2011_06_SZ_all

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Bloßgestellt

Verzaubert

Der Sex-Skandal um Strauss-Kahn ist der nächste Schlag für ein verunsichertes Europa, meint Fjodor Lukjanow

Eine junge Hamburgerin gehört zum festen Inventar der Partyszene in Sankt Petersburg. Ihre Clubs sind Kult.

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S. 12 PRESSEARCHIV

DMITRY DIVIN

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

MITTWOCH, 1. JUNI 2011

Kurs auf Spitzenforschung

CHEFREDAKTEUR

E

Die Zeitprojektionskammer in der Europäischen Organisation für Kernforschung liefert Daten über Spuren von erzeugten Teilchen. im CERN arbeiten deutsche und russische Wissenschaftler gemeinsam.

SEITEN 6 UND 7

RIA NOVOSTI

SEITEN 3 UND 4

Kulturen Deutschrussische Arbeitspraxis im Visier WIRTSCHAFT

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Tambow Die mit den Wölfen tanzen

ITAR-TASS

Die Zeichen stehen auf Alarm: Platz 43 in der PISA-Studie, keine russische Universität unter den 200 besten der Welt – und das in einem Land, das sich seiner Wissenschaftler und zahlreichen Nobelpreisträger rühmt. Damit die Hochschulen wieder verstärkt wettbewerbsfähig werden, hat die Russische Föderation sieben großzügig dotierte Eliteuniversitäten eingerichtet und entsprechend des Bologna-Prozesses Bachelor- und Masterabschlüsse eingeführt. Auch das Schulsystem, dessen letzte Reform über 80 Jahre zurückliegt, soll erneuert werden. Dass die Schüler zukünftig „Profilfächer“ nach eigenem Interesse wählen können, sorgte im Vorfeld für Proteste: Lehrer und Eltern sehen die aus Sowjetzeiten stammende breitgefächerte Allgemeinbildung in Gefahr.

nde Januar 2009 werden der Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastassija Baburowa auf offener Straße erschossen. Die Täter können entkommen. Zwei Jahre später legen die Ermittler erdrückende Beweise vor: Der Mörder und seine Komplizin, beide aus dem nationalistischem Lager, werden zu Höchststrafen verurteilt. Drei Jahre lang kämpfen die Einwohner Sankt Petersburgs gegen den Bau der prestigeträchtigen Gazprom-Zentrale mitten im historischen Stadtzentrum – bis die Stadtverwaltung nachgibt und das Projekt an den Stadtrand verlegt. Beide Meldungen, die im deutschen Rechtsstaat kaum Schlagzeilen verursacht hätten, haben in Russland Sensationspotenzial: Sie sind Erfolgsmeldungen einer keimenden Zivilgesellschaft, in der Bürger Initiative ergreifen und Interventionen von höherer Ebene nicht länger zu dulden bereit sind.

INHALT

Russland baut auf PISA und Bologna

Seit 2009 wird an den Schulen Religion und Ethik unterrichtet.

Geschichten zu Ende erzählt Alexej Knelz

CERN

Der verheerende Braindrain der 90er-Jahre, als Tausende russische Mathematiker, Chemiker und Physiker auf der Suche nach besseren Forschungsbedingungen das Land verließen, ist gestoppt. Ein Spitzenforscher wie Schores Alfjorow, der 2010 den Nobelpreis für Physik erhielt, wird wissenschaftlicher Leiter von Skolkowo. Mit dem russischen „Silicon Valley“ will man ein kreatives Forschungszentrum schaffen und den Weg für ein modernes Russland des 21. Jahrhunderts ebnen. Auf diesem Weg sucht das Land nach Modernisierungspartnern. Eine Sonderrolle nimmt Deutschland ein: Das „Deutsch-Russische Jahr der Bildung, Wissenschaft und Innovation“, das vor wenigen Wochen startete, soll Unternehmen und Forschungseinrichtungen in beiden Ländern noch stärker vernetzen. Schon heute suchen Russen und Deutsche am Baikalsee nach Neutrinos und bauen in Hamburg den modernsten Eisbrecher der Welt. Die Universität München erprobt mit Partnern aus Sankt Petersburg derweil eine zukunftsweisende Laserbehandlungsmethode für Krebserkrankungen.

POINTIERT

Mit ihrem Gesicht wirbt Tschulpan Chamatowa für Spenden.

REISEN

Prominenz gewinnt Bürger für Bedürftige „90 Prozent der Amerikaner geben regelmäßig einen gewissen Betrag an Bedürftige – für sie ist das wie Zähneputzen“, sagt Tschulpan Chamatowa, „davon kann man bei uns nur träumen.“ Verbittert ist die Schauspielerin und Begründerin der Kinderkrebsstiftung „Schenke Leben“ dennoch nicht. Denn das Interesse der Rus-

sen für Wohltätigkeit wächst von Jahr zu Jahr. Auch deshalb, weil Chamatowa und andere viel für das Image von Stiftungen getan haben, waren diese in den 90erJahren doch berüchtigt für kriminelle Machenschaften, unter anderem Geldwäsche. SEITE 8

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Bolschoi Neuer Glanz nach Jahren der Rekonstruktion

RUSLAN SUKHUSHIN

FEUILLETON

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Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Prozess Mit lächelnder Miene nahmen die Täter ihr Urteil entgegen

KOMMENTAR

Harte Urteile für Rechtsradikale

Ein Sieg des Rechts

Sie exekutierten am helllichten Tag zwei Menschen im Zentrum Moskaus. Die Täter kommen aus dem nationalistischen Untergrund, trotz erdrückender Beweise bestreiten sie ihre Schuld.

Ljudmila Alexejewa MENSCHENRECHTLERIN

D

e r Schu ld s pr uch de s Geschworenengerichts gegen die Mörder von Markelow und Baburowa hat exemplarischen Charakter. In Russland sind Verbrechen mit nationalistischem Hintergrund keine Seltenheit. Diese Morde stellen insofern eine Besonderheit dar, als die Tat auf einer slawophilen Ideologie gründete, die meisten Überfälle der Nationalisten dagegen rassistisch motiviert sind. Die Ermittler gingen professionell vor, und das Geschworenengericht schöpfte für die Mörder die ganze Strenge des Gesetzes aus. Doch darf man nicht vergessen: Dies war kein politischer, sondern ein ideologischer Mord. Die Täter waren Auftraggeber und Ausführende in einer Person. Die meisten Übergriffe gegenüber Menschenrechtlern und Journalisten in Russland sind hingegen Auftragsmorde, die auf hoher politischer Ebene initiiert wurden. Sobald in einer Strafsache jedoch hochrangige Hintermänner figurieren, gerät das Verfahren ins Stocken. Russlands Gesetze werden bislang nur auf die Bürger, nicht auf die Mächtigen angewendet. Den Vertretern der Macht wird dieser Prozess deshalb keine Lehre sein. Und doch hat sein Ausgang Positives bewirkt: Breite Schichten der Bevölkerung haben die Morde verurteilt, Bürgerrechtsorganisationen und Journalistenverbände entschieden protestiert. Eine solche aktive zivilgesellschaftliche Position zwingt auch die Hintermänner der Macht zu größerer Umsicht und Besonnenheit.

TINO KÜNZEL

Der Mord an der Journalistin Anastassija Baburowa und dem Anwalt Stanislaw Markelow rüttelte landesweit die Bürger auf. Sie gingen mit Antinationalistischen Parolen auf die Straße.

KOMMERSANT

Er ist 30, sie 25. Ein junges Paar, das Händchen hält und lächelt. Das tun Nikita Tichonow und Jewgenija Chassis auch am letzten Prozesstag im Moskauer Stadtgericht, an dem in einem der aufsehenerregendsten Mordfälle der letzten Zeit nach nur zwei Monaten das Urteil verlesen wird. Tichonow muss wegen zweifachen Mordes an dem Anwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastassija Baburowa lebenslänglich hinter Gitter, Chassis tritt wegen Beihilfe 18 Jahre Lagerhaft an. Für die Anklage sind sie Überzeugungstäter aus dem rechten Milieu, im Richterspruch heißt es, sie hätten aus Hass gehandelt, im Bewusstsein ihrer „eigenen Überlegenheit“. Tichonow und Chassis bestreiten jegliche Beteiligung an dem Verbrechen. Markelow und Baburowa waren am Nachmittag des 19. Januars 2009 im Moskauer Zentrum erschossen worden. Nach Ansicht der Ermittler hatte Chassis die Opfer ausgespäht, bis sie den Gehweg betraten, dann gab sie Tichonow das Zeichen. Der streckte Markelow mit zwei Schüssen in den Hinterkopf nieder. Baburowa, die den Schützen offenbar aufhalten wollte, wurde ins Gesicht getroffen und erlag ihren schweren Verletzungen. Stanislaw Markelow hatte wiederholt gegen einflussreiche Kreise in Russland prozessiert, unter anderem in der Teilrepublik Tschetschenien. Deshalb vermuteten die Medien und Menschenrechtsorganisationen einen Racheakt. Allerdings verfolgten die Behörden von Anfang an auch eine andere Spur: in den nationalistischen Untergrund. Denn 2006

AFP/EAST NEWS

RUSSLAND HEUTE

Die Mörder: Jewgenija Chassis, 25, und ihr Freund Nikita Tichonow, 30, zeigten auch nach dem Urteilsspruch keine Reue.

Schon im Untergrund, lebte Tichonow vom Waffenhandel und verfasste nationalistische Pamphlete.

hatte Markelow die Mutter eines ermordeten Antifaschisten vertreten. Auch Tichonow gehörte zu den Tatverdächtigen. Er war Herausgeber der Zeitschrift „Russische Form“, aus der sich später eine rechte Organisation entwi-

ckelte. Schon im Untergrund, lebte er vom illegalen Waffenhandel. Ein halbes Jahr lang observierte der Geheimdienst ihn und seine Lebensgefährtin Chassis. Im Oktober 2009 schlug er dann zu und verhaftete sie in ihrer gemeinsamen Wohnung, hier fand sich auch die Tatwaffe. Rechtsradikale aus der Szene belasteten Tichonow schwer, Zeugen erkannten in ihm den Täter w ieder. T ichonow gesta nd, behauptete jedoch später unter dem Einfluss seiner Anwälte, sein Geständnis sei erzwungen gewesen. Die Motive für die Tat sind in der Radikalisierung der rechten Szene zu suchen. Zuletzt forderten ihre Vordenker einen Strategiewechsel: „Die Zeit der Pogrome ist vorbei, wir müssen nun gezielt wichtige Ziele angreifen“, heißt es in einem Pamphlet, an dem Tichonow mitgearbeitet hat. Er hat seine Forderung in grausame Tat umgesetzt.

Ljudmila Alexejewa ist Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe und im Menschenrechtsrat von Präsident Medwedjew.

Bürgerinitiative Jahrelang demonstrierten Sankt Petersburger gegen den Bau des Gazprom-Wolkenkratzers

Der schicke Turm von Sankt Petersburg zieht um Raus aus der historischen Altstadt: Gazprom beugt sich Bürgerprotesten und baut sein gigantisches Hauptquartier in der Peripherie. DMITRIJ SINOTSCHKIN OGONJOK-MAGAZIN

Die Bürger wehren sich vor Gericht und auf der Straße Die Emotionen kochten vor allem deshalb hoch, weil der Turm mitten in die geschichtsträchtige Altstadt gepflanzt werden sollte. Die Sankt Petersburger waren seit jeher stolz auf ihr europäisch anmutendes Stadtzentrum. Die fünfstöckigen zierlichen Wohnhäuser

Das historische Stadtbild von Sankt Petersburg bleibt intakt.

aus dem 18. und 19. Jahrhundert waren sogar von der sowjetischen Megalomanie verschont geblieben. Und jetzt wollte ein staatliches Gasunternehmen durch seine Geltungssucht diese kulturelle Einheit zerstören. Proteste kamen nicht nur von den Bürgern: Die

ITAR-TASS

Mit seinen 396 Metern Höhe wäre der „Gazprom-Tower“ höchster Wolkenkratzer Europas geworden. Das geplante Verwaltungshochhaus des Staatsunternehmens spiegelte dessen beispiellose Erfolgsgeschichte in den vergangenen zehn Jahren. 2007 wurden die Baupläne für das Ochta-Zentrum offiziell bekannt gegeben – mit seinem Herzstück, dem Gazprom-Tower. Demnach sollte der sich wie eine Flamme in die Lüfte windende Turm aus

Glas und Beton schon 2012 bezugsfertig sein. Doch die Bewohner von Sankt Petersburg wehrten sich. Sie gingen auf die Straße, sammelten Zehntausende Unterschriften und zogen gegen das Bauvorhaben massenhaft vor Gericht. Der Sankt Petersburger Kultrocker Boris Grebenschikow kommentierte: als „habe der Teufel dort hingespuckt“.

UNESCO kündigte an, Sankt Petersburg auf eine „schwarze Liste“ des Weltkulturerbes zu setzen. Zuletzt fragte auch Präsident Dmitri Medwedjew öffentlich an, ob es nicht Alternativen gäbe. Die Proteste haben sich gelohnt: Im Dezember zog die Sankt Petersburger Gouverneurin Walentina Matwijenko die Notbremse. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat Gazprom daraufhin im März ein 14 Hektar großes neues Gelände etwas außerhalb erworben, hier soll nun bis zum Jahr 2017 die neue Firmenzentrale entstehen. Das bisherige Baugebiet, in das der Staatskonzern schon sieben Milliarden Rubel (175 Millionen Euro) investiert hat, will Gazprom wieder verkaufen.


Politik

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Schulreform Schüler dürfen sich nun ihre Fächer selbst aussuchen, kreative Exkursionen bereichern den Unterricht

Profilierung statt Allgemeinbildung mehr Chemie, Physik und Biologie einzeln belegen, sondern wählt den Komplexkurs „Naturwissenschaft“, der die drei Fächer integrativ vermittelt. Als Profilfach könnte er stattdessen beispielsweise Literatur und Kunstgeschichte wählen. Doch die Neuerungen, die das russische Schulsystem an europäische Modelle annähern sollen, lösten heftige Proteste in der Bevölkerung aus. Eltern und Lehrer befürchten, dass mit der Reform die zu Sowjetzeiten verbreitete klassische vielseitige Bildung zu Grabe getragen werde.

Die Leistung der russischen Schüler liegt unter dem PISADurchschnitt. Die Regierung will das degradierte Schulsystem reformieren. Und erntet dafür von Lehrern und Eltern Kritik. ALESJA LONSKAJA EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Zu alt und schlecht bezahlt Die Überalterung der Lehrer sowie die schlechten finanziellen Rahmenbedingungen gehören zu den Hauptursachen für die fortgesetzte Verschlechterung der schulischen Bildung im Land. Bildung ist Sache der Zentralregierung, das verbindliche Schulprogramm wird aber auf Föderationsebene beschlossen und in Kraft gesetzt. Die obersten Bildungsbeauftragten versuchen nun, in den staatlichen Schulen die Standards von Privatschulen einzuführen. Nach den erschreckenden Ergebnissen der PISA-Studie

Ende der klassischen Bildung? Irina Abankina hält dem entgegen: „Der Bildungsstandard der Oberstufe baut darauf auf, dass breite Kenntnisse in den Grundfächern vorhanden sind.“ Ein Problem, das die Reform nicht löst, ist der Fremdsprachenunterricht: In den staatlichen Schulen beginnt er (zumeist mit Englisch, seltener Deutsch) ab der dritten Klasse mit zwei Wochenstunden. Die Schüler pauken die Grammatik, sie lesen und übersetzen Texte aus dem Lehrbuch, mündliche Praxis hingegen gibt es kaum. Nur Schüler von Privatschulen lernen Fremdsprachen wirklich gut. Ein weiteres Problem ist der weiterhin autoritäre Charakter der Schule. Der einzige Unterschied zum sowjetischen Schulsystem besteht darin, dass seit dem Zusammenbruch der UdSSR Dissidenten-Literatur und alternative Ansichten zur jüngsten Geschichte des Landes diskutiert werden. Die Unterrichtsform aber hat sich nicht verändert: Die Lehrer tragen den Stoff frontal vor, die Schüler wiederholen das Gehörte, einem Lehrer zu widersprechen gilt als ungehörig. „Der Grad des Autoritären ist heute niedriger, aber ein partnerschaftliches Unterrichtsmodell, bei dem Lehrer und Schüler auf Augenhöhe miteinander sprechen, haben wir noch lange nicht. Zwar stellt der Lehrer keine unbedingte Autorität mehr dar und muss sich von Seiten der Schüler Grobheiten gefallen lassen, doch schafft er es nicht, Teamarbeit in der Klasse zu organisieren, damit beide Seiten wirkliches Interesse am Lernen haben. Da gibt es noch viel zu tun“, sagt Irina Abankina.

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„Die Affen gingen immer tiefer ins Wasser, entfernten sich immer weiter vom Ufer, schwammen und tauchten nach Nahrung. Aus ungeklärten Gründen kehrten einige zum Festland zurück. So entwickelten sie den aufrechten Gang. Andere gewöhnten sich an das Wasser, blieben im Meer und wurden zu Delfinen.“ Diese Version der Evolution, die in einem kürzlich erschienenen Lehrbuch für fünfte Klassen nachzulesen ist, brachte russische Eltern dazu, sich bei Präsident Dmitri Medwedjew über die Inkompetenz des Bildungsministeriums zu beschweren. Schützenh i l fe erh ielten sie von den Lehrern. „In letzter Zeit sind zweifelhafte Fächer eingeführt worden. Dieser Unsinn raubt uns Unterrichtsstunden für die Grunddisziplinen. Man braucht sich nicht zu wundern, dass die Qualität der Bildung permanent sinkt“, beanstandet der Russischlehrer Sergej Rajski aus Moskau. Rajski ist 41 Jahre alt und damit unter seinen Kollegen vergleichsweise jung. Das Durchschnittsalter eines Lehrers an russischen Schulen liegt bei 48 Jahren, jeder fünfte Pädagoge ist Rentner – und arbeitet trotzdem weiter. Wegen des niedrigen Gehalts von durchschnittlich 340 Euro monatlich haben Schulen mit pädagogischem Nachwuchs zu kämpfen.

Blumen statt Schultüte: Die Erstklässler folgen ihrer Lehrerin unter dem Beifall der Eltern.

Schulwesen

Umfrage

PISA-Werte 2009 Kompetenz

Laut Gesetz ist der Schulunterricht kostenlos, Lehrbücher eingeschlossen. Die Eltern bezahlen lediglich für das Essen und die Uniformen. Insgesamt gibt es 48 809 staatliche und 665 private Schulen. In Russland werden die Kinder mit sieben Jahren eingeschult, das Schuljahr dauert vom 1. September bis zum 31. Mai. Nach der neunten oder elften Klasse absolvieren sie das staatliche Einheitsexamen in Russisch, Mathematik und zwei Wahlfächern. Letzteres berechtigt zur Aufnahme eines Studiums.

Deutschland Russland

Leseverständnis

497

459

Mathematik

513

468

Naturwissenschaften

520

487

Russland rangiert im internationalen Vergleich auf Platz 43 (Deutschland: Platz 20). Die Divergenzen innerhalb des Bildungsniveaus werden mit 33 Prozent beziffert. Diese Streubreite reflektiert den Unterschied zwischen einem Gymnasium, das seine Schüler streng selektiert, und einer staatlichen Schule in einem Arbeiterviertel.

kündigte Dmitri Medwedjew im Februar 2010 eine Schulreform an. „Die Schüler werden gezielt in kleinere Forschungsaufgaben miteinbezogen, damit sie lernen, kreativ und selbstständig zu denken und eigene Entscheidungen fällen zu können“, erklärte er.

nicht mehr nur im Unterricht stattfinden: Zehn Stunden pro Woche werden d ie Schü ler zukünftig mit Exkursionen und A n schauu ng su nte r r icht a n diversen Kulturstätten des Landes verbringen. Zudem sollen die Gehälter der Lehrer noch in diesem Jahr um 30 Prozent steigen. „Die Schulen erhalten mehr Vollmachten, ihr Unterrichtsprogramm an den Wünschen der Schüler auszurichten“, konstatiert Irina Abankina, Direktorin des Instituts für Bildungsentwicklung an der Hochschule für Ökonomie in Moskau. Künftig können sich die Schüler

Kreatives Denken Die Hauptidee der Reform ist demnach die Individualisierung von Bildung. Mit Beginn des nächsten Schuljahrs wird die Reform bereits in der Gesamtstufe (erste bis neunte Klasse) greifen. Die Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten soll

ihren Unterricht aus sechs Fächern selbst zusammenstellen und sich dabei zwischen zwei Niveaustufen – „Basiswissen“ und „vertieftes Wissen“ – entscheiden. Mindestens vier der sechs Fächer müssen sogenannte „Profilfächer“ sein, in denen die Schüler am Ende der elften Klasse eine standardisierte Abschlussprüfung ablegen. Diese 2009 eingeführte Prüfung berechtigt ähnlich wie das Abitur die Absolventen zum Eintritt in die Hochschule. Zuvor hatte jede Universität in Russland eigene Aufnahmeprüfungen. Ein naturwissenschaftlich wenig begabter Schüler muss jetzt nicht

IM BLICKPUNKT

RIA NOVOSTI

Die Ruhestunde nach dem Mittagessen stammt aus Sowjetzeiten und wird auch heute an den meisten russischen Kindergärten praktiziert.

Wegen der Halbierung der Geburtenrate in den 1990er-Jahren wurden seit dem Ende der Sowjetunion landesweit Tausende Kindergärten geschlossen, über 600 allein in Moskau. Die meisten Gebäude wurden verkauft und einer anderen Nutzung zugeführt. Dank des Aufschwungs verbesserte sich die finanzielle Lage der Bevölkerung, und nach dem Jahr 2000 stieg die Geburtenrate wieder um ein Drittel. Jetzt fehlen für mehr als eine Million Kinder Kindergartenplätze. Wer Tochter oder Sohn unterbringen will, zahlt nicht selten „Spenden“ in Höhe von 1000 bis 2500 Euro. Zwei Drittel der Kinder besuchen einen der

45 300 staatlichen Kindergärten. Wie viele private Kindergärten existieren, lässt sich nicht genau beziffern, da die Rechtsformen der entsprechenden Einrichtungen sehr unterschiedlich sind. Sie reichen von „Familienkindergärten“, in denen Gruppen von Eltern auf nichtkommerzieller Basis die Betreuung ihrer Kinder selbst organisieren, bis hin zu Privatunternehmen, die seit Kurzem ohne staatliche Lizenz ihre Einrichtung eröffnen dürfen. In manchen Regionen erhalten Eltern, die ihr Kind nicht in einem Kindergarten unterbringen können, für ihre Erziehung zu Hause eine monatliche Kompensationszahlung.

ANTON KRAVTSOV

Mehr Geburten, weniger Kindergärten

Als ein Schuldirektor in Saratow grundlos entlassen wird, gehen seine Schüler auf die Straße. Wie die neue Schülergeneration durch wachsendes Selbstbewusstsein und Individualisierung die Behörden fordert. Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de


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Wirtschaft

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Hochschulen Die russischen Universitäten suchen nach Jahren des Niedergangs international Anschluss

Bologneser Rezepte für die Bildung

ALEXANDER KOLESNITSCHENKO EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Studenten aus der Russischen Föderation haben es nicht leicht. „Wenn ein Russe sich an einer deutschen Universität immatrikulieren will, muss er bereits zwei Semester in seiner Heimat studiert oder ein russisches Studienkolleg besucht haben“, erklärt die in Deutschland lebende Russin Julia Kolbrig. Russische Abiturienten haben praktisch keine Chance, sich direkt nach der Schule an einer ausländischen Universität einzuschreiben. Einen Vertrag zwischen Russland und der EU über die Anerkennung von Schulzeugnissen gibt es bislang nicht, die elfjährige russische Schulausbildung scheint nicht kompatibel mit der zwölfjährigen in Europa.

Russische Diplome werden im Ausland nicht anerkannt Junge russische Hochschulabsolventen, die im Ausland arbeiten möchten, sehen sich mit einem weiteren Problem konfrontiert: Auch die Abschlüsse an russischen Universitäten werden im Westen praktisch nicht anerkannt. Am schlechtesten sieht es in der Medizin aus, gut hingegen bei Diplomen im mathematischen und ingenieurstechnischen Bereich –

hier bilden viele russische Hochschulen erstklassige Absolventen mit einem breiten Profil aus. Im internationalen Vergleich schneiden russische Universitäten schlecht ab: Auf der Liste der 200 weltbesten Universitäten im Times Higher Education Index (THI) von 2010 findet sich keine ein zige aus der Russischen Föderation. Ein Grund ist ihre noch immer angespannte finanzielle Lage. Die Arbeit an Universitäten ist nicht sehr angesehen – ein promovierter Dozent verdient im Monat etwa 500 Euro, ein habilitierter Professor 800 Euro. Nur die allerbesten Studenten können mit einem Stipendium rechnen – 37 Euro im Monat.

Anpassung an Bologna Eine bedenkliche Folge des Niedergangs im Universitätswesen ist die Korruption. Viele russische Studenten beklagen, dass Bestechung in ihrem Ausbildungssystem ganz normal sei. „Es gibt sogar inoffizielle Preislisten, manchmal kaufen Studenten ihren Professoren wertvolle Geschenke und bestehen danach die Prüfung“, sagt Julia Genkina, die vom Smolny-Institut in Sankt Petersburg ans Bard College in New York wechselte. Um international wettbewerbsfähig zu werden, passen sich die russischen Universitäten an den Bologna-Prozess an, das heißt, die Studiengänge werden auf das in Europa übliche zweistufige System Bachelor und Master umge-

Vorlesung an der Moskauer Lomonossow-Uni: Statt mündlichen Prüfungen jagen Studenten bald nach Credits.

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Knappe Mittel, frustrierte Professoren und international nicht anerkannte Abschlüsse. Können Elite-Unis, Bachelor und Master frischen Wind in die russische Bildung bringen?

stellt. Hinzu kommen sieben neue „Eliteuniversitäten“, die jährlich mit 755 Millionen Euro subventioniert werden. In den meisten Fällen wurden dazu mehrere kleinere Universitäten zusammengelegt. Auf dieser Grundlage sollen konkurrenzfähige Forschungszentren entstehen. Zwei der Eliteuniversitäten, die Südliche Föderale Universität und die Sibirische Föderale Universität, wurden bereits 2006 genehmigt und öffneten ihre Tore im darauffolgenden Jahr mit einem Budget von je 75 Millionen Euro. Fünf weitere föderale Universitäten in anderen Regionen wurden 2009 genehmigt. Die Regierung hofft, damit vor allem die Naturwissenschaften auf ein internationales Niveau zu heben und die länderübergreifende Kooperation in Wissenschaft und Forschung zu fördern. Zurzeit erarbeiten die Universitäten Abkommen, in denen ein Verfah-

ZAHLEN

7 russische Eliteuniversitäten wurden in den vergangenen Jahren ausgewählt.

755 Millionen Euro stellt der Staat jährlich zu ihrer Finanzierung bereit.

1350 russische Hochschulen gibt es. Die Hälfte ist staatlich, die anderen privat.

ren zur gegenseitigen Akkreditierung festgelegt wird. Europäische Kommissionen sollen dann vor Ort die Qualität der Studienprogramme überprüfen. Aufgrund des hohen Budgets an den Eliteuniversitäten sind Bildungsexperten vorsichtig optimistisch, was deren Chancen im globalen Wettbewerb betrifft. Das sei ein positiver erster Schritt und spiegele den internationalen Trend zur Hierarchisierung von Bildung wider, sagt Igor Fedjukin, Leiter für empirische Forschungen an der Neuen Wirtschaftsschule Moskau. „Einige wenige Universitäten machen wir zu Vorzeigeinstitutionen, doch was passiert mit den anderen? Sie werden dem internationalen Wettbewerb kaum gewachsen sein.“ Alexander Kolesnitschenko schreibt für die Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta.

Kooperation Ein russisch-deutscher Studiengang bildet Fachkräfte für die Energiebranche aus

Gas geben in Leipzig und Moskau

Masterstudenten besuchen den Untergrundgasspeicher in Bernburg.

terstudiengang ins Leben gerufen, seitdem wird an der Universität Leipzig und an der Moskauer MGIMO Nachwuchs für die Energiebranche ausgebildet. Die Studenten lernen, wie weltweit Energiepolitik funktioniert und wie sich rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen unterscheiden. Der Fokus liegt auf Russland und Deutschland. Zu dem viersemestrigen Studiengang werden jährlich 30 Studenten zugelassen, Kostenpunkt: 2400 Euro pro Semester. Zur Hälfte stammen die Studenten aus Deutschland, zur anderen aus Russland. Rittershaus hat aber auch Kommilitonen aus Aserbai-

dschan und Lettland. Und wie unterhält man sich? „Die meisten sprechen Deutsch, und wir lernen alle Russisch“, erzählt die 23-Jährige. Die Lehrveranstaltungen dagegen finden auf Englisch statt. Auf die Absolventen warten gute Karrierechancen. Wenn Experten aus der Praxis Vorträge halten, entstehen erste Kontakte, dann folgen Praktika in Unternehmen wie EON, Gazprom oder Siemens. Hier schreiben auch die meisten ihre Diplomarbeit, weiß Philip Berthold, der kurz vor dem Abschluss steht. Einen Job hat er schon: Ab Mitte Juni arbeitet er bei einem Joint Venture von Wintershall und Gazprom in Berlin.

UNTERNEHMERREISE NACH CHABAROWSK UND JUSCHNO-SACHALIN

KONFERENZ MODERNER MASCHINENBAU, WISSENSCHAFT UND BILDUNG

FORUM SANKT PETERSBURG INTERNATIONAL ECONOMIC FORUM

MESSE MIOGE 2011. ÖL UND GAS

12. BIS 18. JUNI

14. BIS 15. JUNI, SANKT PETERSBURG

16. BIS 18. JUNI, SANKT PETERSBURG

21. BIS 24. JUNI, MOSKAU

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

Die Regionen gehören zu den wirtschaftlich stärksten im russischen Osten. Besonders Sachalin profitiert von den enormen Bodenschätzen.

Die Konferenz im Zuge des deutschrussischen Wissenschaftsjahrs verfolgt das Ziel, den Informationsaustausch zwischen Wissenschaftlern zu fördern.

Führende Politiker und Manager aus aller Welt diskutieren über Fragen der Energiesicherheit und die Wirtschaft der Zukunft.

Zum 11. Mal findet die internationale Fachmesse der Öl- und Gasindustrie mit führenden Vertretern und Zulieferern der Branche in Moskau statt.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› commit-group.com

› deutsch-russisches-wissenschaftsjahr.de

› forumspb.com

› mioge.com

Julia Rittershaus hat es gewagt: vier Semester, drei Sprachen, zwei Kulturen. Die Absolventin des Masterstudiums kann mit guten Berufsaussichten rechnen. MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

WIRTSCHAFTSKALENDER

ALEXEY GORBATOVSKIY

Noch ein paar Wochen in Moskau – dann geht es für Julia Rittershaus wieder zurück nach Leipzig und ins dritte Semester des Studiengangs „International Energy Economics and Business Administration“. 2007 wurde der Mas-


Wirtschaft

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Management Wie deutsche Manager mit der Mentalität ihrer russischen Mitarbeiter umzugehen lernen

Mit Teamgeist gegen Autokraten

SUSANNE SPAHN FÜR RUSSLAND HEUTE

Søren Kischkewitz ist verzweifelt: „Die einfachsten Managementgrundsätze sind nicht beherzigt. Liegt das an grundlegenden Kommunikationsproblemen, liegt es am schlechten Englisch? Ist es Dummheit, ist es Kalkül?“ Einer seiner leitenden Angestellten gebe keine Informationen weiter, mache dann aber die Mitarbeiter für ihre schlechte Arbeit verantwortlich, erzählt der Vierzigjährige. „Alles läuft nach dem Grundsatz: Ich bin der Chef und du der Dummkopf.“ Jegliche Eigeninitiative würde geradezu bestraft, die Angestellten seien gewohnt, alles vorgeschrieben zu bekommen.

Strenge, Härte, Kontrolle Kischkewitz leitet seit zwei Jahren die Russlandvertretung von Avantgarde Moskau. Am Anfang hatte er nicht wenige Probleme mit seinen 20 russischen Mitarbeitern. „Wenn du sie emotional nicht bekommst, dann nur mit Strenge, Härte, Kontrolle.“ Der Manager mochte diesen Stil nicht und wechselte fast die komplette Mannschaft aus. Jetzt funktioniert die Zusammenarbeit besser, und er ist dabei, eigenständige Teams zu bilden. Anfangs waren die neuen Angestellten verwundert über das sachliche und ruhige Auftreten des Mannes: „So einen Chef hatten wir noch nie, du schreist gar nicht!“ Russische Führungskräfte haben in der Bevölkerung einen schlech-

ten Ruf. Nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums bescheinigten ihnen nur sieben Prozent Professionalität und Kompetenz. Die Hälfte meinte, Profitgier und Bestechlichkeit seien typisch für russische Manager. „Der russische Führungsstil ist autokratisch. In einer einzelnen Person ist die gesamte Entscheidungskompetenz

Manche meinen, dass sie hier im gesetzlosen „Wilden Osten“ seien, auf dem Territorium von Barbaren. gebündelt. Und diese Person ist der Chef“, erklärt Konstantin Korotov, Professor an der European School of Management and Technology (ESMT) in Berlin. „Er hat immer recht und steht somit über den Regeln, die für andere gelten.“ Diese Allmacht werde von den russischen Mitarbeitern akzeptiert, wirke sich aber fatal auf die Arbeitsmoral aus. „Solche Angestellten werden ‚Büro-Plankton‘ genannt“, sagt Korotov. „Sie sind noch von der sowjetischen Mentalität geprägt. Nur wenn der Boss seinen Mund aufmacht, arbeiten sie.“ Jegliche Initiative werde ihrer Ansicht nach bestraft, denn die Konsequenzen für mögliche Fehler seien unbequem und unabsehbar.

KOMMERSANT

6000 deutsche Firmen sind in Russland registriert. Der Führungsstil ihrer Manager ist für russische Arbeitnehmer häufig gewöhnungsbedürftig – und umgekehrt.

In modernen Firmen ticken russische Manager europäisch: hier die Consulting-Firma Troika-Dialog

job.r u sieht ein Vier tel der Beschäftigten keinen Grund, sich zu beschweren. „Mein Chef ist ein wunderbarer Mensch“, „Mein jetziger Boss ist ideal“, waren die häufigsten Sätze. Nur sechs Prozent beklagten mangelnde Kompetenz im Management und kritisierten eine fehlende Achtung gegenüber Mitarbeitern. Kritik an Vorgesetzten wird aus karrieretechnischen Gründen lieber anonym geäußert – besonders, wenn die Vorgesetzten aus dem Ausland kommen. „Manche westlichen Führungskräfte benehmen sich seltsam, wenn sie in die Russische Föderation kommen“, sagt die russische Justiziarin eines deutschen Unternehmens aus der Automobilbranche. „Sie meinen, dass sie hier im gesetzlosen ‚Wilden Osten‘ seien, auf dem Territorium von Barba-

„Mein Boss ist ideal“ Inzwischen bezeichnen sich viele selbstironisch als „Büro-Plankton“. Im Gegensatz zu deutschen Arbeitnehmern legen sie mehr Geduld und Toleranz an den Tag, geht es um die Beurteilung ihrer Vorgesetzten. Nach einer Umfrage des russischen Portals Super-

ren.“ Die Beraterin hat mehrfach die Erfahrung gemacht, herablassend behandelt zu werden, weil sie Russin ist. „Du weißt nichts, du kannst nichts“, hieße es sofort, „das ist erniedrigend.“

Ungewohnter Freiraum Je höher der ausländische Manager in der Unternehmenshierarchie aufsteige, desto freundlicher und kontrollierter sei er, berichtet die Juristin. Die Erfahrung, dass sich der Führungsstil deutscher Manager von russischen unterscheide, hat auch Ulrich Marschner, Managing Director von Hochland, gemacht. Seit 2000 produziert seine Firma bei Moskau Schmelzkäse für den russischen Markt. „Wir überlassen unseren Mitarbeitern ein hohes Maß an Entscheidungskompetenz. Diesen Freiraum sind sie

nicht gewohnt“, sagt er. Marschner legt viel Wert darauf, den Angestellten seine Firmenphilosophie und flache Hierarchien zu vermitteln, und macht seinen 600 Mitarbeitern klar, dass sie aus Fehlern nur lernen können und daran wachsen. „Schon in der Schule lernt man in Russland, dass kleine Fehler schwere Konsequenzen nach sich ziehen“, erklärt Konstantin Korotov solche Verhaltensmuster und empfiehlt westlichen Vorgesetzten: „Ganz wichtig ist der persönliche Draht. Manager sollten ihre Mitarbeiter direkt ansprechen und zur Eigeninitiative ermuntern.“ Diese könnten dann mit ihrem neu gewonnenen Engagement den Kollegen beispielhaft vorangehen. „Die allerletzte Verantwortung muss aber immer beim Leader liegen.“

New Economy Der russische Google-Konkurrent Yandex ging in New York an die Börse

Frischer Wind für Russlands Suchmaschine Nummer eins Yandex, bekannt als „Russlands Google“, klärte Anleger über die Klippen des russischen Marktes auf. Diese haben sich trotzdem auf die Aktie gestürzt. BEN ARIS RUSSLAND HEUTE

PRESSEARCHIV

In seinem ellenlangen Prospekt scheute Yandex keine Mühe, Anleger vor den Gefahren zu warnen, die dem Suchmaschinenbetreiber durch taktierende Politiker und mächtige Oligarchen drohten. „Im Rampenlicht stehende Unternehmen wie unseres sind in Russland besonders anfällig für politisch motivierte A k t io n e n“, h e i ß t e s d o r t .

„Es findet sich alles“, lautet der Yandex-Slogan in Russland.

„Andere Interessensgruppen“ könnten die Meinung kolportieren, dass der Nachrichtendienst von Yandex „eine politische Haltung oder Agenda widerspiegelt, die uns politisch motivierten Maßnahmen aussetzen mag“. Das „Russlandrisiko“ ist ausländischen Investoren bekannt, dennoch erwirtschaftete die russische Suchmaschine bei seinem Börsengang am 23. Mai 1,3 Milliarden US-Dollar. Wie es heißt, dank Transparenz und hoher Marktanteile: Yandex belegt über 64 Prozent des Suchmaschinenmarktes in Russland, sein engster Konkurren z Google hält gerade 22 Prozent.

„Heuschreckentum“ und politische Absprachen dominieren das Geschäftsleben in Russland, doch Yandex hat sich durch seine rechtschaffenen Geschäftspraktiken auf einem Markt behauptet, auf dem ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit einem Unternehmen teuer zu stehen käme. Das Suchportal ist eine der führenden russischen New-EconomyFirmen, die sich auf die Sektoren mit hohem Volumen und niedrigen Margen konzentrieren. Das russische Internet verdoppelt sich alle 18 Monate, die Online-Werbeausgaben erhöhen sich jährlich um 40 Prozent. „Yandex sticht allein durch sein solides Geschäfts-

modell hervor“, meint der russische Internetpionier Alexej Ostrouchow. „Im Westen ist es in der Online-Sparte üblich, Universitätsabsolventen einzustellen und sie dann drei Jahre lang betrieblich auszubilden, bevor sie an kommerziellen Projekten arbeiten dürfen. Russlandweit betreibt Yandex als einziges Unternehmen diese Angestelltenpolitik. Damit besitzt es praktisch ein Monopol für Talente.“ Trotzdem hat das Russlandrisiko auch für Yandex teure Folgen: Für 2011 wird ein Kursgewinnverhältnis von 30-34 anbieten, während chinesische Portale wie Baidu (56) und Sina (69) wesentlich höher dabei sind.


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WISSENSCHAFT FORSCHUNG IN DEN 90ERN BLOCKIERTE BRAINDRAIN DIE RUSSISCHE FORSCHUNG. HEUTE KOOPERIEREN RUSSISCHE UND DEUTSCHE WISSENSCHAFTLER BEI ZAHLREICHEN PROJEKTEN

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Zar Peter der Große war der Erste, der ausländische Gelehrte in sein Reich brachte, darunter die Schweizer Daniel Bernoulli und Leonhard Euler und der Stuttgarter Georg Bilfinger. Mit ihnen gründete er die Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, wissenschaftliche Errungenschaften dieser Zusammenarbeit waren das Periodensystem von Dmitri Mendelejew, die Physiologie des Reflexes von Iwan Pawlow oder die Raketentheorie eines Konstantin Ziolkowski. Nach dem Zweiten Weltkrieg offenbarte sich das enorme Potenzial russischer Forschung beim Wettlauf um die Eroberung des Weltraums, bei der ersten gesteuerten Kernfusion und im Wettbewerb um die leistungsfähigsten Computer.

Braindrain in den 90ern Die gravierenden Umbrüche der Neunzigerjahre trafen in Russland auch Bildung und Wissenschaft: Rund 5000 Forschungsinstitute mit mehr als drei Millionen A ngestellten sow ie d ie Hochschulen mit fast fünf Millionen Studenten standen vor dem Kollaps. Die Forschungsinstitute blieben ohne Aufträge, Kooperationen verloren über Nacht ihre Partner und Bedeutung, das Budget der industriellen Forschung sowie der akademischen Wissenschaft sank um das 20-Fache. Von 1,5 Millionen russischen Wissenschaftlern emigrierten rund 300 000 in die USA und nach Europa, 400 000 mussten ihren Beruf wechseln, um zu überleben. 20 Jahre später hat sich das Blatt gewendet: Russische Wissenschaftler kehren in die Heimat zurück. Die Forschung erfährt zunehmend staatliche Förderung durch die Regierung, Gewinne aus Gas- und Ölexporten fließen vorrangig in den Bildungssektor und

Die Forschung erfährt zunehmend staatliche Förderung durch die Gewinne aus Gas- und Ölexporten. gen unter anderem vor, die anwendungsorientierte Forschung der Fraunhofer-Gesellschaft auf Russland zu übertragen. Beim Aufbau des Innovationszentrums Skolkowo, in das die russische Regierung über drei Milliarden Euro investieren will, werden auch deutsche Unternehmen und For-

schungsinstitute stark eingebunden sein. Das jüngste deutsch-russische Projekt ist das eben gestartete „Deutsch-Russische Jahr der Bildung, Wissenschaft und Innovation 2011/2012“. Es soll die Ergebnisse der bestehenden Kooperationen innerhalb der Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen ins öffentliche Bewusstsein bringen. Spitzenforschung soll weiterhin gestärkt werden, und Unternehmen können durch den beschleunigten Transfer von Forschungsergebn issen i h re P rodu k te zügiger zur Marktreife bringen. Die Kooperation hat sich schon jetzt in der physikalischen Grundlagenforschung, Energie- und Umwelttechnik und Medizin ausgezahlt. Deutsche und Russen entwickelten gemeinsam Großgeräte für die Grundlagenforschung im Bereich der Elementarteilchen, die schon zu DDR-Zeiten über das Vereinigte Institut für Kernforschung Dubna auf den Weg gebracht wurden. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Elektronen-Synchrotron Hamburg wurde der Freie-Elektronen-Laser im harten Röntgenbereich ent-

Seit drei Jahren kooperiert das Laser- und Immunologie-Forschungs-Zentrum (LIFE) des Klinikums der Ludwig-MaximiliansUniversität München mit der Sankt Petersburger MetschnikowAkademie. Gemeinsam wird nach den Möglichkeiten der medizinischen Laseranwendung geforscht, insbesondere der Photodynamischen Therapie. „Sie bietet die Chance, Krebswucherungen sehr effektiv zu behandeln, weil sie ohne chirurgischen Eingriff und ohne belastende Strahlung auskommt“, erklärt Ronald Sroka vom LIFE-Zentrum enthusiastisch. Obwohl diese Methode die Krebstherapie revolutionieren

wickelt, mit dem Darmstädter Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung eine Beschleunigeranlage für die Hadronen- und Kernphysik.

Revolutionäre Krebstherapie Voraussichtlich im nächsten Jahr wird in Hamburg mit der „Aurora Borealis“ der modernste Forschungseisbrecher der Welt vom Stapel laufen. Die wissenschaftlichen Vorbereitungen leitet derzeit das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung gemeinsam mit dem Konsortium ERICON (European Polar Research Icebreaker Consortium), dem auch Russland angehört.

Innovationszentrum Skolkowo – der Traum vom Silicon Valley Das Innovationszentrum Skolkowo, 2009 ins Leben gerufen, ist das Aushängeschild der russischen Modernisierungsagenda. In dem kleinen Moskauer Vorort entsteht ein Forschungs- und InnovationsCluster nach dem Beispiel des amerikanischen Silicon Valley. Ziel des Projekts: Erstmals ein kreatives Areal zu schaffen, wo sich Wissenschaftler und Forscher aus aller Welt uneingeschränkt austauschen können. Geforscht wird rund um Energieeffizienz, IT, Kommunikation, Biomedizin und Kerntechnik. Mit zu den ersten Partnern gehörte Siemens.

Russische innovation

PHOTOXPRESS

REINHARD LÖSER

die Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur. Deutschland als europäischer Wachstumsmotor ist Modernisierungspartner Nummer eins der Russischen Föderation. Eckhard Cordes, neuer Vorstand des Ost-Ausschusses, plädiert für eine weitere Intensivierung der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit in den Kernbereichen der russischen Wirtschaft: Energie, Automobilindustrie, Lebensmittel und Landwirtschaft. Die Deutschen schla-

Frau trinkt sich fit - dank Kefir.

Probiotika Kaum ein Fitnessprodukt kommt heute ohne den Zusatz „probiotisch“ aus. Den therapeutischen Nutzen und die positiven Effekte von Milchsäurebakterien untersuchte nach der Jahrhundertwende erstmals der russische Nobelpreisträger und Bakteriologe Ilja Metschnikow.

ITAR-TASS

Beschleunigter Forschungstransfer, gemeinsam konstruierte Hightecheisbrecher und Behandlungsmethoden bei Krebs – die deutsch-russische Forschung trägt Früchte.

RIA NOVOSTI

FORSCHEN MIT VEREINTEN KRÄFTEN

redaktion@russland-heute.de


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Auf Neutrino-Jagd in den Tiefen des Baikals Russische Forscher wollen die Geheimnisse der Dunklen Materie im Zentrum unserer Galaxie lüften. Ausgangspunkt ist der Baikalsee im Herzen Sibiriens.

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ANTON KUTUSOW

Vor fünfzig Jahren flog Juri Gagarin zum ersten Mal ins All, nun ist man dabei, nach den genaueren Zusammenhängen im Weltall zu fragen. Dazu werden im Baikalsee, dem größten Süßwasserreservoir der Welt, neue optische Module getestet. In sechs Jahren soll ein Superteleskop in Betrieb genommen werden, das ein schwarzes Loch im Zentrum unserer Galaxie untersucht. Die Module können Neutrinos wahrnehmen – Elementarteilchen, die durch Kernreaktionen entstehen und einzigartige Informationen transportieren. Zwar ist deren Existenz seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt, doch ein Neutrino „einzufangen“, gelang erstmals Ende der 80er-Jahre. Unabhängig davon hatte der russische Physiker und Nobelpreisträger Pawel Tscherenkow festgestellt, dass die Teilchen beim Durchdringen von Wasser- oder Eisschichten ein schwaches hellblaues Leuchten abgeben, nach

Ob Krebstherapie, Haarentfernung oder BluRay – die Lasertechnik ist nicht mehr wegzudenken: Im Labor für Lasermesstechnik des Instituts für Bildverarbeitung in Samara experimentiert man an 3D-Messverfahren.

physik zu vereinen, deutsche Mittelständler zur industriellen Anwendung zu animieren und gleichzeitig in beiden Ländern die medizinische Grundlagenforschung weiterzuentwickeln. Die Münchner wissen, wie mühsam es ist, an Forschungsgelder zu kommen, und sind überrascht, wenn sich auf russischer Seite Pforten auftun, aus denen der Rubel nur so rollt – zweifellos ein Resultat der neuerlichen Förderung von Wissenschaft und innovativer Technik.

Gemeinsam zur Marktreife So droht, was in anderen Innovationssektoren passierte: Die nationale Wissenschaft fördert revolutionäre Ergebnisse zutage, aber die einheimische Industrie kann das enorme Potenzial nicht ausschöpfen. MP3-Player, Flüssigkristalle oder Lithiumionenbatterien sind leidvolle Beispiele deutscher Innovationen, die im Land nicht umgesetzt wurden. Eine länderübergreifende Kooperation scheint da nur sinnvoll: russische Biochemie mit deutscher Laser-

Innovation ist die Triebfeder der Wirtschaft – doch auf welchem Weg kommt man eigentlich zu neuen Ideen und Innovationen, fragten sich russische Wissenschaftler um Genrich Altschuller im Jahr 1946. Und entwickelten das System TRIZ, ein Akronym, das im Deutschen etwa

„Theorie des erfinderischen Problemlösens“ heißt. Bis in die 90erJahre hinein galt TRIZ als rein sowjetisch-russische Methode, dann emigrierten viele der Schüler von Altschuller in die USA und versilberten das Wissen samt Datenbanken. Firmen wie Invention Machine in Boston oder Ideation International in Southfield/Michigan boten die Methode nun als „Made in USA“ feil und fuhren im Consulting von Ford bis Samsung kommerzielle Erfolge ein. TRIZ entpuppte sich nicht nur in den USA als marktwirtschaftlicher Schlager. In den letzten zehn Jahren nutzten deutsche Unternehmen wie Volkswagen und Daimler im Verbund mit Computer Aided Innovation (CAI) die TRIZ-Methode für leistungsfähige Softwaretools. Diese sollen in der Frühphase einer Modellentwicklung Innovationsprozesse in Gang setzen.

Module im Baikalsee installiert. Auch das Forschungszentrum Deutsches Elektronen-Synchrotron (DESY) ist an dem Neutrinoteleskop NT-200 beteiligt.

Eine riesige Perlenkette Äußerlich erinnert das NT-200 an ein Fischernetz. An Trossen sind die optischen Module in Druckglaskugeln aufgehängt – das Ganze ähnelt einer riesigen Perlenkette. Im Innern der Kugeln befi nden sich Fotoelemente, die das Leuchten der Neutrinos festhalten sollen und die Informationen an das Forschungszentrum am Ufer übermitteln. Die ersten Module konnten allerdings nur jene Neutrinos wahrnehmen, die innerhalb der Erdatmosphäre entstanden sind. „Das perfektionierte Superteleskop wird hundertmal größer sein als das alte“, erklärt Alexander Awrorin, Entwickler des NT-200. Mit 250 000 neuen optischen Modulen wird das Netz eine Fläche von einem Quadratkilometer abdecken. Die Wissenschaftler sind zuversichtlich, dass sie damit auch Neutrinos aus entlegeneren

IN SUKHUSH RUSLAN

Wie man in der Metropole feiert, welche Clubs man erleben sollte und warum die Zeit der glamourösen Mädels vorbei ist.

IM BLICKPUNKT

Laser, Halbleiter und Graphen 23 Nobelpreisträger zählt Russland in seiner Geschichte. Die höchste Auszeichnung wurde vor allem für Leistungen in den Naturwissenschaften vergeben. 2000 erhielt Schores Alfjorow den Nobelpreis für Physik. Er forschte im Bereich der Halbleiterlaser. Scanner in Registrierkassen, CDSpieler oder Laserdrucker beruhen auf den von ihm entdeckten Prinzipien.

Alfjorow wurde im letzten Jahr zum Leiter des russischen Innovationszentrums Skolkowo berufen. Die Entdeckung des Wundermaterials Graphen war der Akademie in Stockholm 2010 der Physik-Nobelpreis wert, den sich Andre Geim und Konstantin Nowoselow teilten. Die beiden in Russland geborenen Wissenschaftler forschen an der Universität von Manchester.

Holz im Tank? In Russland wird gerade eine neue Technologie zur Biodieselgewinnung aus Holzabfällen entwickelt. Rohstoffe gäbe es genug: In Russland existieren rund 40 Zellulosefabriken, die zusammen jeden Monat etwa 30 000 Tonnen Ligninschlamm produzieren. Deutschland und Österreich haben bereits Interesse an dem umweltfreundlicheren Holzsprit geäußert.

Physik-Nobelpreisträger Andre Geim und Konstantin Nowoselow

Thema der nächsten Ausgabe

PARTY IN MOSKAU

Winkeln des Alls aufspüren können. Weltweit existieren mit ANTARES im Mittelmeer und AMANDA in der Antarktis noch zwei weitere Neutr i noteleskope. NT-200 sei jedoch weitaus billiger, erklärt Awrorin. Denn der Baikalsee ist zur Hälfte des Jahres zugefroren, sodass die Module problemlos von einer Plattform auf dem Eis installiert werden können. Zudem hat sich vom Standort Baikalsee der Blickwinkel aufs All als äußerst günstig erwiesen. Das sibirische Superteleskop schaut in den Mittelpunkt unserer Galaxie, direkt auf ein großes schwarzes Loch. Aus diesem können Neutrinos zur Erde fliegen, die bei Kernreaktionen innerhalb der „Dunklen Materie“ entstanden sind. Dies ist der Stoff, aus dem der Großteil unseres Weltalls besteht, dessen Existenz jedoch nur in der Theorie bewiesen ist. Sollte es den Wissenschaftlern gelingen, ein solches Teilchen „einzufangen“, wäre das einer der größten Durchbrüche in der Physik des 21. Jahrhunderts.

AP

TRIZ-Methode

dem Forscher auch TscherenkowLicht genannt. Deshalb gingen die Russen Mitte der 90er-Jahre auf Tauchstation: In einer Tiefe von einem Kilometer wurden optische

Reinhard Löser, Physiker und Volkswirt, ist freier Journalist und Autor.

PRESSEARCHIV

Der Herr der Innovationen Genrich Altschuller

Das sibirische Superteleskop schaut in den Mittelpunkt unserer Galaxie, direkt auf ein großes schwarzes Loch.

Ein Wunder der Naturwissenschaft: das optische Teleskop-Modul

BIODIESELMACH

könnte, lässt der Durchbruch noch auf sich warten, vor allem aufgrund der hohen Kosten.

PRESSEARCHIV

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Gesellschaft

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Wohltätigkeit Mit der neuen Mittelschicht ändert sich auch die Einstellung zum sozialen Handeln

Noch ist sich jeder selbst der Nächste Mühsam nähren sich russische Wohltätigkeitsinstitute – und haben doch an Zahl und Ansehen zugenommen. Das Misstrauen in der Bevölkerung ist nicht ganz unbegründet. ANASTASIA GOROKHOVA

ZAHLEN

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Millionen Euro sammelte die Organisation „Schenke Leben“ von Tschulpan Chamatowa im Jahr 2010 − so viel wie keine andere.

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ITAR-TASS

2,3

Milliarden Euro spendeten Deutsche im Jahr 2010, neun Prozent mehr als 2009. Allein Greenpeace sammelte 2009 etwa 46 Millionen Euro ein.

derter Bettler vorbeiläuft“, sagt er. „Man bringt ihnen bei, dass behinderte Menschen anders sind und dass man sie nicht beachten soll.“ Und schon gar nicht ist man bereit, einer Stiftung Geld für sie zu spenden. Allerdings reicht das monatliche Budget häufig nicht einmal für einen selbst aus. „Wohltätigkeit ist erst dann ein Thema, wenn man einen gewissen Wohlstand erreicht hat“, sagt Artur Smoljaninow. Ungeachtet ihres ambivalenten Rufs wächst die Zahl der Wohltätigkeitsorganisationen stetig an. „Die Russen beginnen, Interesse zu zeigen“, meint die Wirtschaftswissenschaftlerin Irina Jasina, Mitglied des Menschenrechtsrates von Präsident Medwedjew. „Anfang der 2000er war die Stiftung ‚Offenes Russland‘ die einzige, die sich für eine Ausbildung von Behinderten eingesetzt hat“, erinnert sie sich. Jetzt gebe es diverse Organisationen, die Rollstühle bereitstellten oder behinderte Kinder in Heimen auf ihr Leben vorbereiteten. „In den letzten Jahren hat es grundlegende Veränderungen gegeben. Wir nähern uns langsam Europa an.“ Seriöse Organisationen wie „Schenke Leben“ versuchen mit ihrer Arbeit, das Vertrauen in der Bevölkerung zurückzugewinnen. Sie weisen transparente Strukturen auf und geben Garantien dafür, dass Spenden wirklich an ihrem Zielort ankommen. Prominenz an ihrer Spitze soll ihnen die gebührende Aufmerksamkeit verschaf-

ITAR-TASS

Eine Spendengala der Kinderkrebsstiftung „Schenke Leben“ im Moskauer Sowremennik-Theater

Mit ihrem Gesicht gewinnt Tschulpan Chamatowa Spender-Vertrauen

In den 90ern wurden Stiftungen zur Geldwäsche benutzt. Seitdem ist die Bevölkerung misstrauisch. „Man bringt den Kindern bei, dass behinderte Menschen anders sind und dass man sie nicht beachten soll.“

fen. Tschulpan Chamatowa, Schirmherrin von „Schenke Leben“, war in dem Film „Goodbye Lenin“ an der Seite von Daniel Brühl zu sehen. Im letzten Jahr hat ihre Organisation drei Millionen Euro Spendengelder eingesammelt – so viel wie keine andere. „In den USA geben 90 Prozent der Bevölkerung regelmäßig Geld für Bedürftige aus“, sagt Chamatowa. „Für die Amerikaner ist das wie Zähneputzen. Davon kann man bei uns nur träumen.“ Auch deswegen, weil man in Russland Spenden steuerlich nicht absetzen kann. Chamatowa ist vorsichtig optimistisch: In der neu enstehenden Mittelschicht sei die Bereitschaft, etwas für andere zu tun, deutlich

„Die Russen müssen ihre Probleme nun selber lösen“

ITAR-TASS

Wladimir Putin hält verlegen das Mikrofon in der Hand, lächelt von der Bühne die vor ihm sitzende Sharon Stone an. Dann singt er „Blueberry Hill“ und hat sichtlich Mühe, die richtigen Töne zu treffen. Der russische Premier nahm diese Strapazen für krebskranke Kinder auf sich. Gemeinsam mit hochkarätigen Hollywoodstars trat er Ende 2010 bei einem Wohltätigkeitskonzert der Stiftung „Federazija“ (Föderation) auf. Das Delikate: Von der Stiftung hatte bis dahin niemand gehört, später stellte sich heraus, dass sie erst zwei Wochen vor dem Event gegründet worden war. Als die Mutter eines kranken Kindes danach öffentlich kundtat, dass das Krankenhaus, in dem ihr Kind behandelt wird, keinerlei Hilfe erhalten habe, war der Skandal perfekt. Finten wie diese verbessern nicht gerade den Ruf von russischen Wohltätigkeitsorganisationen. Der Leiter der „Russischen Stiftung für Hilfe“, Lew Ambinder, erzählt, dass er nach dem Vorfall Briefe bekommen habe mit dem Wortlaut, „Federazija“ und alle anderen Organisationen seien berüchtigt für ihre „betrügerischen Machenschaften“. Dieses Misstrauen rührt auch aus den Neunzigerjahren, als viele Stiftungen zur Geldwäsche missbraucht wurden. Manche ließen Waren aus dem Ausland als Spende getarnt einführen, mit dem Vorteil der Steuerfreiheit. Später verkauften sie die „Spenden“ gewinnbringend. Der russische Schauspieler Artur Smoljaninow schüttelt resigniert den Kopf, als er an ein kürzliches Erlebnis beim Einkaufen denkt. Eine Frau ging an einer Sammelbüchse der Kinderkrebsstiftung „Schenke Leben“ vorbei, und Smoljaninow hörte, wie sie murmelte: „Wem soll ich was schenken? Die spinnen doch alle!“ Das machte ihn nachdenklich: „Sie wollte nicht einmal wissen, wofür wir sammeln.“ Seit 2006 ist er ehrenamtlicher Helfer bei „Schenke Leben“. Die Reaktion der Frau im Supermarkt spiegelt die Einstellung der breiten Bevölkerung zum Thema Wohltätigkeit. „Informiert sind die Menschen genug, aber sie wollen sich nicht mit den Problemen anderer beschäftigen“, erklärt Smoljaninow. „Nur nicht hinschauen“ sei die Devise und werde so schon den Kindern gepredigt. „Ich habe oft in der U-Bahn beobachtet, wie Mütter ihren Sprösslingen die Augen zuhalten, wenn ein behin-

Seit 2002 hat die Europäische Union in Russland mehr als 70 Projekte zum Schutz der Rechte von Kindern und Behinderten gefördert. Allerdings sinkt die Finanzierung von Jahr zu Jahr: Während die EU im Jahr 2002 noch neun Millionen Euro an Mitteln vergab, werden es 2011 nur noch zwei Millionen sein. Das hat einerseits mit den Ereignissen in Nordafrika zu tun. Diese Region erfordert nun eine höhere Aufmerksamkeit der Europäer. Andererseits – so

Denis Daniliidis von der Vertretung der Europäischen Kommission in Moskau – sehe man Russland inzwischen nicht mehr als Entwicklungsland: „Die Russen müssen ihre Probleme selber lösen.“ Allerdings hofft Daniliidis darauf, dass eine Reihe der von der EU angestoßenen Projekte in Zukunft von russischen Trägern übernommen wird. Außerdem unterstützt die EU russische Stiftungen dabei, Projektpartner in Europa zu finden.

gestiegen. Sie weist auf das befriedigende innere Gefühl nach einer Spendenaktion hin: „Man kann natürlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn man vom Unglück eines anderen erfährt. Aber viel wichtiger ist es, real zu helfen und Probleme anzupacken. Das gibt einem auch selbst Mut und Hoffnung.“ Einen guten Teil ihrer Arbeit sieht Chamatowa in der Aufklärung. Da werde auf staatlicher Seite kaum etwas unternommen. „Die Regierung wettert gegen Alkoholund Zigarettenkonsum. Dass aber vielleicht ein alter Mensch im Rollstuhl auf die Gesellschaft angewiesen ist, darüber kein Wort.“ In solchen Fällen gab es in der Sowjetunion – wenn überhaupt – staatliche Unterstützung. Ansonsten musste und muss bis heute die Familie aushelfen. Geht es nämlich um die eigene Sippe oder um einen engen Freund, ist der Zusammenhalt groß. Engagiert sich hingegen jemand außerhalb der Familie, stößt er auf Unverständnis. Die 25-jährige Katja aus Moskau packt seit einigen Jahren bei „Schenke Leben“ mit an. „Meine Eltern und Freunde verstehen nicht, warum ich meine Freizeit angeblich vergeude“, sagt sie. Der Staat verschließt die Augen angesichts der sozialen und finanziellen Probleme, mit denen sich die Stiftungen Tag für Tag herumschlagen. Zwar werden krebskranke Kinder kostenlos behandelt, das staatliche Budget ist aber viel zu gering. „1600 Euro sind es jährlich, die für eine Krebstherapie zur Verfügung stehen. In Wirklichkeit muss man aber mit 13 000 Euro rechnen“, sagt Smoljaninow. Ohne Stiftungsgelder wären gerade einmal für fünf Prozent der betroffenen Kinder eine solche Behandlung möglich. „Den Beamten vom Ministerium sind wir ein Dorn im Auge“, erzählt Chamatowa. „Wir nerven sie mit Anfragen, in denen wir unsinnige Gesetze kritisieren. Zum Beispiel über die Einfuhrbeschränkungen wichtiger Medikamente aus dem Ausland. Damit hoffen wir, ein Umdenken im Gesundheitswesen und in der Sozialpolitik zu forcieren.“


Reisen

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Anderes Russland Deutsche erzählen aus den russischen Regionen, wie es sich außerhalb der Hauptstadt lebt

Der mit dem Tambower Wolf tanzt Der gesamte interne Dokumentenfluss wurde von Hand geschrieben. Nur wenige Mitarbeiter hatten ein Auto, die meisten fuhren mit firmeneigenen Bussen zur Arbeit. Innerhalb der letzten zwölf Jahre sind die Löhne um das Siebenfache gestiegen, das Leben ist auch teurer geworden. Inzwischen hat sich eine gut situierte Mittelschicht herausgebildet.

„Der Tambower Wolf ist dein Genosse“, sagen Russen zu einem, dessen Freundschaft sie müde sind. Wölfe gibt es in der Gegend kaum noch, dafür aber jede Menge Russlandflair. PETER KETTENBAUM FÜR RUSSLAND HEUTE AUS TAMBOW

Treffen bei Soja 1636 vom Zaren Michail I. als Festung gegen die Tataren gegründet, verlor die Stadt ihre strategische Bedeutung, als sich das Reich nach Süden ausdehnte. Tambow blieb Verwaltungszentrum eines von der fruchtbaren Schwarzerde geprägten Gebietes, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich von der Landwirtschaft lebte, und Anfang des 20. Jahrhunderts führend im Tabakanbau wurde. Tambow liegt am Fluss Tsna, der die Stadt zugleich von einer Datschen-Siedlung abgrenzt. Zwischen Hauptstraße und Fluss befindet sich zentral ein mit Bäumen und Blumen angelegter Park, der an den Wochenenden stark fre-

Kredite für Kaffeemaschinen

LORI/LEGION MEDIA(2)

1986 reiste ich mit dem Zug zum ersten Mal nach Tambow, gut 400 Kilometer aus Moskau in südöstlicher Richtung. Dort lief die Produktion in einem deutschen Werk für Fertighäuser an, die ich überwachen sollte. Direkt nach meiner Ankunft machte ich mich auf die Suche nach den Sehenswürdigkeiten der Stadt und musste feststellen: Ich selbst war die Sehenswürdigkeit – es gab praktisch keine Ausländer, und man beäugte mich wie ein exotisches Tier. Damals wie heute ist Tambow eine russische Provinzhauptstadt. Das Lebenstempo der knapp 300 000 Einwohner ist ruhiger, ausgeglichener als in den Großstädten. Man kennt und grüßt sich auf der Straße oder schließt umgekehrt schnell Freundschaften.

Die Ufer der Tsna sind ein beliebtes Ausflugsziel und Ort der Erholung für die Bewohner Tambows.

quentiert wird. Für Kinder gibt es Karusselle, für die Älteren Cafés mit Außenterrassen und Parkbänke zum Ausruhen nach einem Spaziergang entlang des Flusses. Da in den letzten Jahren viele Fassaden renoviert wurden und neue Häuser Baulücken geschlossen haben, hat sich das Stadtbild deutlich gewandelt. Vor allem ist es nicht mehr so grau, und die Pokrowskaja-Kirche aus dem 18. Jahrhundert oder die Christi-Verklärungs-Kathedrale erstrahlen in neuem Glanz. Tambow ist kulturelles Zentrum des gleichnamigen Oblast und besitzt mehrere Kinos und Theater, eine überregional bedeutende Kunstgalerie und ein Opernhaus. Das Eisstadion, futuristisch anmutend wie die Berliner „Schwangere Auster“, ist ein Publikumsmagnet. Mehrmals im Jahr gastiert daneben der Moskauer Staatszirkus. Einer der wichtigsten Treffpunkte in der Stadt ist das Denkmal

für Soja Kosmodemjanskaja: Im Jahr 1941 wurde die junge Partisanin von den Deutschen ermordet und zu Sowjetzeiten als Heldin verehrt. Bei Verabredungen heißt es einfach: „Treffen wir uns bei Soja.“ Das Gebiet Tambow ist legendär

nach meinen ersten Eindrücken von Tambow ließ ich mich mit meiner Familie in der Stadt nieder und bezog ein Haus. Ich arbeitete inzwischen für einen österreichisch-deutschen Investor in der Holzproduktion. Über die Jahre haben wir das Haus renoviert und einen Blumengarten mit überdachter Terrasse angelegt, eine Oase der Ruhe. An Wochenenden treffen wir uns mit russischen Freunden bei Schaschlik und Small Talk, man staunt über den Garten und die deutsche Ordnung. In der Anfangszeit war die Arbeitslosigkeit in Tambow hoch, unsere Beschäftigten bekamen Löhne von knapp 3000 Rubel (75 Euro), das war relativ viel, und wir konnten uns die besten aussuchen. Zunächst gab es keinen einzigen Computer in der Firma, stattdessen nur alte Schreibmaschinen, und auch die nur im Sekretariat des Generaldirektors.

Das Gebiet Tambow ist legendär für seine Wölfe – von denen es heute immerhin noch 50 Vertreter gibt. für seine Wölfe – von denen es heute immerhin noch 50 Vertreter gibt. Vor einigen Jahren wurde das erste Wolfsmuseum der Welt gegründet, in dem man unter anderem den Tambowski Wolk, den Tambower Wolf, erstehen kann. Die Flasche des Wodkas krönt ein kunstvoller Verschluss in Form eines Wolfskopfes. Knapp 15 Jahre

Viele Mitarbeiter kommen jetzt mit dem Auto zur Arbeit. Die vereinfachte Kreditaufnahme hat’s möglich gemacht. Sogar Kaffeemaschinen werden auf Pump gekauft. Das Wort „sparen“ kennt man kaum, auch wegen der stark anwachsenden Inflation. Neue Möbel werden angeschafft, die Wohnungen aufwendig renoviert. In der Stadt sind für solcherart Dienstleistungen etliche aufstrebende Firmen entstanden. Den neuen Wohlstand kann man auch am Zustand der Datschen ablesen, in denen ab dem Monat Mai jeder Tambower bevorzugt sein Wochenende verbringt: Zu Sowjetzeiten waren das in der Regel armselige Hütten, in ihnen konnte man sich vielleicht vor dem Regen verkriechen. Die gibt es bis heute, daneben stehen jetzt aber auch schon prachtvolle „Schlösser“, umgeben von einem meterhohen Zaun. Wenn Sie in Russland nur Moskau gesehen haben, haben Sie Russland nicht gesehen. Eine russische Megalopolis unterscheidet sich nicht bedeutend von einer westlichen Megalopolis. Wer Russland verstehen will, möge nach Tambow kommen – gerade weil diese Stadt kein Touristenzentrum ist. Peter Kettenbaum ist der kaufmännische Direktor der TamakHolzverarbeitung in Tambow.

Anreise Von Berlin, Frankfurt, München, Hamburg oder Stuttgart steuert man zunächst den Moskauer Flughafen Domodedowo an; im Anschluss geht um 20.45 Uhr ein Flugzeug nach Tambow (www.regionavia.ru). Vom Moskauer Paweletski-Bahnhof gibt es auch Nachtzüge. Fahrzeit: neun Stunden.

In Tambow gibt es mehrere Mittelklassehotels: Durchschnittlichen Standard bieten das Derschawinskaja (DZ ab 60 Euro, www.tambov-hotel.ru) direkt im Zentrum und das Amaks-Parkhotel (DZ ab etwa 50 Euro, www.tambov. amaks-hotels.ru) etwas außerhalb.

Essen & Trinken

ROSFOTO

In jeder größeren Stadt fehlt sie nicht: die Kasaner Kathedrale

Sehr gemütlich ist das Filin (auf Deutsch: Uhu) mit eigener Brauerei an der Sowjetskaja-Straße 67, wer auf bayrische Würstchen nicht verzichten will, geht ins Bierhaus (Karl-Marx-Straße 146). Klassisch russisch isst man am besten im Tambowski Wolk in der Sowjetskaja-Straße 121.

ITAR-TASS

Unterkunft Ulica Moskowskaja – die „Moskauer Straße„ – im Zentrum der Stadt und das Seniorenheim für „Arbeitsveteranen“


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Meinung

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DSK ODER DIE SORGE UM EUROPA Fjodor Lukjanow POLITOLOGE

B

islang ist nicht klar, wie die Sex-Affäre von IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn zu bewerten ist. Doch unabhängig vom Ergebnis des Gerichtsurteils hat der Vorfall im New Yorker Sofitel-Hotel schon jetzt Europa vehement geschadet. Als die EU 2007 Strauss-Kahn trotz aller Skepsis zum Vorsitzenden des Internationalen Währungsfonds ernannte, deutete viel darauf hin, dass der französische Sozialist der letzte Europäer auf diesem Posten sein würde. Mit der Gründung der Bretton-Woods-Institutionen im Jahr 1944 hatten sich die USA und Europa darauf verständigt, wichtige personale Schaltstellen untereinander aufzuteilen. Seitdem stellen die USA traditionell den Direktor der Weltbank, die EU den IWF-Chef. Doch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, erscheint eine solche Aufteilung der Pfründe fraglich: China gewinnt rapide an Einfluss, und die Finanzkrise hat diesen Trend nur noch beschleunigt. Keiner wird freiwillig auf seine Privilegien verzichten, weshalb alle Diskussionen über eine Reformierung des IWF bloßes Gerede bleiben. Die Affäre um Strauss-Kahn hat dazu beigetragen, die Position der Schwellenländer zu stärken. Die

boomenden asiatischen Staaten sehen ihre Zeit gekommen und treffen bei den USA auf offene Ohren. Ein Beispiel ist der Kyoto-Prozess, bei dem Europa nur eine Nebenrolle spielt, oder die Doha-Runde der Welthandelsorganisation. Und sollten die USA auf den Vorstandsposten beim IWF verzichten, ist ihnen ein adäquater Ausgleich gewiss. Europas politischer Einfluss in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-

derts basierte auf zwei Tatsachen: Zum einen hatte es eine Schlüsselposition in internationalen Institutionen wie dem IWF inne, zum anderen hatte seine Integrationspolitik Vorbildfunktion. Sie stand für eine wirtschaftlich erfolgreiche und ausgewogene Entwicklung. Beides verliert im Moment an Bedeutung. Hinzu kommt: Lange Zeit war Europa eine der wichtigsten Säulen der Nato und hatte vom Dik-

tum der UN profitiert, als „Führungskraft“ des Westens und später der ganzen Welt respektiert zu werden. Der euro-atlantische Raum ist nicht mehr Zentrum der Weltpolitik, und die Nato hat nach dem Scheitern der weltweiten Missionen an Einfluss verloren und wird offenbar zu regionalen Aufgaben zurückkehren. Auch ist mit dem Libyen-Einsatz deutlich geworden – die USA ließen Frankreich und seine Partner ihre

RUSSLAND BRAUCHT ELITE-UNIS Igor Fedyukin EXPERTE FÜR BILDUNG

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iele russische Akademiker waren unangenehm überrascht, als Andrei Fursenko, Minister für Bildung und Wissenschaft, eine Art „Oberliga“ für Universitäten forderte, wie sie unter Fußballvereinen üblich ist. Dem Beispiel Deutschlands, Chinas und Pakistans folgend, will nun auch Russland ein ehrgeiziges Programm durchsetzen und mehrere Universitäten aufwerten. Um den Titel „Eliteuniversität“ haben sich alle russischen Hochschulen beworben. Rund zwei Dutzend wurde dann der Status anerkannt. Jetzt erhalten sie zusätzliche Fördermittel und können ihren Lehrplan unabhängiger gestalten – im Gegensatz zu anderen Universitäten, die nach wie vor nach zentral geregelten Vorgaben arbeiten. Im Gegenzug sollen diese neu geschaffenen „Flaggschiffe“ des Hochschulwesens eine effizientere Verwaltung

etablieren, Nachwuchswissenschaftler einstellen, ihre Dozenten fortbilden und insgesamt damit die Bedingungen für Lehre und Forschung verbessern. Dadurch, so ist jedenfalls die Erwartungshaltung, werde das internationale Renommee steigen. Eine derartige Differenzierung der Unistandards wäre in Russland längst angebracht gewesen. Zum einen fördert sie die notwendige Konkurrenz zwischen den Hochschulen, zum anderen die Mobilität unter Studenten: Bis heute entscheiden sich die meisten russischen Abiturienten für ein Studium in ihrer Heimatstadt – die besten Schulabgänger schreiben sich in Moskau oder Sankt Petersburg in den inoffiziellen Eliteuniversitäten Russlands ein. Ferner sollte sich eine Differenzierung im Bildungssektor auch positiv auf das Niveau der Universitäten auswirken, das über die letzten 20 Jahre konstant abfiel. Der Rückgang ist dem Anstieg der Studentenzahlen zu verdanken, die sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt hat,

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de FÜR SÄMTLICHE IN DIESER BEILAGE VERÖFFENTLICHTEN KOMMENTARE, MEINUNGEN UND ZEICHNUNGEN SIND AUSSCHLIESSLICH IHRE AUTOREN VERANTWORTLICH. DIESE BEITRÄGE STELLEN NICHT DIE MEINUNG DER REDAKTEURE VON RUSSLAND HEUTE ODER VON ROSSIJSKAJA GASETA DAR.

andererseits aber auch einer Misswirtschaft an den Hochschulen. Vor einigen Jahren führten die russischen Universitäten Studiengebühren ein, deren Höhe sich in vermögensabhängigen Quoten rechnete. Diese Quoten werden jährlich erhöht mit dem Resultat: Die Zahl der Studenten, die per Stipendium auf Staatskosten studieren, nimmt konstant ab, liqui-

Viele Studenten schreiben sich einfach nur deshalb ein, weil sie auf diese Art nicht zum Militär müssen. de Studenten, die imstande sind, die hohen Studiengebühren zu berappen, beherrschen das Terrain. Mit dem Resultat: Geld wird großgeschrieben, Leistung klein. Ein weiteres, indirektes Problem ist der Wehrdienst: Viele Studenten schreiben sich einfach nur deshalb ein, weil sie auf diese Art nicht zum Militär müssen.

Diese wenig schmeichelhaften Fakten haben das russische Diplom abgewertet. Durch mehr Wettbewerb – so hofft man – könne sich das wieder ändern. Das Programm der Eliteuniversitäten soll darüber hinaus auch dem Wettbewerb in der Industrie förderlich sein. Namenszusätze wie „Nationale“ Forschungsuniversität oder „Föderale“ Universität sollen die besten Studenten und Geldgeber aus der Wirtschaft anlocken. Die Universitäten sind gezwungen, ein eigenes Profil zu erarbeiten, nur so kommen sie an zusätzliche Subventionen. Kriterien für eine solche Profilierung kann die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen in internationalen Fachzeitschriften und deren Impact Faktor sein, maßgeblich ist auch die Anzahl der ausländischen Studenten sowie die Zahl der Promotionsabgänger und russischen Studenten, die es ins Ausland geschafft haben. Natürlich stellt die Umsetzung dieser hehren Ziele eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Zunächst einmal können sich

Militäroperationen allein in Nordafrika durchführen –, dass sie kein Interesse mehr daran haben, die europäischen Probleme auf eigene Kosten zu lösen. Die LibyenOperation zeigte auch, dass die großen EU-Staaten selbst entscheiden, ob sie Krieg führen (Frankreich oder Großbritannien) oder auf Distanz gehen (Deutschland). Zugleich ist das Image Europas deutlich schlechter geworden: Der Wohlstand beginnt zu bröckeln und die politische Korrektheit auch. Wirtschaftliche Abhängigkeiten und politische Diskrepanzen führen zu einer tiefen Kluft zwischen den einzelnen Beitrittsländern, deren Koexistenz disharmonische Züge annimmt. Die Stimmung ist gekippt, und aus Sorge um ihre Zukunft kämpfen die EU-Bürger um den Status quo. Sei es durch wirtschaftliche Konkurrenz oder den Einwanderungsdruck, seien es die gleichmachenden EU-Richtlinien, die kulturelle Identität verwischen: Rechtspopulisten gewinnen zunehmend an Einfluss. Man darf gespannt sein, in welche Richtung sich das Image Europas in den nächsten Jahren neigen wird. Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs. Dieser Beitrag erschien bei RIA Novosti

die meisten russischen Akademiker nichts unter einer internationalen Spitzenuniversität vorstellen. Wie eine kürzliche Befragung unter Hochschuldirektoren der neuen Eliteuniversitäten belegt, verfügte nur ein einziger der zwanzig Befragten über Auslandserfahrung. Fast alle hatten an ihrer Heimatuniversität promoviert und nur zehn an anderen Universitäten gearbeitet, bevor sie ihre verantwortungsvolle Stelle antraten. Daher sind selbstbewusste Äußerungen aus der Politik, man wolle in 15 Jahren mit Stanford gleichziehen oder die Publikationen in der internationalen Fachpresse innerhalb von drei Jahren verdreifachen, mehr als fragwürdig. Das Bildungsprogramm hat viel Kritik geerntet, auch wegen seines bürokratischen Aufwands. Dennoch rückt eine Veränderung des russischen Hochschulwesens damit in greifbare Nähe. Man kann nur hoffen, dass russische Eliteuniversitäten den Sprung bis in die globale Liga schaffen. Bisher sind sie darin mit nur zwei Hochschulen vertreten. Igor Fedyukin ist Leiter für empirische Forschungen an der neuen Wirtschaftsschule in Moskau.

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Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Schauspielhaus Im Oktober 2011 öffnet das Bolschoi-Theater wieder seine Tore

LESENSWERT

Hightech trifft Zarenprunk

Spionage im Zweiten Weltkrieg

Balkonen, dort werden die wiederhergestellten seidenen Wandteppiche angebracht, unter der Erde wird noch richtig gebaut: Es entsteht ein neuer Konzertsaal, den Orchester und Chor auch für Proben nutzen können. Neu hinzugekommen ist auch die mit 21 mal 21 Metern europaweit größte hydraulisch betriebene Bühne von Bosch-Rexroth. An ihrer Rampe wurde der Orchestergraben vergrößert und bietet nun Platz für 130 Musiker. Zugunsten des Komforts reduzierte man die Zahl der Plätze im Hauptsaal von 2100 auf 1720.

Mehr Bilder zum Thema russland-heute.de

Medwedjews Machtwort RUSLAN SUKHUSHIN(2)

Wo einst Hammer und Sichel das Säulenportal des Bolschoi zierten, spielen Musen wieder Harfe.

MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

Die warme Maisonne lässt die frisch renovierten Kalksteinsäulen an der Frontseite des Bolschoi hell erstrahlen, von hoch oben grüßt Apollon auf seiner Quadriga. Viele Moskauer verbringen ihre Mittagspause im Park vor dem herausgeputzten Theater, und fast scheint es, als sei es längst schon wieder eröffnet. Aber der Eindruck täuscht: Erst ab dem 28. Oktober, nach über sechs Jahren, wird das weltberühmte Opernund Balletttheater seine Tore öffnen, erst dann werden wieder „Schwanensee“, der „Nussknacker“ und „Boris Godunow“ zu sehen und zu hören sein.

setzt, der sowjetische Bodenbelag herausgerissen, an dessen Stelle Eiche verlegt. Das Bolschoi wurde 1776 gebaut, 1853 brannte es jedoch vollständig aus. Das klassizistische Gebäude, das die Welt heute kennt, ist das Werk des russisch-italienischen Architekten Alberto Cavos. Für den Sohn eines Komponisten stand beim Bau des Theaters die Akustik an vorderster Stelle: Er verkleidete die Wände mit Resonanzholz, auch

ZITAT

Michail Sidorow SPRECHER VON SANIERER SUMMA CAPITAL

"

Es bestand die Gefahr, dass das Gebäude zusammenbricht. Erst wenn alles fertig ist und alle Rechnungen bezahlt sind, wissen wir, was es gekostet hat.“

Zurück ins 19. Jahrhundert Derweil polieren zwei Arbeiter auf einem Kran neben den Säulen eine Gedenktafel: „LENIN“ steht dort und dass der Führer des Weltproletariats hier 1922 die letzte Rede vor seinem Tod hielt. Es ist eine der wenigen Reminiszenzen an die sieben Jahrzehnte sowjetischer Geschichte, die das Bolschoi erlebte. Ansonsten wird bei den Renovierungsarbeiten die Sowjetzeit übersprungen und auf den Originalbau aus dem 19. Jahrhundert Bezug genommen. Auch die kostbare Inneneinrichtung wurde ganz im Sinne des Klassizismus rekonstruiert: Sowjetische Wappen wurden entfernt, an deren Stelle zaristische wiedereinge-

KULTURKALENDER

Über die Ausgaben denkt Michail Sidorow vorerst noch nicht nach.

ROCKMUSIK LENINGRAD 10. JUNI, NÜRNBERG, LÖWENSAAL, WEITERE TERMINE IN HAMBURG UND KÖLN

Nach 20 Jahren ist das glanzvoll restaurierte Bolschoi-Theater das Symbol schlechthin für russische Kultur. für Decke und Boden wählte er Holz; Verzierungen wie die Atlanten wurden aus Pappmaschee hergestellt. Deshalb hatte der Saal nicht nur die Form einer Violine – lange Jahre klang er auch so. Die Restauration des Gebäudes war im Jahr 2005 längst überfällig. In der Sowjetunion hatte die Zeit für eine grundlegende Erneuerung gefehlt, weil neben Oper und Ballett das Bolschoi häufig auch für Parteiversammlungen genutzt wurde. Viele der ursprünglich hochwertigen Materialien waren durch billigere ersetzt worden – und nicht nur die Akustik litt darunter. „In den Hauptwänden hatten sich bis zu 30 Zentimeter breite Risse gebildet“, erklärt Michail Sidorow von Summa Capital. Sein Unternehmen leitet seit 2009 die Arbeiten. „Es bestand die Gefahr, dass das Gebäude zusammenbricht.“ Der erste Schritt der Rekonstruktion war deshalb die Stabilisierung der Bausubstanz: 7000 Stahlpfähle wurden in den Boden gerammt, dann das alte Fundament entfernt. Erst im September 2009 war das neue Fundament fertig, sodass auf die Stahlpfähle verzichtet werden konnte. Seitdem ist die Baustelle, keine fünf Gehminuten vom Kreml entfernt, ein Ameisenhaufen. Bis zu 3200 Menschen sind gleichzeitig bei der Arbeit: Hier vergolden Stukkateure die Ornamente an den

KLASSIK BERLINER PHILHARMONIKER, VLADIMIR JUROWSKI

IM BLICKPUNKT

AFP/EAST NEWS

Hier sang Fjodor Schaljapin, hier tanzte Maja Plissezkaja, hier schlägt das Herz der russischen Kultur. Sechs Jahre hat die aufwendige Restaurierung des Bolschoi gedauert.

Mit 20 Jahren Verspätung ist das glanzvoll restaurierte BolschoiTheater das Symbol schlechthin für russische Kultur. Gleichzeitig steht die Geschichte seiner Rekonstruktion für die notorischen Probleme eines Systems, in dem vieles nur durch ein Machtwort von ganz oben funktioniert. Nach Schließung des Theaters 2005 gerieten die Restaurierungsarbeiten ins Stocken, weil Regierungsbeamte, Moskaus Bürgermeister und Chefarchitekt Nikita Schangin sich um Kompetenzen und Konzeptionen stritten. 2008 verließ Schangin das Projekt, und erst Dmitri Medwedjew sorgte für Bewegung: Im Frühjahr 2009 setzte er höchstpersönlich einen engen Mitarbeiter ein, um die Fertigstellung des Theaters bis 2011 zu gewährleisten. Im selben Jahr wurde gegen mehrere Beteiligte ein Verfahren wegen Veruntreuung von Geldern eingeleitet. Ob die Restaurierung am Ende 500 Millionen oder 1,5 Milliarden Euro kosten wird, wagt momentan keiner zu sagen. Sehr russisch klingt die Meinung von Michail Sidorow: „Erst wenn alles fertig ist und alle Rechnungen bezahlt sind, wissen wir, was es gekostet hat.“

Anastasia Wolotschkowa, einstiger Ballettstar des Bolschoi, hält trotz Skandale und Intrigen weiter Hof. Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de

FEIER DEUTSCH-RUSSISCHE FESTTAGE

10./11./12. JUNI, BERLIN, PHILHARMONIE

10.-12. JUNI, BERLIN, TRABRENNBAHN KARLSHORST

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

Die Kultband hat mit deftigen Texten und energiegeladenem Rock-Ska für Furore gesorgt. Den charismatischen Bandleader „Schnur“ unterstützt die Jazz-Sängerin Julia Kogan.

Mit 38 Jahren hat Jurowski schon viel erreicht – derzeit dirigiert er das London Philharmonic Orchestra. Beim Berliner Gastspiel wird Bach, Strawinsky und Mahler zu hören sein.

Bereits im fünften Jahr wird in BerlinKarlshorst die deutsch-russische Freundschaft zelebriert. Russische Folkloreensembles, Autoren und Rockbands tragen ihren Teil dazu bei.

RUSSLAND-HEUTE.DE

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› drf-berlin.de

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D

ie Rote Kapelle gilt als die erfolgreichste sowjetische Spionageorganisation während des Zweiten Weltkrieges. Ihre Informationen seien, so die gegenwärtige russische Lesart, wichtiger als manche der großen Schlachten an der Ostfront gewesen. Helmut Roewer, ehemaliger Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, hat es sich in seinem neuen Buch zur Aufgabe gemacht, diese und andere G e he i md ie n s t lege nde n z u entmythologisieren. Das Werk ist chronologisch aufgebaut, und eines der packendsten Kapitel findet sich gleich zu Beginn. Dort wird detailliert aufgeschlüsselt, welche Informationen der jeweiligen Seite im Frühjahr 1941 zur Verfügung standen: Die Deutschen hatten nur mangelhafte Informationen über die Stärke der sowjetischen Truppen und schlugen im Sommer 1941 gegen einen völlig unterschätzten Gegner los. Umgekehrt lagen Stalin keine Dokumente zum Barbarossa-Plan vor, und er tappte aufgrund der zahlreichen sich widersprechenden Geheimdienstinformationen im Dunkeln. Spektakulär ist das titelgebende Kapitel über die Rote Kapelle und neu, dass Roewer auf russische Quellen zurückgreifen konnte. Es gelingt ihm, die einzelnen Spionageringe, die von der Gestapo unter der Rubrik „Rote Kapelle“ subsumiert wurden, auseinanderzudividieren und zu zeigen, wer eigentlich welche Information geliefert hat. Auch nach der Zerschlagung der Roten Kapelle in Deutschland verfügte die Sowjetunion über erstklassige Agenten, die beispielsweise im Frühjahr 1945 als Einzige unter den alliierten Spionen den Test eines nuklearen Zündsatzes in Thüringen meldeten. Überraschend aufschlussreich! Helmut R oe we r: D i e R ot e Kapelle und andere Geheimdienstmythen. Spionage zwischen Deutschland und Russland im Zweiten Weltkrieg, Graz: Stocker 2010, 472 S. Dr. Matthias Uhl

empfiehlt


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Porträt

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Nachtleben Eine Deutsche mischt die Sankt Petersburger Clubszene auf – jenseits von Geld und Glamour

Weiße Nächte in den Dünen Vor 14 Jahren verliebte sich die Hamburgerin Anna Albers in die Stadt Sankt Petersburg. Seine Bewohner erwiderten die Liebe: Ihr Club Datscha hat inzwischen Kultstatus. ANASTASIA GOROCHOWA RUSSLAND HEUTE

Es ist spät am Abend, als sich Anna endlich einmal lässig an den Tresen lehnt und nicht hinter ihm steht. Draußen macht sich nach einem langen Winter der Frühling bemerkbar. Ihre frisch eröffnete Strandbar Dünen haben gerade sechs gut gebaute Polizisten „besucht“. Bei dieser Kontrolle ohne Ansage wäre sogar manch russischer Clubbesitzer in Panik geraten – doch die Hamburgerin Anna Albers weiß genau, wie man sich in solchen Situationen verhält. Was als eher routinierte Studienreise nach Sankt Petersburg begann, wurde für die heute 32-Jährige zur großen Liebe. Seit 1997 pendelte Anna zwischen Hamburg und der Kulturhauptstadt Russlands, seit 2003 hat sie hier ihren Hauptwohnsitz. Denn die Liebe beruht auf Gegenseitigkeit: Der Club Datscha, den Anna 2004 in einer Nebengasse des Newski-Prospekts gegründet hatte, wurde zu einer der angesagtesten Adressen der Stadt an der Newa. Hinter einer unscheinbaren Tür versteckt, betritt man zwei kleine, düstere Räume: Bar, Dj-Pult, ein Kicker und Blümchentapeten – Basisausstattung, mehr nicht. Die Barhocker sind immer besetzt, auch die gemütlichen alten Sessel in den Ecken. Aber sitzen will man im Datscha sowieso nicht. Auch wenn man ständig jemandem auf die Füße tritt und die Ellbogen von ausgelassenen Men-

Die Atmosphäre ist locker – hier treffen sich Studenten, Touristen, Topmanager und Superstars. schen ins Gesicht bekommt – das Volk tanzt, als ob es das letzte Mal wäre. Und nichts auf der Welt scheint dieser unbeschwerten, lockeren Atmosphäre etwas anhaben zu können, in der Studenten, Touristen, Topmanager und Superstars aufeinandertreffen. Das in Russland sehr unzeitgemäße Motto von Annas Clubs: „Es kommt nicht darauf an, was du anhast und wie viel du verdienst, es kommt darauf an, was für ein Mensch du bist.“ Den Möchtegern-Glamour, der in Sankt Petersburg (und anderswo in Russland) das Nachtleben be-

Das Haus ist immer voll. Junge Sankt Petersburger feiern in Anna Albers Bar Datscha – Russisch für Schrebergarten.

stimmt, kann Anna nicht ausstehen. Trotz ihrer 14 Jahre in einem Land, dessen Frauen auch bei dickem Eis Highheels tragen, ist sie ihrem Stil treu geblieben: sportlich und sehr natürlich, ihre braunen Haare zu einem leicht chaotischen Pferdeschwanz zusammengebunden. In Jeans und einem kunstvoll um den Hals drapierten Schal trifft man Anna in einer ihrer Bars. Sie setzt ihre rote Eckbrille auf, zündet sich eine Zigarette an und schnappt sich ein Bier, bevor sie sich anschickt, ihre Gäste zu begrüßen.

sen noch nicht feiern sehen!“, schmunzelt Anna. Ihr Erfolgsrezept nennt sie „deutsches Konzept, gepaart mit russischer Spontanität“. Der Club Sotschi, den sie 2008 zusätzlich zur Datscha übernahm, war ein Flop. Doch Anna Albers ist keine, die den Kopf hängen lässt. Sie weiß: In Russland geht es auf und ab, schnell und meistens nicht nach Plan. Dazu ist alles ein bisschen verrückt und offener, als man denken könnte. „Dein Handlungsspielraum ist hier ein Seiltanz, ein Balanceakt. Und keiner fängt dich auf – du bist auf dich selbst gestellt.“

In Russland geht es auf und ab Vor dem endgültigen Umzug nach Russland kellnerte Anna in Hamburgs Bars, legte auf und hatte immer einen guten Riecher dafür, wo die beste Party zu finden war: nämlich in den typischen Kneipen von St. Pauli. Klein, fein, nicht besonders schick, dafür irgendwie ehrlich. Währenddessen feierte man in der russischen Kulturhauptstadt in Großraumdiscos ab oder traf sich ganz privat auf „Kwartirniki“ – Hauspartys mit eigener Musik und Wodka. Die goldene Mitte fehlte. „Ich wollte nicht warten, bis jemand eine Bar wie zu Hause eröffnet, also habe ich das selbst gemacht“, sagt sie. Schon sieben Jahre boomt nun das Datscha in Sankt Petersburg, mit guter Musik und ohne Dresscode, in einem zum Abriss bereitstehenden Haus. „Ist das nicht unglaublich? Sieben Jahre!“ – Anna kann es selbst kaum fassen. Und doch ist Sankt Petersburg nicht Hamburg. „Sie haben Rus-

100 Tonnen Sand für die Bar

KURZVITA

Anna Albers HERKUNFT: HAMBURG ALTER: 32 PROFIL: PARTYLÖWIN

Anna-Christin Albers wird 1975 in Rotenburg (Wümme) geboren, nach der Schule zieht sie zum Studium der Slawistik/Russistik nach Hamburg und jobbt dort in Bars als Kellnerin und DJane.

Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook

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1997 fährt sie zum ersten Mal im Zuge einer Studienreise nach Sankt Petersburg, bis zum Abschluss ihres Studiums 2003 folgen regelmäßige Aufenthalte in Russland. Endgültig siedelt sie im Dezember 2003 nach Sankt Petersburg über, am 28. Mai 2004 eröffnet sie ihren ersten Club Datscha, der sich zu einem der beliebtesten Clubs der nordrussischen Metropole entwickelt. 2008 übernimmt Anna Albers den Club Sotschi. Am 30. April 2011 eröffnet sie die Strandbar Dünen im neuen Szeneviertel am Ligowskij-Prospekt.

Vor wenigen Wochen eröffnete Anna die Dünen – und ließ dafür 100 Tonnen Sand in den Club auf einem alten Fabrikgelände karren. „Nur offiziell registriert sind wir noch nicht. Das dauert unendlich lange, und meistens öffnet ein Club vor der offiziellen Lizenz.“ Der Polizeibesuch war also keine Überraschung. „Trotzdem unangenehm“, gesteht Anna. „Jetzt habe ich keinen Whiskey mehr – damit musste ich nämlich eben bezahlen …“ Auf die Frage, ob sie denn für immer hierbleiben werde, sagt sie stirnrunzelnd: „Ich denke darüber nicht nach. Ich wache morgens schließlich nicht mit der Frage auf: Oh, ich bin in Russland, was tue ich hier? Sondern mit dem Gedanken, dass ich gerne noch weiterschlafen möchte. Solange es läuft, bleibe ich.“ Für die Petersburger Szene ist das eine gute Nachricht.

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