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Entrüstet

Entsorgt

Schluss mit dem ewigen Masochismus, fordert Politologe Fjodor Lukjanow von Russen und Polen.

Er sah ein Licht, und es ward grün. Roman Sablin lehrt die Moskauer, Müll zu trennen, und geht mit gutem Beispiel voran.

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S. 12 ECOLOFT

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

MITTWOCH, 4. MAI 2011

Tag der russischen Einheit

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CHEFREDAKTEUR

Verbundenheit der Generationen: Die Enkelin eines Veteranen umarmt ihren Großvater und zupft an seinem „Held der Sowjetunion“-Orden, der einst höchsten Auszeichnung des Landes.

Kostenlose Medizin wird wieder kostenlos

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Hat die Machtvertikale ausgedient?

„Wozu man gedenkt? Wenn ich m ich von einer sch lim men Krankheit erholt habe, werde ich mich daran immer mit Freude erinnern. Ich würde aber nicht gedenken, wenn ich immer noch krank wäre“, hat Leo Tolstoj gesagt und wird so von Alexander Solschenizyn im „Archipel Gulag“ zitiert. 1941 zog auch er in den Krieg, dessen Traumata er später literarisch verarbeitete. Wenn Russland am 9. Mai den „Tag des Sieges“ feiert, begegnen seine Menschen diesem Fest mit großer Ehrfurcht. Ihren Stolz nutzt die Politik für sich, indem sie Panzer über den Roten Platz rollen lässt, die westliche Journalisten für eine Machtdemonstration des Kreml halten. Was in den Medien jedoch wenig Raum einnimmt, ist die Trauer der Russen, die sich an diesem Tag ihrer Väter, Mütter, Geschwister und Kinder erinnern. Man gedenkt der Opfer, freut sich des Lebens und hofft, dass beide Nationen, die 66 Jahre später Partner sind, ein für alle Mal geheilt sind.

INHALT Korruption Der Mittelstand nimmt den Kampf auf WIRTSCHAFT

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Woronesch Diesel und Lebensfreude

PHOTOXPRESS

REISEN

ANATOLI SERGEJEV_KOMMERSANT

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AFP/EASTNEWS

aber eine Verkrustung des politischen Systems, wenn die unter Putin errichtete „Machtvertikale“ nicht aufgebrochen werde. Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen sucht das Land nach Alternativen: Gibt es einen dritten Mann im Kreml?

Die Erwartungen an die anlaufende Gesundheitsreform sind groß. 20 Milliarden Euro werden bis 2013 in die Modernisierung der Krankenhäuser investiert, die Gehälter der Angestellten steigen um bis zu 35 Prozent. Ein wichtiger Schritt ist schon getan: Seit 2011 gilt eine landesweite Krankenversicherung, so dass Russen ihre Wunschklinik frei wählen können. Die Gründe für die Reform liegen auf der Hand: Die in Sowjetzeiten eingeführte kostenlose medizinische Versorgung aller Bürger ist nicht mehr gewährleistet: Laut russischer Verfassung hat zwar jeder das Recht, in einer der Polikliniken behandelt zu werden. Aber viele Russen kennen die Realität: Wer wirklich gesund werden will, schiebt dem Doktor besser einen Schein über den Tisch. Die Ärzte verweisen auf ihre miserablen Gehälter.

Medwedjew oder Putin? Die Gesellschaft ist der Ikonen müde.

Russische und westliche Medien berichten nach den Umstürzen in Tunis und Kairo über den Geist der Revolution, der angeblich auch um die Mauern des Kreml streife. Nahrung bekommen die Umsturzszenarien von Expertenberichten einiger Institute, die bisher als kremlnah galten. Sie prophezeien zwar keine Revolution,

Eine Heilung für zwei Nationen Alexej Knelz

AFP/EASTNEWS

Nelken für die Veteranen, Militärparaden in den Städten, Volksfeste im ganzen Land und zu später Stunde atemberaubende Feuerwerke. Kein Feiertag eint die Russen zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion so sehr wie der „Tag des Sieges“, den die Bürger des Landes alljährlich am 9. Mai begehen. 66 Jahre nach dem Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“, in dem insgesamt über 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben ließen, haben sich die Gedenkriten geändert. Im letzten Jahr marschierten neben Russen erstmals polnische, amerikanische, britische und französische Soldaten über den Roten Platz. Zwischen Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew stand Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie groß das Vertrauen gegenüber dem Feind von damals ist, zeigen die engen wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder. Städtepartnerschaften (S. 5), gegenseitige Besuche und kultureller Austausch bringen die Versöhnung zwischen Deutschen und Russen voran.

POINTIERT

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Straßenkunst Böse und provokant – die Art-Gruppe Wojna Russische Kliniken werden modernisiert und neu ausgestattet.

FEUILLETON

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Politik

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Wahlen 2011/12 Gibt es Alternativen zu Dmitri Medwedjew und Wladimir Putin?

Im Dezember wählt Russland ein neues Parlament, im März 2012 den Präsidenten. Experten aus kremlnahen Think Tanks kritisieren jetzt die Machtvertikale Putin-Medwedjew.

Präsident Dmitri Medwedjew, Premierminister Wladimir Putin: Seit 2008 bestimmt das sogenannte „Tandem“ die russische Innen- und Außenpolitik. Die Konfiguration könnte sich wieder drehen, wenn 2012 der nächste Präsident Russlands gewählt wird. Beide Politiker haben vage angedeutet, dass sie kandidieren würden. „Russland braucht weitere zehn Jahre Stabilität“, sagte Putin bei seinem jährlichen Bericht vor der Staatsduma im April. Einige Stimmen, die die Stabilität anders bewerten, warnen jedoch vor politischer und wirtschaftlicher Stagnation.

ALEXANDER TSCHUDODEJEW

Im Jahr vor der Wahl sind in Russland apokalyptische Gerüchte in Mode. Expertenberichte, die in den letzten Wochen stapelweise veröffentlicht wurden, zeichnen das düstere Bild einer politischen Krise, an der die Russische Föderation jeden Augenblick zu zerbrechen drohe. Im Februar preschte das 2008 von Medwedjew gegründete Institut für Moderne Entwicklung (INSOR) mit einer barschen Schelte des bestehenden Systems vor, bald folgte ein weiterer Bericht. Die schärfste Kritik kam jedoch vom Zentrum für Strategische Studien (ZSR). Das Delikate daran: ZSR gilt als Think Tank des Kreml, dort entstand das Programm für Wladimir Putins erste Amtszeit als Präsident. Die Kernaussage der regierungskritischen Studie: Wenn die Machtvertikale aus Präsident und Premier nicht bald abgeschafft wird und sich das Tandem Medwedjew/Putin nicht selbst voneinander löst, könnte das System kollabieren. Das könnte ägyptische Verhältnisse bedeuten.

DMITRI AZAROV_KOMMERSANT

ITOGI-MAGAZIN

den Wählern das Bedürfnis nach einer dritten, übergreifenden politischen Figur als einer echten Alternative. Die ZSR-Experten ziehen offenbar nun Schlüsse aus einer eigenen, falschen Prognose vor zehn Jahren: In ihrem Programm für Putins erste Präsidentschaft hatten sie die Verdoppelung des Bruttoinlandsproduktes bis 2010 festgeschrieben. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, und schuld daran sei nicht nur die Weltwirtschaftskrise, sondern auch Mängel an der Grundkonstruktion der „Machtvertikale“. Das schon unter Putin eingeführte System der Machtvertikale konzentrierte Macht und Ressourcen im Kreml und sollte es der Zentralverwaltung wieder ermöglichen, ihren Willen von oben nach unten konsequent durchzusetzen.

Verkrustete Machtstrukturen

Stillgelegter Karrierelift Zur Behebung der „Konstruktionsfehler“ wird in dem Bericht vorgeschlagen, die alleinige Regierung der Kreml-Partei Einiges Russland zu beenden und

Das Vertrauen in die Regierung verhält sich proportional zur Geldmenge, die sie für „Loyalitätsboni“ ausgibt. Die nahe Zukunft sieht da rosig aus: Schätzungen zufolge spült allein der Export von Erdöl 2011 350 Milliarden Dollar in die Staatskasse. Die Machtvertikale ist also vorerst gesichert. Gelöst ist damit aber nicht das Problem ihrer festgefahrenen Konstruktion: Die Machtverhältnisse an Russlands Spitze lassen sich nicht ändern, ohne das

Der unbekannte Dritte

Gesamtkonstrukt zu zerstören. Die Befürworter des bestehenden Systems fürchten deshalb nichts so sehr wie politischen Nachwuchs. Eine präsidiale Kommission „castete“ zwar 2500 Nachwuchskräfte für Spitzenpositionen. Aus der „Kaderreserve des Präsidenten“ kamen jedoch seit 2009 nur 75 Jungpolitiker in höhere politische Ämter. Die Chancen auf eine politische Karriere stehen damit selbst innerhalb der „Kaderreserve“ schlecht. Für den Nachwuchs außerhalb der politischen Arena sind sie gleich null. Ähnlich ist die Situation der Wirtschaftselite. Zwar hat der Kreml die Oligarchen an sich gebunden. Unabhängige Kleinunternehmen und mittelständische Betriebe – unerlässlich für eine stabile Gesellschaft – sind aber nach wie vor kaum vorhanden. Die Wirtschaft bildet ein abgeschlossenes System, das Außenstehende so gut wie nicht integriert. Die ZSR-Experten beklagen au ßerdem einen Mangel an

DMITRI AZAROV_KOMMERSANT

Als Auftakt der Studie bekommt der Leser ein Kaleidoskop unzufriedener Stimmen aus dem Volk geboten, die sich zu Medwedjews und Putins Wahlchancen äußern. „Medwedjew kann man doch abhaken ... Wer soll für den stimmen?“ (03/2011, Moskau, weiblich, 43, ohne Hochschulbildung) Aber auch Wladimir Putin wird nicht geschont. Dem Premier wird zwar zugestanden, dass er einen guten Teil seiner Wählerschaft halten kann, die altert allerdings rapide und ist pessimistisch gestimmt: „Mit Putins Machtantritt hat sich die Lage stabilisiert, alles zum Besseren gewendet. Bei Gorbatschow und Jelzin gab es Streiks, die Bevölkerung war in Aufruhr. Nun ist es anders. Die oben bereichern sich, die unten schweigen, ein stabiler Zustand. Doch das macht einem am meisten Angst. Weil die Situation jederzeit kippen kann.“ (März 2011, Jekaterinburg, männlich, 43, Akademiker) Kurzum, der Bericht läuft darauf hinaus, dass die Nation das Machtduo leid ist. Ändert sich nichts an den bestehenden Verhältnissen, so der Bericht, werden die etablierten Spitzenpolitiker bei den anstehenden Wahlen zwar zweifellos noch einmal siegen. Jedoch würden sie ihre Legitimation in den Augen der handlungsaktivsten Bürger verlieren. Das berge die Gefahr sozialer Unruhen und einer Dem o nt a g e d e s b e s t e h e n d e n politischen Systems. Wie die Autoren hervorheben, wächst unter

nach den Wahlen eine Koalitionsregierung zu bilden. Die Prognosen der Think Tanks bergen einigen Zündstoff, aber wie realitätsnah sind sie? In Russland steht das Vertrauen gegenüber der Regierung in einem proportionalen Verhältnis zur Geldmenge, die diese für Renten, Sozialhilfe und andere „Loyalitätsboni“ ausgibt.

DMITRI AZAROV_KOMMERSANT

Kremlkritische Studien stellen das Tandem infrage

Parteien, die der Kreml-Partei Einiges Russland Paroli bieten könnten. Sie fordern ein Mehrparteiensystem, doch das ist leichter gesagt als getan: Dafür müssten sich die trägen russischen Wähler, die aufgrund der eigenen Passivität für die Regierungspartei stimmen, mehr engagieren. Aber selbst dann hätten sie kaum eine Alternative: In einer Umfrage des unabhängigen LewadaZentrums konnte die Mehrheit der Befragten außer Putin, Medwedjew und den beiden politischen Dinosauriern Wladimir Schirinowski (Liberale) und Gennadi Sjuganow (Kommunisten) keine weiteren Politiker nennen. Über drei Viertel der Befragten hatte noch nie von der international anerkannten Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa gehört. Von der oppositionellen SolidarnostBewegung wussten immerhin 32 Prozent. Unter solchen Bedingungen hätte der oppositionelle Politiker Boris Nemzow bei der Wahl noch die meisten Chancen.

„Könnte Igor Schuwalow der nächste Präsidentschaftskandidat sein?“, fragen sich die Kreml-Astrologen. Der Vizepremier leitet den Regierungsausschuss für wirtschaftliche Entwicklung und Integration.

Einen realen Ausweg böte laut ZSR-Experten nur eine einzige Initiative, nämlich der Vorschlag, das Machttandem in ein Triumvirat zu verwandeln, und damit die Wählerbasis zu erweitern. Als Kandidat wird häufig Vizepremier Igor Schuwalow genannt. Ihm traut man die Führung der Partei Prawoje delo („Rechte Sache“) zu, 2012 könnte er neuer Regierungschef werden. Die staatliche Unterstützung, medial wie finanziell, könnte seine liberale Partei erheblich stärken. Das Grundproblem bliebe aber bestehen: Der „potenzielle Dritte“ käme wieder aus dem bestehenden System. Und würde der neuen Regierung keine wirklich neuen Impulse geben. Dieser Beitrag erschien zuerst im russischen Wochenmagazin Itogi

UMFRAGE

Präsidentschaftswahlen 2012 „WEN WÜRDEN SIE GERNE ALS KANDIDATEN BEI DEN PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN 2012 SEHEN?“, LAUTETE IM MÄRZ EINE FRAGE DES LEVADA-ZENTRUMS.

Die Zahl der Russen, die für Dmitri Medwedjew votierten, ist innerhalb von neun Monaten von 14 Prozent auf 18 Prozent gestiegen und umgekehrt für Wladimir Putin von 30 Prozent auf 27 Prozent gesunken. Für eine Kandidatur beider sprachen sich 16 Prozent aus. Es handelt sich vor allem um Jugendliche und Personen mit mittlerer Bildung und hohem Lebensstandard. Einen neuen Kandidaten wünschen sich ältere Bürger mit niederem Lebensstandard sowie Großstädter.


Wirtschaft

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Schattenwirtschaft Mit neuen Gesetzen und privaten Initiativen auf einem guten Weg

Mittelständlerin kämpft gegen Korruption Mittelständische Unternehmer haben es satt, von korrupten Beamten ausgeplündert zu werden. Jetzt wehren sie sich gemeinsam: Eine Mittelständerin klärt russische Manager auf. WLADIMIR RUWINSKI RUSSLAND HEUTE

Eine gefälschte Unterschrift Prompt klag te das empör te Unternehmerpaar, sie kämpften um ihr Geschäft. Im August 2010 wurde dann Jewgenij verhaftet. Man warf ihm vor, 13 Millionen Rubel – rund 300 000 Euro – aus seiner zweiten Firma RUST-Invest, einer Fischfarm, illegal ausgeführt zu haben. Dabei hatte es sich um ein Darlehen an seine erste Firma gehandelt. „In der U-Haft hieß es, man ließe ihn erst frei, wenn er auf Promawtomatika-Invest verzichtete“, berichtet Konowalowa. Nach diesem Muster haben viele russische Unternehmen ihren Besitzer gewechselt. Erst im April 2011 sind in Russland Änderungen zum Strafgesetzbuch in Kraft getreten. Jetzt ist es unmöglich, Verdächtige wegen Wirtschaftsdelikten in Untersuchungshaft zu nehmen. Jewgeni kam einen Monat nach seiner Verhaftung frei – dank Presserummel und persönlicher Unterstützung eines Duma-Abgeordne-

ANNA ARTEMEVA

Galina und Jewgenij Konowalow sind ein Unternehmerpaar aus Krasnodar. Promawtomatika-Invest heißt eine ihrer Firmen. 2008 stellte das Paar fest, dass sie durch einen gefälschten Kaufvertrag auf eine andere Person überschrieben wurde: „Der Geschäftsführer wurde in den Papieren einfach ausgetauscht“, berichtet Galina und legt die entsprechenden Unterlagen als Beweisstücke vor.

Tauwetter für die Wirtschaft: Wenn Jana Jakowlewa nicht gerade Manager aufklärt, malt sie.

ten. Seine Anwälte hatten den Prozess als aussichtslos beurteilt. Dennoch setzte das Ehepaar den Kampf vor Gericht fort. Galina gründete die Organisation „Gleichheit für alle – vor Gesetz wie vor Gericht“, die Unternehmern in ähnlichen Situationen beistehen soll.

Elf Millionen Euro Schaden Anfang 2011 verzeichneten die Konowalows zwei signifikante Erfolge: Im Februar räumte das K rasnodarer Bezirksgericht Verfahrensfehler ein und rollte den Fall erneut auf. Im März urteilte das Berufungsschiedsgericht in Wladimir für die Konowalows. Sie bekommen ihre Firma wieder – die Geschäftsflächen und Gebäude wurden inzwischen allerdings ver-

kauft. Die Eheleute schätzen den Verlust auf fast elf Millionen Euro. Während ihres Kampfes vor Gericht wurden sie von Jana Jakowlewa unterstützt, die mit Korruption und Unternehmensplünderungen in Russland nicht nur vom Hörensagen vertraut ist. 2006 verbrachte die 39-jährige Finanzdirektorin des Chemieunternehmens Sofeks sieben Monate im Gefängnis wegen einer Gesetzeslücke, die korrupte Beamten ausnützten. Jakowlewa gründete die „Solidarität im Geschäft“ – eine Organisation, die durch Korruption geschädigte Unternehmer unterstützen soll. „Der Fall Konowalow ist ein typisches Beispiel für „corporate raid“, sagt Jakowlewa – die ille-

gale Schattenübernahme einer Fir-ma. „Beamte sind dabei die schlimmsten Raider, denn sie krallen sich die Firmen und verstecken sich dabei hinter dem Strafgesetzbuch.“

Gefahr für den Mittelstand Ihre Organisation tat sich vor wenigen Wochen mit dem Gewerkschaftsverband Delowaja Rossija zusammen. Herausgekommen ist ein Antikorruptionskomitee. Jana Jakowlewa und der Verbandsvorsitzende Boris Titow kämpfen nun gemeinsam gegen bestechliche und erpresserische Beamte. „Unser Komitee ist die praktische Umsetzung des Kampfes auf Staatsseite gegen die Korruption“, sagt Titow mit Blick auf die Antikorruptionskam-

pagne von Präsident Dmitri Medwedjew. „Der korrupte Beamtenstand hält unsere gesamte Wirtschaft im Würgegriff“, ließ dieser am 31. März verlauten. Nach Titows Schätzungen werden jährlich etwa 70 000 Unternehmen Raider-Attacken ausgesetzt: „Bis zu zehn Prozent des Umsatzes werden für Schmiergelder an Beamte auf allen Ebenen aufgewendet. Eigentlich haben wir hier ein staatliches System der Schutzgelderpressung.“ Er schätzt, dass jeder zweite russische Häftling wegen eines Wirtschaftsdelikts hinter Gittern sitzt. Bei den momentan 814 200 Inhaftierten wären das etwa 400000 Menschen. „Viele dieser Strafverfahren basieren auf gefälschten Fakten, und kennzeichnend dafür ist, dass es in diesen Verfahren keinen wirklichen Schaden und keine Geschädigten gibt“, führt Jakowlewa aus. Präsident Medwedjew erklärte, dass durch den Druck auf die Unternehmer „das Geld aus der russischen Wirtschaft abwandert“ und die Menschen den Glauben an das Unternehmertum verlören. Titows Angaben zufolge würden 17 Prozent der Unternehmer das Land verlassen, 50 Prozent schließen eine Auswanderung nicht aus. Würde diese Statistik wahr werden, wäre dies das Aus für Russlands Mittelstand – und für die Modernisierung des Landes. Deshalb setzte der Präsident in der Staatsduma Gesetze durch, die Firmenbesitzern das Leben erleichtern sollen. „Unter Dmitri Medwedjew wurden viele sinnvolle Gesetze erlassen, allerdings gibt es Probleme bei der Umsetzung“, erklärt Jana Jakowlewa, „aber der gerichtliche Erfolg der Konowalows ist ein kleiner Fortschritt.“

Geschäftsklima Die Korruption ist für die Modernisierung des Landes das Problem Nummer eins

Seilschaften zwischen der Politik und der Wirtschaft schaden langfristig. Der Kreml zieht die Reissleine. Präsident Dmitri Medwedjew stellt ein Zehn-Punkte-Programm auf.

attraktiver für die Geschäftswelt gemacht haben, werden wir auch unser Hauptanliegen nicht in den Griff bekommen: für einen höheren Lebensstandard zu sorgen.“

Minister auf Vorstandsposten TAI ADELAJA RUSSIA PROFILE

Im letzten Monat stellte Präsident Dmitri Medwedjew in der Hauptstadt der russischen Stahlindustrie Magnitogorsk das vor, was einige die „Zehn InvestmentGebote“ nennen. Sie sollen Investoren endlich ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Medwedjew betonte, dass genau deren Skepsis das größte Hindernis für die Modernisierung des Landes sei. „Wir brauchen Technologie, wir brauchen Geld ... Und wir brauchen die Zuversicht und das Interesse in- und ausländischer Anleger“, betonte er. „Die Korruption hat die ganze Wirtschaft im Würgegriff“, fuhr er fort. „Bevor wir das Land nicht

Was sind nun die zehn Punkte? Der Präsident kündigte unter anderem an, zum 1. Juli alle Regierungsmitglieder aus den Vorständen staatseigener Unternehmen zu entlassen. Sein Vorgänger Wladimir Putin hatte als Maßnahme gegen die Allmacht der Oligarchen hohe Beamte als „Augen und Ohren“ der Regierung in die Gremien großer Staatskonzerne berufen. Präsident Medwedjew selbst war vor seiner Wahl Aufsichtsratsvorsitzender von Gazprom und hatte zugleich das Amt des Stellvertretenden Ministerpräsidenten inne. Der kluge Schachzug Putins verkehrte sich indes in sein Gegenteil: „Dieselben Regierungsmitglieder, die für staatliche Auflagen und Bestim-

mungen in bestimmten Branchen verantwortlich sind, sitzen im Vorstand konkurrierender Unternehmen. Das kann nicht sein“, erläuterte Medwedjew. Eine weitere praktische Maßnahme war seine Anweisung an das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung, rigide Vorschriften und unnötige Regelungen zu überdenken und aufzuheben, die der Wirtschaft Steine in den Weg legen könnten. Unbürokratisch soll es zugehen, wenn einer investieren möchte. Dafür sorgen zukünftig Investitionssonderbeauftragte in allen acht Regierungsbezirken Russlands. Sie sollen die Regionalregierungen überwachen und dafür sorgen, dass Unternehmer Lizenzen in spätestens drei Monaten bekommen. Daneben forderte der Präsident mehr Transparenz in Staatsunternehmen gegenüber Minderheitsaktionären. „Wenn ihnen Informationen vorenthalten werden, kann dies nur bedeuten, dass

DMITRI AZAROV_KOMMERSANT

Medwedjews Zehn Gebote zur Gesundung der Wirtschaft

Vizepremier Igor Setschin verließ als Erster Beamte einen Vorstand.

etwas verborgen wird“, sagte er. Außerdem bekräftigte er erneut die Absicht der Regierung, Staatsanteile an Schlüsselunternehmen zu privatisieren, und verpflichtete sich, im Laufe der kommenden drei Jahre einen Zeitplan dafür aufzustellen. Im Herbst wird von der staatlichen Außenhandelsbank Vneshekonombank ein russischer Fonds für Direktinvestitionen aufgelegt, um den Handlungsspielraum für

Anleger zu erhöhen. Anfangskapital: 1,34 Milliarden Euro, und es sollen noch deutlich mehr werden. An der Verwaltung des Fonds werde sich der Staat nur kurzfristig beteiligen und nach zwei Jahren aussteigen. Zur Entlastung des Mittelstandes sind geringere Arbeitgeberanteile für die Renten- und Krankenversicherung geplant. Dieser Beitrag erschien bei Russia Profile


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Wirtschaft

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Rohstoffe Sibirien blüht auf, weil sein großer Nachbar in die Region investiert

China schiebt im Fernen Osten an China hat einen enormen Bedarf an Rohstoffen. Im Fernen Osten der Russischen Föderation gibt es sie reichlich. Die ersten bilateralen Verträge sind unterschrieben.

ZAHLEN

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Menschen pro Quadratkilometer leben am anderen Ufer des Amurs, des Grenzflusses zwischen China und Russland.

RACHEL MORARJEE RUSSLAND HEUTE

Die andere Seite des Amur Die asiatischen Investoren haben vier chinesische Sonderwirtschaftszonen im russischen Fernost eingerichtet: den Amur, die Regionen Primorje und Chabarowsk sowie das Jüdische Autonome Gebiet – und drei Milliarden Dollar investiert. Aus Moskau fließt in diesem Jahr lediglich eine Milliarde Dollar. Doch das soll sich in Zukunft ändern. In den nächsten fünf Jahren will die Regierung ihr Budget auf 100 Milliarden Dollar aufstocken. China wird beim Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Häfen wichtigster Handelspartner sein. Das K&S Eisenerz-Projekt im Jüdischen Autonomen Gebiet von Birobidschan ist exemplarisch für die gut funktionierende russischchinesische Zusammenarbeit: Auf beiden Seiten der Grenze verläuft ein Eisenerzflöz mit Titanund Vanadiumgehalt. Chinas Erzminen sind dort mittlerweile erschöpft, doch seine Hüttenwerke sollen weiterlaufen. Nun treibt die in Hongkong notierte Gesellschaft IRC, eine Tochter des Bergbauunternehmens Petropavlovsk, den Bau von neuen Erzminen auf der russischen Seite voran. Die Kimkan-Mine, erste Phase des K&S-Projekts, fördert heute

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Mensch pro Quadratkilometer lebt in Russlands Fernem Osten, der vor allem aus unerschlossenen Wäldern und verschneiter Tundra besteht.

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Russlands Ferner Osten besitzt Tausende Quadratkilometer unerschlossenen Waldes und verschneiter Tundra, hat aber nur 6,7 Millionen Einwohner, das ist genau ein Mensch pro Quadratkilometer. Auf der anderen Seite des russisch-chinesischen Grenzflusses Amur, in der Provinz Heilongjiang, leben 84 Menschen pro Quadratkilometer. Doch bald schon könnte auch Sibirien stärker bevölkert sein, denn es ist reich an Bodenschätzen. Es gibt mächtige Eisenerzflöze, Seltene Erden, Gold und Kohle, alles Rohstoffe, die China für den Ausbau seiner rasch wachsenden Wirtschaft benötigt. „Wir wissen, dass Russland mit einem anderen Land kooperieren muss, um sich im Osten zu öffnen, und der natürliche Partner ist China, das über weit mehr finanzielle Ressourcen verfügt als Japan oder Südkorea“, sagt Boris Krasnojenow von der Investmentbank Renaissance Capital.

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Milliarden Tonnen Öl liegen Schätzungen zufolge noch unter der Erde der Region Krasnojarsk. Hinzu kommen 23,6 Trillionen Kubikmeter Gas.

Chinesische Minenarbeiter bei der Eröffnung eines russisch-chinesischen Bergwerks bei Chabarowsk

Doch zwischen Russland und China herrscht seit dem Grenzkrieg von 1969 ein unterschwelliges Misstrauen. Viele chinesisch finanzierten Projekte in der Grenzregion kommen deshalb nur schleppend in Gang. Eine Brücke von der Stadt Blagoweschtschensk über den Amur nach Heihe ist seit 2008 angedacht. Damals einigten sich die Länder über einen genauen Grenzverlauf. Trotzdem ist das Vorhaben noch weit von seiner Realisierung entfernt.

1,2 Millionen Tonnen Eisenerz für den russischen Markt. Von IRC geplant sind jährlich zehn Millionen Tonnen, sobald Birobidschan mit dem chinesischen Amur-Ufer verbunden ist. Die neue Brücke, an deren Realisierung sich die IRC beteiligen möchte, würde die Transportkosten von zwölf Dollar pro Tonne um die Hälfte senken. Pläne liegen bereits auf dem Tisch, mit dem Bau soll in den nächsten Monaten begonnen werden.

„Das überrascht kaum, wenn man bedenkt, was damals in Blagoweschtschensk los war. Russischen Veteranen sind in der Stadt Denkmäler gesetzt, die 1969 im chinesischen Artilleriefeuer ums Leben kamen“, sagt Charles Kernot, verantwortlich für Bergbau und Metalle bei den Londoner Evolution Securities. Seiner Meinung nach werde durch intensivere wirtschaftliche Zusammenarbeit eine solide menschliche Vertrauensbasis geschaffen.

Die Wirtschaftskrise von 2008 führte dazu, dass China die verschiedenen Möglichkeiten seiner Rohstoffversorgung von Eisen bis zu verkokbarer Kohle, die es bisher aus Australien und Brasilien importiert hatte, neu auslotete. Und Russland war die nächstliegende Wahl. Die Krise hatte auch die Russische Föderation im selben Jahr erreicht und machte umgekehrt russischen Unternehmen klar, dass sie auf ausländische Investitionen angewiesen sind.

Neue Wirtschaftspower hinter dem Ural

Das ändert nichts daran, dass die Region Krasnojarsk für Investoren zu den attraktivsten Russlands gehört. Hier werden 90 Prozent des russischen Erdgases gewonnen, 70 Prozent des Erdöls und der Kohle. Hier gibt es reiche Vorkommen an Buntmetallen und Seltenen Erden. Zudem grenzt Sibirien an China – einen der Antriebsmotoren der Weltwirtschaft.

Das Potenzial für einen Ausbau der Handelsbeziehungen mit den asiatischen Ländern ist jedoch bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Vom gesamten Export aus der Föderalen Region Sibirien, so schätzt Jermolaj Solschenizyn, Geschäftsführer von McKinsey Moskau, gehen lediglich 16,7 Prozent nach China und sechs Prozent nach Japan.

Führend ist die Region Krasnojarsk auch in der Holzgewinnung. Exportiert wurde fast ausschließlich Schnittholz zur Weiterverarbeitung im Ausland. Halbfabrikate höherer Verarbeitungsstufen wurden dagegen bislang nur vereinzelt produziert. Zum Ende des Winters haben das deutsche Unternehmen Homag und der russische Möbelhersteller Mekran angekündigt, diese Nische zu nutzen. Während des jüngsten Krasnojarsker Wirtschaftsforums vereinbarten sie die Lieferung deutscher Fertigungsanlagen für ein neues Mekran-Werk, das eines der größten und modernsten Unternehmen in Europa werden wird. Ungeachtet des großen industriellen Potenzials ist das Hauptproblem Sibiriens der Mangel an Arbeitskräften. Auf 700 000 neue Arbeitsplätze wird der Bedarf an zusätzlichem Personal in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen geschätzt.

KOMMUNIKATION WORLD. INFORMATION. COMMUNICATIONS.

WIRTSCHAFTSKONFERENZ 90 JAHRE RUSSISCH-DEUTSCHE WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN

REISEN INTERNATIONALES TOURISMUSFORUM

MOBILITÄT 4. DEUTSCH-RUSSISCHE MITTELSTANDSKONFERENZ

10. BIS 13. MAI, EXPO-CENTER MOSKAU

11. MAI, HUMBOLDT-CARRÉ, BERLIN

27. BIS 28. MAI, JAROSLAWL

31. MAI, MOSKAU

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

Digital, audiovisuell und mobil sind die Schlagworte der Messe, bei der Medien, Provider und Netzbetreiber über neue Informationstrends in Russland informieren werden.

In zwölf Zukunftsforen analysieren Experten die wichtigsten Wachstumsund Innovationsfelder und diskutieren über Finanzierungsmodelle und rechtliche Grundlagen.

Die tausendjährige Stadt hat sich innerhalb eines Jahrzehnts zu einem Tourismuszentrum entwickelt. Dieses Know-how will sie international teilen – auch mit ausländischen Investoren.

Die Konferenz informiert über die aktuelle Mittelstandspolitik in Russland und bietet eine Plattform für den Austausch zwischen deutschen und russischen Unternehmen.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› worldinfocomm.com

› wegweiser.de

› visitrussia-yar.ru/en

› ost-ausschuss.de

WIRTSCHAFTSKALENDER

Sibirien – das bedeutet unendliche Weite der Tundra, aber auch ein riesiges wirtschaftliches Potenzial. Tendenzen und Entwicklungen am Beispiel Krasnojarsk. WLADISLAW KUSMITSCHEW

Von Moskau nach Krasnojarsk, an der Grenze zwischen West- und Ostsibirien, fliegt man viereinhalb Stunden – ungefähr doppelt so lange wie von Moskau nach Berlin. In der Architektur der Stadt spiegeln sich verschiedene Epochen: Ziegelgebäude aus sowjetischer Zeit wechseln mit großen Wohnblocks und Einkaufszentren neueren Datums. In den Straßen des Stadtzentrums stehen noch einige Holzhäuser reicher Kaufleute aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Die meisten der Villen könnten einen frischen Anstrich gut vertragen; der letzte muss im Sozialismus abgeblättert sein.

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Satellitenbau: Reshetnev Satellite Systems bei Krasnojarsk


Wirtschaft

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Alkohol Das russische Nationalgetränk Wodka hat Konkurrenz aus dem Ausland bekommen

Besonders in der aufstrebenden Mittelschicht zeichnet sich ein starker Trend zu ausländischen Spirituosen ab. Schottischer Malt Whisky steht hoch im Kurs. ROLAND OLIPHANT THE MOSCOW TIMES

Fachhändler für Spirituosen meinen einen langsamen, aber merklichen Wandel in den Trinkgewohnheiten der Russen beobachten zu können: Der Trend geht weg vom traditionellen Wodka, serviert mit Hering, hin zum elegant genippten schottischen Whisky mit seinen rauchigen Aromen. „Der Import von Gin und Tequila ist sinkend, von Cognac gleichbleibend, nur die Importzahlen von Whisky steigen stetig an. Whisky war die einzige Spirituose, die auch während der Krise gut verkauft wurde, inzwischen macht er etwa zwei Drittel des Gesamtimports von Spirituosen aus“, erklärt Jerkin Tusmuchamedow, führender Sommelier und Russlands größter Whiskyfan. „Wer im Spirituosengeschäft tätig ist, weiß bereits seit geraumer Zeit, dass sich Whisky in Russland

schon immer gut verkaufen ließ“, meint Ludovic Ducrocq, ein altgedienter internationaler Botschafter für Grant’s Whisky, der Russland alle paar Jahre einen Besuch abstattet. „Ich stelle fest, dass Länder mit einer ausgeprägten Destil lationsgesch ichte gewöhnlich empfänglicher für schottischen Whisky sind, und auf Russland trifft dies in besonderem Maße zu“, teilt er der Redaktion von The Moscow Times per E-Mail mit.

Russland ist weltweit der größte Markt für Spirituosen Allerdings ist es noch ein langer Weg, bis die Vorherrschaft von Wodka tatsächlich infrage gestellt werden könnte. Die Russische Föderation verfügt über den größten Spirituosenmarkt der Welt – nach Angaben der Scotch Whisky Association in Edinburgh wurden im Jahr 2009 275 Millionen Kästen mit je neun Litern Spirituosen konsumiert. Nur 11,6 Millionen dieser Kästen oder 4,2 Prozent enthielten ausländische hochprozentige Getränke, 229 Millionen Kästen hingegen Wod ka aus hei m ischer Produktion.

Bei den Exporten aus Schottland belege Russland laut Scotch Whisky Association nach dem Verkaufswert nur Rang 32 – die Direktimporte für Whisky beliefen sich auf eine Summe von 19 Millionen Pfund (21 Millionen Euro). Der Gesamtanteil in der Russischen Föderation von Schottischem Whisky mache 0,5 Prozent aus. „In den vergangenen zehn Jahren ist der Umsatz von importierten Spirituosen um das 40-Fache gestiegen“, erklärt Wadim Dobris vom Russischen Zentrum für regionale und föderale Studien zum Alkoholmarkt. Dies stehe in engem Zusammenhang mit dem relativen Anstieg der Einkommen in d ie se r Zeit spa n ne u nd de r Herausbildung einer breiteren Mittelschicht. Dennoch können sich den hochwertigen schottischen Whisky nur wenige leisten. „Soll eine Spirituose ein echtes Volksgetränk sein, darf der Verkaufspreis keinesfalls über 200 Rubel (etwa fünf Euro) pro 0,7-Liter-Flasche liegen“, meint Dobris, „in russischen Geschäften werden Sie aber keinen noch so einfachen Whisky unter 350 Rubel finden.“

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Austausch Deutsch-russische Städtepartnerkonferenz

Kommunale Kooperation Schüleraustausch, Citymarketing, innovative Verwaltung – deutsche und russische Städte wollen in den nächsten Jahren enger kooperieren. ILJA LOKTJUSCHIN

Zwischen Franzosen und Deutschen sind sie seit dem Zweiten Weltkrieg zu einem Stützpfeiler guter Beziehungen geworden: die Städtepartnerschaften. Auch Gütersloh und Rschew, Landshut und Nowosibirsk und 90 weitere russische und deutsche Städte sind heute „Partner“. Die erste westdeutsch-russische Partnerschaft wurde in äußerst „kalten“ Jahren begründet: Leningrad (heute Sankt Petersburg) und Hamburg kooperieren seit 1957. Im April versammelten sich Vertreter aus 70 deutschen und 50 russischen Städten auf Einladung des DeutschRussischen Forums zur 11. Städtepartnerkonferenz. Bei einem Empfang im Schloss Bellevue bezeichnete Bundespräsident Christian Wulff die deutsch-russischen Städtepartnerschaften als ein „Geschenk der Versöhnung“. Gleichzeitig rief er dazu auf, den Städten u nd Gemeinden in beiden Ländern mehr Hand-

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Städtepartnerschaft zwischen Sotschi und Baden-Baden: W. Subkow, die Bürgermeister von Sotschi und BadenBaden A. Pachomow und W. Gerstner und C. Wulff

lungsspielraum zu geben. In Berlin wurden außerdem zwei neue Partnerschaften begründet: Düren und Mytischtschi sowie das Amt Zarrentin und Murino. Baden-Baden und Sotschi unterzeichneten eine Absichtserklärung. Auf der anschließenden Konferenz im mittelfränkischen Rothenburg diskutierten Entscheidungsträger aus Gemeinden und Kommunen und Vertreter von NGOs, Vereinen und Verbänden über „kommunale Impulse

für die Modernisierung von Gesellschaft, Kommunalverwaltung und Wirtschaft“. In den nächsten Jahren soll insbesondere der Austausch von russischen und deutschen Schülern ausgebaut werden. Ein wichtiger Impuls des Dialogs liege in der Zusammenarbeit von Verwaltung und NGOs, betonte Michael Rutz, Moderator der Plenardiskussion: „Wo diese Zusammenarbeit gut gelingt, sind die Städtepartnerschaften am erfolgreichsten.“

RUSLAN SUCHUSCHIN

Wirf die Whiskygläser an die Wand

Der russische Verbraucher entdeckt den Whisky.

„Mir ist es nie darum gegangen, die Leute unbedingt dazu anzuhalten, Grant’s Blended Scotch Whisky zu trinken und ihr Nationalgetränk Wodka nicht mehr anzurühren. Jede der beiden Spirituosen hat ihre Zeit und ihre besondere Gelegenheit“, erklärt Ludovic Ducrocq von Grant’s. Der russische Markt ähnelt heute in vielerlei Hinsicht denen in anderen Teilen der Welt. Der amerikanische Whisky ist auf dem

Rückzug, der traditionelle Scottish Malt Whisky steht hoch im Kurs. Den Single Malt Whisky aus einer einzigen Brennerei, dessen Getreidebasis ausschließlich aus gemälzter Gerste besteht, können sich die wenigsten leisten. Beliebt sind deshalb die Verschnitte mehrerer Whiskysorten. Die ungekürzte Version dieses Artikels erschien zuerst in The Moscow Times


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Das Thema

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FEIERTAG 9. MAI ZUM TAG DES SIEGES ROLLEN PANZER UND RAKETEN ÜBER DEN ROTEN PLATZ. HINTER DEN FEIERLICHKEITEN STECKT ABER WEITAUS MEHR ALS BLOSSE MACHTDEMONSTRATION

Der große Krieg trennte die Freunde Michail und Roland voneinander. Der eine landete im Arbeitslager, der andere wurde der bekannteste Dolmetscher des Landes. ALEXEJ KNELZ

„‚Und als ich die deutsche Sprache vernahm, da ward mir seltsam zumute; Ich meinte nicht anders, als ob das Herz recht angenehm verblute.‘ Kennen sie das?“, zitiert Michail Zwilling zur Begrüßung. Der 85-Jährige wirkt trotz seines Alters fast jugendlich. Sein Gesicht zeigt kaum Falten, die braune Hose und das beige Hemd sind akribisch gebügelt. Seine Wohnung in einem Plattenbau im Südwesten Moskaus gleicht einer Bibliothek. Hunderte deutscher und russischer Werke stehen hier beisammen: Dostojewski und Kleist, Goethe und Puschkin. Zwilling nimmt gemächlich Platz in seinem Sessel. Sein klar artikuliertes Deutsch klingt wie aus einer anderen Epoche: „Das ist Heine. Deutschland. Ein Winter-

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

RUSSLAND HEUTE

Der 9. Mai: Michail Zwilling am Poklonnaja-Berg in Moskau.

märchen“, sagt er ein wenig stolz – fast, als sei der Romantiker sein persönlicher Freund gewesen. In Russland ist der Lehrstuhlinhaber für Übersetzungstheorie an der Moskauer Linguistik-Universität eine Legende. Dutzende Standardwerke zur deutschen Sprache hat er verfasst, auf Staatsempfängen von Nikita Chruschtschow bis Wladimir Putin gedol-

metscht. Noch heute übersetzt er simultan und bringt es seinen Studenten bei. Deutsch ist seine Leidenschaft, ja fast schon seine Muttersprache. Zwillings Vater war Vertreter der sowjetischen Außenhandelsbank, der 1925 in Odessa geborene Michail verbrachte seine Kindheit im nichtkommunistischen Ausland, wo Vertreter des Sowjetstaates verhasst waren – besonders unter den exilierten Anhängern des Zaren. Um sich zu schützen, sprach die Familie auf der Straße Deutsch. Zurück in Moskau kommt Michail im Februar 1935 auf die deutschsprachige KarlLiebknecht-Schule. Seine Klassenkameraden sind Russlanddeutsche und Kinder einflussreicher Emigranten aus dem erstarkenden Nazideutschland. Hier lernt Michail seinen später besten Freund Roland kennen, einen Russlanddeutschen. Zusammen lesen, werken, fantasieren sie. „Wir haben alles geteilt, hatten sogar unseren eigenen Staat – Mursalien.“ Über die Macht- und Rollenverteilung konnten sich die Zehnjährigen indes nicht einigen.

GETTY IMAGES/FOTOBANK

DEN RISS IN DER GESCHICHTE KITTEN

„Tausende Menschen standen in den Straßen, dabei war es still, nur die Stiefel schlugen auf den Pflastersteinen auf.“ Also wurde es ein Tandem – „wie bei Medwedjew und Putin heute“, lacht Zwilling. Der 85-Jährige lehnt sich in seinem Sessel zurück, nimmt seine dickglasige Brille ab und putzt sie bedächtig. Er schöpft Kraft für den Rest seiner Geschichte. Als

am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen wird, ist er gerade 16. Bei Wjasma, wohin er und andere Schüler für den Bau von Befestigungsanlagen beordert sind, erlebt er seinen ersten Bombenangriff. Nach der Schule lässt er sich am militärischen Fremdspracheninstitut zum Militärdolmetscher ausbilden. Roland hat er aus den Augen verloren. Weil der und andere Hunderttausende Russlanddeutsche im August 1941 von Stalin deportiert werden. 440 000 kom me n i n A rb e it s l a ge r –

KOMMENTAR

Russland siegt nicht mehr allein Matthias Uhl HISTORIKER

A

m 9. Mai 1945 endete für die Sowjetunion der Kampf gege n de n deut sc he n Faschismus. Der Sieg war mit dem Tod von mehr als 27 Millionen Sowjetbürgern und ungeheuren Zerstörungen des Landes erkauft worden. Alljährlich feiert das Land den 9. Mai deshalb mit großem Propagandaaufwand als „Tag des Sieges“. Seit mehr als 65 Jahren dient der „Große Vaterländische Krieg“, wie er hier genannt wird, als konstituierende gemeinsame Erfolgsgeschichte von Staatsführung und Volk.

Die Russen „pilgern“ zu den zahlreichen Kriegsdenkmälern. Verwaltungsgebäude, Wohnhäuser und Geschäfte sind mit Fahnen und Plakaten geschmückt, die Helden und Waffen des Krieges darstellen. Im Fernsehen laufen Interviews mit Veteranen, Dokumentationen und Spielfilme. Fast jede Familie verlor im Krieg irgendeinen Angehörigen. Am 9. Mai steht dennoch nicht das Gedenken an die Toten im Mittelpunkt. Zwar legt man Blumen und Kränze nieder, stellt Ehrenwachen an Ewigen Flammen auf, den meisten Raum nehmen aber die im ganzen Land stattfi ndenden Militärparaden ein. Sie sollen demonstrieren, dass die Rote Armee

die Hauptlast des Krieges trug. Bei der Bevölkerung sind die Paraden beliebt, die Sympathie für die Soldaten ist auch ohne Propaganda ehrlich gemeint. Der 9. Mai ist der einzige wirklich gesamtrussische Feiertag: Über alle Nationalitäten- und Klassengrenzen hinweg gibt es an diesem Tag keine Meinungsverschiedenheiten. Nur die Erinnerung an den Sieg und die Opfer zählt. Selbst wer den Tag nutzt, um erstmals nach dem Winter auf seine Datsche zu fahren, erhebt am Abend das Glas ohne anzustoßen – so gedenkt man der Verstorbenen. Auf die Paraden folgen Volksfeste und Konzerte, die sich zuneh-

redaktion@russland-heute.de

mender Popularität erfreuen. Denn je mehr die Veteranen als Erlebnisgeneration verschwinden, desto weniger können sie das staatlich gelenkte Gedenken legitimieren. Marschierten die Kriegsteilnehmer im Jahr 2000 noch über den Roten Platz, fuhren sie 2005 bereits in Lastwagen an den Tribünen vorbei. 2010 saßen sie als Zuschauer auf den Rängen, ihre Rolle übernahmen Soldaten in historischen Uniformen. Ob es auf diese Weise gelingen wird, die Kriegserinnerung an die Urenkel-Generation zu übertragen, ist fraglich. Denn die Jugend kann mit der traditionellen Symbolik immer weniger anfangen. Deshalb tanzt sie am Abend des 9. Mai zur Rockmusik, die wenigen noch lebenden Veteranen bleiben im GorkiPark unter sich. Zugleich lässt das

seit mehr als 65 Jahren bestehende Bild des Sieges langsam differenzierende Wahrnehmungen zu. Als 2010 erstmals Soldaten aus den USA, England, Frankreich und Polen an der Parade teilnahmen, zeigte das der russischen Öffentlichkeit, dass der Sieg, anders als jahrzehntelang propagiert, nur gemeinsam erreicht werden konnte. Dass zugleich Präsident Medwedjew und Premier Putin die deutsche Kanzlerin in ihre Mitte nahmen, symbolisierte vor allem eines: Selbst am Tag des Sieges wird Deutschland nicht mehr als Feind und Aggressor wahrgenommen, sondern als zuverlässiger Partner und Freund. Dr. Matthias Uhl ist wissenschaf tlicher Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau.


Das Thema

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Deutsche und Russen puzzeln an der Versöhnung Honig und Holz. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs erblühten auch Malerei und Architektur: Kaufleute holten Baumeister und Maler aus Byzanz und vom Berg Athos und ließen Kirchen und Paläste errichten. Nowgorod,Weltkulturerbe seit 1992, ist Geburtsort der altrussischen Malerei – und die Mariä-Entschlafenskirche aus dem Jahr 1352 ist eines ihrer prächtigsten Beispiele. Seit Ende des 19. Jahrhunderts pilgerten Forscher auf der Suche nach den Wurzeln der russischen Kultur nach Nowgorod und dokumentierten jede einzelne der 195 Fresken. In den 30er-Jahren wurden diese sogar restauriert – im Frühjahr 1941 waren die Arbeiten beendet. Was folgt, ist bittere Geschichte.

Die Mariä-Entschlafenskirche in Nowgorod schmückten einst 195 Fresken. Im Krieg zerstört, werden sie nun in mühevoller Kleinstarbeit von russischen und deutschen Experten restauriert. MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

„Arbeitsarmeen“, wie sie die kommunistische Propaganda beschönigend nennt. Michail hat Glück. Wegen seiner exzellenten Deutschkenntnisse bleibt er als Dozent am Institut, erst im Februar 1945 kommt er an die Front nach Westpreußen und dolmetscht bei Verhören. Folter hat er dabei nie miterlebt, aber Brandschatzung durch die russischen Soldaten. Zwilling hält inne, faltet die Hände. „Sehr viele russische Soldaten hatten alles verloren, wofür sie gelebt haben. Solche Übergriffe wurden dann

IM BLICKPUNKT

ROBRT DIAMENT

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Sowjetunion mit militärischen Gütern aus England und den USA versorgt: Die beiden Seemächte schickten Konvois durch die Arktis, viele wurden von deutschen U-Booten attackiert und versenkt. 2010 versammelten sich zur Siegesparade am 9. Mai erstmals auch britische und amerikanische Marines am Roten Platz, die damals zur „schlimmsten Reise der Welt“, wie Winston Churchill die Konvoi-Route nannte, angetreten waren. Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de

von Goebbels propagandistisch bis in die letzte Faser ausgeschlachtet. Auch die Sowjetpropaganda nutzte jede Chance, die sie kriegen konnte. An eine Episode erinnert Michail Zwilling sich, als sei sie gestern geschehen: Am 17. Juli 1944 lässt der NKWD 57 000 deutsche Kriegsgefangene auf ihrem Weg ins Lager durch die Straßen Moskaus ziehen. Den Marsch, der eigentlich das nahe Kriegsende symbolisieren und Siegerstimmung verbreiten sollte, nehmen die Moskauer ganz anders wahr: „Tausende Menschen schauten zu, es war ganz still, nur die Stiefel schlugen auf den Pflastersteinen auf. Die Menge stand niedergeschlagen da, die Gefangenen zogen bedrückt vorbei. Von Siegerstimmung keine Spur. Vielmehr dachten beide Seiten das Gleiche: So weit hat dieser Krieg uns Menschen getrieben.“ Die zweite große Erinnerung ist das Kriegsende: Am 9. Mai 1945 lagen sich in Moskau wildfremde Menschen in den Armen, weinten, küssten sich. Jedes Jahr am 9. Mai zieht der Oberstleutnant nun seine Paradeuniform an und trifft sich mit den wenigen noch lebenden Kameraden am Poklonnaja-Berg am Stadtrand von Moskau. Den „Tag des Sieges“ feiert Zwilling genauso wie andere Russen nicht als Sieg über Deutschland – für ihn ist es ein Tag der Einheit, der Lebensfreude und der Hoffnung. Ein Tag, an dem er an die Versöhnung von Russen und Deutschen denken möchte.

Bis auf die Grundmauern von Granaten zerstört Im Juni überfällt Deutschland die Sowjetunion, schon im August erreicht die Wehrmacht Nowgorod und macht im Kampf gegen die Rote Armee die Stadt dem Erdboden gleich. Die Mariä-Entschlafenskirche, in der sich die Sowjets verschanzt haben, fällt im Granatenhagel bis auf die Grundmauern in sich zusammen. Notdürftig mit einem Schutzdach bedeckt, wurde sie erst 1993 aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt. „Wir wussten immer, was für ein Schatz Wolotowo ist“, sagt Anissimowa. Die engagierte Restauratorin beginnt zusammen mit Kollegen auf eigene Faust, Dutzende Kubikmeter Schutt abzutragen und zu filtern: hierhin die Granatsplitter, dorthin die Einzelteile der Fresken. Zwar verfügten sie über Fotografien und Zeichnungen der Wandgemälde, aber ihnen war klar, dass bei ihrer Arbeit große Lücken bleiben würden:Viele Teile waren nach der Zerstörung einfach zu Staub zerfallen. Die Kunstexperten hätten die Überreste wohl, wie sonst üblich, auf Titanplatten montiert und ins Mu-

Die Kirche in Wolotowo soll, ähnlich der Berliner Kaiser-WilhelmGedächtniskirche, ein Mahnmal werden. kirche wurden 1,75 Millionen Einzelteile, zehn passende findet Natascha pro Tag, „wenn es gut läuft“. Dann erhebt sie sich und geht zum Nachbartisch. Mit einem kurzborstigen Pinsel reinigt sie die Schnittstellen, trägt mit einem anderen Spezialklebstoff auf und drückt die Teile zusammen. Auf dem großen Tisch am Ende des Raumes liegt König Melchisedek und wartet auf seine Wiederherstellung. Und darauf, dass er in die MariäEntschlafensk irche auf dem Wolotower Feld zurückkehren kann, etwa 15 Kilometer außerhalb der Stadt Nowgorod gelegen, am Ufer des Flusses Maly Wolchowez. Tamara Anissimowa, 61 Jahre alt, öffnet die Kirchentür, drin ist es überraschend hell, obwohl das Sonnenlicht nur durch kleine Schlitze in den Raum dringt. Die Kirche ist das Lebenswerk der Nowgoroder Restauratorin Anissimowa. Schon 859 gegründet, entwickelte sich Nowgorod ab dem 12. Jahrhundert zu einer der reichsten Städte Russlands: Die Kaufleute handelten mit der Hanse, über das Meer kamen Gewürze, Tuch und sogar Pferde, auf dem Weg zurück nach Westeuropa luden die Schiffe Pelze,

RESS PHOTOXP

Wie die gesamte Infrastruktur saniert wird, was hinter der Bildungsreform steckt und was in der Wissenschaft passiert.

2004 wurde die Kirche wieder aufgebaut, 2007 kamen die deutschen Spezialisten nach Nowgorod, um eine erste Freske an ihren alten Platz im Innern zurückzubringen. Gemeinsam mit den Russen passten sie die bestehende Technologie auf die Bedingungen in Nowgorod an. Das Experiment gelang, die Technologie erlaubt es sogar, die Fresken in Bögen und im Kuppelgewölbe anzubringen. In der internationalen Fachwelt sorgte das Meisterstück von Wolotowo für einiges Aufsehen. Die Zerstörung der Fresken wird trotz der minutiösen Puzzlearbeit von Natascha und den anderen immer zu sehen sein. Doch es käme Anissimowa gar nicht in den Sinn, die fehlenden Stellen einfach „nachzumalen“. Denn die Kirche in Wolotowo soll, ähnlich wie der „hohle Zahn“, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, ein Mahnmal werden. Für den Krieg, für Zerstörungen, die zu übermalen bedeuten würde, sie zu verschweigen. Fährt Tamara Anissimowa heute mit ihrer Hand die Konturen einer Freske an der Kirchenwand entlang, weiß sie, dass sich das Wagnis gelohnt hat. „Wandmalerei“, sagt sie, „kann nur dort wirken, wo sie ursprünglich gemalt wurde“.

Natascha legt das Puzzle ihres Lebens – für die Versöhnung.

Thema der nächsten Ausgabe

MODERNISIERUNG

Das Unmögliche wagen

GULLIVER THEIS

Am Abend des 9. Mai wird das Fest traditionell mit Ehrensalven und Feuerwerken begangen.

Das hier könnte passen. Oben, unten, rechts. Nein. Natascha legt das Teil zurück auf das weiße Papier in der Holzkiste. Dutzende solcher Kisten stehen auf ihrem Tisch, Tausende Puzzleteile, manche so groß wie Geldmünzen, andere nur wenige Millimeter klein. Welches passt? In der mit Neonröhren beleuchteten Werkstatt im Zentrum von Nowgorod herrscht absolute Stille. Kein Radio plärrt im Hintergrund, niemand tönt am Handy, auch die zehn anderen Frauen arbeiten mit höchster Konzentration. Nataschas Augen suchen weiter, zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie das kleine Stückchen Stuck, mit einem blauen Pinselstrich bemalt vor 650 Jahren, vor 60 Jahren herausgerissen aus einem Bildnis Melchisedeks, König von Jerusalem, als deutsche Granaten auf Nowgorod und die umliegenden Dörfer hagelten und die älteste russische Stadt in eine Geröllwüste verwandelten. Aus den 195 Fresken der Mariä-Entschlafens-

seum geschafft – wären nicht ihre deutschen Kollegen dazugekommen. 2001 erklärte sich der Verein zur internationalen Verständigung bereit, die Restaurierung in Angriff zu nehmen. Der Verein, der sich vor allem durch Spenden der Wintershall GmbH finanziert, teilt sich seit 2009 die Kosten für die Restaurierung mit der russischen Gazprom Export. Er brachte deutsche Experten in das Projekt, die Unmögliches in Aussicht stellten: die Fresken wieder an den Kirchwänden anzubringen. „Es war schwer, die russischen Fachleute davon zu überzeugen“, sagt Anissimowa. „In Russland wurde das zum ersten Mal gewagt.“

Noch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper russland-heute.de/e-paper


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Gesellschaft

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Gesundheit Die Bürger blicken gespannt auf die jüngste Reform des russischen Gesundheitswesens

Modernisierung der Krankenhäuser und für eine bessere Bezahlung des medizinischen Personals. Eine bedenklich hohe Mortalitätsrate hat den Prozess beschleunigt. „Russland hat eine Geburtenrate, die typisch für Industrieländer ist, also niedrig. Dagegen ist die Kindersterblichkeit so hoch wie in einem Entwicklungsland,“ sagt Mascha Lipman, Analystin im Moskauer CarnegieZentrum. „Es gibt verschiedene Gründe für die hohe Sterblichkeit, und einer davon ist die geringe Qualität der medizinischen Versorgung.“

Russische Ärzte und ihre Patienten fragen sich, ob Reformen ihnen endlich zu der medizinischen Infrastruktur verhelfen, die ihnen laut Verfassung zusteht. GALINA MASTEROWA FÜR RUSSLAND HEUTE

Als Jewgenia Iwanowna kürzlich ins Krankenhaus kam, spürte ihre Tochter Soja intuitiv, dass sie der Krankenschwester ein inoffizielles „Honorar“ in die Hand drücken muss, obwohl es sich nicht um eine Privatklinik handelte. Sie gab ihr einen 500-Rubel-Schein, etwa 13 Euro. Soziologen sagen, der Punkt sei nicht die Höhe des „Honorars“, es gehe um die Bezahlung an sich. Auf dem Papier haben die Russen Anspruch auf eine kostenlose medizinischeVersorgung, festgelegt in der Verfassung von 1993. In Wirklichkeit besitzt Russland jedoch ein zweigeteiltes System aus privater medizinischerVersorgung mit einem weit hinterherhinkenden staatlichen Gesundheitsapparat. Jahrelange Sparmaßnahmen brachten das staatliche Gesundheitswesen in eine prekäre Lage mit dem Ergebnis: abgewirtschaftete Krankenhäuser und frustrierte, elend schlecht bezahlte Mitarbeiter, die nur von dem Geld unter der Hand leben können. Einer der großen Widersprüche in der russischen Gesellschaft besteht darin, dass einige der weltweit besten Ärzte und bedeutendsten Wissenschaftler aus einem Land kommen, in dem ein paar hundert Kilometer außerhalb Moskaus von den Patienten erwartet wird, dass sie Verbandsmaterial, Spritzen, Beutel mit steriler Kochsalzlösung und anderes für einen Krankenhausaufenthalt notwendiges Material selbst kaufen und mitbringen.

Medizinische Vorsorge Die düstersten Voraussagen von Demographen besagen, dass Russlands Bevölkerungszahl von 142 Millionen bis 2050 auf 100 Millionen sinken könnte. Doch kein Trend ist unumkehrbar: Russen, die mit einem längeren, gesünderen Leben rechnen können, tendieren vielleicht auch dazu, mehr Kinder zu haben. Die Regierung hat landesweit eine Reihe von Gesundheitszentren geplant, die auf Herz-Kreislaufund Krebserkrankungen spezialisiert sind. Die Reformen legen besonderen Wert auf Vorsorgemedizin und ein Weiterbildungsprogramm für Ärzte, ließ die Gesundheitsministerin Tatjana Golikowa verlauten. Das sowjetische System, das für jedermann kostenlos war, konzentrierte sich auf fachärztliche und stationäre Behandlung. Vorsorge spielte keine Rolle. Noch immer wird in Russland Krebs sehr häufig erst dann diagnostiziert, wenn die Krankheit sich bereits ausgebreitet hat und im letzten Stadium ist. Der hohen Kindersterblichkeit begegnet man mit neuen HightechKliniken für Perinatalmedizin. Der Einsatz von Neonatalchirurgie werde ausgeweitet und vermutlich alljährlich das Leben Tausender Kinder retten, so Golikowa. Im Moment jedoch hat die russische Bevölkerung nur ein geringes Vertrauen in ihr staatliches

Ein neues Verständnis in der Bevölkerung

Trend zur medizinischen Privatversicherung Das musste Soja am eigenen Leibe erfahren, als sie mit ihrer kranken Mutter das Krankenhaus betrat. „Sobald man über die Türschwelle tritt, muss man an jeden Geld abtreten, man bezahlt die Krankenschwestern, die Leute, die den Boden putzen, den Arzt, den Chirurgen und das Verbandsmaterial. Über die genaue Höhe der Gelder informiert man sich bei den anderen Patienten im Umkreis“, sagt Mascha Lipman und betont dabei die formlose Art des Vorgangs. „Natürlich sagt dir keiner ins Gesicht, dass du nur eine Blinddarmoperation zweiter Klasse kriegst, wenn du nicht zahlst.“ Im Rahmen der Reformen werden die Gehälter der Ärzte um bis zu 35 Prozent erhöht, doch da sie bereits auf einem extrem niedrigen Niveau sind, sei die Ärzteschaft nicht sonderlich beeindruckt, sagt Kirill Danischewski, unabhängiger Gesundheitsexperte. Dmitri Puschkar möchte nicht allein die

Trotz modernerer Ausstattung bleiben die Ärztegehälter niedrig.

finanzielle Lage für das marode Gesundheitssystem verantwortlich machen.Vielmehr handele sich es um ein moralisches Problem. „Es ist unmöglich, eine Reform in einem Monat oder nur einem Jahr durchzuführen, aber wir können damit anfangen umzudenken und gute von schlechten Ärzten zu unterscheiden“, so Dmitri Puschkar. „Die guten sollten wir mit aller Kraft unterstützen.“

ZITAT

Dmitri Puschkar

"

Ich kämpfe für meine Ausrüstung. Ich kämpfe dafür, dass die feuchten Wände in meinem Operationssaal isoliert werden. Ich muss für alles kämpfen! Die Gesellschaft müsste ein Signal senden."

FÜHRENDER UROLOGE UND CHIRURG

UMFRAGE

Medizinische Versorgung in Russland NUR 29 PROZENT DER RUSSEN GLAUBEN, DASS SIE IM KRANKHEITSFALL AUSREICHEND MEDIZINISCH VERSORGT WÄREN UND DIE KOSTEN TRAGEN KÖNNTEN.

Das besagt eine Untersuchung von Reuters/Ipsos aus dem Jahr 2010. 71 Prozent der Befragten bezweifelten, dass sie im Ernstfall ausreichende medizinische Hilfe bekommen würden. In der Umfrage belegte Russland den dritten Rang hinter Japan (85 Prozent) und Ungarn (83 Prozent). In Deutschland zweifeln laut Reuters/ Ipsos 45 Prozent an der Effektivität des Gesundheitswesens.

Finanzspritzen, Wettbewerb und Qualitätskontrolle

ANDREI KORSHUNOV_KOMMERSANT

In den Zeitungen häufen sich die Berichte über unhygienische Zustände in Krankenhäusern und medizinische Instrumente, die in Kochtöpfen sterilisiert werden. Dmitri Puschkar, 47, ist Russlands führender Urologe und ein Chirurg von Weltruf. Er könnte überall praktizieren, und es gibt vermutlich Tage, an denen er sich wünschte, irgendwo anders zu sein, nur nicht hier. „Sind Sie bereit, einen täglichen Kampf zu führen, um ein erstklassiger Arzt zu sein? Ich kämpfe für meine Ausrüstung. Ich kämpfe dafür, dass die feuchten Wände in meinem Operationssaal isoliert werden. Ich muss für alles kämpfen! Die Gesellschaft muss eine Botschaft senden,“ fügt Puschkar hinzu. „Was bedeutet es, Arzt zu sein? Eine Zivilgesellschaft muss artikulieren, was es bedeutet, einen guten Arzt vor sich zu haben.“ Die russische Regierung setzt auf großangelegte Reformen und hat über sieben Milliarden Euro für das marode Gesundheitswesen bereitgestellt, für die Ausstattung und

Gesundheitssystem, und nicht wenige entscheiden sich für eine private Absicherung. In der Tat erwartet der Versicherungssektor in den nächsten Jahren zweistellige Zuwachsraten. Inzwischen gehen diejenigen, die es sich leisten können, häufig ins Ausland, um dort eine bessere medizinische Behandlung zu erhalten. Israelische Krankenhäuser, die bezeichnenderweise viele Exilrussen beschäftigen, annoncieren mittlerweile in russischen Zeitungen. Manche Russen sagen, sie sparen Geld für drei Dinge: um ihre Söhne vom Militär fernzuhalten, für den Fall, dass ein Familienmitglied verhaftet wird, und um einen Arzt zu bezahlen. Diese Summen werden nicht als Bestechungsgeld angesehen, eher als inoffizielle Honorare für unterbezahlte Dienstleister. Das Problem jedoch bei diesen „Honoraren“ ist, dass sie ganz und gar ungeregelt sind.

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Neue Therapien für ein krankes System

Über 10 000 Operationssäle wurden komplett neu ausgestattet.

Die Refor m des r ussischen Gesundheitswesens begann im Jahr 2006 mit dem „Nationalprojekt Gesundheit“. Unter diesem Deckmantel flossen in den letzten fünf Jahren 780 Milliarden Rubel (fast 20 Milliarden Euro) in den Gesundheitssektor. Landesweit wurden 10 000 Krankenhäuser mit moderner Technik ausgestattet und 13 000 neue Krankenwagen gekauft. Bis 2013 sollen weitere 800 Milliarden Rubel in die medizinische Versorgung investiert werden: Premierminister Putin kündigte an, den Anteil der Staatsausgaben für das Gesundheitswesen hochzufahren: Heute fließen nur 3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die medizinische Versor-

gung, in naher Zukunft werden es fünf Prozent sein. Bedeutende Veränderungen brachte ein in diesem Jahr in Kraft getretenes Gesetz: Russische Patienten können nun erstmals das Krankenhaus, in dem sie behandelt werden wollen, frei wählen. Dadurch erhofft man sich einen verstärkten Wettbewerb unter den medizinischen Einrichtungen. Auch soll den großen qualitativen Unterschieden zwischen Kliniken in der Stadt und auf dem Land entgegengewirkt und von den Versicherungen Qualitätskontrollen durchgeführt werden. In den nächsten zwei Jahren darf sich das medizinische Personal auf Gehaltserhöhungen zwischen 30 und 35 Prozent freuen.


Reisen

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Anderes Russland Deutsche erzählen aus den russischen Regionen, wie es sich außerhalb der Hauptstadt lebt

99 Luftballons aus Woronesch Ewige Flamme und andere Veteranen-Denkmäler. Das KramskojMuseum oder die Galerie „Gesichter Woroneschs“ laden zur Kunstbetrachtung. Fast täglich gibt es Aufführungen im Opern- und Ballett-Theater, wo sich klassische Repertoirestücke wie „Schwanensee“ mit schrillen russischen Operetten und avantgardistischen Interpretationen von „Macbeth“ abwechseln. Auch lohnenswert: „Aschenputtel“ im russlandweit bekannten staatlichen Puppentheater Schut, zu Deutsch: „Narr“. Unlängst wurde hier der Weltpuppenspielertag gefeiert.

490 Kilometer südöstlich von Moskau liegt sie, die FastMillionenstadt. Neben authentischen Märkten und Frauenfußball hat sie vor allem eines zu bieten: Lebensfreude. HEIDI BEHA

Am Ufer des Woronesch legen sich die Bewohner der gleichnamigen Stadt gerne auf die faule Haut.

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sisch interpretierte Oktoberfestatmosphäre verspüren sollte. See und Stadt im Überblick bekommt man bei einem Spaziergang über die ehemalige Trambahnbrücke Sewerni Most, wo in der Ferne ein paar Fabrikschlote rauchen, Plattenbauten zu sehen sind und die Baumwipfel des Dynamo-Parks im Gegenlicht zu dunkelgrünen Schatten verschmelzen. Woronesch lädt zum Staunen ein: Man kann sich wundern über einen ganzen Hubwagen voll gestapelter Speckseiten, der herrenlos im Gang der Markthalle herumsteht. Oder über Fahr-

gäste, die im Bus schnell einmal mit gekonnten Handgriffen kaputte Türen reparieren. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt beinahe vollständig zerstört, dennoch säumen die zentrale Hauptstraße Prospekt Revoluzii keine Plattenbauten, sondern Häuser in ganz unterschiedlichen Baustilen. Von säulenverzierten Balkonen bröckelt bunter Putz, und man möchte den Verfall aufhalten. Für Kulturliebhaber hat Woronesch russische Standards zu bieten: Denkmäler für Lenin, den Dichter Sergej Jessenin, eine

Anreise

Unterkunft

Essen & Trinken

Direktflüge von München nach Woronesch bietet Polet Airlines an (www.polet.ru). Per Anschlussflug ist Woronesch über die Moskauer Flughäfen Vnukovo und Domodedovo erreichbar. Alternativ starten vom Moskauer PawelezkiBahnhof Nachtzüge mit Schlafwagen. Fahrtzeit: zehn Stunden.

Ein empfehlenswertes Hotel im Zentrum mit gehobenem Standard ist das Art-Hotel (www.arthotelv.com, DZ ca. 150 Euro). Für Rucksacktouristen empfiehlt sich das Hostel Aschur, nur fünfzehn Gehminuten vom Zentrum (www.star-hostel.ru/gostinica_ajur.html, 12 Euro).

Gute russische Küche bietet das Restaurant Puschkin im sogenannten Bügeleisenhaus (Puschkinstraße 1). Wer nicht ohne deutsches Bier, Brezeln und Weißwürste kann: Bierkeller de Bassus in der Plechanowskaja-Straße 22. Tortillas und Livebands gibt es im BARack o’Mama (Prospekt Revoluzii 35).

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Betritt man die Markthalle, reihen sich im Untergeschoss kleine Salatstände aneinander, an denen Vera, Julia und Lena um Kundschaft buhlen. Bei ihnen können sich die Kunden durch russische Salatsortimente probieren. Auch an den Käseständen darf man, wie die Kinder in deutschen Metzgereien, von dem Angebot naschen. Oft laden die Verkäuferinnen von selbst zur Verköstigung von Rosinen-Vanille-Quark, selbst gemachtem Ziegenkäse oder eingelegten Gurken. Wenn man nichts kauft, gibt es keine Misstöne, höchstens noch die Frage: „Woher kommen Sie?“ und „Kommen Sie wieder!“ Rund um die Markthalle sitzen Babuschkas auf Klappstühlen vor ihren Waren. Es sind Großmütterchen, denen man glaubt, dass

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Kommen Sie wieder!

sie den feilgebotenen Lauch oder die erdigen Karotten in ihrem eigenen Garten pflanzen und ernten. Hier kauft man Waren von Menschen, nicht von Marken. An einer anderen Ecke des Marktes werden Vollkornbrote und frische Brötchen angeboten, die es mit deutschen Backwaren aufnehmen könnten. Auch braut ein Woronescher Bierlokal nach deutschem Reinheitsgebot. Zu Songs wie „99 Luftballons“ oder dem „Kufsteinlied“ werden Weißwürste, süßer Senf und selbst geschlungene Brezeln serviert, falls man Lust auf rus-

ITAR-TASS

Woronesch, ein Millionendorf: 960 000 Menschen leben im Zentrum des Schwarzerdegebiets, der Kornkammer Russlands. In den letzten Jahren ist die Stadt rasant gewachsen und wirkt wie eine aus allen Nähten platzende, vitale Kleinstadt. Weder Tram noch Metro fahren hier, und im vollbesetzten Bus wandern Rubel-Scheine von hinten nach vorne und die Wechselmünzen wieder zurück. Wer nach Woronesch reist, bewegt sich jenseits der ausgetretenen Touristenpfade. Als „Woronescher Meer“ verklären Einheimische ihren Stausee, der die Stadt teilt. Vielleicht denken sie daran, dass Peter der Große eine Schiffswerft mit Zugang über den Fluss Don zum Asowschen Meer gründete. Der russische Zar lebte lange Zeit in Woronesch und baute hier seine Flotte aus. Am rechten Ufer des Stausees liegt das historische Zentrum der 425 Jahre alten Festungsstadt. Dort, nur ein paar Querstraßen von McDonald’s und Urbanität entfernt, bröckeln unbefestigte Steilstraßen den Hang hinunter, bunt gestrichene Häuschen sind nicht an die Kanalisation angeschlossen und Menschen grüßen freundlich die Spaziergänger, die an ihren Häusern vorübergehen. Links des Stausees, über den vier große Brücken führen, entwickeln viele mikrokosmische Viertel rund um Märkte, Kinos und Cafés ihr eigenes Leben. Die Woronescher trotzen Hitze, Kälte und Verkehrschaos: Die Straßen und Bürgersteige sind belebt, und auf dem Zentralny Rynok, dem zentralen Markt, wühlen sich die Menschen zu Stoßzeiten auch bei 20 Grad minus durch. Hier würde jede Tourismuswerbung Erlebnis-Shopping versprechen: Fische springen aus ihren Wannen förmlich in die Einkaufstaschen, an zahlreichen CDVerkaufsständen beschallen alte russische Schlager die authentische Szenerie.

AFP/EASTNEWS

EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Woronesch bietet viel Lokalkolorit: den historischen Petersplatz mit zahlreichen Brunnen, die neu erbaute Mariä-Verkündigungs-Kathedrale und jede Menge Biogemüse und Eingemachtes am Marktplatz.

Wer vermisst nicht von Zeit zu Zeit den beißenden Abgasgeruch eines alten Dieselschleppers? Bei durchschnittlich minus 20 Grad im Winter sitzen Angler wie Fliegen auf dem Stausee und behaupten noch Ende März, jedes Auto könne das Eis befahren, ohne einzubrechen. Sie freuen sich über interessierte Besucher und erzählen bereitwillig, wo gestern ein Kollege wieder eingesunken ist, wie man ihn „schnell, schnell“ aus den eisigen Fluten herausgezogen hat und sich dann einfach weiter ans Angeln setzte. Im Sommer kehrt sich das Kontinentalklima um, und es wird bis zu 40 Grad heiß, im September und Oktober wärmt die Sonne länger als in Deutschland. Verglichen mit sauberer Schwarzwaldluft stinkt Woronesch. Was in Deutschland weggefiltert wird, gibt es hier noch in Reinform. Aber wer vermisst nicht ab und zu den beißenden Abgasgeruch eines alten Dieselschleppers? Auch für die Ohren sind die russischen Ladas, Wolgas und Gazels ein Klangerlebnis der besonderen Art, wie man es in Westeuropa kaum noch genießen kann. Frischluft kann schnuppern, wer zum „9. Kilometer“ fährt, Stützpunkt für Langlaufloipen quer durch die Wälder. Das Leihen von Retroskiern kostet für zwei Stunden etwa zwei Euro fünfzig. Im Sommer verleiht man an derselb e n St e l le Fa h r r äde r u nd Inlineskates. Sportlich hat Woronesch noch mehr zu bieten: Es ist die Hochburg des Frauenfußballs – das Pendant zum FFC Frankfurt hat hier Heimrecht: FK Energija Woronesch. Viele Bewohner wissen nicht einmal, dass es sich um den erfolgreichsten Frauenfußballclub Russlands handelt. Überhaupt wirken die Menschen bescheiden, was die Identifikation mit ihrer Stadt angeht. Sie lieben sie nicht übermäßig, sind nicht stolz auf sie, sie nutzen sie ganz einfach. Daher mag Woronesch sauber gefegte Bürgersteige oder rußgefilterte Luft vielleicht vermissen, nicht aber die unmittelbare und überbrodelnde Vitalität, die einer Stadt erst ihren besonderen Charakter verleiht. Heidi Beha ist Lektorin der Rober t-Bosch- Stif tung in Woronesch.


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Meinung

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RAUS AUS DEM VORSTAND Sergej Gurijew, Alexander Zywinski WIRTSCHAFTSEXPERTEN

NIJAZ KARIM

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nlängst ging Präsident Dmitri Medwedjew gegen die Verfilzung von Wirtschaft und Politik vor und unterschrieb einen Präsidialerlass zur Verbesserung des Investitionsklimas, demgemäß Regierungsbeamte zum 1. Juli die Vorstandsposten in staatlichen Unternehmen räumen müssen. Der erste „entlassene“ Regierungsbeamte war Igor Setschin, Vor st a nd s vor sit ze nde r von Rosneft, Russlands größtem Mineralölkonzern und vermutlich der engste Vertraute von Ministerpräsident Wladimir Putin. Medwedjew will seit je die Bedingungen für in- und ausländische Investoren verbessern, jetzt zeigt er Taten und setzt Fristen. Und da einige dieser Maßnahmen mit Sicherheit auf den Widerstand mächtiger Interessengruppen stoßen werden, sind die Reformen ein wichtiger Test für sein Durchsetzungsvermögen und seine Pläne, für eine weitere Amtszeit als Präsident zu kandidieren. Selbst nur ein Teilerfolg würde Medwedjew erlauben, beim Wahlkampf auf die Themen Korruptionsbekämpfung und staatliche Transparenz zu setzen. Damit wird er vermutlich die aufstrebende Mittelschicht erreichen und einige „Protestwähler“. Das

schlechte Abschneiden der Regierungspartei Einiges Russland bei den jüngsten Regionalwahlen zeigt, dass die Wähler mit dem Status quo unzufrieden und zu einem Wechsel bereit sind. Der Erfolg von Alexej Nawalny, führender Blogger gegen Korruption, ist ein weiteres Alarmsignal für Medwedjew. Bemerkenswerterweise ähneln eine ganze Reihe der vom Präsidenten vorgeschlagenen Maßnahmen den Forderungen Nawalnys. Medwedjew hat ein einfaches und überzeugendes Argument: Transparenz fürchten nur jene, die

etwas zu verbergen haben. Das ist keineswegs eine abstrakte Behauptung. Nawalnys wiederholte Forderung nach Einsicht in die Protokolle von Vorstandssitzungen staatlicher Unternehmen stieß auf heftigen Widerstand. Die umstrittenste von Medwedjews Maßnahmen ist die Entlassung der Staatsbeamten aus den Vorständen, darunter einflussreiche Minister und mehrere Vizepremiers. Die Logik dahinter ist indes einfach: Ein Regierungsbeamter, der gleichzeitig einen Konzern oder eine Bank leitet, steht vor einem inhärenten Konflikt

EIN BAZILLUS DES HISTORISCHEN MASOCHISMUS Fjodor Lukjanow POLITOLOGE

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ines der tragischsten Bilder des Jahres 2010: das leichenblasse Gesicht Jaroslaw Kaczynskis, der ins russische Smolensk geeilt war, um seinen Bruder Lech zu identifizieren. Es muss furchtbar sein, so plötzlich den nächsten Menschen zu verlieren. Ist dieser obendrein der äußerlich kaum zu unterscheidende Zwillingsbruder, sieht man sich quasi selbst da liegen. Wie übersteht man etwas Derartiges? Man kann inneren Frieden und Demut im Gebet suchen. Oder man tut das genaue Gegenteil, indem man sich voll und ganz einer Sache verschreibt. Jener Sache beispielsweise, die der so tragisch verunglückte Bruder als seine Lebensaufgabe ansah. Der polnische Präsident Lech Kaczynski war am Tage seines Flugzeugabsturzes beileibe nicht auf dem Weg nach

Katyn, um eine Aussöhnung zwischen Polen und Russland herbeizuführen. Diese schwierige Materie hatten vielmehr drei Tage zuvor die pragmatischeren Premiers beider Länder, Wladimir Putin und Donald Tusk, anzugehen versucht. Lech Kaczynski hatte dagegen die Absicht, allen erneut ins Gedächtnis zu rufen, dass es für das Grauen von Katyn keine Verjährungsfrist gibt, dass die Wunde weiterbluten muss, dass man nicht vergessen darf, wer die Schuld trägt. Und wer sich hier schuldig gemacht hatte, das stand für ihn außer Zweifel: auf der einen Seite die zynischen Mörder des Stalinregimes und auf der anderen – die prinzipienlosen Konformisten. Mithin diejenigen, als deren moderne Verkörperung der Präsident die beiden Premiers ansah. Jaroslaw Kaczynski trat nicht von der politischen Bühne ab, obwohl die Präsidentschaftswahlen 2010 für ihn in eine Niederlage mündeten. Wahrscheinlich hätte auch

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de FÜR SÄMTLICHE IN DIESER BEILAGE VERÖFFENTLICHTEN KOMMENTARE, MEINUNGEN UND ZEICHNUNGEN SIND AUSSCHLIESSLICH IHRE AUTOREN VERANTWORTLICH. DIESE BEITRÄGE STELLEN NICHT DIE MEINUNG DER REDAKTEURE VON RUSSLAND HEUTE ODER VON ROSSIJSKAJA GASETA DAR.

Von der Vergangenheit zehren und immer wieder an den alten Wunden rühren, wenn es vorwärtsgehen soll. der eigentliche Kandidat – sein Zwillingsbruder Lech – diese Wahl verloren. Doch Jaroslaw Kaczynski machte aus der gemeinsamen Partei Prawo i Sprawiedliwosc (Recht und Gerechtigkeit) einen Gedenkverein für Lech. „Die Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ über den Tod des polnischen Präsidenten einzufordern, wurde zum Leitmotiv ihres Wirkens, ja zur beinahe einzigen programmatischen Zielsetzung. Jaroslaw Kaczynski und – von ihm aufgeklärt – auch manch anderer Parteimitstreiter und Tatsachenfanatiker, kennen die Wahrheit selbstredend schon: Lech ist

zwischen öffentlichem und unternehmenseigenem Interesse. Wie üblich kommt es bei solchen Initiativen auf die Umsetzung an. Zunächst einmal ist noch nicht klar, wer die Staatsbeamten auf dem Vorstandssessel ablösen soll. Kritiker behaupten, Medwedjew verfüge über kein geeignetes Team. Ob das zutrifft, werden die von ihm vorgeschlagenen Kandidaten zeigen. Zweitens ist unsicher, ob die neuen Vorstandsvorsitzenden ihre Unternehmen auch tatsächlich führen. Es wäre durchaus denkbar, dass sie das Management schlicht übergeht. Oder umgekehrt die Vorstände nach den Direktiven der Regierung agierten. Im letzteren Fall wären alle reformistischen Bestrebungen eine Farce. Die gute Nachricht ist jedoch laut Medwedjews wichtigstem Wirtschaftsberater Arkadi Dworkowitsch, dass auch die staatlichen Direktiven „reformiert“ werden sollen. Bestimmt erfahren wir noch vor dem 1. Juli, ob Medwedjew sein ehrgeiziges Programm umsetzen kann und in der Lage ist, weiteren Einfluss zu gewinnen. Sergej Gurijew ist Direktor der New Economic School in Moskau. Alexander Zywinski ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Yale Universität.

LESERBRIEFE Russland und die Stereotypen Die Russen sind ein in Unfreiheit geknechtetes Volk in einem repressiven Regime und saufen den ganzen Tag frustriert Wodka. Wenn Sie es aber zu etwas gebracht haben, dann durch kriminelle Energie und schlechtes Benehmen, was man ihnen auch immer sofort ansieht. Auf diese oder ähnliche Bilder wird Russland in der deutschen Presselandschaft oft reduziert. Danke für die doch etwas differenziertere Weitwinkelperspektive in dieser Beilage. Die Artikel wecken Neugier und machen Lust auf mehr. Weiter so. T. Dautner BAMBERG

Sehr aufschlussreich und faszinierend finde ich die „Entwicklungsanalyse“, die Ihr Blatt bietet. Hier wird eine ökonomische, kulturelle, soziale und politische Dynamik verschiedener Geschwindigkeiten erkennbar, die uns als Westeuropäer und insbesondere als Deutsche zwar nicht fremd ist, aber in seiner Pluralität immer wieder aufs Neue überrascht. Das Wissen um diese Entwicklungen ist wesentlich für eine, wie auch immer geartete, Partnerschaft mit Russland, denn die Kenntnis des Partners eröffnet die Chancen auf einen fruchtbaren Austausch. Es geht um die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft, und Russen und Deutsche können einen wichtigen Beitrag leisten, diese anzudenken.

Dieser Beitrag erschien in The Moscow Times

Heinrich Wassermann

nicht verunglückt, sondern in Russland ermordet worden, und die käuflichen Liberalen der Bürgerplattform Platforma Obywatelska decken seine Mörder. Mit diesem Schlachtruf ziehen die Konservativen in die Parlamentswahlen im Herbst. An überbordenden Emotionen dürfte es im Wahlkampf also kaum mangeln, umso mehr, als die polnische Gesellschaft, zumindest aber ihr medial präsenter Teil, dafür durchaus empfänglich ist. Die Beziehungen zwischen Russland und Polen bilden ein fest geschürztes Knäuel aus historischen Schuldzuweisungen, psychologischen Traumata und einer fast überspannten wechselseitigen kulturellen Anziehung. Ein Knäuel, das scheinbar niemand entwirren kann. Besonders, wenn die Tragödie von Katyn wie ein Menetekel eine zweite Katastrophe folgen lässt. Russland und Polen eint eine abstruse Fixierung auf die Vergangenheit, auch bei uns gibt es eine Vielzahl von Kaczynskis. Aufgrund der Spezifik des russischen politischen Systems haben sie sich einfach noch nicht zu einer Partei zusammengeschlossen, wobei es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis das „Versäumnis“

nachgeholt wird. Schon jetzt setzen sie alles daran, dass die Nation auf gar keinen Fall das Gefühl ihrer historischen Versehrtheit verliert – ein Gefühl, das diese Kräfte aus unerfindlichen Gründen „Nationalstolz“ nennen. Für die Brüder Kaczynski als eingefleischte Konservative ist die Vergangenheit zugleich die Zukunft, folglich muss man an den alten Wunden rühren, wenn es vorwärtsgehen soll. Ihre Gesinnungsgenossen in Russland ticken ähnlich, anders lässt sich das unaufhörliche Tränenvergießen um die UdSSR nicht erklären. Eine UdSSR, die es kein zweites Mal geben wird, was selbst diejenigen wissen, die den Verlust am lautesten beklagen. Die Diagnose für die russisch-polnischen Beziehungen ist seit Langem gestellt. Russland und Polen werden entweder gemeinsam gesunden oder sich auch in Zukunft endlos gegenseitig mit dem Bazillus des historischen Masochismus infizieren.

BERLIN

Fjod or Lukjanow i st C hefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs. Seit 1990 kommentiert er das außenpolitische Geschehen. Dieser Beitrag erschien zuerst in Russia in Global Affairs

LAYOUT; ANDREJ SAJZEW, BILDBEARBEITUNG; WSEWOLOD PULJA, CHEF VOM DIENST FÜR ONLINE; BARBARA MÜNCH-KIENAST, PROOFREADING DRUCK: SÜDDEUTSCHER VERLAG ZEITUNGSDRUCK GMBH, ZAMDORFERSTRASSE 40, 81677 MÜNCHEN; VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT: ALEXEJ KNELZ, SCHÜTZENWEG 9, 88045 FRIEDRICHSHAFEN COPYRIGHT © FGU „ROSSIJSKAJA GASETA“, 2011. ALLE RECHTE VORBEHALTEN HERAUSGEBER: JEWGENIJ ABOW; CHEFREDAKTEUR DEUTSCHE AUSGABE: ALEXEJ KNELZ AUFSICHTSRATSVORSITZENDER: ALEXANDER GORBENKO; GESCHÄFTSFÜHRER: GASTREDAKTEUR: MORITZ GATHMANN WEBREDAKTEUR: MAKAR BUTKOW PAWEL NEGOJZA; CHEFREDAKTEUR: WLADISLAW FRONIN ANZEIGEN: JULIA GOLIKOVA, GESAMTANZEIGENLEITERIN, +7 495 775-3114 ALLE IN „RUSSLAND HEUTE“ VERÖFFENTLICHTEN INHALTE SIND URHEBERRECHTLICH GESCHÜTZT. NACHDRUCK NUR MIT GENEHMIGUNG DER REDAKTION. PRODUKTION: MILLA DOMOGATSKAJA, PRODUKTIONSLEITUNG; ILJA OWTSCHARENKO, RUSSLAND HEUTE: DIE DEUTSCHE AUSGABE VON RUSSLAND HEUTE ERSCHEINT ALS BEILAGE IN DER SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. FÜR DEN INHALT IST AUSSCHLIESSLICH DIE REDAKTION DER TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU, VERANTWORTLICH. VERLAG: ROSSIJSKAJA GASETA, UL. PRAWDY 24 STR. 4, 125993 MOSKAU, RUSSISCHE FÖDERATION. TEL. +7 495 775-3114 FAX +7 495 988-9213 E-MAIL REDAKTION@ RUSSLAND-HEUTE.DE


Feuilleton

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Straßenkunst Eine russische Künstlergruppe will die Gesellschaft wachrütteln

NACHLESE

Geschlechtsreife Großstädterkunst

Lenas Opa erklärt Russland

Ein 60-Meter-Phallus und umgestürzte Polizei-Ladas: Die Künstlergruppe Wojna hält die russische Öffentlichkeit in Atem. Und erhielt jetzt einen staatlichen Preis. ANASTASIA GOROKHOVA

Es wird eine unruhige Sommernacht für die Petersburger Polizei am 82. Geburtstag des Revolutionärs Che Guevara. Neun junge Leute, schwarz gekleidet, maskiert und bewaffnet mit weißer Farbe, stürmen die LitejnyZugbrücke im Herzen Sankt Petersburgs. Jede Nacht wird sie bis zum Morgengrauen hochgezogen. Bis die zwei Brückenhälften senkrecht stehen, vergehen genau 40 Sekunden. Für ihr Action Painting brauchen die neun Künstler nur 23. Die Brückenwache versucht sie zu fassen, erwischt aber nur einen jungen Mann. Alle anderen rennen davon. Was bleibt, ist ein senkrecht stehender, 65 Meter hoher Phallus, der auf das Hauptquartier des FSB-Geheimdienstes zeigt.

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Wie viele Streifenwagen die Künstlergruppe bei dem „Palaststreich“ in jener Nacht auf den Kopf stellten, wurde nicht publik. Es ging nicht um Quantität, sondern um Qualität: Die Künstler wollten ein Exempel statuieren, zeigen, wie die Polizeireform angegangen werden sollte – radikal und kompromisslos. Die Aktion wurde Wojna zum Verhängnis. Die Polizei tat das, was viele schon für lange überfällig hielten: Sie erstattete Anzeige wegen Vandalismus und brachte Oleg und Leonid für vier Monate in Untersuchungshaft. Und hätte der bekannte britische StreetartKünstler Banksy nicht eine großzügige Spende überwiesen, säßen die beiden noch immer im Knast. Nun warten sie in Freiheit auf das kommende Gerichtsverfahren.

Offener Streit über Kunst

Philologe Alexej Pluzer-Sarno, ebenfalls Wojna-Mitglied. In letzter Zeit allerdings eher passiv: Nach der letzten Wojna-Aktion setzte er sich vorsorglich nach Estland ab. Die bisher folgenreichste Aktion richtete sich gegen die viel zu milde Polizeireform – ein Thema, das die russische Gesellschaft stark beschäftigt. Wojna hatte die

Diskussionen darüber in eine Performance auf dem Palastplatz in Sankt Petersburg umgesetzt. Nachts patrouillieren zahlreiche Polizeistreifen auf dem Platz, in den Seitengassen stehen die Streifenwagen. Der zweijährige Sohn von Oleg und Natalja ließ seinen Ball unter einen Wagen rollen, vier junge Männer kippten dann die Polizei-Ladas aufs Dach.

Banksys Begeisterung teilen in Russland allerdings nicht alle. Im Internet brach ein offener Streit aus, als sich vor wenigen Wochen ein Teil der Künstler-Community zusammenraufte und erwirkte, dass Wojna für einen staatlich dotierten Preis nominiert wurde. Der Künstler Andrej Erofeew, der als Kurator der Ausstellung „Achtung Religion!“ kürzlich selbst vor Gericht stand, ließ verlauten: „Das Riesengraffiti ist ein Protestsymbol, es verdient den Preis.“ Wojna selbst boykottierte die Preisverleihung: Die Prämie werde vom Kulturministerium vergeben – dem erklärten Feind der Künstlergang. Nach der Nominierung gerieten ihrerseits Vertreter des Ministeriums in Panik und verkündeten in einem offiziellen Schreiben, dass die Entscheidung nicht aus ihren Reihen stamme. Auch viele etablierte Künstler stellen sich quer. Der Maler Ilja Glasunow etwa mit seiner Galerie direkt am Kreml: „Geschlechtsorgane auf Brücken zu malen, das ist keine Kunst.“ Kunsthistoriker Joseph Backstein widerspricht: „Nicht alle Aktionen der Gruppe sind eindeutig. Viele sind sehr skandalös, und das ist für unser heutiges Russland eine Seltenheit, gibt aber der Gesellschaft wichtige Impulse.“ Genau das ist das Ziel von Wojna: „Wir wollen die Gesellschaft wachrütteln“, sagt Oleg Worotnikow. „Und einen Staat brauchen wir nicht, das ist eine veraltete Gesellschaftsform.“ Seine Frau Natalja wird noch konkreter: „Wir wollen das Putin-Regime stürzen.“ Mit ihren politischen Aussagen begreifen sich beide doch immer noch als Künstler. Aktivisten der kremlnahen Bewegung „Junges Russland“ sehen das anders. Die 20-jährigen Jugendlichen protestier ten vor dem Kulturministerium gegen die Preisverleihung. Wojna seien keine Künstler, sondern Extremisten. Wenigstens jemand, der sich sicher ist.

MUSEUMSFEST 66 JAHRE FRIEDEN IN EUROPA

BALLETT-SHOW ANASTASIA WOLOTSCHKOWA

THEATER DIE RUSSEN KOMMEN!

8. MAI, AB 12 UHR, BERLIN, DEUTSCHRUSSISCHES MUSEUM KARLSHORST

15. MAI, LEINFELDEN-ECHTERDINGEN, FILDERHALLE, WEITERE TERMINE

31. MAI, NÜRNBERG, STAATSTHEATER, WEITERE TERMINE

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

Am 8. Mai 1945 wurde in Karlshorst die deutsche Kapitulation unterschrieben. Das Museum begeht das Ereignis wie jedes Jahr mit Lesungen, Swing und Soljanka bis spät in die Nacht.

Mit dem Moskauer Bolschoi-Theater hat sich die Primaballerina zerstritten, jetzt macht sie ihr eigenes Ding. Und tourt mit einer explosiven Mischung aus Ballett, Tanz und Pop.

In der Sowjetunion als „Deutsche“ bezeichnet, wurden die Russlanddeutschen hierzulande zu den „Russen“. Das Stück beschäftigt sich mit der Geschichte dieser „doppelt Fremden“.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› museum-karlshorst.de

› friedmann-agentur.de

› staatstheater-nuernberg.de

Der Phallus auf der Brücke machte Wojna landesweit bekannt.

KULTURKALENDER

Der harte Kern: Oleg Worotnikow, Natalja Sokol, Leonid Nikolajew

PLUCER.LIVEJOURNAL.COM

Hinter der Aktion steckt die ArtGruppe Wojna – auf Russisch „Krieg“. „Der Pimmel in der FSBGefangenschaft“, wie sich das Kunstwerk nennt, macht landesweit Schlagzeilen. Wem ihre Aktionen „Gruppensex im Zoologischen Museum“ oder „Sturm des Weißen Hauses“ nicht aufgefallen waren – jetzt kam niemand mehr an ihnen vorbei. Über 60 Leute sollen der 2007 gegründeten Gruppe angehören, den Kern bilden drei: Philosoph Oleg Worotnikow, seine Frau Natalja Sokol, Physikerin, und Leonid Nikolajew, Spitzname „Ljonja der Durchgeknallte“, der in einer gar nicht fernen Vergangenheit Büroangestellter bei einem Heizkörperhersteller war. 48 Stunden verbringt er nach der Phallus-Aktion auf dem Polizeirevier, wird aber nur des Rowdytums bezichtigt und darf gehen. Abschrecken ließ er sich nicht: Kurz nach der Nacht- und Nebelaktion marschier te „der Durchgeknallte“ mit einem blauen Eimer auf dem Kopf vor dem Kreml über ein Fahrzeug des Geheimdienstes: Protest gegen die Blaulichter an den Dienstwagen von Regierungsbeamten, die sich auf Moskaus Straßen zu viel erlauben. „Wojna spiegelt lediglich die Meinung des Volkes wider“, sagt der

PHOTOXPRESS

Aktion „Palaststreich“

Nach der Aktion „Palaststreich“ platzte der Polizei der Kragen.

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E

s verwundert nicht, dass dieses Buch vergriffen ist: Im letzten Jahr gewann Lena Meyer-Landrut für Deutschland den Eurovision Song Contest, und plötzlich wollten viele wissen, woher die Sängerin ihre fröhlichunbekümmerte Art hat. Ab 10. Mai wird Lena versuchen, in Düsseldor f den Titel zu verteidigen, und ihr bekannter Großvater wird ihr dabei die Daumen drücken: Andreas MeyerLandrut, 81, ehemaliger deutscher Spitzendiplomat. Der im estnischen Reval (heute Tallinn) geborene Meyer-Landrut war insgesamt vier Jahrzehnte Diplomat für die Bundesrepublik, und den größten Teil seines beruflichen Lebens verbrachte er in Russland: 1957 kam er zum ersten Mal an die gerade eröffnete westdeutsche Botschaft in Moskau, von 1980-1983 und 1987-1989 war er dort Botschafter. 2003 schrieb Meyer-Landrut seine Erinnerungen auf. Darin kann man lesen, wie er neben Breschnew im Schwarzen Meer schwamm, wie er Franz-Josef Strauß vor einem Sturz auf dem Glatteis am Roten Platz bewahrte, und wie Kohl und Gorbatschow die deutsche Einheit verhandelten. Einen nicht geringen Teil des Buches nimmt auch die große Leidenschaft des Diplomaten ein: der Reitsport. Er berichtet von seinen häufigen Ausflügen in bekannte Gestüte im Süden Russlands, natürlich unter steter Bewachung des KGB. Etwas befremdlich ist der Ton, mit dem Meyer-Landrut am Anfang des Buches über die Sowjetrussen urteilt, die der Atheismus zu unhöflichen, unflätigen Menschen gemacht habe. Die Sichtweise des 28-jährigen Jungdiplomaten änderte sich allerdings über die Jahre: MeyerLandrut ist heute Ehrenvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, das sich um die Verständigung zwischen den beiden Völkern bemüht. Andreas Meyer-Landrut: Mit Gott und langen Unterhosen. Edition Q, 2003, 295 Seiten Moritz Gathmann

IN DER NÄCHSTEN AUSGABE LORI/LEGION MEDIA

Wie lebt sich’s in ... Tambow? Ein Deutscher vor Ort berichtet.


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Porträt

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Umweltschutz Mitten in Moskau leitet ein junger Russe seine Landsleute an, umweltbewusst zu handeln

Wie Roman lernte, Müll zu trennen Auf seiner grünen Visitenkarte stand Roman „Green“ und darunter: „Party-Mensch“. Das war vor zwei Jahren. Heute ist er einer der bekanntesten Umweltaktivisten Moskaus.

KURZVITA

Roman Sablin HERKUNFT: SIBIRIEN ALTER: 32

ANASTASIA GOROKHOVA

PROFIL: GRÜNER VORDENKER

RUSSLAND HEUTE

Das Ökoloft an der Pjatnizkaja Und dabei blieb es nicht. Alle Glühbirnen in der Wohnung mussten Energiesparlampen weichen. Eine für Russland außergewöhnliche Tat, die künstlerischen Weinflaschenfreunde staunten nicht schlecht. Wenig später standen Plastiktüten mit den Aufschriften „Papier“, „Plastik“ und „Kompost“ in der Küche. Roman trennte jetzt Müll. Die Initiative verlor allerdings ihren Sinn, weil alle Tüten in einen einzigen Container im Hof wanderten. Doch das sollte sich ändern. Roman zog aus und gründete das Ökoloft unweit des Kreml an der Pjatnizkaja-Straße in einem Alt-

Roman Sablin wird 1979 in der Siedlung Timer Tau, Kemerovo, in Westsibirien geboren. Sein Studium der Philologie und Literatur in der Stadt Nowosibirsk beendet er 2001 und geht nach Moskau.

IVAN AFANASIEV (2)

Grün, alles grün. Chucks, Jacke, Handy und auch das Moped – das war damals mein erster Eindruck von Roman Sablin. Beim WG-Casting begrüßte er mich im Flur der Wohnung, die wir gemeinsam mieten sollten, strahlte mich an und erdrückte mich fast mit einer Umarmung, und das, obwohl er mich das erste Mal in seinem Leben sah. Die Liebe zur grünen Farbe setzte nach der Scheidung von seiner Frau ein. Vielleicht, weil Grün die Farbe der Hoffnung ist, und das war es, was Roman Sablin in dem Moment brauchte. Als Philologe aus einem kleinen Dorf bei Nowosibirsk war er mit seinem gut dotierten Bürojob in einem Bauunternehmen ganz gut gestellt, aber so etwas konnte ihn nicht wirklich zufriedenstellen. Weltoffen und auf der Suche nach sich selbst flüchtete er nach Feierabend in die Welt der Partys und Diskotheken. Doch auch das reichte ihm bald nicht mehr. Roman wollte seine (Um-)Welt verändern und versuchte sich in der Kunst. Die eben gegründete Wohngemeinschaft taufte er „Art-WG“, in der sich seinesgleichen, mit Rotwein, Wodka und Zigaretten bewaffnet, über eine bessere Welt unterhielt. Nach einigen Monaten hatte sich eine solche Anzahl an leeren (vor allem grünen) Weinflaschen angesammelt, dass Roman anfing, sie zwischen die Doppelfensterrahmen zu schichten. Glascontainer gibt es in Russland nicht. Das ärgerte ihn. Es war der Zeitpunkt, an dem er anfing, über eine umweltbewusstere Existenz nachzudenken.

Dort arbeitet er bei dem Bauunternehmen TechnoNIKOL, wo er bis 2010 zum Leiter der PR-Abteilung aufsteigt. 2010 kündigt Sablin bei TechnoNIKOL und bezieht mit vier anderen ein Ökoloft (www.ecoloft.ru). Gleichzeitig gründet er die Agentur GreenUp, die Firmen bei der umweltbewussten Gestaltung ihrer Büroräume berät. Ebenfalls seit 2010 ist Sablin Projektkoordinator des Community-Portals www.ecowiki.ru. 2011 ruft er das Projekt „Ökohaus“ in der Nähe Moskaus ins Leben (www.ecohouse2011.ru).

Vom Moskauer Partymensch zum Missionar: Roman Sablin in seinem Öko-Loft unweit des Kreml

bau von 1901. Gemeinsam mit vier Freunden bezog er im Sommer 2010 die geräumige Fünf-ZimmerWohnung. Jahrzehntealte Tapetenschichten runter, Ökofarbe drauf, bunt und umweltbewusst – im Wohnzimmer ein alter russischer Ofen, darauf sowjetische Aufkleber. Daneben steht auf der Wand in großen Lettern die Internetseite des Ökolofts, und auf einem Tisch liegt Infomaterial für zahlreiche Besucher, die wissen wollen, wie man umweltbewusst leben kann in einer Stadt, in der es einem richtig schwer gemacht wird. Vor Eröffnung des Lofts rasierten sich alle Bewohner die Köpfe: kein Shampoo mehr, ergo weniger Wasserverbrauch. Im Flur wurden Stofftaschen aufgehängt – als Kampfansage gegen das allgegenwärtige Plastik. Die Mülltrennung nahmen die Bewohner proaktiv in Angriff: Sie eruierten, wo man in Moskau Plastik,

Kartons und leere Flaschen abgeben kann. Roman hatte seine Mission gefunden und blühte auf: Er ist jetzt gertenschlank, trägt einen Ziegenbart, dazu eine modische eckige Brille. Grün natürlich. Kein Alkohol, kein Fleisch, kein unnötiger Energieverbrauch, dafür ein riesiges Engagement und der Wunsch, die Denkweise von Moskaus Bürgern zu verändern.

Schule des gesunden Lebens Ein Bildungsprojekt nennt Roman Sablin sein Loft, es sei dazu da, jungen Menschen zu zeigen, dass Umweltschutz auch unter widrigen Umständen möglich ist. Jeden Donnerstagabend lädt die WG zur Ökoschule: Umweltexperten, Wissenschaftler, Aktivisten – sie alle finden früher oder später ihren Weg in das Wohnzimmer an der Pjatnizkaja und geben ihre Erfahrungen weiter. Mittlerweile ist der Raum zu klein ge-

worden: Mehr als 70 passen beim besten Willen nicht rein, dabei sind es über 100, die jeden Donnerstag kommen. Roman ist jetzt so etwas wie eine Berühmtheit. Alle russischen TVSender waren schon da, Zeitungen und Magazine ebenso. Es klingelt an der Haustür, fünf junge Leute treten ein. Sie kommen aus der Ukraine und Weißrussland und haben schon viel von der Ökokommune gehört. Nun wollen sie das Experiment mit eigenen Augen sehen. Zum tausendsten Mal zeigt Roman die Wohnung, die Stofftaschen, die Mülltonnen. Der Strohballen im Wohnzimmer ruft Begeisterung hervor, ebenso die Dusche im Flur und die bemalten Wände. Und ganz besonders Roman. Die fünf lauschen mit großen Augen, als er erzählt, dass er seinen gut bezahlten Job geschmissen hat, wie auch Anzug und Krawatte, und sich nun voll und

ganz der Umwelt widmet. Geld verdient er nebenher als Freiberufler, denn er braucht nicht mehr viel. Im Mai startet das neue Projekt: ein Ökohaus im Grünen. Ja, ein ganzes Haus, in einem Dorf unweit von Moskau, mit einem großen Garten, Solarenergie, vegetarischem Essen, Yoga und anderen Elementen des umweltbewussten Lebens. Zwölf junge und in verschiedenen Bereichen tätige Aktivisten werden dort gemeinsam wohnen. Bis zu 100 Menschen sollen in das Haus passen, für interessierte Besucher stünde die Tür immer offen. Eine Woche kann man dort leben und lernen, was Energieeffizienz bedeutet. Sponsoren sucht Roman noch, doch es sieht gut aus, meint er. Wie findet sein vierjähriger Sohn Ljona die neue Lebensweise des Vaters? „Er erklärt meiner Exfrau inzwischen ganz genau, wie man Müll trennt“, sagt Roman Sablin schmunzelnd.

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