schönste Nebensache der Welt. MARTHA ZIGMONT FÜR RUSSLAND HEUTE

RIA NOVOSTI

„Ramsan – danke für Grosny“ steht in Neonlettern am zentralen Platz von Grosny. In dessen Mitte strahlt die prächtige Achmad-Kadyrow-Moschee, benannt nach Ramsan Kadyrows 2004 von Islamisten ermordeten Vater. 10 000 Gläubige passen hinein, sie ist die größte in Russland und vielleicht auch deshalb Wahrzeichen des wiederauferstandenen Tschetscheniens. „Ich will, dass mein Land das schönste wird, mein Volk das mutigste und stärkste“, predigt Ramsan Kadyrow vor versammelten Journalisten. Gleich neben der Moschee wachsen mehrere Dreißiggeschosser in die Höhe. Braucht eine Stadt mit 250000 Einwohnern wirklich Wolkenkratzer? „Alles private Investitionen“, wiegelt Kadyrows Pressesprecher ab. Grosny, Tschetschenien. Wie haben die Tschetschenen es zu solch weltweiter Berühmtheit gebracht? Warum nicht die benachbarten Dagestaner oder Inguschen? Was hat dieses kleine Fleckchen Erde 1500 Kilometer südlich von Moskau an sich, dass wer Russland hört, auch stets an Tschetschenien denkt? In den 90er-Jahren war die abtrünnige Teilrepublik Symbol für den Zerfall des Vielvölkerstaats und Trauma vieler Russen, die ihre Kinder und Brüder in einem unverständlichen und schlecht geführten Krieg verloren haben. Tschetschenien, das war später ein rechtsfreier Raum, aus dem Islamisten und Terroristen in andere Republiken ausschwärmten und Unruhe stifteten. Doch selbst nach dem zweiten Tschetschenien-Krieg, in dem Moskau im Jahr 2000 die Republik zu-

rückeroberte, waren die Probleme nicht gelöst. Denn für die Menschenrechtsverletzungen, die sich Armee und Geheimdienste im Kampf gegen die Separatisten erlaubt hatten, wurde die russische Regierung bei jeder Gelegenheit gerügt – vor dem Europäischen Gerichtshof laufen bis heute Dutzende Verfahren, die das Land fast ausschließlich verliert. Und nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg und Machtkämpfen lag Tschetschenien in Ruinen, die Wirtschaft

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In Topform: Kadyrow am Ball

Ramsan Kadyrow tanzt Lesginka. Auf dem grünen Rasen des Stadions von Grosny, unter den Augen von zehntausend Fußballfans, stemmt er seine Hände in die Hüften, stolziert im Kreis um eine tschetschenische Popsängerin wie ein balzender Gockel. Ihr Kleid glitzert, das Volk jubelt, der bärtige Ramsan lächelt. Ein breites Siegerlächeln. Am Ende verliert sein Team 4:6. Aber das spielt keine Rolle. Es ist ein gelungener Start ins Jahr 2011 für den 34-jährigen Präsidenten der Teilrepublik Tschetschenien. Er hat an diesem kalten Frühlingsabend die ehemaligen Stars Romario, Elber und Dunga für ein Benefizspiel nach Grosny geholt. Gegen die brasilianischen Weltmeister von 2002 spielen neben Kadyrow ein paar Minister – und Lothar Matthäus. „Ganz schön gute Stimmung hier“, stellt der Bayer fest, als er unter tosendem Beifall ins Bilimchanow-Stadion einläuft. Dies ist der zweite Coup Ramsan Kadyrows innerhalb weniger Wochen. Der erste war die Unterschrift von Ruud Gullit auf einen 18-Monate-Vertrag als Trainer von Terek Grosny.

Dass der Weltfußballer des Jahres 1987 in einem Teil des Erdballs anheuerte, den viele nur als Schauplatz von blutigen Auseinandersetzungen kannten, überraschte viele. Ob er nicht Angst um sein Leben habe, fragten Journalisten den Holländer bei seiner Ankunft in Grosny. Gullit antwortete, was die Tschetschenen nach 15 Jahren Krieg und Entbehrung so gerne hören: „Ich war schon an gefährlicheren Orten. Ich bin hier, um Fußball zu spielen.“

Ehrgeiziges Ziel Europa League Der Hauptstadt-Club Terek Grosny dümpelt seit seinem Aufstieg in die russische Premier Liga vor drei Jahren im unteren Mittelfeld. Unter Gullit soll er über die Grenzen hinaus die Botschaft verkünden, dass Tschetschenien sich in eine blühende Landschaft verwandelt hat. Dazu wird für 200 Millionen Euro ein modernes Stadion mit 30 000 Plätzen gebaut, das am 9. Mai eingeweiht wird. Das Ziel für die gerade gestartete russische F u ßba l lsa ison hei ßt Europa League. Das Problem: Trotz ausufernder Gerüchte um Topstürmer Diego Forlan oder Altstar Ronaldo ging

finden. „In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends gab es noch verschiedene Machtzentren: gegnerische Clans, Islamisten, den Separatistenführer Aslan Maschadow“, erklärt Timur Aliew, damals Chefredakteur einer unabhängigen Tageszeitung und inzwischen Berater des Präsidenten. „Es machte keinen Sinn mehr, als Journalist zu arbeiten“, erklärt Aliew seinen Schritt: „Ich verstand, dass man von innen heraus mehr verändern kann.“ Aliews Karriere ist symptomatisch für das heutige Tschetschenien. Die Republik hat wenig Platz für Toleranz. Vor wenigen Wochen veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht, in dem die Organisation eine Kampagne gegen Tschetscheninnen beklagt, die in der Öffentlichkeit kein Kopftuch tragen. Im letzten Sommer wurden mehrere muslimische Frauen ohne Kopftuch im Zentrum Grosnys mit Paintball-Kugeln beschossen. Inzwischen gehen nur noch wenige unbedeckt auf die Straße. „Ich bin gegen Gewalt. Aber natürlich rufe ich als Muslim dazu auf, jene Körperteile zu bedecken, die laut Koran eine Versuchung darstellen“, sagt Wacha Chaschchanow, Imam und Leiter des Zentrums für geistig-moralische Erziehung. Die Gratwanderung zwischen konstitutionellen Rechten und islamischem Dresscode ist zweifelhaft. Das große, bisher ungelöste Problem ist die Arbeitslosigkeit, 2010 betrug sie immerhin noch 35 Prozent. Industrie gibt es kaum, viele Tschetschenen verdingen sich im Baugewerbe. Präsident Kadyrow hofft auf Investoren, jetzt, wo es ruhiger geworden ist. Immerhin: 2013 will der staatliche Konzern Rosneft eine Ölraffinerie eröffnen.

Terek zumindest in dieser Transfer-Runde am Ende leer aus. Die letzte Hoffnung, Stürmer Moubarak Boussoufa vom FC Anderlecht, schnappte Terek Grosny im letzten Moment der Lokalrivale FC Anschi weg.

Konkurrenz aus Dagestan Der hatte sich bereits mit der Verpflichtung des 37-jährigen Roberto Carlos im Februar bei Terek für Gullit „revanchiert“. Der Club aus der Nachbarrepublik Dagestan, in der Vergangenheit im mittleren Feld wie Grosny, gehört seit dieser Saison dem russischen Milliardär Suleiman Kerimow. Der hat angekündigt, bis zu 200 Millionen Dollar in die Infrastruktur zu investieren, unter anderem in ein neues Stadion mit 40 000 Plätzen. „Anschi“ soll wie „Terek“ zum Aushängeschild beider Länder werden. Der wichtigste Sponsor von Terek Grosny heißt Telman Ismailow. Der milliardenschwere Oligarch war 2008 wegen illegaler Geschäfte beim Kreml in Ungnade gefallen und hofft, sich mit seinem Engagement wieder ins rechte Licht zu rücken. In Zukunft, so hört man aus Grosny und Machatschkala, wollen die Clubs deutlich mehr den eigenen Nachwuchs fördern. Denn heute bestehen beide Mannschaften vor allem aus russischen und westlichen Fußballlegionären.


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Wirtschaft

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Branche Exportverbot für Kaviar aufgehoben

Störfischen für eine Handvoll schwarzes Gold WLADIMIR RUWINSKI RUSSLAND HEUTE

Im Februar hat Russland sein Ausfuhrverbot für Kaviar nach Europa erstmals nach neun Jahren ausgesetzt. Stör aus dem Kaspischen und dem Asowschen Meer ist die Hauptquelle für schwarzen Kaviar – die russische Delikatesse schlechthin. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fiel das Kaviargeschäft zum Großteil in die Hände von Wilderern, auch aus den nun unabhängigen Anrainerstaaten, und der Stör wurde fast vollständig ausgerottet. Aus Statistiken der Umweltorganisation WWF geht hervor, dass die Störpopulation 2010 bei einem Vierzigstel der

Vergleichszahlen von Ende der Achtzigerjahre lag. 2002 hatte Russland ein Pauschalverbot für den Expor t von schwarzem Kaviar erlassen, ein Jahr später durften auch die offiziellen Fischereien nicht mehr in die Gewässer des Asowschen Meeres. Ein Schlupfloch blieb: Der von Wilderern beschlagnahmte Kaviar wurde unter der Hand verkauft. Erst 2007 beschloss die Regierung, sämtlichen konfiszierten Kaviar konsequent zu vernichten. In der Folge ging der Verkauf von illegal produziertem Kaviar drastisch zurück, sagt Roman Andrejew von der Investmentgesellschaft Alemar. Heute kann man legal nur Kaviar von gezüchteten Stören erwerben. Schon vor einiger Zeit begann Russland mit der Zucht des begehrten Fisches, doch die Aufzucht eines Störs dauert sieben Jahre, daher sind die Ergebnisse dieser Bemühungen erst jetzt

ZAHL

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Aufgrund der Zuchterfolge von Stören auf Fischfarmen hebt Russland sein langjähriges Ausfuhrverbot für schwarzen Kaviar in die EU auf – zunächst für 2,5 Tonnen im Jahr.

Tonnen schwarzer Kaviar wurden 2007 jährlich in Russland produziert. Nur 15 Tonnen davon stammten aus offiziell genehmigten Störbeständen.

Mitarbeiter des Artenschutzes setzen die auf einer Fischfarm gezüchteten Störe in die Wolga aus.

sichtbar. Heute, so schätzt Andrejew, produzieren russische Fischfarmen sechs bis sieben Tonnen pro Jahr, Tendenz steigend. Im Moment jedoch können Zuchtstöre die enorme Kaviarnachfrage noch nicht befriedigen. Rosrybolowstwo, Russlands Fischereibehörde, erlaubt den Export von jährlich 2,5 Tonnen schwarzem Kaviar nach Europa. Das ist mehr als dürftig gegenüber den 1500 Tonnen, die die Sowjetunion jährlich ausführte. Laut Andrejew

gelangen dennoch bis zu 300 Tonnen Kaviar ins Ausland – der Großteil stammt von illegal gefischtem wilden Stör. Die Motivation zur Raubfischerei ist weiterhin hoch. Selbst wenn man die Bestechungsgelder an Naturschützer, Bürokraten und Großhändler miteinbezieht, liegen die Produktionskosten für ein Kilogramm schwarzen Kaviar unter 50 US-Dollar, während auf den Märkten und in Restaurants Preise zwischen 1500 und

3000 US-Dollar erzielt werden. Die Einnahmen aus illegalen Kaviarverkäufen werden auf eine Milliarde US-Dollar geschätzt. In Europa hatte iranischer Kaviar die von den russischen Exportbeschränkungen hinterlassene Lücke gefüllt, doch laut einem Abkommen zwischen den Ländern, die ans Kaspische Meer grenzen, muss jeder dieser Staaten die Zustimmung der anderen vier einholen, wenn er seine Exportquote erhöhen will.

Investitionen Vater und Sohn Cohon brachten McDonald’s und Coca-Cola nach Russland – jetzt den Cirque du Soleil

Burger für die neuen Bürger

Der Erfolg gibt ihm recht: Während das Gros der nach Russland entsandten westlichen Manager hier sein Waterloo erlebt, wird Cohon als Pionier gefeiert. Jetzt plant er einen neuen Coup: Zusammen mit seinem Sohn Craig holt er den Cirque du Soleil in den Kremlpalast. 57 Millionen Dollar sollen in das gemeinsame Projekt der beiden Theater fließen. Die Erfolgsgeschichte brauchte einen langen Anlauf. Alles begann

AUSTAUSCH DEUTSCHE WOCHE IN SANKT PETERSBURG

INFRASTRUKTUR EURASISCHES FORUM FÜR TRANSPORT UND LOGISTIK

KOMMUNEN 11. DEUTSCH-RUSSISCHE STÄDTEPARTNERKONFERENZ

MOBILITÄT 14. DIALOG-SYMPOSIUM ZUM THEMA MOBILITÄT

3. BIS 21. APRIL, SANKT PETERSBURG

11. APRIL, HOTEL RITZ-CARLTON, MOSKAU

13. BIS 15. APRIL, ROTHENBURG O. D. TAUBER

6. BIS 8. MAI, UNIVERSITÄT TÜBINGEN

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

Unter dem Motto „Made in Bavaria“ geht es in Seminaren, Vorträgen und Ausstellungen um energieeffizientes Bauen und Innovationen im Bereich der Medizintechnik.

Wie kann ein Land sein logistisches Potenzial optimieren, auf welche Art modernisieren? Branchenexperten aus aller Welt sprechen über Chancen und Probleme bei der Verkehrsplanung.

„Städtepartnerschaften: kommunale Impulse für die Modernisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Kommunalverwaltung“ ist das Motto der 11. Städtepartnerkonferenz.

Die Vereinigung deutscher und russischer Ökonomen (dialog e. V.) veranstaltet ihr 14. Symposium. Thema der Zusammenkunft: „Mobilität und Logistik“ im 21. Jahrhundert.

RUSSLAND-HEUTE.DE

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ITAR-TASS

Weniger bekannt ist die Geschichte von George Cohon. Der US-stämmige Kanadier brachte noch zu Sowjetzeiten die berühmtesten Marken der Welt nach Russland, nämlich Coca-Cola und McDonald’s. Sein Geschäftsmodell war einfach: Stülpe den Leuten nicht ein westliches Modell über, sondern sprich mit ihnen, hör ihnen zu, binde die Politiker ein, trau einheimischen Managern etwas zu und suche dir Zulieferer vor Ort.

1976 zur Olympiade in Montreal. Er, damals Kanada-Chef von McDonald’s, lernte zufällig eine sowjetische Delegation kennen. Und schon reifte in ihm der kühne Plan, die Fast-Food-Kette hinter dem Eisernen Vorhang zu etablieren. Nach zwölf Jahren „HamburgerDiplomatie“ erlaubte ihm 1988 die Moskauer Stadt- und Parteileitung, ein McDonald’s-Restaurant zu eröffnen – das damals größte der Welt. Heute hat Cohon 280 Restaurants und 25000 Angestellte in Russland. Täglich besuchen 850 000 Kunden die Fast-Food-Tempel, mehr als in den USA. 80 Prozent der Waren stammen aus heimischer Produktion, einiges wird sogar nach Deutschland exportiert. Auch beim jüngsten Vorhaben kleckert Cohon nicht: Für die Musik der Cirque-du-Soleil-Show „Zarkana“ hat er Elton John verpflichtet. „Wir machen einen Probelauf in New York, dann geht es in den Kremlpalast“, kündigt er an. 14 Jahre dauerte es, McDonald’s nach Russland zu bringen, vier Jahre, um Coca-Cola aufzubauen, und acht Monate, um den Cirque de Soleil auf den Weg zu bringen. Cohon ist nicht ohne Stolz: „Ich war hier, als Panzer 1993 auf das Weiße Haus in Moskau schossen, und wir

AP

Viele erinnern sich an den Januar 1990, als am Moskauer Puschkinplatz die erste McDonald’s-Filiale öffnete. 30 000 Neugierige kamen, stellten sich stundenlang an. ARTJOM SAGORODNOW RUSSLAND HEUTE

Sie wollten die typisch westlichen Hamburger probieren. Schließlich gab es sie für Rubel, nicht für harte Währung!

WIRTSCHAFTSKALENDER

Moskau, 1990: George Cohon hatte immer den richtigen Riecher.

haben weiter Geschäfte gemacht.“ Den letzten Vertrag unterzeichnete er im Kreml zwei Stunden vor dem Terroranschlag auf dem Flughafen Domodedowo. Nie hat er sich entmutigen lassen. Das Erfolgsrezept des heute 73-Jährigen: „Man muss sich langfristig engagieren, persönliche Beziehungen pflegen und das Management nicht aus der Ferne betreiben. Russland ist ein Markt mit Handschlag. Wer als Ausländer das schnelle Geld machen will, hat von vorneherein verloren.“ Die Cohons sind optimistisch, was Russlands Zukunft angeht, und fordern mehr Geduld in Bezug auf die politische Entwicklung des Landes. George Cohon ist sich sicher: „Bis 2030 wird einiges passieren: Die Mittelschicht lernt, ihre Rechte einzufordern, die Wirtschaft wird sich weg von der Rohstoffproduktion zu einer modernen Industrie mit Hightechprodukten wandeln. Der Prozess hat bereits begonnen. Kunst und Kultur besinnen sich auf ihre Wurzeln und sind nicht mehr reine Westimporte, und Russland wird führend in der Terrorismusbekämpfung – gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und Indien. Dann werde ich 93 sein.“


Regionen

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Mittelstand Der Business Campus in Würzburg zeigt, dass es im bayrisch-russischen Austausch Nachholbedarf gibt

Mit dem Bayern-Ticket in die russische Provinz 21. März 2011. Im belebten Würzburger Stadtzentrum trafen sich Mittelständler aus Mainfranken, um mehr über die Chancen und Risiken des russischen Marktes zu erfahren.

DIE ZAHLEN

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Tausend kleine und mittelständische Unternehmen sind in der Region Mainfranken angesiedelt.

ALEXEJ KNELZ RUSSLAND HEUTE

Hightech, Umwelttechnik und erneuerbare Energien

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Unternehmen davon sind auf dem russischen Markt aktiv: 41 vor Ort durch Repräsentanzen, drei mit eigener Produktion.

RALF BAUER

Mitten in Würzburgs Innenstadt liegt der Marktplatz, auf der einen Seite die pittoreske Marienkapelle, gegenüber das moderne Gebäude der VR Bank. Die öffnete ihre Tore für einen Austausch der ungewöhnlichen Art: „Mainfranken trifft … auf die Russische Föderation als Partner für gemeinsame neue Märkte“ lautete das Motto des Business Campus der BFP Wirtschaftssozietät. „In den russischen Regionen gibt es viel zu tun, deutsche Unternehmen könnten ihren Beitrag dazu leisten“, sagt Bruno Fraas, Gründer der BFP Wirtschaftssozietät, der in dem Forum mainfränkische Mittelständler mit ihren russischen Counterparts zusammenbringen wollte. Nach der Begrüßungsrunde ergreift Fedor Khorokhordin, Leiter der russischen

einheimischen Mittelständlern ist Pfenning aber eine Ausnahme: „Von den 57 000 kleineren und mittleren Unternehmen der Region sind in Russland 140 aktiv. 41 durch eigene Repräsentanzen, nur drei durch eine Produktion vor Ort“, rechnet Dieter Pfister, Präsident der IHK Würzburg-Schweinfurt, vor. Diese Zurückhaltung beruhe auf Gegenseitigkeit, bedauert Khorokhordin: Obwohl Deutschland nach China das zweitwichtigste Exportland für Russland ist, sind in Bayern nur 60 russische Unternehmen tätig – bei einem Handelsvolumen von 9,9 Milliarden Euro pro Jahr.

Fedor Khorokhordin, der „bayrische Botschafter“ in Moskau: Die Repräsentanz Bayerns in Russland ist unter www.bayern.ru zu finden.

Delegation und Repräsentant Bayerns in der Russischen Föderation, das Wort: „Vor zwei Jahren hat die russische Wirtschaft enorme Einbrüche wegen der Bankenkrise einstecken müssen, doch jetzt hat sich die Konjunktur stabilisiert“, obwohl der Wachstumseinbruch um 7,9 Prozent im Jahr 2009

mit vier Prozent Wachstum 2010 nicht ganz wettgemacht wurde. „Das Land entwickelt sich trotz aller Probleme und Schwierigkeiten“, sagt Khorokhordin, die spannendsten Entwicklungen spielten sich aber nicht in Moskau oder Sankt Petersburg, sondern in der russischen Provinz ab.

Diesen Trend hat Wilhelm Pfenning, Geschäftsführer von Pfenning Elektroanlagen GmbH, erkannt. Der Mittelständler stattete die Kräne der Russischen Eisenbahn mit Elektrotechnik made in Mainfranken aus. Seine Erfahrung: „Es war nicht einfach, die Risiken abzuschätzen.“ Daher tastete er sich mit kleineren Aufträgen vor. Als die nötigen Kanäle gegraben und die richtigen Partner gefunden waren, ging es flotter voran: „Wir haben unser Geld immer bekommen – pünktlich.“ Unter den

Chancen für bayrische Mittelständler gäbe es aber reichlich: Für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi wird gerade kräftig gebaut, genauso für die Fußball-WM 2018. Auch bei Hightech, Umwelttechnik und erneuerbaren Energien gäbe es viel zu tun: „Die Ereignisse in Japan haben auch Russen zum Nachdenken angeregt“, deutet der bayrische Botschafter an. Nach der Veranstaltung seien in der Bayrischen Repräsentanz etliche Anfragen von mainfränkischen Mittelständlern eingegangen: „Die werde ich über unsere Datenbank direkt an die russischen Unternehmen in den Regionen weiterleiten“, verspricht Khorokhordin. Für Ende des Jahres sei eine Reise in „eine wirtschaftlich führende russische Region“ geplant.

Russlands Regionen Die Wolga-Region Samara beschreitet den Weg der Modernisierung

Neue Wirtschaftsmodelle für alte Mono-Industrien

Eine Region stellt sich vor

Eine Rennstrecke für Togliatti

Samara, sechstgrößte Stadt Russlands, schmiegt sich über 50 Kilometer an die beiden Ufer der Wolga. Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind Chemie, Flugund Fahrzeugbau sowie die Erdölförderung. Ein großes Problem der Region ist jedoch die starke Monoindustrialisierung: Im nahe gelegenen Togliatti arbeiten

Durch die Sonderwirtschaftszone hofft Samara an die landesweite Modernisierungsagenda anknüpfen zu können und sich von dem Monostadt-Syndrom zu befreien. Laut einer Studie von Germany Trade & Invest wird die Region Samara besonders von Deutschen geschätzt. Sie gehöre zu den zehn

ILJA LOKTJUSCHIN RUSSLAND HEUTE

attraktivsten Russlands. „Im gesamten Föderationskreis Wolga ist Samara bei deutschen Investoren am beliebtesten“, sagt Wirtschaftsminister Gabibulla Chassajew. 60 Millionen Euro hätten deutsche Unternehmen 2010 in die Region direkt investiert, die Importe beliefen sich auf fast 250 Millionen Euro. Über 30 deutsch-russische Joint Ventures gebe es bereits, darunter seien renommierte Firmen wie Henkel, Bayer und der Messtechnik-Hersteller Krohne.

Die Kooperationen könnten in Zukunft weiter zunehmen, wenn wie vorgesehen demnächst die Infrastruktur saniert wird. Energieeffizienz und Abfallverwertung stehen dabei an erster Stelle. Es wurden bereits Verhandlungen mit einem weiteren deutschen Messgeräte-Spezialisten aufgenommen: Geplant ist eine Produktion vor Ort für die Ausstattung der Kommunen. Auch fürs Auge wird es etwas geben: In Absprache mit der Part-

Steuervorteile in der Region Samara Steuern pro Jahr

Standardsatz

Satz in der Sonderwirtschaftszone Samara

Gewinnsteuer

20 %

13,5 %

Vermögenssteuer

2,2 %

befreit

Grundsteuer

1,5 %

befreit

Autosteuer

bis 3,50 Euro pro PS

befreit

nerstadt Wolfsburg soll in Togliatti eine Rennstrecke entstehen, beratende A rchitekten: das Aachener Büro SzturHärter. Von den Autorennen aus dem Stall VW und Lada einmal abgesehen: Van Wissen mutmaßt, warum noch Samara bei Ausländern so beliebt sein könnte. – Natürlich wegen seiner Nähe zur Hauptstadt: „Nach russischen Maßstäben sind die 1050 Kilometer bis nach Moskau ein Katzensprung.“

OFFIZIELLE STIMME

Garantien für Investoren Wladimir Artjakow GOUVERNEUR DER REGION SAMARA

Investoren, die nach Samara kommen, können sämtliche steuerlichen Erleichterungen in Anspruch nehmen, die in der Region möglich sind. Dabei geht der Staat auch auf föderaler Ebene Garantien ein und subventioniert Bereiche wie das Kommunalwesen sowie die Aus- und Fortbildung in produktionstechnischen Berufen. Staatliche Unterstützung gibt es auch bei Bankkrediten, handelt es sich um Kreditaufnahmen in russischen Geldinstituten. Investitionsobjekte mit mindestens 100 neuen Arbeitsplätzen werden von der Grundsteuer befreit.

AFP/EASTNEWS

„Vor zehn Jahren war es in Samara noch einfacher, Geschäfte zu machen“, erinnert sich Gerardus van Wissen, Chef der AHT Group aus Nordrhein-Westfalen, die Systemlösungen für die Landwirtschaft anbietet. Vor 20 Jahren kam er in die Region Samara, gerade als die sowjetische Landwirtschaft kollabierte. Damals rettete van Wissen die Kartoffelernte. Und blieb. 1995 eröffnete er ein Landmaschinenwerk, heute ist sein Unternehmen hier ein bedeutender Investor. „Trotz ausufernder Bürokratie gibt es für neue Partner genug Möglichkeiten“, sagt van Wissen, der sich in Samara inzwischen wie zu Hause fühlt: „Meine Familie lebt jetzt hier.“

fast 20 Prozent der Einwohner bei dem Autohersteller AvtoVAZ und weitere 20 Prozent in der betreffenden Zuliefererindustrie. Im Krisenjahr 2009 spitzte sich das Problem zu: 50 000 Menschen wurden arbeitslos, und AvtoVAZ konnte nur durch föderale Geldspritzen gerettet werden. Daher wurde 2010 in Togliatti eine Sonderwirtschaftszone mit steuerlichen Vergünstigungen für ausländische Investoren eingerichtet, für fast 200 Millionen Euro. Interessenten gibt es bereits: Der schwäbische Betrieb Eberspächer wird über ein Joint Venture mit AvtoVAZ Ladas mit deutschen Auspuffen ausstatten. Vor wenigen Wochen unterzeichnete der slowenische Automobilzulieferer TPV einen Vertrag mit AvtoVAZ über die Lieferung von Autositzen. Auch der italienische Reifenhersteller Pirelli hat konkretes Interesse signalisiert. Gleichzeitig entstand hier der ITPark Schiguljowskaja Dolina – „Schiguli Valley“, eine IT-Schnittstelle für die ganze Region.

Die Industriestadt im Süden des europäischen Teils Russlands ist bekannt für den Autoriesen AvtoVAZ. Die Region erhofft sich neue Impulse – mit deutscher Hilfe.

Neue Produktionsanlagen im Automobilwerk AvtoVAZ in Togliatti


Das Thema

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

raumfahrt 50 jahre nach dem start

Die Zukunft Das russische Weltraumprogram für die nächsten 30 Jahre.

Am 12. april 1961 umrundete juri gagarin im wostokraumschiff die erde und läutete eine neue ära ein

Hoch geflogen, Sanft gelandet, Nett gelächelt für russland heute

Am 12. April vor 50 Jahren raste der Kosmonaut Juri Gagarin mit einem enthusiastischen „Pojechali“ – „Auf geht’s“ – in einer sowjetischen Rakete himmelwärts und wurde der erste Mensch im All. Es war ein sonniger Tag des Jahres 1961, als der 27-jährige Sohn eines Zimmermanns um 9:07 Uhr im Wostok-Raumschiff in die Erdumlaufbahn startete. 108 Minuten dauerte sein Flug. Danach schwebte die Kapsel in der Region Saratow sicher zu Boden. Gagarins Flug war eine der bedeutendsten Leistungen des 20. Jahrhunderts. Und er löste in Zeiten des Kalten Krieges einen Wettstreit zwischen den Supermächten aus, der einmal nicht auf gegenseitige Zerstörung ausgerichtet war. Nach einer Serie amerikanischer Mondlandungen nahm der Wettbewerbsdruck für die sowjetische Raumfahrt in den Siebzigerjahren ab. Das Rennen um den ersten Platz endete im Juli 1975, als amerikanische und sowjetische Besatzungen ihrer Apollo- und Sojus-Raumschiffe in der Erdumlaufbahn aneinanderkoppelten. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kooperierten Moskau und Washington bei Flü-

Mond- und Marsflüge dämpft, hält Russland an seinen Plänen fest, bis zum Jahr 2030 eine Forschungsstation auf dem Mond zu etablieren. Zehn Jahre später, 2040, ist dann der erste bemannte Flug zum Mars geplant. Zunehmend steht dabei auch die kommerzielle Nutzung des Weltalls im Mittelpunkt. „Unser Motto lautet Kooperation“, mei nt Anatoli Perminow, Leiter der

Vision einer Industrie im All

russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, „und Weltraumforschung der Zukunft – das bedeutet industrielle Anlagen zum Abbau und zur Weiterverarbeitung von Mineralien auf den Planeten unseres Sonnensystems; das bedeutet Elektrokraftwerke, die sowohl die Industrie im Weltraum als auch die Erde versorgen. Wir haben die Vision, die Industrieproduktion von der Erde ins All zu verlegen und die Biosphäre unseres einzigartigen Planeten wiederherzustellen.“ Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Juri Gagarin den erhebenden Anblick unserer kostbaren und verletzlichen Erde von oben bewundern konnte. Sicherlich würde er heute diese ehrgeizigen Pläne gutheißen. „Als ich im Raumschiff um die Erde kreiste, konnte ich sehen, wie wunderschön unser blauer Planet ist“, sagte er nach seiner Landung. „Menschen in aller Welt, lasst uns diese Schönheit bewahren, lasst sie uns vergrößern und nicht zerstören“, lautet sein Vermächtnis.

Mond- und Marsflüge

betrifft, kann sie jedoch mit ihren drei Milliarden Dollar Jahresbudget mit den fast 19 Milliarden Dollar der NASA nicht mithalten. In den letzten Jahren wurden dem Weltraumprogramm dann dank der stark gestiegenen Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor wieder höhere Mittel zugeteilt. Im Bereich des kommerziellen Satellitenstartmarktes ist Russland weltweit führend, was sich ebenfalls positiv auf Weltraumprojekte auswirkte. Und während die Obama-Regierung die Hoffnungen der NASA auf bemannte

itar-tass

Im Blickpunkt

ria novosti

Über Nacht wurde Juri Gagagarin zum Idol einer ganzen Generation, sein Lächeln zum Exportschlager – nicht nur für die Frauen.

Die Reise zum „Sternenstädtchen“: Während Kosmonauten für den Flug ins All trainieren, werden im Kontrollzentrum ZUP die Raumflüge überwacht. Lesen Sie die Reportage auf www.russland-heute.de

redaktion@russland-heute.de

Früher bot man sich Paroli, heute forscht man kollektiv: Internationale Raumstation ISS

NASA

Nikolai Aljonow

gen zur russischen Raumstation Mir, die nach 15-jährigem Betrieb 2001 kontrolliert zerstört wurde. 1998 hatte man mit dem Bau der ISS begonnen. Internationale Zusammenarbeit spielt in der Weltraumforschung heute eine immer größere Rolle, insbesondere bei der von 18 Ländern betriebenen ISS. Doch jedes Jahr am 12. April ehren die Russen das Erbe der Raumfahrt, verkörpert durch den stets lächelnden Kosmonauten Juri Gagarin. Der junge Pilot starb 1968 bei einem tragischen Flugzeugabsturz. Selbst in einer Zeit der Superstars besitzt er noch immer Kultstatus: Bei einer kürzlich durchgeführten Umfrage nannten 35 Prozent der Russen Gagarin als ihr wichtigstes Vorbild. Weiterhin haben Weltraumprojekte in der Russischen Föderation Priorität, wie die Regierung betonte. Was die Finanzierung

Die Raumsonde soll Erdproben vom Marsmond Phobos auf die Erde bringen. Geplanter Start ist der 11. November 2011.

quelle: raumfahrtbehörde Roskosmos

VITAE

Begründer der Kosmonautik

ria novosti

Es war ein einfach gestrickter Bursche, der am 12. April mit seinem Flug das Wettrennen im Weltall auslöste. Heute setzt man auf Austausch und internationale Zusammenarbeit.

2011: Fobos-Grunt

Wegbereiter für Gagarin

ria novosti

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NAme: Konstantin Ziolkowski

Name: Sergej Koroljow

Beruf: Lehrer

Beruf: konstrukteur

Leben: 1857-1935

Leben: 1907-1966

Konstantin Ziolkowski kam aus einfachen Verhältnissen, er verdiente sein Geld als Lehrer in Provinzstädten. Nebenbei forschte und experimentierte er über die Möglichkeit, Flugkörper ins All zu schicken. Zu Lebzeiten erschienen seine Aufsätze zwar international, wahre Anerkennung erfuhr er aber erst mit dem Aufschwung der russischen Raumfahrt. Ziolkowski träumte von einer Besiedelung des Weltraums: „Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber welches Kind bleibt schon ewig in seiner Wiege?“

Sergej Koroljow zeigte schon früh Interesse an der Luftfahrt und konstruierte noch vor seinem Studium mit 17 Jahren sein erstes Segelflugzeug. In den Dreißigerjahren entwickelte er Raketen, wurde später denunziert und verbrachte sechs Jahre im Gulag. Nach Kriegsende baute der „Vater der russischen Kosmonautik“ die erste sowjetischen Interkontinentalrakete R-7, die den Sputnik 1 in die Erdumlaufbahn brachte. Im Wostok-1, dem weltweit ersten bemannten Raumschiff, schickte er 1961 Gagarin ins All.


Das Thema

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

2011: GlonassNavigation Das russische Pendant zum amerikanischen GPS und europäischen Galileo soll in 25 Satelliten Ende 2011 einsatzbereit sein.

2030: Mondbasis

2015: Kosmodrom Wostotschny Noch 2011 soll der Bau des neuen Weltraumbahnhofs an der chinesischen Grenze beginnen. Die erste Rakete startet 2015.

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2040: Bemannte Marsmission Der Flug zum Roten Planeten wird ca. 500 Tage dauern. Mit dem „Mars 500“-Test wird bei Moskau schon einmal geübt.

In 30 Jahren will die russische Raumfahrtbehörde Roskosmos eine bemannte Forschungsbasis auf dem Erdtrabanten errichten.

Jeffrey Manber

exklusiv für russland heute

Nicht viele kennen den Namen der ersten Weltraumtouristin. Die im englischen Sheffield geborene Chemikerin hat ihre berufliche Laufbahn der Schokolade gewidmet, die sie so gern mag und für die sie ein noch feineres Alpenmilcharoma kreieren wollte. Sie schien nicht gerade wie geschaffen zur Astronautin, aber das war ja genau der Punkt. Ihre Reise fand zu Zeiten der Perestroika statt. 1989 hatte eine Gruppe von Beamten der sowjetischen Weltraumbehörde Gorbatschows Forderung nach einer marktwirtschaftlichen Umorientierung aufgegriffen und das „Projekt Juno“ ins Leben gerufen. Man beauftragte britische Werbe- und Medienagenturen, ganz normale Menschen für einen Flug ins All anzuwerben. Gegen harte westliche Währung.

Aber würde die britische Öffentlichkeit genügend Interesse an dem Projekt zeigen, und würde der Durchschnittsbrite einen solch ungeheuerlichen Schritt wagen? Die Reaktion konnte deutlicher nicht sein: Tausende von Anträgen flatterten ins Haus. Fast 15 000 britische Bürger waren bereit, den Flug ins All an Bord einer russischen Rakete anzutreten. Helen Sharman wurde ausgewählt und trainierte 18 Monate lang für die Reise ihres Lebens. Viele Experten aus der Weltraumindustrie hatten Bedenken, dass „Amateure“ dem harten Training und psychischen Druck nicht gewachsen wären. Doch Sharman bestand alle Tests und verdiente sich den Respekt ihrer Astronautenkollegen, indem sie fließend Russisch lernte und bewies, dass sie alles hatte, was man für eine Reise ins All braucht. Doch „Juno“ wurde kein kommerzieller Erfolg. Die Sponsoren brachten nicht genügend Geld auf, um das Ticket ins All ganz zu bezahlen, obwohl sie British Aerospace und den Mediengiganten ITV im Boot hatten. Dennoch war die russische Regierung einver-

Dass nicht nur Männer raumfahren können, bewies 1963 Walentina Tereschkowa, die als erste Frau ins All flog. Heute ist es Alltag: Die Astronautin Tracy Caldwell Dyson während der ISS-Expedition 24

standen, das Programm fortzusetzen. Am 18. Mai 1991 starteten Helen Sharman und ihre beiden Mannschaftskollegen an Bord der Sojus TM-12 zur Raumstation Mir. Die allererste Weltraumtouristin hatte ein Foto der Queen und eine Schmetterlingsbrosche von ihrem Vater dabei. Ermutigt durch das Geschäftsmodell verkauften die Russen Trips ins All an europäische Weltraumorganisationen, an reiche Amerikaner und sogar an die NASA,

Marsmission Russland und Europa simulieren eine Reise zum Roten Planeten

20 Jahre dauert es noch, bis ein Mensch den Mars betritt – mindestens. In Moskau läuft ein wichtiger Test: 520 Tage leben Kosmonauten in einer Kapsel, isoliert von der Außenwelt. Dmitri RodionoW russland heute

„Wenn ich mir die Oberfläche des Roten Planeten ansehe, fühle ich, wie inspirierend es für den ersten Menschen sein wird, seinen Fuß auf den Mars zu setzen. Ich grüße die Forscher von morgen“, funkt Diego Urbina an Weltraumveteranen und Medienvertreter ins Kontrollzentrum Koroljow. Die Menschen haben den Mars betreten – hypothetisch. In einem gemeinsamen Experiment der russischen und europäischen Raumfahrtbehörde (ESA) wird über 520 Tage eine Marsmission simuliert. Den ersten Teil der Reise haben die Kosmonauten inzwischen hinter sich. Nun treten sie den Heim-

weg an, im November sind sie wieder „auf der Erde“. Die Forscher – drei Russen, ein Italiener, ein Franzose und ein Chinese – begaben sich im letzten Juni im Rahmen des Experiments „Mars 500“ in die Isolation. Auf einem riesigen Bildschirm konnte man im real existierenden Kontrollzentrum außerhalb von Moskau verfolgen, wie der Russe Alexander Smolejewskij und der Italiener Diego Urbina am 14. Februar nach acht Monaten der Isolation in Raumanzügen einen Ausstieg auf einer simulierten Marslandschaft durchführten. Die Attrappe des Raumfahrzeuges ist 550 Kubikmeter groß und besteht aus einem Treibhaus, in dem frische Lebensmittel zur Ergänzung der vakuumverpackten Weltraumrationen angebaut werden, und den Wohneinheiten. Daran angeschlossen ist ein 1200 Kubikmeter großes Modell der Marsoberfläche.

Thema der nächsten Ausgabe

ss itar-ta

9. Mai Was der „Tag des Sieges“ für die Russen heißt und was die Militärparaden auf dem Roten Platz bedeuten.

mars500

Der nächste Schachzug braucht Zeit

Der bemannte Flug zum Mars vorerst auf der Erde simuliert

Im Dezember wurde ein 20-stündiger Stromausfall simuliert, bei dem die Crewmitglieder ihre Licht- und Stromreserven nutzen mussten. Sie verfügen über Funkverbindungen zur Außenwelt, doch die Kommunikationsmöglichkeiten sind eingeschränkt, und es gibt Übertragungsverzögerungen von bis zu 20 Minuten, bisweilen auch Totalausfälle bei der Verbindung „zur Erde“. Da der wichtigste Faktor einer Weltraumexpedition – die Schwerelosigkeit – nicht gegeben ist, schlafen die Männer in Kojen mit einer Neigung von zwölf Grad, wodurch ein Gefühl der Ungemütlichkeit erzeugt werden soll. Auch über Freizeit verfügen die Marsforscher. Die verbringen sie mit Russisch oder Englisch lernen. Und mit Schachspielen. Die Verzögerungen bei der Funkübertragung vom Mars lassen viel Zeit z u m Nachden ken über den nächsten Zug.

Noch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper russland-heute.de/e-paper

die sich lange gesträubt hatte, Nichtprofis auf der Internationalen Raumstation Mir zuzulassen. Der Traum vom Weltraum für den Durchschnittsbürger wurde wahr durch eine 27-jährige Chemikerin aus Sheffield, die in einer Schokoladenfabrik arbeitete. Kürzlich erzählte Helen Sharman, heute 48: „Wenn ich ins Schwimmbad gehe, lasse ich meinen Körper durchs Wasser gleiten, schließe die Augen und stelle mir vor, ich sei wieder dort oben.“

Im Blickpunkt

Weltraum zum Anfassen

ria novosti

1989 hörte Helen Sharman, Chemikerin aus England, von einem russischen Tourismusprogramm – im All. Eine Radiowerbung hatte lapidar verkündet: „Astronaut gesucht“.

NASA

Befraut, nicht bemannt

Hoch über dem Ufer des Flusses Oka steht ein strahlend weißer Quader, durchbohrt von einem konischen Flugkörper. Das Kosmonautische Museum in der Stadt Kaluga, 200 Kilometer südlich von Moskau, ist nicht von ungefähr so futuristisch geraten: An seiner Konstruktion wirkten Anfang der 60er-Jahre Sergej Koroljow und Juri Gagarin mit. Im Museum wird die Geschichte der Raumfahrt erzählt – von den Vordenkern bis heute. Zu den unterschiedlichen Exponaten gehören Raketen, Motoren und Raumanzüge. Manche haben schon einen Flug ins All hinter sich. Das Museum bietet auch Führungen in deutscher Sprache an (www.gmik.ru). Wir waren für Sie da www.russland-heute.de


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Gesellschaft

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Ostern Russland feiert die Auferstehung

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Vergessene Traditionen wiederentdeckt

ELENA DANILOWITSCH RUSSLAND HEUTE

Ein Lächeln überzieht das Gesicht von Galina Iwanowa, wenn sie an die Ostervorbereitungen in ihrer Kindheit denkt. Die 70-Jährige aus einem Dorf in der kleinen Republik Tschuwaschien erinnert sich an die Weidenzweige, die als Symbol des Osterfestes in den alten, gesprungenen Tontopf gestellt wurden. Wie sie einen Kranz und eine Girlande aus biegsamen Weidenruten über der Schwelle aufhängte, auf dass das Glück Einzug halte. Wie am „Sauberen Donnerstag“, so heißt hier der Gründonnerstag, im ganzen Haus geputzt und auch der Stall aufgeräumt wurde. Wie sich alle die Haare schneiden ließen, eine Tradition, die bis dato fortlebt. Das orthodoxe Osterfest, das heute wie im alten Russland 40 Tage dauert, war in den Jahren der Sowjetunion verboten.

In der Osternacht werden Kerzen für die Auferstehung Christi angezündet.

ITAR-TASS

kerung: durch Bräuche und Traditionen, die in jeder Familie, in der Stadt und auf dem Land gleich sind – von Moskau bis Jakutien, von Karelien bis Wladiwostok. „Damals konnte man keine fertigen Osterbrote kaufen“, erzählt Galina, „deshalb haben wir den Kulitsch selbst gebacken und die süße Pascha angerührt.“ Der zu einer Pyramide geformte Nachtisch ist benannt nach „Pascha“ (sprich Pas-cha), wie Ostern auf Russisch heißt.

In Russland läuten am 24. April die Glocken: Das ganze Land feiert Ostern. Vor 20 Jahren noch verboten, ist es heute das wichtigste Fest für Russen, die ihren Glauben wieder finden.

DAS OSTERMAHL

Kulitsch

Pissanki

Pascha

Eierstoßen als heidnische Tradition Die meisten Russen begehen das Fest, denn eines hat Ostern dem russischen Weihnachten, das vom Neujahrsfest überlagert wird, voraus: Es eint die gesamte Bevöl-

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ITAR-TASS

Von Schokoeiern und Osterhasen hat Galina nie gehört. „Bei uns wurden ausgeblasene Eier mit gefärbter Wachsmasse bemalt oder in einer alten slawischen Technik zu wunderschönen Schmuckeiern verziert.“ Diese Pissanki sind heute noch verbreitet. Gehalten hat sich auch das „Eierstoßen“. Dabei schlägt man gekochte Eier gegeneinander, Sieger ist derjenige, dessen Ei am längsten unversehrt bleibt. Die wichtigsten Ostertraditionen sind erhalten geblieben, manch neuer Brauch kam sogar in der Sowjetzeit hinzu: Zu Ostern pilgern wahre Massen auf die Friedhöfe, um der Toten zu gedenken. Ein Drittel der Russen besucht an diesem Tag die Gräber ihrer verstorbenen Verwandten. Und zwei Drittel der Bevölkerung bereiten die traditionellen Gerichte zu, 42 Prozent laden an den Feiertagen

LORI/LEGION MEDIA

Leiden und Kraftschöpfen

Kulitsch ist ein Hefegebäck, das mit einer Zuckerglasur bedeckt und verziert wird. In Form und Geschmack ähnelt es dem italienischen Panettone. Es symbolisiert „Artos“, das Brot, das Jesus mit seinen Jüngern teilte.

Nicht so berühmt wie die FabergéEier, aber volkstümlicher sind die Pissanki: Mit Wachs trägt man kunstvolle Ornamente auf und taucht das Ei immer wieder in verschiedene Farben. Zum Schluss wird das Wachs entfernt.

Zum festlichen Ostermahl gehört in Russland neben dem Kulitsch auf jeden Fall die Pyramide „Pas-cha“. Sie wird aus trockenem Quark, Sahne, Eiern und viel Butter zubereitet und mit Rosinen und Zukaten verziert.

Freunde und Verwandte zum Osterschmaus ein. Ostern ist ein Fest der Widersprüche: einerseits die strengen kirchlichen Vorgaben, die Idee des Leidens und Kraftschöpfens, die lange nächtliche Ostermesse „bis zum Hahnenschrei“, andererseits die heidnische Tradition der lauten, fröhlichen Volksbelustigungen, der „Eierspiele“, des opulenten Festmahls.

Für die 25-jährige Irina Tschertanowa aus Togliatti bedeutet Ostern vor allem strenges Fasten und die Freude nach der Einhaltung des Kirchenkanons. „Ich begehe Ostern schon seit fünf Jahren bewusst als Fest des Geistes“, sagt sie. Die meisten ihrer Verwandten halten es anders: Sie beschränken sich auf Glückwunschkarten oder genießen Osterbrot

aus dem Supermarkt. Irina geht gern zur Messe in der Nacht auf den Ostersonntag, weil sie dann die einigende Kraft des Glaubens besonders intensiv empfindet. „Du stehst da, umgeben von Menschen, die sich aus tiefstem Herzen über Christi Auferstehung freuen. In dir wächst die Gewissheit, dass es Gott gibt und dass heute etwas Großes geschehen ist.“

Ein Fest aus Weihrauch, Gesang und Bienenwachs Die eigentliche Wortverkündung tritt zurück und wird ersetzt durch den A-capella-Gesang von Priestern und elfstimmigem Chor.

Unweit der Touristenströme und jenseits von Großstadthektik zeigt sich Moskau von seiner spirituellen Seite: vorösterliche Impressionen aus der Kasaner Kathedrale am Roten Platz.

Gestische Zwiegespräche

SUSANNE BIECHL

Noch immer ruht der mumifizierte Leichnam Wladimir Iljitsch Lenins im Mausoleum auf dem Roten Platz. Er predigte den Kommunismus und wetterte gegen Religion. Wer die Treppen aus der Gruft des Proletarierführers nach oben steigt, hört im März 2011 orthodoxe Gesänge und „Gospodi Pomiluj“ – „Herr erbarme Dich“. Keine 200 Meter entfernt, auf der anderen Seite des Platzes, strahlt in rot-weißem Stein die Kasaner Kathedrale. Die Pilgerströme der Touristen ergießen sich an diesem Frühlingsabend in das Nobelkaufhaus GUM und die Basilius-Kathedrale mit ihren Zwiebeltürmen, doch wahre Spiritualität erfährt man in dieser kleinen orthodoxen Kirche.

ITAR-TASS

RUSSLAND HEUTE

Beim nächtlichen Oster-Gottesdienst in der Kasaner Kathedrale

Vor knapp 400 Jahren zu Ehren der wundertätigen Ikone der Gottesmutter von Kasan errichtet, rissen die Sowjets das Gebäude 1936 ab. Nach 1990 war es jedoch eines der ersten, das wiederaufgebaut wurde. Heute ist die Kasaner Kathedrale Sinnbild für die Standhaftigkeit der orthodoxen

Kirche zu Zeiten des Kommunismus und ihren Wiederaufstieg in postkommunistischer Zeit. Der Duft von Bienenwachskerzen, Gold und Weihrauch ummanteln die heilige Liturgie der orthodoxen Messe. Instrumente wie Klavier und Orgel sind in dieser vorösterlichen Musik nicht zu hören.

Die Ve r e h r u n g de r I kone n erscheint für den westlichen Besucher zunächst befremdlich. Eine Frau mit Kopftuch wendet sich mit einer geflüsterten Bitte an ein Heiligenbild, bekreuzigt sich mehrfach, wirft sich nieder und entzündet eine Kerze. Jede Geste hat seine Bedeutung, dient zur kontemplativen Zwiesprache mit dem Heiligen. Im Halbdunkel der kleinen Kirche, in der es scheint, als spende nur der Schein der Kerzen Licht, finden sich Gläubige aller Generationen und Gesellschaftsschichten ein. Geschäftsmänner stehen neben alten Frauen, Kinder neben Müttern. In den Wochen vor Ostern macht die Kasaner Kathedrale mit ihrer Spiritualität und dem Strom von Gläubigen ihrem direkten Nachbarn, dem Konsumtempel GUM, Konkurrenz. Als Zeichen der Hochachtung bleibt man in einem russisch-

orthodoxen Gottesdienst stehen. Bänke und Stühle gibt es nicht. Viele Gläubige verkürzen ihren Besuch, denn die drei Stunden hält nicht jeder durch. So herrscht ein reges Kommen und Gehen, Menschen, die sich durch die Kirche schieben, gefolgt von Priestern, die österliche Lebensmittelweihen zelebrieren.

Kirchenslawischer Gottesdienst Während die katholische Kirche im 20. Jahrhundert zu den jeweiligen Landessprachen übergegangen ist, werden in Russland die Gottesdienste noch heute in „Kirchenslawisch“ abgehalten, das der normale Gläubige nicht versteht. Der ununterbrochen andauernde Chorgesang, der Geruch von Weihrauch und die undeutliche Sprache lassen eine unvergleichliche religiöse Atmosphäre entstehen. Die Brauchtümer der orthodoxen Kirche beeindrucken auch diejenigen, welche dem Gebräuchlichen den Rücken zugewandt haben und sich in einem orthodoxen Gottesdienst wiederfinden.


Reisen

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Anderes Russland Deutsche aus den Regionen erzählen, wie es sich außerhalb der Hauptstadt lebt

Krasnodar – Flanieren mit Netrebko Die Erkundung der Stadt beginnt in der Uliza Krasnaja, zentrale Straße und Flaniermeile: Anders als ältere russische Städte hat Krasnodar keinen Kreml, dafür ist die frisch renovierte Prachtstraße ihre „Visitenkarte“. Krasnodar macht alles andere als einen armen Eindruck, in den letzten Jahren hat man viel für die Verschönerung getan, neue Parks angelegt und bestehende ausgebaut. Die Hauptstraße verwandelt sich an Wochenenden und Feiertagen zur größten Fußgängerzone Südrusslands. Man trifft sich am Springbrunnen vor der Regionalverwaltung und flaniert pärchenund gruppenweise die Krasnaja hinunter oder besucht eines der großen Einkaufs- und Vergnügungszentren.

Mediterranes Flair in Russland? Gibt es – im südrussischen Krasnodar. Nur 80 Kilometer trennen die 700 000 Einwohner zählende Gebietshauptstadt vom Schwarzen Meer. ANDREAS TÄUBER

218 Jahre jung ist Krasnodar, und junge Menschen prägen das Stadtbild. Mehrere Universitäten haben hier ihren Sitz, und da die von Schwarzerde umgebene Stadt Russlands führende Agrarregion ist, erstaunt es nicht, dass sich hier die größte Agraruniversität des Landes befi ndet. In den milden klimatischen Verhältnissen, die in der südöstlichen Ecke der Region sogar subtropisch sind, gedeihen nicht nur Weizen und Sonnenblumen, sondern auch Tee, Reis und Russlands bester Wein. Die Zarin Katharina II. gründete die Stadt 1793 unter dem Namen Jekaterinodar als Festungsstadt, später siedelten hier Kosaken und verteidigten Russlands Grenzen gegen Eindringlinge aus dem Kaukasus. Ihren heutigen Namen „Rotes Geschenk“ trägt Krasnodar seit der Eroberung durch die Bolschewiki 1920. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gilt Krasnodar als wichtiger Wirtschaftsstandort, und nicht einmal die Besetzung der Stadt durch die Wehrmacht von August 1942 bis Februar 1943 konnte das Wac h s t u m br e m s e n . F r ü h entdeckte man Öl und Gas, die Vorkommen sind heute allerdings weitgehend ausgebeutet. Jedoch zeugen noch zahlreiche Raffinerieunternehmen vom früheren Rohstoffreichtum.

LEGION-MEDIA

FÜR RUSSLAND HEUTE AUS KRASNODAR

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Die zentrale Prachtstraße Uliza Krasnaja in Krasnodar. Hier gilt: sehen und gesehen werden

Anreise

Unterkunft

Essen & Trinken

Über Moskau z. B. mit Aeroflot (www.aeroflot.de) oder S7 (www.s7.ru/de/) oder täglich direkt von Wien nach Krasnodar mit Austrian Airlines (www.austrian.com). Im Sommer bietet Kuban Aero mehrmals wöchentlich aus drei deutschen Städten Direktflüge nach Krasnodar an (www.kuban.aero).

Das zentral gelegene VierSterne-Hotel Platan Juschny bietet westlichen Standard; Doppelzimmer ca. 125 Euro (www.platan-yug.ru). Geheimtipp: Hotel Prestige, Uliza Mira 60, im Stil einer kleinen Residenz mit schönem Restaurant und Garten; Doppelzimmer ab 100 Euro (www.hotelprestige.ru).

Duchan ist ein gemütliches kaukasisch-georgisches Restaurant an der belebtesten Fußgängerzone Südrusslands, Uliza Krasnaja 15/1. Eine wohlschmeckende Alternative: das Restaurant Ekaterinodar, benannt nach Katharina II., mit russischer und europäischer Küche an der Starokubanskaja Uliza 114.

Am Wochenende wird die Uliza Krasnaja zur größten Fußgängerzone Südrusslands.

Wer Russland hört, denkt „kalt“, aber 1000 Kilometer südlich von Moskau ist von Winterkälte wenig zu spüren. 20 Grad plus bis November sind normal, schon im Februar drängt die Sonne die nördliche Kälte zurück. Dafür kann es im Sommer aber über 40 Grad heiß werden. Der Krasnodarer fährt dann mit Familie und Freunden ans nahe Meer. Wenn die Küste im August Millionen von Erholungssuchenden aus ganz Russland anzieht, weicht man in die Berge aus. Schon von Krasnodar sieht man die ersten Ausläufer des Westkaukasus, der sich 300 Kilometer östlich zum mit seinen 5642 Metern höchsten Berg Europas, dem Elbrus, erhebt. Noch im Krasnodarer Gebiet liegt das UNESCO-Weltnaturerbe Westkaukasus, das den größten europäischen Hochgebirgsurwald mit Nordmanntannen- und Buchenbeständen beinhaltet, durch den Herden von Bergwisenten streifen. Zunehmend entwickelt sich der Tourismus: Im Winter kann man hier Ski, Snowboard und Motorschlitten fahren, im Sommer wandern – oder einfach in einem der zahlreichen neuen Hotels die frische Bergluft und die kaukasische Küche genießen. Andreas Täuber ist Geschäftsführer eines Projektentwicklungsunternehmens in Krasnodar.

FOCUSPICTURES

KOMMERSANT

Die Wirtschaft hat sich jedoch rechtzeitig diversifiziert, Krasnodar ist viel mittelständischer geprägt als andere russische Städte und hat in den letzten Jahren westeuropäische Investoren wie Claas, Bonduelle und Knauf angezogen. Die Geburtsstadt der weltberühmten Opernsängerin Anna Nebtrebko genießt unter Russen einen vorzüglichen Ruf als „lebensfreudigste“ Stadt der Föderation.

Wisentherden im UNESCOWeltnaturerbe Westkaukasus

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Architektur und Alltag: die Katharinen-Kathedrale, 1914 eingeweiht; ein Angler am Ufer des Kuban

Abenteuer in Europas größtem Gebirgsurwald

ITAR-TASS

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Ein weitgehend unbekanntes Kleinod unberührter Natur liegt südwestlich von Krasnodar, nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt: der Naturpark Westkaukasus. 1999 wurde das 300 000 Hektar große Gebiet von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt. Den Rand des Kaukasusgebirges bedecken hier jahrhundertealte Urwälder aus Nordmanntannen, Kastanien und Eichen. Luchse, Wölfe und Braunbären leben bisher weitgehend ungestört vom Einfluss des Menschen. Besonders bekannt ist der Naturpark für die Herden wilder Bergwisente,

die nur noch an diesem Ort in freier Wildbahn leben. Der Park liegt fast vollständig auf dem Gebiet der russischen Teilrepublik Adygeja, die dünn besiedelt und wirtschaftlich noch schwach entwickelt ist. Um die Natur zu erhalten und den Menschen vor Ort Perspektiven zu bieten, unterstützen der Naturschutzbund Deutschland (NABU) und das deutsche Umweltministerium die Republik dabei, den Ökotourismus zu entwickeln: Umgeben von den über 3000 Meter hohen Gipfeln des Westkaukasus können Touristen hier ge-

führte Bergtouren zu Pferde unternehmen, wandern, Mountainbiken oder mit Schlauchbooten die Flüsse des Kaukasus herunterfahren. Der Park bietet auch Übernachtungsmöglichkeiten in komfortabel eingerichteten und bewirtschafteten Holzhütten an. Informationen zur Republik Adygea und zum Naturpark lassen sich in einem soeben veröffentlichten Prospekt nachlesen, der auf der Webside des NABU heruntergeladen werden kann: www.nabu.de/downloads/international/Adygea_ITB.pdf.


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Meinung

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LESERBRIEFE

ES GINGE OHNE ATOM

Guttenberg und der Fleischwolf Der Streit um den Doktortitel ist kein Streit um eine Kleinigkeit, verglichen mit den weltpolitischen Ereignissen, sondern hier geht es um Korruption. Korruption muss in Staat und Gesellschaft auf allen Ebenen bekämpft werden, denn letztendlich haben die Vorgänge in Nordafrika ihre Wurzeln genau in diesem Punkt. Und wenn dies nicht passiert, dann wird der Ausgang der Entwicklung in einem Lande immer dubios bleiben ...

Viktor Danilow-Daniljan EX-UMWELTMINISTER

A

Prof. Dr. Klaus J. Lendzian ISMANING

Frei gedichtet nach Eugen Roth DMITRI DIVIN

m 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk Tschernobyl zu einer folgenschweren Havarie. Die Regierung der UdSSR ve r sucht e, de n Stör fa l l z u verschweigen, doch bald wurde i n Ska nd i nav ien, später i n Deutschland, erhöhte Radioaktivität gemessen. Dann erst infor mier te die sowjetische Regierung die Öffentlichkeit, einige Tage später war das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr zu leugnen. Nach 1991 engagierte sich Russland verstärkt in internationalen Umweltprojekten. Im April 1992 w u r de e i n A bkom me n m it Deutschland geschlossen, in dessen Rahmen ein gemeinsames Projekt zum Strahlungsmonitoring in der 30-km-Zone von Kernkraftwerken initiiert wurde. Kurz darauf unternahm Russland keine geringen Anstrengungen, um die Sicherheit seiner Kernkraftwerke zu erhöhen. Sämtliche AKWs kamen auf den Prüfstand, vieles wurde modernisiert. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA bestätigte die Effektivität der neuen Standards. Wenn ihre Experten die russischen AKWs als die sichersten der Welt bezeichneten, traf dies durchaus zu. Das ist bis heute so, doch haben zahlreiche Reaktoren – ebenso wie in Deutschland und anderen Ländern – das Ende ihrer Betriebsdauer erreicht. Vielfach wurden Laufzeitverlängerungen bewilligt, eine Entscheidung, die beispiels-

weise Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Hintergrund der Ereignisse in Japan ausgesetzt hat. China will sein gesamtes Atomprogramm überdenken. Zu Recht, denn die Geschichte der Kernenergie zeigt: Atomwissenschaftler können eine Katastrophe nicht voraussehen, sondern erst im Nachhinein Vorkehrungen treffen, damit sie sich nicht wiederholt. Großtechnische Objekte mit einem derartigen Gefahrenpotenzial sollten prinzipiell nicht gebaut werden, warnen Ökologen bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert. Ausgediente Reaktoren sind vom Netz zu nehmen, an ihre Stelle dürfen keine neuen treten. Vielmehr sollte man auf erneuerbare Energien setzen, für eine gewisse Zeit wird auch die weitere Nut-

zung von KohlenwasserstoffBrennstoffen unvermeidlich sein. Doch die Zukunft gehört der regenerativen Wind- und Sonnenenergie und der Erdwärme, traditionellen wasserenergetischen Anlagen ebenso wie Gezeitenkraftwerken. Das Argument, dies alles reiche nicht aus, um den wachsenden Energiehunger der Menschheit zu stillen, trifft nicht zu. Das heutige Endprodukt der gesamten Weltwirtschaft ließe sich mit einem Energieaufwand herstellen, der um das Zwei-, wenn nicht gar Vierfache unter dem jetzigen liegt. Verzichtet die Weltgemeinschaft auf Kernenergie, wird auch Russland diesen Weg einschlagen. Denn selbst der sicherste Reaktor kann zerstört werden, und die Auswirkungen eines solchen GAUs sind verheerend.

KEIN BRUCH IM TANDEM Ingo Mannteufel JOURNALIST

E

s ist schon etwas eigenartig: Da distanziert sich der russische Präsident Dmitri Medwedjew von der Wortwahl seines Ministerpräsidenten Vladimir P uti n über den west l ichen Militäreinsatz in Libyen, und schon beginnt eine neue Runde in der beliebten Frage, ob das Tandem Medwedjew-Putin Risse hat. Dabei ist es doch nicht so überraschend, wenn sich zwei führende regierende Politiker eines Landes in der Wortwahl und damit in der Akzentuierung der politischen Botschaften etwas unterscheiden. Das gilt erst recht, wenn die umstrittene Wortwahl zu den jeweiligen Charakteren und Situationen passt: Der russische Minis-

terpräsident Putin ist seit Langem für seine Neigung bekannt, auch mal deftige Sprüche zu klopfen. Sein Image verpflichtet ihn schon fast dazu. Sollte es uns daher überraschen, wenn Putin sich vor den Arbeitern einer russischen Rüstungsfabrik für die Steigerung russischer Verteidigungsausgaben ausspricht und dabei zur Begründung den westlichen Militäreinsatz gegen Gaddafi als „Kreuzzug“ bezeichnet? Das ist doch wirk lich nichts Neues oder Außergewöhnliches, zumal der russische Ministerpräsident keine direkte außenpolitische Verantwortung trägt und sagen kann, was er will. Im selben Sinne überrascht auch nicht die Reaktion des russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew. Selbstverständlich kann der oberste russische Außenpolitiker Medwedjew nicht am Freitag seinen

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de FÜR SÄMTLICHE IN DIESER BEILAGE VERÖFFENTLICHTEN KOMMENTARE, MEINUNGEN UND ZEICHNUNGEN SIND AUSSCHLIESSLICH IHRE AUTOREN VERANTWORTLICH. DIESE BEITRÄGE STELLEN NICHT DIE MEINUNG DER REDAKTEURE VON RUSSLAND HEUTE ODER VON ROSSIJSKAJA GASETA DAR.

UN-Botschafter zur Enthaltung bei der Stimmabgabe anweisen und wenige Tage später den westlichen Militärschlag als „Kreuzzug“ bezeichnen. Während Putin vor russischen Rüstungsarbeitern sprach, muss Medwedjew bei seiner Wortwahl die Reaktionen der internationalen politischen Gemeinschaft bedenken. Da ist Medwedjew mittlerweile erfahren genug, um hier keine Fehler zu machen. Selbst wenn er die Unzufriedenheit Putins mit dem westlichen Vorgehen teilen dürfte. Letztendlich dürften auch beide wissen, dass der Vergleich mit den christlichen Kreuzzügen gegen die Muslime im Mittelalter für die aktuelle Situation in Libyen mehr als unpassend ist. Schließlich geht es darum, zu verhindern, dass ein Diktator in einem Bürgerkrieg seine ebenfalls muslimischen Landsleute massakrieren lässt.

Seit die Japaner begannen, den havarierten Reaktor mit Meerwasser zu kühlen, ist klar: Das Atomkraftwerk Fukushima ist verloren. Optimistische Modellrechnungen besagen zwar, dass die Folgen in Fukushima nicht mit denen von Tschernobyl vergleichbar sind. Doch hier liegt das Problem: Ein Modell ist eben nicht die Realität, und niemand weiß, worin genau sich das eine vom anderen unterscheidet. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist die Menschheit nun bereits mit dem „Test“ Atomkraft befasst. Obwohl es in der Tat auch ohne ginge. Danilow-Daniljan, unter Jelzin Umweltminister, ist Direktor des Instituts für Wasserprobleme der Akademie der Wissenschaften.

Spannend an dieser Episode der russischen Politik ist also weniger das Gesagte selbst, als vielmehr die darum entstehende Diskussion. Denn sie betrifft den eigenartigen Zustand der russischen Politik im Jahr 2011: Putin wird von allen immer noch als der mächtigste russische Politiker angesehen, selbst als Ministerpräsident. Darunter leidet das Ansehen des von ihm erwählten Nachfolgers im Präsidentenamt, der verfassungsrechtlich die höchste Macht im Staate besitzt.

Mit einer Entscheidung ist frühestens im Spätherbst zu rechnen Diese eigenartige Konstruktion ist das Ergebnis einer Entscheidung Putins, die Macht nicht aus den Händen zu geben, aber 2008 auch nicht die Verfassung zu brechen und verfassungswidrig eine dritte Amtszeit in Folge anzustreben. Da nun in einem Jahr erneut Präsidentschaftswahlen anstehen, stellt sich die Frage, ob Putin ins

„Ein Mensch“ nudelt in jedem Fall sich durch den „Fleischwolf“, medial, und wird durch selbigen genudelt mit dem Ergebnis, dass besudelt [...] wie „einer“ – eben doch – „von uns“, sei es der Hinz oder der Kunz. „Ein Mensch“ denkt mit Gedankenschwere mehr noch denn je ans Familiäre und bringt am Ende selbst ans Licht, dass er die Lichtgestalt ist nicht. „Solch Mensch“ darf sich zugute halten: Zu Guttenberg neben den „Alten“ macht sich auch nicht viel anders aus: „Grüß Gott“, farewell, yours „altes Haus“. Dr. Frank Müller-Thoma LANGENARGEN

Präsidentenamt zurückkehren wird. Bislang scheint man im Kreml und im Weißen Haus, dem Sitz der russischen Regierung, noch keine Entscheidung getroffen zu haben. Die Frage wird sicherlich auch noch nicht so schnell beantwortet, denn eine frühe Antwort würde einen der beiden – Putin oder Medwedjew – sehr schnell zu einer „lahmen Ente“ machen. Das ist nicht im Interesse der beiden. Mit einer Entscheidung ist also frühestens im Spätherbst zu rechnen. Bis dahin wird auch noch viel spekuliert werden. Nur eins ist sicher: Die Wortwahl zur Bezeichnung des westlichen Einsatzes gegen Gaddafi wird bei dieser zentralen Frage der russischen Politik keine Rolle spielen. Ingo Mannteufel ist Leiter der r u ssi schen Redaktion der Deutschen Welle, wo dieser Text zuerst erschien. Weitere Beiträge zum Thema dw-world.de/ostfokus

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Feuilleton

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BUCHKRITIK: ARCHITEKTUR

Wiedergeburt des Dorflebens Wassilij Schukschin am Ku’damm

Moskau neu entdecken

Wassilij Schukschin, der das russische Dorf mit seinen großen kleinen Tragödien dokumentierte, starb vor 37 Jahren. In Berlin feierte er nun seine Auferstehung. RUTH WYNEKEN EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Trauben von Menschen warten an diesem Abend Mitte März vor der Schaubühne in Berlin: „Haben Sie vielleicht noch eine Karte?“ Die Chancen stehen schlecht: Das ganze russische Berlin ist gekommen wegen Schukschin, dem Bauernsohn, der in tiefster Sowjetzeit aus seinem Dorf aufbrach und zum Volksschriftsteller wurde. Das Stück „Schukschins Erzählungen“, russisches Gastspiel auf dem Festival Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.), war seit Wochen ausverkauft. Schukschins Erzählungen und Filme kennt jeder, der jene Zeiten erlebt hat; der 1929 in einem sibirischen Dorf geborene Schriftsteller erzählt mit Hang fürs Absurde und großer Liebe von Freud und Leid einfacher Menschen. Nicht mehr, nicht weniger. Das Moskauer Theater der Nationen hatte Alvis Hermanis engagiert, ein Glücksfall, denn für den lettischen Regisseur ist Schukschin der russischste aller Autoren. Vor Probenbeginn reiste das ganze Team in sein Heimatdorf Srostki im Altai, und tatsächlich trafen sie dort noch immer seine Prototypen: Traktoristen, Verkäuferinnen, Ärztinnen und die ganz alten Dorfbewohner. Die Bühnenbildnerin Monika Pormale lichtete die Menschen und Landschaften von heute ab, präsentierte die stark vergrößerten Fotos auf Stellwänden und schuf damit eine Brücke aus den 1960erJa h ren i n u n sere Zeit. Die Ausstattung ist so schlicht wie

genial, die ganze Inszenierung inspiriert vom Lubok, dem russischen Volksbilderbogen. Zwei Dorfpomeranzen sitzen vor einem Sonnenblumenfeld auf der Holzbank und knacken geröstete Kerne wie seit jeher im ländlichen Russland. Sie spucken die Schalen aus und schwatzen, bis die anderen Akteure sich beleben, in die Handlung einsteigen und sich vor unseren Augen verwandeln, nicht mit Schminke oder aufwendigen Kostümen, sondern durch Änderung der Körperhaltung, Mimik und Gestik, durch ihre Intonation und Diktion. Die acht hochkarätigen Schauspieler (Stars wie Jewgenij Mironow, Tschulpan Chamatowa oder Julia Peresild) sind in den acht Erzählungen oft nicht wiederzuerkennen. Für Minuten erfassen sie den Wesenskern ihrer Figur, der ganze Körper erzählt; dann Schnitt: Die Wände werden ausgetauscht, und die Schauspieler tauchen in der nächsten Erzählung gänzlich verwandelt auf. Der Zuschauer lacht und fiebert mit dem kleinen Stjopka mit, der von der Liebe heimgesucht wird, den Vater als Brautwerber anheuert und urplötzlich seinen cleveren Konkurrenten aussticht; oder mit Serjoga, der die allseits begehrte Krankenschwester Klara erobert, von ihr betrogen wird und sich vor Gram zwei F inger abhackt. Da trudelt Stepan in seinem Dorf ein, aus Heimweh ist er drei Monate vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis ausgebrochen. Nach einer ausufernden Familienfeier, auf der auch die Oma wiederaufersteht und anzügliche Stegreiflieder hinfetzt, kommt der Milizionär ... Erzählter Text über und erzählendes Handeln durch die Figuren verflechten sich in der Inszenierung, treten in einen viel-

DAS MOSKAUER THEATER DER NATIONEN

Bühne Ein Moskauer Theater rührt die Herzen der Berliner mit Szenen vom Lande

Architektur ist Politik – für die russische Hauptstadt gilt das im Besonderen: vom Kreml über die Stalin’schen Zuckerbäcker-Wolkenkratzer bis zur Christ-Erlöser-Kathedrale aus den 90er-Jahren. Die Utopien der wechselnden Herrscher – in Moskau spiegeln sie sich wider. Eingefangen ist dieser Wechsel der Zeiten in dem eben erschienenen „Architekturführer Moskau“, in dem kompetent und verständlich insgesamt 350 Gebäude vorgestellt und beschrieben werden, abgerundet durch informative Texte zu Besonderheiten der russischen Bauwirtschaft und Innenarchitektur. Neben den klassischen Bauwerken wie Kreml oder Basilius-Kathedrale ist erstmalig auch die Architektur unter den Bedingungen des Turbokapitalismus in ihren vielfältigen Ausprägungen

Für den Schwatz vor dem Haus das Wichtigste: Sonnenblumenkerne

schichtigen Dialog miteinander, mit den Porträts, mit dem Publikum und mit der Musik, die als unverfälschte Folklore meist live gespielt wird. Im zweiten Teil schlägt die schräge Komik in Tragik um. Vor einer tristen Plattenbaufassade tanzt Mironow als Kolja mit glasigen Augen die Ziganotschka, während seine Frau an der Nähmaschine rattert. Die Ehe lieblos, die Verwandtschaft nervtötend, die Stadt zuwider – der entwurzelte Kolja sehnt sich nach seinem Dorf, und eines Morgens finden sie ihn tot in der Küche bei geöffnetem Gashahn, während „eine Träne auf der Wange noch nicht getrocknet war“. Vor dem Bild des nun verblühten Sonnenblumenfeldes endet die Vorstellung: Alle acht Künstler spielen mit Knopfakkordeons auf. Standing Ovations, Jubel, ein glückliches Publikum und zufriedene Schauspieler. In Moskau ist die Inszenierung seit der Premiere 2009 stets ausverkauft, die Karten werden auf

ZITAT

Der Reichtum

"

Diese Literatur ist euer Gold, das Beste, was ihr habt, und das Reinste von allem: Güte, Schlichtheit und Unverfälschtheit."

ALVIS HERMANIS, LETTISCHER DRAMATURG, SCHAUSPIELER UND THEATERREGISSEUR

dem Schwarzmarkt mit Preisen bis zu 800 Euro gehandelt. Aber dann, so erzählen die Schauspieler, fällt es ihnen schwer, das Publikum wirklich mitzureißen. Denn oft hat es, wie der Schauspieler Jewgenij Mironow meint, „unseren eigentlichen Reichtum vergessen. Wir sind Alvis Hermanis sehr dankbar. Er sagte uns: ‚Diese Literatur ist euer Gold, das Beste, was ihr habt, und das Reinste von allem: Güte, Schlichtheit und Unverfälschtheit.‘“

Der neue Architekturführer nimmt sich erstmals ausführlich der vielfältigen Blüten des Turbokapitalismus an.

DAS MOSKAUER THEATER DER NATIONEN

Das Finale: eine Hommage der Schauspieler an Schukschin auf dem Bajan gespielt, einem russischen Volksinstrument

KULTURKALENDER

VORTRAG JURI GAGARIN – 50 JAHRE BEMANNTE RAUMFAHRT

LIVEMUSIK MARKSCHEIDER KUNST

KLASSIK ANNA NETREBKO UND DAS ENGLISH CHAMBER ORCHESTRA

7. APRIL, URANIA, BERLIN

12. APRIL, MÜNCHEN, FEIERWERK, WEITERE TERMINE BUNDESWEIT

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

Professor Tilman Spohn, Raumfahrtexperte, und Gagarin-Biograf Gerhard Kowalski berichten über Erfolge, Niederlagen und Perspektiven der bemannten Raumfahrt.

Auch wenn man kein Wort versteht: Der wilde Mix aus Ska, Reggae und Latino der Kultband Markscheider Kunst aus Sankt Petersburg macht müde Münchner munter.

Die aus Krasnodar stammende Sopranistin Anna Netrebko machte als Opernsängerin Karriere, nun wagt sie sich an barock-geistliches Repertoire wie Pergolesis „Stabat Mater“.

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mitaufgenommen. Nach dem Ende der Sowjetunion zog sich der vormals allmächtige Staat aus der Stadtplanung zurück und überließ den Bau von Büro- und Wohnhäusern, Flughäfen und Einkaufszentren privaten Investoren. Das führte zu schwer erträglichem Eklektizismus, nicht selten aber auch zu architektonischen Experimenten wie dem „Wodka-Pavillon“ im Vorort Kljasma oder den extravaganten Villen im Nobelviertel Rubljowka. Detaillierte Karten helfen dem Moskau-Touristen, sich zurechtzufi nden. Einziges Minus: Die Straßennamen sind in kyrillischer Schrift. Peter Knoch: Architekturführer Moskau; DOM Publishers, 450 Seiten; 28 Euro. Moritz Gathmann

IN DER NÄCHSTEN AUSGABE LORI/LEGION MEDIA

23. APRIL, MÜNCHEN, PHILHARMONIE

Wie lebt sich’s eigentlich in ... Woronesch? Eine Deutsche berichtet.


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Porträt

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Tschernobyl Hunderttausende Menschen bekämpften die Folgen des Unglücks und leiden heute selbst darunter

Durch die Hölle des „Roten Waldes“ Besuch bei Alexander Wassiljewitsch Antonow. Er ist stolz, aber schüchtern. Er ist einer von denen, die das Grauen von Tschernobyl hautnah erlebt haben.

Die Liquidatoren von Tschernobyl Nach dem Super-GAU schickte die Sowjetführung Hilfsarbeiter aus der ganzen Sowjetunion ins verstrahlte Gebiet, um die Aufräumarbeiten zu unterstützen. Diese Liquidatoren – Feuerwehrleute, Techniker, Militärs, Bauarbeiter und Hubschrauberpiloten – sollten das verstrahlte Gebiet dekontaminieren und einen Sarkophag aus Stahlbeton um den zerstörten

ANASTASIA GOROKHOVA

ging: Die Soldaten mussten auf das Dach des unversehrten Reaktorblocks, wo die Strahlenbelastung am größten war. „Man rannte wie besessen hoch, nahm zum Beispiel ein Stuhlbein auf die Schaufel, schmiss es herunter und rannte wieder zurück. Das alles in nur knapp 40 Sekunden.“ Die tödliche Portion an Radioaktivität hatten die Soldaten aber schon abbekommen. „Als klar wurde, dass sie alle sterben würden, beschloss man, 40-jährige Reservisten einzuberufen“, erzählt Antonow. „Nach dem Motto, die haben schon Kinder und wollen nichts mehr vom Leben.“ Der Journalist war einer davon. Eines Abends im Januar 1987 standen zwei Militärentsandte vor seiner Tür, kontrollierten den Pass und befahlen ihm, sich am nächsten Morgen beim Wehrkommando zu melden. Antonow wusste sofort, um was es ging. Einen Ausweg gab es nicht.

AP

Der Wald in der Nähe des AKWs hatte eine so hohe Strahlendosis abbekommen, dass sich die Bäume rot färbten.

AFP/EASTNEWS

25 Jahre danach sitzt Alexander Wassiljewitsch Antonow in einem etwas abgewetzten, grauen Sakko und Jeans am Küchentisch und raucht eine Zigarette nach der anderen. Er war lange Journalist, heute ist der 64-Jährige Rentner. Er ist es nicht gewohnt, in der Rolle des Fragen-Beantworters zu sein. Er spricht sehr leise, manchmal hastig. An die Ereignisse von damals erinnert er sich gut. Und hat doch Schwierigkeiten zu beginnen. „Seit Tschernobyl weiß ich, wie es im Krieg gewesen sein muss“, beginnt er schließlich. In seiner Jugend war er knapp drei Jahre in der DDR stationiert und konnte sich nicht vorstellen, dass er ein weiteres Mal einberufen werden würde. Mit vierzig. Unmittelbar nach dem SuperGAU in Tschernobyl am 26. April 1986 schickte die sowjetische Armeeführung zuerst junge Rekruten in die Unglückszone. Sie sollten den Anfang bei den Aufräumarbeiten machen. Antonow weiß aus erster Hand, wie das

OLGA MATVEEVA

RUSSLAND HEUTE

Reaktorblock 4 bauen. Es ist unbekannt, wie viele Liquidatoren letztendlich in Tschernobyl gewesen sind: Rund eine halbe Million sind heute in der Ukraine, Weißrussland und Russland registriert. Auch eine offizielle Statistik über die Todesfälle gibt es nicht: Unmittelbar nach dem Unfall seien 50 Menschen tödlich verstrahlt worden, etwa 5000 später der Strahlung erlegen. Unabhängige Experten schätzen diese Zahl zehnmal höher. Heute haben die Liquidatoren gesetzlichen Anspruch auf 14 Tage Zusatzurlaub und auf mehr Wohngeld.

Alexander Antonow will nie wieder an Tschernobyl denken müssen: aber die Erinnerungen an die toten Bäume im „Roten Wald“ und an die Menschen, die radioaktives Material per Hand aufgesammelt und dekontaminiert hatten, holen ihn immer wieder ein – auch 25 Jahre danach.

Wenige Tage später fuhr er schon in einem Militärlastwagen durch den „Roten Wald“. Der Wald in der Nähe des AKWs hatte eine so hohe Strahlendosis abbekommen, dass sich die Bäume rot färbten und abstarben. „Die Dörfer, an denen wir vorbeikamen, waren verlassen. Vogelnester waren leer“, erzählt Antonow.

Zufall rettete ihm das Leben In der 30-Kilometer-Sperrzone um den Meiler wurden sie in großen Militärzelten untergebracht. Antonow sollte als LKW-Fahrer jeden Tag Soldaten zur Unglücksstelle bringen. Doch dann wurde plötzlich jemand gesucht, der mit einer Schreibmaschine umgehen und Berichte tippen kann. „Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet“, sagt er. 50 Tage war er dort, in dieser Zeit fuhr er dreimal zum Meiler. Auf dem Weg musste man an den zugefrorenen Kühlbecken vorbei.

„Ich traute meinen Augen nicht, als ich dort plötzlich Eisangler sah!“ Auch sonst gab es genug, worüber sich Antonow wundern konnte: Die meisten Soldaten trugen die vorgeschriebenen Schutzmasken nicht, obwohl viele der Gegenstände, die um sie herumlagen, schwer verstrahlt waren. Antonow war durch seine Arbeit an der Schreibmaschine weniger Strahlung als andere ausgesetzt. Doch heute bekommt er sofort schlimme Hautrötungen, wenn er in die Sonne geht. Es sei die Folge seiner Liquidator-Zeit, sagen die Ärzte. Besonders tief hat sich ihm die Erinnerung an eine Fahrt ins Kiewer Krankenhaus eingeprägt. Mit ihm im Wagen saß ein junger Soldat aus Turkmenistan. „Er sah furchterregend aus: Die Augen fielen ihm im wahrsten Sinne des Wortes fast aus dem Kopf. Die Augäpfel hingen richtig aus den Augenhöhlen.“ Dem jungen Sol-

daten, einem LKW-Fahrer, war mitten im „Roten Wald“ ein Reifen geplatzt. „Uns hatte man gleich zu Beginn erklärt: ‚Was auch immer passiert, ihr dürft auf keinen Fall anhalten.‘“ Der Turkmene war ausgestiegen, um das Rad zu wechseln. „Viele sind dort gestorben“, sagt Antonow traurig. Dann zündet er sich die nächste Zigarette an.

Vom Staat einen Anstecker und einen Lebensmittelkorb Ein großes Problem war außerdem der Alkohol, erzählt Antonow: „Ich habe jedes Mal aus Kiew zwei Rucksäcke voll Wodka mitgebracht – so wie alle.“ Und das, obwohl damals das Antialkoholgesetz galt und es streng untersagt war, zu trinken. Doch ein Tag in der Sperrzone von Tschernobyl war ohne diese Art Medizin nicht auszuhalten. Auch danach ging es nicht ganz ohne, gibt der ehemalige Liqui-

dator zu. Denn es interessierte niemanden, was er in Tschernobyl erlebt hatte. Auch seine Journalisten-Kollegen haben ihn kein einziges Mal darauf angesprochen. Wahrscheinlich hatten sie Angst vor der Wahrheit. Und das, obwohl Antonow damals in der Redaktion der Zeitung Prawda, also der „Wahrheit“, arbeitete. Als Liquidator bekam er eine Geldprämie, die aus fünf Arbeitslöhnen bestand. Davon kaufte er sich ein sowjetisches Auto. Nach dem Zerfall der UdSSR behielt er es nicht, weil es wie eine Erinnerung war, die er lieber loswerden wollte. Zum 20-jährigen Gedenktag an Tschernobyl, schon im „neuen“ Russland, holte ihn die Sowjetunion aber noch einmal ein, wie er selbst sagt. „Der Staat schenkte mir einen Liquidator-A nstecker u nd ei nen Lebensmittelkorb. Wie in den guten alten Zeiten. Mit Keksen. Und etwas Schokolade.“

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