Entgrenzend
Erfrischend
Mehr Rechtsstaat fordert Joschka Fischer von Russland. Berlin und Brüssel mahnt er: Überwindet die Barrieren!
„Peter und der Wolf“ hatte hier Premiere, vor 67 Jahren. Jetzt mischt ein Junger Wilder die Moskauer Oper für Kinder auf.
S. 2
S. 12 VLADIMIR PONOMAREV
PDPA
Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich
MITTWOCH, 6. JULI 2011
Auf die Stilettos, fertig, los
POINTIERT
Einmal Urlaub in anderen Breiten Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR
D
AP/FOTOLINK
den Start. Auf neun Zentimeter hohen Absätzen legen sie einen 100-Meter-Sprint hin. Beim Großen Preis von Moskau am 9. Juli winkt der Siegerin ein Preisgeld von 2500 Euro. Hohe Absätze sind
Nein, diese umjubelten Grazien sind keine Models, sondern Leistungssportlerinnen: Überall in Russland gehen in diesem Sommer wieder Hunderte taffe Frauen bei „High-Heel-Rennen“ an
hin fährt, kann den Sommer auch in vollen Zügen genießen. Wo, verrät unser Spezial über Festivals und das Moskauer Clubleben.
in Russland en vogue wie eh und je. Immer mehr Mädchen tauschen aber ihre Stilettos gegen Stollen – zur Fußball-WM sind die Russinnen dennoch nicht angereist. Wer in Moskau bleibt oder dort-
chefredakteur@russland-heute.de SEITEN 5, 6 UND 7
INHALT
Warum die Russinnen die WM verpassen die mehrere Jahre in Deutschland gespielt hat. Sabrina Esslinger dagegen wechselte 2004 aus Frankfurt nach Woronesch und schwärmt noch heute von den Trainingsbedingungen.
Tourismusindustrie Petersburg und Moskau, das war’s WIRTSCHAFT
SEITE 4
LENDER
Nicht dabei: Julia Sapotnitschnaja (rechts) von Energija Woronesch
SEITE 3
Literatur Dowlatow – mehr lebendig als tot FEUILLETON
Viel Kritik musste der Petersburger Dialog im letzten Jahr einstecken: Inhaltsleere, keine konkreten Ergebnisse, Elitetreffen. Am 17. Juli beginnt in Hannover und Wolfsburg der 11. Petersburger Dialog. Ernst-Jörg von Studnitz, ehemaliger Botschafter und Mitorganisator, weist die Kritik zurück, zählt die Erfolge des Dialogs auf und warnt: „Vorsicht mit der deutschen Streitkultur.“ SEITE 2
Auch Rabauken können fliegen
M. GATHMANN
GETTY IMAGES/FOTOBANK
„Wir diskutieren über Konkretes“
Während in Deutschland die Weltelite des Frauenfußballs um den Titel kämpft, sitzen die Russinnen auf den Zuschauerrängen. „Den Russen fehlt es an logischer Denkweise und Taktik“, sagt Marina Burakowa vom erfolgreichsten Proficlub Energija Woronesch,
ie Koffer gepackt, die Reise gebucht, ab geht’s in den Urlaub. Der Russe plant kurzfristig, verpasst die LastMinute-Angebote und landet deshalb wieder in Ägypten und der Türkei, die für ihn das sind, was den Deutschen Italien oder Mallorca ist. Der Deutsche hat seinen Urlaub schon im Januar gebucht und fliegt diesmal nach Spanien und in die Karibik. Umso größer ist die Überraschung, wenn er plötzlich auch dort auf Russen trifft, die ausgelassen und sehr präsent feiern. Sind die denn überall? Es bleibt nichts anderes übrig als die friedliche Koexistenz. Und wenn Russen wie Deutsche mit ihren prächtigen Großstadtkörpern bei 48 Grad im Schatten die überfüllten Traumstrände zukleistern, denken sich beide vermutlich: „Wär ich doch bloß woanders hin in den Urlaub gefahren.“ In der Tat: Am Bodensee wie an der Wolga ist es im Sommer so schön und entspannend wie sonst nie. Erholen Sie sich!
Im Juli geht der Zirkus Upsala auf Deutschlandtournee. Alles fing an mit Bällen und einer Schnapsidee: Die Russin Larisa Afanasjewa und ihre deutsche Freundin stellten Straßenkinder in Sankt Petersburg zum Jonglieren an die Metroausgänge. Die Jugendlichen sollten Selbstvertrauen lernen – ohne Gewalt. Nach elf Jahren hat der Zirkus ein eigenes Zelt und international mehrere Preise abgeräumt.
SEITE 11
Ziele Wolgograd und der Nordpol für Kurzentschlossene
FLICKR/SWERZ
SEITE 10
REISEN
SEITEN 8, 9
2
Politik
WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
GESPRÄCH ERNST-JÖRG VON STUDNITZ
Vorsicht mit der Streitkultur DER KOORDINATOR DER ARBEITSGRUPPE ZIVILGESELLSCHAFT ÜBER INITIATIVEN UND IHRE UMSETZUNG Ist der Petersburger Dialog eine inhaltsleere Feigenblattveranstaltung? Im letzten Jahr hagelte es harsche Kritik. Russland HEUTE hakte bei einem der Organisatoren nach.
Der letzte Petersburger Dialog wurde dafür kritisiert, dass die Arbeitsgruppe Medien nur spärlich besetzt war. Wird das in diesem Jahr anders? Man darf nicht von einem punktuellen Eindruck aus darüber urteilen, was insgesamt geleistet worden ist. Anfangs haben wir mit der Diskussionskultur große Schwierigkeiten gehabt. Die deut-
Ernst-Jörg von Studnitz
schen Teilnehmer hatten die Haltung: „Wir Deutsche wissen alles und werden euch Russen erklären, wie es geht.“ Das ist keine Diskussionsbasis, man muss von den gleichen Ausgangspunkten ausgehen. Seit man das berücksichtigt, hat die Diskussion sehr an Tiefe gewonnen. Beim kommenden Dialog gibt es den Tagesordnungspunkt „In schwierigen Fragen aufeinander hören lernen“. Man will sensible Themen ansprechen, die für beide Seiten unbequem sind, und gegenseitiges Verständnis wecken: „Warum vertritt er hier eine andere Meinung?“ Stichwort Diskussion: Darf denn beim Petersburger Dialog überhaupt gestritten werden? Das ist eine der Schlüsselfragen des Petersburger Dialogs. Wenn man nicht aufeinander Rücksicht nimmt, auf den anderen zugeht und ihm zuhört, wird man sehr schnell aneinandergeraten und unter Umständen zornig auseinandergehen. Und genau das Gegenteil davon erreichen, was man erreichen wollte. Ich halte die Forderung, deutsche Streitkultur
Der Petersburger Dialog wurde 2001 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin begründet. Das Forum soll die Verständigung zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder fördern. Ein Lenkungsausschuss, bestehend aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, übernimmt die Planung des Gesprächsforums und sichert seine Finanzierung. In acht Arbeitsgruppen – Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Bildung, Kultur, Medien, Zukunftswerkstatt und Kirchen – werden die Schlüsselthemen des deutsch-russischen Austauschs diskutiert.
nach Russland zu tragen, für sehr gefährlich: Durch Überheblichkeit kommt man nicht miteinander ins Gespräch. Auf der Teilnehmerliste sowie im Lenkungsausschuss sind zahlreiche Konzerne vertreten, nicht aber Mittelständler. Kommt der Mittelstand da nicht zu kurz, oder ist der Dialog eine Diskussionsplattform für Eliten? Der Petersburger Dialog setzt sich aus ca. 200 festen Teilnehmern zusammen. Es ist nicht möglich, die ganze Gesellschaft abzubilden, bis hin zu den Hunderttausenden Mittelständlern. Es ist immer nur eine Auswahl möglich, bei der man vielleicht zwei bis drei Mittelständler berücksichtigen könnte, dann würden aber zwanzig andere kommen und fragen: „Warum sind wir nicht dabei?“ Den Einwand, der Petersburger Dialog sei
GETTY IMAGES/FOTOBANK
PRESSEBILD
Am 17. Juli beginnt in Hannover und Wolfsburg der 11. Petersburger Dialog. Was ist über die Jahre bei all den Dialogen eigentlich an konkreten Projekten herausgekommen? Das prestigeträchtigste Projekt, das aus dem Petersburger Dialog hervorgegangen ist, ist die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch. Seit 2006 haben mehr als 40 000 Jugendliche an Maßnahmen des Austauschs teilgenommen. Ein weiteres Beispiel ist das Jugendparlament, bei dem alljährlich parallel zum Petersburger Dialog etwa 60 deutsche und russische Jugendliche miteinander diskutieren und ihre Ergebnisse in einer Plenarsitzung vor der Bundeskanzlerin und dem russischen Präsidenten vortragen. Ein wichtiges Projekt ist die Kooperation deutscher und russischer Mediziner am KochMetschnikow-Institut. Momentan steht ein Sozialforum in der Gründungsphase. Wir wollen die Zusammenarbeit innerhalb der projektbezogenen Unterstützung Hilfsbedürftiger intensivieren.
Petersburger Dialog
Streiten oder einander zuhören? Angela Merkel und Dmitri Medwedjew am Rande des Petersburger Dialogs
eine Elitenvereinigung, akzeptiere ich nicht. Wenn eine Gruppe teilnehmen will, muss sie sich mit einer guten Initiative an uns wenden. Der Dialog ist dazu da, Initiativen aufzugreifen und umzusetzen. Das Jugendparlament, der Jugendaustausch und das Kurt-Metschnikow-Forum waren Projekte, die aus der Gesellschaft an uns herangetragen worden sind. Mitmachen ohne konkrete Vorschläge – das geht nicht. Im Lenkungsausschuss sitzen dennoch vor allem ältere Diplomaten und Wirtschaftsbosse. Ich könnte mir vorstellen, dass aus der Jugendwerkstatt junge Menschen hervorgehen und sagen: „Wir wollen den Petersburger Dialog mittragen.“ Aber es wären zwei von 20, weil wir die ganze Gesellschaft repräsentieren wollen. Der Petersburger Dialog ist
ein Arbeitsgremium. Natürlich wird auch diskutiert, aber über konkrete Vorhaben. Sie sind Koordinator der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft. Gibt es denn eine solche in Russland? Ja, nur hat sie ganz andere Wirkungsbedingungen. Da ist noch sehr viel Entwicklung zu erwarten, denn eine Zivilgesellschaft hat sich erst nach dem Ende der Sowjetunion gebildet. Defi niert man Zivilgesellschaft als Freiraum, den der Staat den Bürgern lässt, kann man die russische Seite fragen: „Wie viel Freiraum gewährt Russland den freien Initiativen der Menschen?“ Herr von Studnitz, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Gespräch führte Alexej Knelz
MEINUNG
Überwindet die Barrieren! Joschka Fischer AUSSENMINISTER A.D.
W
as wird der Weg Russlands unter den völlig veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts sein? Ist es stark genug, diesen Weg allein zu gehen? Will oder braucht es Partner? Es ist eine wichtige Entscheidung, weil Russland spätestens seit Peter dem Großen immer europäischer Faktor war und von den Entwicklungen in Europa zutiefst berührt wurde. Ob dies mehr Distanz zu Europa oder Kooperation bedeutet, diese Entscheidung muss auf beiden Seiten getroffen werden, aber vor allem in Russland. Eine engere, vertiefte Kooperation wäre in gegenseitigem Interesse. Die Verbindungen sind in-
tensiv und offen, haben aber bei Weitem nicht das Niveau erreicht, das erreicht werden könnte. Dies setzt allerdings voraus, dass die Kooperation auf gemeinsamen Werten und Interessen basiert, und nicht auf dem Konzept von Einflusszonen. Interessen muss man offen benennen und Werte ebenso, diese Erfahrung haben wir in der EU gemacht. Und im nächsten Schritt muss man versuchen, in Verhandlungen Ausgleiche und Kompromisse zu finden. Die Widersprüche liegen in der gegenseitigen Nachbarschaft. Die souveränen Staaten zwischen Russland und der EU, die Frage nach der Zukunft der sogenannten postsowjetischen Ordnung, auch die nach der Zukunft der Ukraine, sind ein Thema, das auf beiden Seiten intensiv diskutiert
wird. Die Zukunft der „eingefrorenen Konflikte“ – hier haben wir erlebt, wie schnell ein eingefrorener Konflikt zu einem heißen werden kann. Gleichzeitig sehe ich ein großes wirtschaftliches, gesellschaftliches und politisches Potenzial,
Visafreiheit mit Russland wird nicht einfach, aber nach unserer Erfahrung mit den Grenzöffnungen in Europa ist es machbar. wenn wir uns ehrlich begegnen und offen mit den vorhandenen Interessenskonflikten umgehen. Die Verzahnung der Ökonomien kann einen wichtigen Beitrag leisten. Aber immer öfter höre ich,
dass es Schwierigkeiten bei russischen Direktinvestitionen in Europa gibt. Eines der Beispiele ist die gescheiterte Übernahme von Opel durch Magna. Das Hauptproblem liegt in den normativen Werteunterschieden und an dem Misstrauen, das in Europa herrscht und sich in einer schweigenden Zurückweisung solcher Investitionen ausdrückt. Die EU gründet nicht nur auf Interessen, sondern auch auf gemeinsamen Werten, die fundamental für unser Selbstverständnis sind. Jeder Fortschritt bei Rechtsstaatlichkeit, bei der Unabhängigkeit der Justiz, der Gewaltenteilung, den Menschenrechten hat positive Auswirkungen auf die wir tschaftliche Zusammenarbeit, weil er Misstrauen abbaut. Gleichzeitig sehe ich, dass in der Visafrage die Fortschritte, die möglich wären, nicht gemacht werden. Ich finde die Haltung der Europäer, vor allem der Deutschen und einiger anderer, extrem kurz-
sichtig. Alle Erfahrungen zeigen, wie wichtig der Austausch, nicht nur von Gütern und Ideen, sondern von Menschen ist. Es gibt eine große Gruppe, die in einem ersten Schritt Erleichterungen verdient hat, und zwar gegenseitig. Der zweite Schritt wäre Visafreiheit. Das wird nicht einfach unter Gesichtspunkten wie Grenzen und Einreisekontrollen. Aber vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Grenzöffnungen in Europa halte ich das für machbar. Gerade in Zeiten, in denen in der EU eine kleine fremdenfeindliche Partei eine große Regierungspartei dazu bringen kann, Grenzkontrollen wiedereinzuführen, nur weil das aus wahlpolitischen Gründen Erfolg verspricht, ist der Einsatz für die Überwindung von Barrieren von entscheidender Bedeutung. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag Joschka Fischers, gehalten am 30. Mai im Deutschen Historischen Institut Moskau.
Wirtschaft
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
3
Tourismus Russland belegt im internationalen Reise-Ranking Platz 91. In den Regionen fehlt es an Infrastruktur
Einmal im Leben hin und weg Ausländische Touristen kommen in Russland meist nicht weiter als bis Moskau oder Sankt Petersburg. Reiseziele wie der Baikal bleiben Geheimtipp.
schlechte Verkehrsverbindungen und überhöhte Hotelpreise. Auch wird der in ausländischen Großstädten übliche Service vermisst, etwa Hinweisschilder auf Englisch, Servicecenter, zentrale Haltestellen für Sightseeing-Busse, öffentliche Toiletten. „Wir arbeiten intensiv daran“, erklärt Sergej Schpilko. Der Vorsitzende des Tourismusausschusses der Stadt Moskau will bis Ende Juli ein Callcenter für Touristen eingerichtet haben, neue Hinweisschilder werden schon bald die Straßen und Plätze zieren.
Mehr schöne Reiseziele in Russland gibt es auf www.russland-heute.de
WLADISLAW KUSMITSCHEW RUSSLAND HEUTE
Ein weißer Fleck auf der touristischen Weltkarte Dennoch bleibt Russland ein weißer Fleck auf der touristischen Weltkarte. Im März bewertete eine Reisestudie des Weltwirtschaftsforums die Konkurrenzfähigkeit touristischer Märkte. Im Bereich Investitionen landete die Russische Föderation weltweit auf Platz 91, im Bereich Kultur und Natur dagegen zeigte sie ein enormes Potenzial: Sie kam unter die ersten zehn. Auch Nikolaj Kakora, zweiter Geschäftsführer der Intourist, der ehemaligen staatlichen MonopolReiseagentur, meint nur ein geringes Interesse ausländischer Touristen an russischen Reisezielen erkennen zu können. „Klassische Reiseländer wie Italien und Spanien sucht man mehrmals in seinem Leben auf. Nach Russland kommt man höchstens ein einzi-
Die Fußball-WM gibt Impulse
ITAR-TASS
„Noch bis vor Kurzem stellte man sich den typischen Touristen als einen kernigen, nach Lagerfeuer stinkenden Typen mit Wanderschuhen und Rucksack vor“, stellt Sergej Wojtowitsch lakonisch fest. Er ist Generaldirektor des Tourismuskonzerns Swoj TT, der gerade von TUI Russia & CIS übernommen wurde. „Doch auch den Politikern dürfte inzwischen klar geworden sein, dass man durch Tourismus ähnlich viel Geld ins Land bringen kann wie mit dem Export von Wirtschaftsgütern“, erklärt er. Das Geschäft mit den Fremden beschert Renditen von bis zu zwölf Prozent. Davon profitieren Staat und Dienstleister aller Couleur.
Goldener Ring von Moskau: Über dem Goritski-Kloster in Jaroslawl muss die Freiheit grenzenlos sein.
ZAHLEN
90 Prozent der ausländischen Touristen fahren nach Moskau oder Sankt Petersburg.
2,1 Millionen Touristen besuchten das Land 2010. Mit etwa 350 000 waren die Deutschen die größte Gruppe.
ges Mal zum Kennenlernen.“ Traditionelle Ziele seien Moskau und Sankt Petersburg, eingefleischte Russlandfans bereisten gerade noch die Städte des „Goldenen Rings“ rund um Moskau.
Alles andere in dem riesigen Land werde vom breiten Touristenstrom schlicht ignoriert. „Der Markt ist international hart umkämpft. Wenn wir das Angebot Ökotourismus am Baikalsee gegen das Markenimage Nepals, Costa Ricas oder Kenias setzen, hat die Region rund um den See schlechte Karten. Sie ist einfach zu unbekannt“, erklärt Wojtowitsch.
Callcenter für Touristen Trotz des schlechten internationalen Abschneidens Russlands bei der touristischen Aufbereitung von interessanten Reisezielen möchten Experten noch lange nicht von einem „weißen Fleck“ sprechen: Moskau und Sankt Petersburg verfügen über eine hervorragende Infrastruktur, so Wojtowitsch. „Wir haben scheinbar schon wieder vergessen, wie es war, als man vor leeren Hotels „Belegt“- Schildchen vorfand und der Rezeptionist einen dazu
freundlich anlächelte. Heute haben wir viele Hotels auf unterschiedlichsten Niveaus. Weil in Moskau der Sommer als Nebensaison gilt, unterbieten sie sich in den Preisen.“ Zwar sei noch nicht alles in gewohnter Qualität, räumt Wojtowitsch ein, „aber wir holen schnell auf.“ In den Metropolen gibt es deutlich mehr gute 3- bis 4-Sterne-Hotels der gehobenen
Ökotourismus am Baikalsee hat im Vergleich zu Nepal, Costa Rica und Kenia schlechte Karten. Preisklasse als in den Regionen, große internationale Hotelketten legen ein hohes Qualitätsbewusstsein an den Tag. Laut russischer Statistikbehörde sind die zwei häufigsten Kritikpunkte ausländischer Touristen
Initiative Ein Blogger ruft zum Kampf gegen Schlaglöcher und Gullydeckel
Straßenschlachten im Internet Russland hat zwei Probleme, besagt ein Sprichwort: Dummköpfe und Straßen. Einem der beiden sagen die Bürger nun den Kampf an. MORITZ GATHMANN
Jeder, der jemals in Russland Auto gefahren ist, kennt sie: die Schlaglöcher, versunkene Kanaldeckel, hervortretende Straßenbahnschienen – besonders in der Provinz gehören schlechte Straßen zum traurigen Alltag. Der Anwalt Alexej Nawalny, berühmt-berüchtigt für seinen Blog gegen Korruption, ruft nun zum Kampf gegen Schlaglöcher auf. Seine Idee ist ebenso einfach wie genial: Laut russischem Gesetz muss jedes Loch, das mehr als fünf Zentimeter tief ist, sofort repariert, der verantwortliche Beamte bestraft werden. Auf der Seite „rosyama.ru“ („yama“ ist das rus-
ITAR-TASS
RUSSLAND HEUTE
Auf rosyama.ru kämpfen Russen gegen ihr zweitgrößtes Problem.
sische Wort für Schlagloch) kann man nun das Foto eines Schlagloches nebst Angabe seiner Lage hochladen. Die Seite generiert eine Beschwerde an das Ordnungsamt – und wenn das Loch nach 37 Tagen nicht ausgebessert ist, ein
Schreiben an die Staatsanwaltschaft. Die schlaglochmüden Russen reagierten promt: In drei Wochen wurden 4189 „Defekte“ gemeldet – und 201 behoben. Zufall oder nicht: Am selben Tag, als Nawalny den Start seiner Seite
verkündete, präsentierte Premierminister Wladimir Putin stolze Zahlen über die Zukunft des Straßenbaus: Bis zum Jahr 2020 sollen allein aus föderalen Mitteln 18 000 Kilometer neue Straßen gebaut werden. An Geld mangelt es nicht, Mängel weisen eher die Kanäle auf, in denen es verschwindet. Beamte vergeben Verträge an Firmen, die zwar nicht über Kompetenz, dafür aber über die richtigen Kontakte verfügen. Und nur selten wird eine Firma zur Verantwortung gezogen, wenn die gebaute Straße nach einem Jahr schon wieder mit Schlaglöchern übersät ist. Das erklärt auch das Paradoxon, d as d ie Zeit sch r i f t Ru s sk i Reporter herausgefunden hat: Die Budgets für den Straßenbau stiegen zwar im letzten Jahrzehnt stetig, die Länge des russischen Straßennetzes stagniert jedoch bei 750 000 Kilometern.
An touristisch stark frequentierten Orten wurden bereits über 30 Infoschilder in kyrillischer Schrift und Englisch aufgestellt. Auch ist man dabei, das Parkproblem für Ausflugsbusse anzugehen. „Wir werden die Fußball-WM 2018 nutzen, um Moskau im touristischen Sinne neben Städte wie Paris, London und New York zu stellen“, erklärt Schpilko. Dazu wurden in letzter Zeit sogar Gesetze geändert. Noch immer ist die lästige Visapfl icht einer der Gründe für Touristen, Russland zu meiden. In Sankt Petersburg trat nun unlängst ein Gesetz in Kraft, das Touristen auf Kreuzfahrten einen 72-stündigen visafreien Aufenthalt ermöglicht. Die legislative Neuregelung hatte sofortige Auswirkung auf das Reiseverhalten. Der Kreuzfahrttourismus nach Russland schnellte um ein Vielfaches nach oben, auch der Fährbetrieb nach Stockholm u nd Helsin k i reag ier te m it Neuerungen. Reiseveranstalter haben Russland in ihre traditionelle Routenplanung mitaufgenommen. Reisen ausschließlich nach Russland stehen noch nicht auf dem Programm. Stattdessen liest man: „Russland plus Baltikum“ oder „Russland plus Skandinavien“.
WIRTSCHAFTSKALENDER LOGISTIK DEUTSCH-RUSSISCHE KONFERENZ „LOGISTIK DER WOLGA-REGION“ 5./6. SEPTEMBER, NISCHNIJ NOWGOROD
Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer lädt Spediteure, Retailer, Logistiker und Consulter in die Wolga-Metropole. › russland.ahk.de
UNTERNEHMERREISE INTERNATIONALES INVESTITIONSFORUM SOTSCHI 15.-18. SEPTEMBER, SOTSCHI
Die Handelskammer Sachsen-Anhalt unterstützt Firmen bei der Teilnahme am Investitionsforum im südrussischen Sotschi, wo 2014 die Olympischen Spiele beginnen. › intercom-sachsen-anhalt.de LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF
RUSSLAND-HEUTE.DE
4
Sport
WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
Frauenfußball-WM Die russische Frauenelf kickt beherzt, jedoch mangelt es ihr an Strategien und Struktur
Stollen statt Stöckel Deutschland ist im Frauen-WMFieber, die russische Nationalelf ist wie schon 2007 nicht dabei. Das hat einen Grund: Nur eine kleine Elite spielt Fußball, es mangelt an Vereinen. HEIDI BEHA
Internat, zweimal täglich professionelles Training, sehr gute Teamarbeit, um zehn Uhr abends Bettruhe. Trotzdem steht Russland nur auf Platz 20 der Weltrangliste. „Die meisten deutschen Fußballspielerinnen gehen den ganzen Tag einer Arbeit nach und sind dann noch besser als unsere Profis“, klagt Marina Burakowa, die eine Saison als Innenverteidigerin in der Bundesliga und im DFB-Pokal beim FFC Flaesheim-Hillen gespielt hat. Russinnen hätten die falsche Einstellung zum Fußball, mutmaßt sie und zitiert den Dichter Fjodor Tjutschew: „Verstand wird Russland nie verstehn.“
Training ohne Plan Ihrer Meinung nach liegt es an der russischen Mentalität, dass sich der Frauenfußball anders als in Deutschland entwickelt: „Den Spielerinnen fehlt es an logischer Denkweise und Taktik. Außerdem gehen junge Talente nicht konsequent und kontinuierlich ihrem Training nach.“ Was im deutschen Fußball schon bei der Kleinfeldstaffel in der Kreisliga verteilt wird, fehlt: ein simpler Trainingsplan. Meist erfahren die Spielerinnen, auch die der Profiliga, erst einen Tag vorher von der nächsten Trainingseinheit.
Von Frankfurt nach Woronesch 2004 wechselte Sabrina Esslinger mit 17 Jahren vom FFC Frankfurt für eine Saison zu FK Energija Woronesch. Sie war damals Jugendnationalspielerin, Russland kannte sie nur aus dem Atlas. Jetzt hat sie eine zweite Familie in Woronesch, und den Cheftrainer Ivan Saenko nennt sie „Papa“. Erst im März war Sabrina Esslinger mit Energija im Trainingslager in der Türkei, hat sich aber aus familiären Gründen gegen einen erneuten Wechsel nach Woronesch entschieden – vorerst. Nach ihrer Babypause trainiert sie wieder bei der TSG 1899 Hoffenheim und wird als Stürmerin in der Oberliga Baden-Württemberg für Tore sorgen.
„Die meisten deutschen Fußballerinnen arbeiten den ganzen Tag und sind dann noch besser als unsere Profis.“ Nicht zuletzt seien auch Luftverschmutzung und schlechte Ernährung ein Problem, das die Entwicklung junger Sportlerinnen negativ beeinflusse. „Solange unsere Gesellschaft nicht um-
ALEKSANDR KARAWAEW
Platz 20 in der FIFA-Rangliste Unter diesen ungünstigen Bedingungen hat sich der russische Frauenfußball kaum weiterentwickelt. „Junge russische Talente wollen keine Erfahrungen im Ausland sammeln, weil sie dort weniger verdienen“, sagt Marina Burakowa, 250-fache russische National- und ehemalige Bundesligaspielerin. Umgekehrt kann es für ausländische Spielerinnen sehr lukrativ sein, bei einem russischen Club anzuheuern. Zum Beispiel für die Deutsche Sabrina Esslinger. Die Zweitligaund Jugendnationalspielerin hat bei Energija Woronesch für ein Jahresgehalt von 40 000 Euro plus Prämien gespielt und gute Erfahrungen gemacht: „Das Spiel der Russinnen ist körperbetonter, und es wird mehr Wert auf Fitness gelegt“, sagt sie. Auch Jahre nach ihrer Legionärszeit schwärmt sie von den Trainingsbedingungen bei Energija: vereinseigenes
In Fahrt: Die deutsche Babett Peter (r.) wird von der Russin Elena Morozova (l.) gestoppt.
IMAGO/LEGION MEDIA
Russinnen sind bekannter für ihre schwindelerregenden High Heels als für Fußballschuhe mit Nocken. Kristina Zdor aus der westrussischen Stadt Woronesch träumt trotzdem von einer Fußballkarriere und vom großen Geld. Ein Gegensatz, könnte man meinen, den n F rauen fu ßbal l g ilt in Deutschland als wenig lukrativ. Doch in Russland ist das anders. Mit 3000 Euro monatlich würde das Einkommen der 18-Jährigen weit über dem russischen Durchschnitt von 500 Euro liegen. Ihre Karriere als Profikickerin bietet echte Aufstiegschancen für Kristina, die mit ihren Eltern und Geschwistern zwischen Plattenbauwohnung und Schule Nummer 74 das Leben eines russischen Durchschnittsbürgers fristet. Der große Ansturm auf Frauenfußballvereine ist bisher ausgeblieben. Zdors Freundinnen gehen lieber in Cafés und zum Shoppen. In Russland spielen bei 143 Millionen Einwohnern etwa 30 000 Frauen und Mädchen Fußball. „Davon sind nur 2000 in Vereinen registriert“, beklagt Jekaterina Dmitriewa vom russischen Fußballverband. Zum Vergleich: In Deutschland kicken eine ganze Million Frauen zum Spaß und in Vereinen. Nur gut 50 russische Fußballclubs stellen überhaupt Frauenmannschaften, eine systematische Jugendarbeit gibt es nicht. Während der Spiele vom FK Energija Woronesch sagt der Stadionsprecher immer wieder Telefonnummern von Jugendtrainern durch. Händeringend werden Nachwuchstalente gesucht und sollen sich bei ihnen melden. „Wir wollen künftig nach Altersgruppen gestaffelte Teams zusammenstellen“, sagt Swetlana Sajenko, Sprecherin von Energija Woronesch. In Deutschland ist das längst Standard.
DPA/VOSTOCK-PHOTO
EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE
FK Energija Woronesch begegnet den Moskauerinnen von Ismailowo.
denkt und mehr Wert auf Umweltschutz und Gesundheit legt, werden es junge Sporttalente im internationalen Vergleich immer schwer haben“, sagt Burakowa. In Sachen Gleichberechtigung geht Russland voran: Frauenvereine wie Energija Woronesch oder Zwezda 2005 Perm tragen ihre Ligaspiele selbstverständlich in den großen Stadien aus. In Deutschland ist ihnen ein solches Forum nicht vergönnt: Dort ist es unvorstellbar, dass etablierte Männervereine ihren Frauenmannschaften regelmäßig das Stadion überlassen. Frauenfußball genieße in Russland dennoch kein besonders hohes Ansehen, sagt Michail Soldatow vom Profiverein Rjasan WDW. „Der persönliche Einsatz von einer Handvoll Powerfrauen sorgt dafür, dass es ihn überhaupt gibt“, sagt er. Wer in Russland als Mädchen oder Frau Fußball spielt, sei eine Exotin. Für eine günstigere Entwicklung bedürfe es mehr Förderung durch den russischen Fußballverband und den Staat, ist Soldatow überzeugt. Der Verband teilt diese Meinung, verweist aber auf seine prekäre finanzielle Lage. Vorzeigevereine wie Rjasan WDW und Energija
Woronesch werden großzügig von der jeweiligen Regionalregierung unterstützt, sorgen sie doch für das Ansehen ihrer Heimatregion, unbekanntere Clubs müssen kämpfen. Ein großes Leistungsloch klafft zwischen Profiliga und Regionalligen. Und selbst in der Profiliga treffen manchmal allzu ungleiche Gegner aufeinander wie Ende Mai Rjasan WDW auf FK Energija. Die erste Halbzeit dehnte und dehnte sich, die Dominanz Energijas wurde immer unerträglicher. Nach einem Foul bekamen auch die Rjasanerinnen einmal den Ball. Ergebnis: 3:0 für Energija.
Lasst die Frauen kicken! Es gibt wenige, dafür aber umso erfolgsverwöhntere Fans des FK Energija Woronesch. Mit Recht können sie auf die männlichen Kollegen der Stadt herabblicken: FK Fakel Woronesch dümpelt am Tabellenende der zweiten russischen Liga. „Die Frauen zeigen aggressiven und vor allem schönen Fußball“, erklärt der Gründer des Energija-Fanclubs „Crazy Energy“ Konstantin Kolpakow. Seine Mitglieder sind überwiegend männlich und nicht besonders zahlreich, zu Spielen im 35 000-Zuschauer-Stadion kommen in der Regel ein paar Hundert Besucher zusammen. Auf den Schals der Energija-Fans ist nach fünf Meisterschaften und sieben Pokalsiegen kaum noch Platz. Manche Zuschauer in Woronesch wie Juri Gladyschew gehen nur aus einem Grund zu den Frauenspielen: „Die Angriffe sind langsamer, es fehlt ein wenig an Spannung, aber das Ergebnis stimmt.“ Darum heißt es in Woronesch, wenn die Männer von Fakel wieder einmal schlecht gespielt und verloren haben: „Lasst doch das nächste Mal Energija auflaufen!“ Heidi Beha ist Lektorin der Robert-Bosch-Stiftung in Woronesch. Zu Hause kickt sie für ihren Heimatclub SV Titisee.
Freizeit
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE
5
ENGLISHRUSSIA.COM
EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
ALLA KRAVCHENKO/FOTO40.RU
Mehr Bilder zum Thema www.russland-heute.de
Tanzen bis in die Morgenstunden, Jam-Sessions unter freiem Himmel oder einfach nur die Sonne anbeten – das ist das Lebensgefühl auf dem Festival Pustyje Holmy.
Open Air Auf dem „russischen Woodstock“ suchen viele, was sie im Alltag nicht finden: Freiheit und Kreativität
Pack die Batikhose ein trokabel verlegt werden, Soundtechnik wird angekarrt – auf einigen der Bühnen ist die Akustik ausgezeichnet. 500 ehrenamtliche Helfer machen das alles möglich. „Das ganze Fest ist so anziehend, weil die ihre Sache mit Enthusiasmus und Liebe anpacken. Diese Stimmung teilt sich auch den Besuchern mit. Sie spüren die Ehrlichkeit“, sagt Andrej Schwirblis, einer der Organisatoren, die mit dem Festival groß geworden sind.
Aus 300 wurden 40 000: Dieses Jahr hat sich der lange Weg in die „kahlen Berge“ gelohnt. Bei strahlendem Sonnenschein trafen sich Konsummüde auf dem Open Air südlich von Moskau. ANASTASIA GOROKHOVA RUSSLAND HEUTE
Keltenrock und Russenjazz
ITAR-TASS
Die Sonne ist gerade über dem Birkenwäldchen aufgegangen, der Morgennebel hängt noch über den Wiesen, da kriechen die Ersten aus ihren Zelten. Neben einem Indianer-Tipi sitzt ein kahlrasierter Mann, Oberkörper nackt, Beine überkreuzt, Arme ineinander verflochten. Er sitzt kerzengerade, als wolle er in den Himmel wachsen, und dorthin zeigt auch das Plakat neben ihm: „Finde dich selbst“. Ein paar Meter weiter: bunter Holzstand, dahinter ein gleichfalls bunt gekleidetes Mädchen m it la ngen Dread lock s. Es verkauft Pu-Erh-Tee und vegane Kokoskugeln. Im Gras schnarcht ein friedlich lächelnder Hippie mit ausrasiertem Peace-Symbol. Willkommen auf den Pustyje Holmy – den „kahlen Bergen“ –, einem Fest der Liebe, Toleranz und Naturnähe.
Bei Nacht geht das Feiern in engem Kreis am Lagerfeuer weiter.
Kommt die Zeit der kahlen Berge, macht er sich mit Hammer und Nägeln auf den Weg in die Natur.
Bands aus ganz Russland, Weißrussland und der Ukraine spielen gratis. Wochen vor Festivalbeginn laufen die Vorbereitungen an. Helfer bauen Bühnen und Essensstände. Das Festivalgelände breitet sich zwar idyllisch an den Ufern eines kleinen Flusses aus, liegt aber fern jeder Stromversorgung. Generatoren müssen aufgestellt und Elek-
Drei Millionen Rubel (75000 Euro) müssen sie von Jahr zu Jahr auslegen. Das Geld versuchen sie durch Spenden und Standmieten sowie Benefizkonzerte in Moskau wieder hereinzubekommen. Das Festival sei Ergebnis der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts, meint Schwirblis: „Einerseits ist der Wohlstand gewachsen. Andererseits kommen viele, die des Konsums müde sind und nach Alternativen und neuen Lebensperspektiven suchen.“ Schwirblis selbst ist im wirklichen Leben Pressesprecher der Russischen Gesellschaftskammer.
Urlaub vom Kapitalismus
Rocken in der Natur – Open-Air-Kultur in Russland Die Geschichte der Open Airs in Russland geht bis in die sowjetischen 60er-Jahre zurück: 1968 wurde das Gruschinskij Festival begründet. Bald kamen über 100 000 Besucher, um in der Natur bei Samara die wichtigsten Liedermacher des Landes zu hören. Anfang der 80er wurde das Festival für sechs Jahre verboten. In den letzten Jahren riefen Anhänger von Jazz, Rock, Techno und Volksmusik Dutzende Open Airs ins Leben, fast jedes Wochenende von Mai bis Herbst findet nun ein Fest unter freiem Himmel statt. Das größte unter ihnen, das Rockfestival Naschestwije, versammelt seit zehn Jahren immer Anfang Juli unweit des Dorfes Bolschoje Sawidowo die besten russischen Rockbands und beschert über
ITAR-TASS
Jedes Jahr um den 12. Juni, wenn das restliche Land den „Tag Russlands“ begeht, machen sich aus Moskau und Sankt Petersburg, aus der Ukraine und Weißrussland buntgemischte Karawanen mit Schlafsäcken, Zelten, Gitarren und Trommeln auf den Weg. Ihr Ziel: die Region Kaluga, 200 Kilometer südwestlich von Moskau. Im neunten Jahr des Festivals, bei strahlendem Sonnenschein, waren es an die 40 000 Menschen – Festival-Rekord. Die Pustyje Holmy haben so gut wie nichts mit dem alltäglichen Leben zu tun: Man geht nackt spazieren und baden, Polizisten gibt es nicht, keine Häuserschluchten und Großstadtsmog. Aber das Wichtigste im neokapitalistischen Russland ist: Das Festival ist unkommerziell. Kein Eintritt, keine Sponsoren, keine Werbung. Die
100 000 Musikliebhabern drei unvergessliche Tage. Elektro-Fans bevorzugen das Republik Kazantip. Was 1992 mit einem Windsurf-Wettbewerb auf der Halbinsel Krim begann, ist zu ei-
nem riesigen, kommerziellen Open Air geworden – nicht nur für Ukrainer. Pustyje Holmy dagegen ist das größte nichtkommerzielle Hippie-Open-Air der Russischen Föderation.
Morgens geht er mit Anzug und Krawatte ins Büro. Kommt aber die Zeit der kahlen Berge, macht er sich mit Hammer und Nägeln auf den Weg in die Natur. Auf insgesamt sieben Bühnen wird hier bis in die Morgenstunden Musik gemacht: von keltischen Klängen über russischen Ethno, Elektro, Jazz und Rock. Was die Musiker verbindet – man wird sie wohl kaum auf MTV sehen. Es gibt Workshops zu allen möglichen Themen: Trommeln, Feuerakrobatik, Bemalen von Lebkuchen, traditionelle russische Keramik oder Sandanimation. Auch einen Abenteuerspielplatz haben die Helfer ins Leben gerufen, weil viele Besucher inzwischen ihre Kinder mitbringen.
Keine Drogen, kein Fleisch Öko-Aktivisten haben in diesem Jahr ihr eigenes vegetarisches Café eingerichtet, am Torbogen zu ihrem Zeltlager ist zu lesen: „Kein Alkohol, keine Drogen, kein Fleisch“, außerdem der Aufruf, nicht zu vergessen, Müll zu trennen. Er wird auf dem gesamten Gelände befolgt – ein Novum in Russland. Alkohol und Marihuana werden dafür in rauhen Mengen konsumiert. Die „alten Hasen“ des Festivals – die meisten noch unter 30 – beklagen, dass inzwischen viele Feierabendhippies kommen: „Zu Hause arbeiten sie als Büroleiter, hier ziehen sie ihre Schuhe aus und wandeln in weiten Batikklamotten und mit Räucherstäbchen üb e r Blu me nw ie s e n“, s a g t Schwirblis, der es im Prinzip genauso macht. Das ändere aber nichts an der Grundidee des Festivals, „die Menschen daran zu erinnern, was es im Kern heißt, kreativ zu handeln und frei zu denken.“ Gegen Morgengrauen tanzen und singen auf der Ethnowiese noch immer Menschen in langen Gewändern um ein Lagerfeuer. Ein junger Mann mit geflochtenen Zöpfchen und einem grünen Rock schaut begeistert zu. In einer Woche muss der Jurist wieder zurück in sein Büro in Moskau.
6
Das Thema
WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
FEIERN IN DER HAUPTSTADT EIN STREIFZUG DURCH DIE PARTYSZENE MOSKAUS ENDET BEIM TÜRSTEHER – ODER AM NÄCHSTEN MORGEN
ALEXEJ KNELZ RUSSLAND HEUTE
Samstagnacht, null Uhr. Eine warme Juninacht vor der Nobeldisco Rai („Paradies“) auf dem Gelände der legendären Schokoladenfabrik Krasnyj Oktjabr. Entlang der Moskwa-Uferstraße zieht eine Prozession großmotoriger BM Ws und klappriger Ladas. Glamouröse Mädels auf schwindelerregenden Absätzen, die meisten knapp über 18, stolzieren zum Tor des Rai, des größten Clubs Moskaus. Wladimir „Face Control“ hält am Eingang ein Mädchen an. „Wohin soll’s denn gehen?“, will er wissen. „Meine Freundin und ich wollen in die VIP-Lounge“, sagt es selbstbewusst mit hocherhobenem Haupt. „Nur wenn ihr einen Tisch reserviert habt.“ Ihr Freund hat tags zuvor die 1250 Euro für die Reservierung bezahlt, sie darf rein, zusammen mit der Freundin in Leopardenrock und High Heels. Die Clubs finanzieren sich aus Tischreservierungen im VIP-Bereich (zwischen 200 und 5000 Euro) und Erlösen aus dem Getränkeverkauf.
Moskauer Partywurzeln Nachhaltigkeit war der Szene fremd: Die Clubs schossen wie Pilze aus dem Boden, mussten aber nach ein bis zwei Jahren oft wieder schließen. Manche gingen mysteriös in Flammen auf: Anfang 2008 brannte das Djagilew ab, fast schon das Moskauer Studio 54, zwei Jahre später das Opera. Heute haben die Partys an Extravaganz verloren. Die Menschen haben sich sattgetanzt und wollen dezent und zielgerichtet unterhalten werden. Statt der Vorgabe von Clubs zu folgen, geben sie selbst den Ton an. Über Communities und soziale Netzwerke sucht man sich online die Party aus. „Früher waren die Partys wirklich bunter, heftiger und ausgelassener“, bestätigt Andrej Sailer, musikalisches Mastermind von Solyanka. Der Club gibt heute den
Die Clubs schossen wie Pilze aus dem Boden, verschwanden aber schnell wieder. Manche gingen in Flammen auf. tet dreizehn Euro. Heute spielt Pan Pot, ein Technoduo aus Berlin. Um kurz vor fünf stellt sich Tassilo endlich ans Mischpult. Die Menge atmet unisono auf und geht zu den minimalistischen Grooves ab. Zum zweiten Mal legt Tassilo nun im Rooftop auf: In Russland sei die Technoszene relativ jung, sagt er, aber sie entwickle sich rasant. „Moskau und Sankt Petersburg sind voll dabei!“
Tanzend durch das Moskauer Wochenende: Schon am Donnerstag geh
PRESSEBILD
Ende der 1990er-Jahre öffneten in Moskau die ersten Großclubs ihre Pforten. Die konsum- und partysüchtige Klientel sprang auf den Feierzug auf. Durchtanzen bis in den späten Vormittag war in, jede mittelprächtige Fete wurde pompös mit Go-go-Girls und MCs (Masters of Ceremonies) begleitet, das Publikum war scharf auf Überraschungen: von schwingenden Glamour-Engeln bis zu Käfigen mit echten Tigern, die über dem Dancefloor baumelten.
Sonntagfrüh, 4 Uhr 38. Der Morgen dämmert. Vor dem Rai feilschen die Gäste mit den Schwarztaxifahrern über den Preis, im Rooftop fängt die Party erst an: Die Location ist ähnlich: Moskwa-Ufer, verlassenes Fabrikgebäude. Innen herrscht aber ein ganz anderes Ambiente. Statt face control gibt es Gästelisten, statt klassizistischem Kitsch alte Backsteinmauern. Musikalisch werden fauchende Technobeats serviert. Die Besucher sind im Schnitt zehn Jahre älter als im Rai, die meisten über 30, die Damen stylischer, aufmüpfige Leopardenröcke und überdimensionierte Stöckelschuhe sind rar. Ein Wodka-Bull kos-
Absätze, Alkohol, nackte Haut: Nirgendwo wird so exzessiv und konsumorientiert gefeiert wie in Moskau. Gleichzeitig entstehen neue Partytrends, die den Tanzstiefel umdrehen können.
MAKS AWDEEW
LEOPARDENRÖCKE UND FACE CONTROL
Tassilo vom Technoduo Pan Pot: „Moskau ist voll dabei.“
Ton unter den jugendlichen Trendsettern und Neoyuppies an. Er wurde nicht nach schon einem Jahr geschlossen, denn während andere Locations kommerziell richtig hinlangen, stehe bei Solyanka ein anderes Konzept im Vor-
dergund: „Das Wichtigste ist die Musik, durch die wir angenehme Menschen anziehen wollen.“ Angenehm heiße intelligent und gut drauf, die Klamotten seien Nebensache. Auch bei der Musik legt man sich nicht fest: „Wie der Name „Solyanka“ schon sagt – wir sind wie die russische Suppe, in die alles reinkommt, was man findet“, lacht Andrej. Die Betreiber haben sich ein langfristiges Ziel gesetzt: „Wir wollen einen Club schaffen, den man auch international wahrnimmt.“ Mit Tanzlokalen wie dem Rai will man nichts zu tun haben: „Bei denen geht es doch nur um Geld und nackte Haut. Wir dagegen sprechen Moskauer an, die das Besondere suchen.“
Nachtleben in Moskau: Russland HEUTE besuchte für Sie die Moskauer Partyszene AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV (4)
LAIF/VOSTOCK-PHOTO
CLUB SOHO ROOMS
CLUB ROOFTOP
CLUB ARMA 17
CLUB SOLYANKA
CLUB PROPAGANDA
MUSIK POPPIGER HOUSE
MUSIK MINIMAL, TECHNO
MUSIK HOUSE, TECHNO
MUSIK NEW WAVE BIS SCHRANZ
MUSIK PARTYABHÄNGIG
Der Stereotyp des Moskauer Nachtlebens: Oligarchen, künstliche Blondinen und schwarzer Kaviar zu schlechtem Eurohouse. Die Einlasskontrolle ist streng: Wer in den Glamour-Zoo reinwill, muss sehr reich aussehen und sein: Ein Wodka kostet 20 Euro. › sohorooms.com
Das „Dach der Welt“ liegt am Ufer der Moskwa. Musik vom Feinsten, Publikum dekadent-entspannt. Feiern bis zum Nachmittag bei happigen Preisen (Cocktails ab 15 Euro). Wer pleite ist, dem schenkt Barkeeper Andrej, mit unzähligen Piercings und Tattoos eine Attraktion für sich, kostenlos nach.
Der europäischste Club Moskaus. Der Einlass ist moderat, man zahlt Eintritt. Die Technogrößen Marco Carola oder Ricardo Villalobos legen regelmäßig auf. Die Soundanlage von Funktion One bringt die Werkhalle der alten Konservenfabrik zum Beben.
In der Hipster-Hochburg holen die 18bis 22-Jährigen die komplette Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts nach: Auf Schmalzgedudel folgt gern mal harter Techno, die Menge feiert jede Party wie die letzte ihres Lebens. Glam & Glitter sind hier tabu.
Evergreen seit 1997. Tagsüber ein Restaurant, werden um 23 Uhr die Tische geräumt, dann wird getanzt, bis sich die Dielen biegen. Das „Propka“ hat täglich geöffnet und ist immer proppenvoll. Die Einlasskontrolle ist loyal, die Alkoholika sind billig.
› arma17.ru
› s-11.ru/english
› propagandamoscow.com
Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion der Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. Verlag: Rossijskaja Gaseta, ul. Prawdy 24 str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation. Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114 Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Irina Pavlova, layout;
Andrej Sajzew, Bildbearbeitung; Wsewolod Pulja, Chef vom Dienst für Online; Dr. Barbara Münch-Kienast, Proofreading Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, schützenweg 9, 88045 friedrichshafen Copyright © FGU „Rossijskaja Gaseta“, 2011. Alle Rechte vorbehalten. Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in „Russland HEUTE“ veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion.
Das Thema
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
7
Gastronomie Der Maßlosigkeit der 1990er folgt nun Understatement
Mehr als griechischer Salat Aus sowjetischen Abfütterungsbetrieben wurden in den 90erJahren luxuriöse Edelrestaurants. Heute achtet Moskaus Restaurantszene auf Abwechslung und Qualität. EMMA BURROWS
Zu Sowjetzeiten war Essen eher Nahrung, Massenware für Mensas und Betriebskantinen – außer der anspruchsvollere Bürger baute in seinem Datscha-Garten selbst das Gemüse an. An ausländische Spezialitäten war nicht zu denken, die Kopien waren schlecht. „Den Sowjet-Kaffee konntest du nicht trinken, das Hackfleisch für die Hamburger weichte man vorher im Wasser ein“, schaudert es Iwan Schischkin, Koch im Moskauer Restaurant Delicatessen.
GERD LUDWIG
FÜR RUSSLAND HEUTE
Von der Dekadenz zum Hausgemachten: Noch vor fünf Jahren schlemmte man bevorzugt im Turandot (oben). Heute kocht man selber: im Rahmen der exklusiven Kochkurs-Events (unten).
1989 und die Kettenreaktion
wie hier die Ministry-of-Sound-Party im Club Arma 17.
Jazz auf den Wiesen von Moskaus Versailles Usadba Jazz, „Jazzanwesen“, heißt das hochwertige OpenAir-Festival vor den Toren Moskaus, auf dem sich die Jazzszene bei einem internationalen Programm begegnet. ANASTASIA GOROKHOVA RUSSLAND HEUTE
Gegenüber dem nächtlichen Tohuwabohu von Russlands Hauptstadt setzt sich das Festival Usadba Jazz wohltuend ab. Schon wegen seines Veranstaltungsortes Archangelskoje lohnt sich der Besuch. Jedes Jahr Anfang Juni findet es auf diesem fürstlichen Landsitz statt, der an das Versailles des Sonnenkönigs Ludwig XIV. erinnert. Binnen acht Jahren hat sich das Festival von einer PR-Kampagne zu einem der be-
deutendsten kulturellen Großereignisse des Moskauer Sommers gemausert. Auf der Speisekarte des Festivals wurde in diesem Jahr Jazz and more angeboten: internationaler und russischer Jazz (Robert Glasper, Sergey Zhilin ...), Funk und Indie-Pop (Tesla Boy) oder Bands wie Nino Katamadze & Insight, die einheimische Folkloreelemente mit Acid Jazz mixen. Parallel gibt es Ausstellungen freier Künstler, Events für Kinder, Trödelmärkte und improvisierte Cafés. Trotz der stolzen Preise (zwischen 30 und 90 Euro) kamen dieses Jahr fast 40 000 Besucher zusammen. Der Erfolg hat Festivalchefin Maria Semushkina ermuntert, das Fest für Jazzfreunde auch in Sankt Petersburg zu etablieren (2., 3. Juli).
PRESSEBILD
Wahrscheinlich war es 1989 ausgerechnet die erste McDonald’sFiliale, die Qualitätsmaßstäbe für andere Restaurants setzte. Die riesige Schlange vor dem Lokal war länger als die ins Lenin-Mausoleum am Roten Platz, der durchschlagende Erfolg ließ einheimische Fast-Food-Ketten aus dem Boden schießen. Ende der 90er-Jahre kamen die ersten Luxusrestaurants für Neureiche und Oligarchen, Etablissements wie das Turandot oder das beliebte Café Puschkin. Für das pompös aufgemachte NoblesseLokal im klassizistischen Stil ließ der Deluxe-Gastronom Andrej Dellos die Stadtvilla des Komponisten Rimski-Korsakow umbauen. Vom Architekturdenkmal, das an den Favoriten Katharinas der Großen erinnerte, blieb nur die Fassade. „Diese Restaurants waren die ersten Jahre nach 2000 sehr erfolgreich“, erzählt Schischkin, die Zeit sei vom „Mangel an Verständnis für gutes Essen“ geprägt gewesen. Damals ging es nur darum, richtig viel Geld auszugeben. Heute sei alles anders. „Sich mit seinem ganzen Schmuck zu behängen, auszugehen und mit Geld um sich zu werfen, das gilt als extrem vulgär.“ Mittlerweile interessieren sich die Russen eher für
unterschiedliche Küchen und raffiniert zubereitete Speisen. Schischkins Restaurant Delicatessen und andere richten sich an ein weltläufiges Publikum, das etwas vom Essen versteht. Laut Schischkin herrscht in diesen Restaurants eine intime,
Heute interessieren sich die Russen eher für unterschiedliche Küchen und raffiniert zubereitete Speisen.
IM BLICKPUNKT
LORI/LEGION MEDIA
JURI MARTIANOV_KOMMERSANT
Ein Kontrastprogramm zum heißen Nachtleben und zu Open-Air-Festivals ist Moskaus grüne Lunge: die weitläufigen und intimen Gärten und Parks. Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de
zwanglose Atmosphäre, in der sich der Gast entspannt und wohlfühlt. „Der Gast von heute ist anspruchsvoll“, sagt Schischkin. Im Delicatessen bewirten die vier Besitzer gemeinsam mit dem Personal ihre Gäste. Hier isst man gut, aber zu vernünftigen Preisen. Laut Ian Zilberkweit, Geschäftsführer der Bäckerei-Kette Le Pain Quotidien in Moskau, hat der Wettbewerb unter den Restaurants die Esskultur in der Hauptstadt verbessert. Auch die jüngste Wirtschaftskrise habe dem Geschäft gutgetan: „Die Russen wollten ihr Geld nicht mehr in schlechten Lokalen lassen, lieber haben sie hochwertige Produkte gekauft und sich zu Hause selbst verwöhnt“, so Zilberkweit. Sein Umsatz stieg um 30 Prozent. Doch eines ist noch immer schwer zu erreichen: Kontinuität und
Thema der nächsten Ausgabe RESS PHOTOXP
LANDWIRTSCHAFT Wie man das Kolchosenerbe ablegte, wer in die Landwirtschaft investiert und was deutsche Bauern in Russland machen.
Noch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper russland-heute.de/e-paper
guter Service. „Das ist das Allerschwierigste hier in Russland“, sagt Zilberkweit, „es ist noch nicht angekommen, dass der Kunde König ist.“ So sieht es auch Iwan Schischkin: „Im Gegensatz zu Russland kann man in Europa sicher sein, dass Essen und Bedienung im Rahmen sind, egal wo man hingeht.“ In Russland sei es dagegen wie im Lotto. „Wenn das Essen in einem Lokal zweimal gut war, heißt das noch lange nicht, dass es das beim nächsten Mal auch ist. In Moskau muss man wissen, wo man hingeht.“
Die Klassiker variieren Dennoch hat Moskau auf dem Gebiet der Gastronomie rasant aufgeholt. Ermutigend ist die Tatsache, dass der neue Trend zu zwanglosem Essen in angenehmer Atmosphäre nicht zum Abkupfern europäischer Gerichte geführt hat. Der Wettbewerb inspiriert Gastronomen, Neues und Eigenes auszuprobieren. Daher findet man nun häufig moderne Varianten russischer oder europäischer Klassiker auf der Speisekarte – und nicht nur den allgegenwärtigen griechischen Salat nebst italienischer Pizza. Das letzte zu erobernde Terrain in der Moskauer Restaurantszene scheint noch das „Take-away“ zu sein: Ohne Zweifel wird man schon bald unter „Essen zum Mitnehmen“ nicht mehr den Hot Dog vom Imbissstand verstehen.
8
Reisen
WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
Anderes Russland Deutsche aus den Regionen erzählen, wie es sich außerhalb der Hauptstadt lebt
Sommer, Sonne, Wolgabad Erst Zarizyn, dann Stalingrad und seit 1961 Wolgograd – die Millionenstadt am Wolgaufer, in der vor 68 Jahren General Paulus kapitulierte, besticht heute durch ihre Lässigkeit.
Mehr Bilder aus Wolgograd www.russland-heute.de
Über Moskau gibt es mehrmals täglich Flugverbindungen nach Wolgograd. Direktflüge von München aus bucht man über Rusline. Wer Zeit hat, kann vom Moskauer Pawelezki-Bahnhof auch einen Nachtzug nach Wolgograd nehmen: Ankunft ist 17 Uhr am nächsten Tag.
DENNIS STRÖMSDÖRFER FÜR RUSSLAND HEUTE AUS WOLGOGRAD
Unterkunft Hohen Komfort bietet das Hotel Intourist (DZ ab 140 Euro; www.volgograd-intourist.ru), Ausblicke auf die Wolga dagegen das Hotel Finans Jug in den oberen Etagen eines Hochhauses (DZ ab 65 Euro; Uliza Kommunistitscheskaja 40).
Essen & Trinken
FLICKR/SWERZ
Das deutsche Restaurant Bamberg braut eigenes Bier und überrascht am Abend mit Livemusik (www.bamberg-beer.ru). Sibirische Teigtaschen (Pelmeni) gibt es im Pelmen-Café (Uliza Sowjetskaja 15), den besten Schaschlik im TV Café Swetlana (neben dem Kino Pobeda).
Wolgograd sei die Stadt der Bräute, sagen Russen: Die jährliche Modelparade durch die City, organisiert von einem Motorradclub.
LORI/LEGION MEDIA
Bei 35 Grad im Schatten und 20 Prozent Luftfeuchtigkeit ist die Wolga eine willkommene Abkühlung.
LORI/LEGION MEDIA
Wolgograd im August: Zug Nummer 015 aus Moskau fährt pünktlich um 17.17 Uhr im Hauptbahnhof ein. Der Bahnhof ist wie vieles in der Stadt im spätstalinistischen, monumentalen Zuckerbäckerstil erbaut, in seinem kühlen Inneren staunt man über das Deckenmosaik, das die Helden der Befreiung von den Deutschen und des Wiederaufbaus zeigt. Auf dem Vorplatz bieten umherstreifende Händler Getränke, Souvenirs und Busreisen an, Taxifahrer werben mit sensationell „günstigen“ Preisen, die meisten Menschen stehen bei fast 35 Grad einfach nur im Schatten herum. Immer geradeaus Richtung Fluss, vorbei an dem Neuen Experimental-Theater, dem Platz der gefallenen Kämpfer und der Ewigen Flamme, sind es keine 15 Minuten bis zur Heldenallee, wo in unzähligen Cafés die Wolgograder einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nachgehen: Reden und Entspannen. Wolgograd, 1589 zum Schutz gegen die Einfälle von Nomaden aus dem Süden gegründet, ist heute mit seinen eine Million Einwohnern Universitätsstadt und ein wichtiges Industriezentrum rund 1000 Kilometer südöstlich von Moskau. Man hat es nicht weit zum Kaukasus und zum Kaspischen Meer, die Winter sind mild, die trockenen und heißen Sommer erinnern an den Nahen Osten. Das Stadtgebiet zieht sich über 80 Kilometer am Westufer der Wolga entlang, die hier mehr als einen Kilometer breit ist. An zahlreichen Orten finden sich Zeugnisse der jüngeren Geschichte: die traumatisierende Schlacht von Stalingrad, deren Ende am 2. Februar 1943 jedes Jahr gedacht wird. In Nebenstraßen, zwischen Büschen und Bäumen versteckt, markieren Panzertürme noch heute die damalige Frontlinie.
Mit ihren 85 Metern ist die „Mutter-Heimat“ Europas höchste Statue. Sie erinnert an die Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Er nimmt gerne die Einladung eines Deutschen auf eine Tasse Kaffee an, wie unter alten Bekannten üblich.
AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV
20 Rubel pro Schwein Unten am Flusshafen ist die Größe der Wolga schier überwältigend. Von hier starten Ausflugsboote (abends wummernde Discokähne) und Fähren zu den Datschen ans andere Ufer, und das für 14 Rubel, etwa 40 Cent. Die Mitnahme eines Schweins kostet 20 Rubel. An der Mole reihen sich Restaurants, ein Fitnessstudio, Clubs, ein Vergnügungspark und die Philharmonie aneinander. Junge Skater rasen über den Asphalt – manchmal sieht man zwischen zwei Bäumen auf dem Rasen neben dem Haus der Veteranen sogar Seiltänzer. Am Fluss wird die Heldenallee vom Lenin-Prospekt gekreuzt, der über 15 Kilometer sein Ufer säumt. Auf der sechsspurigen Straße gelangt man zum befahrbaren, 730 Meter langen Staudamm des Wasserkraftwerks und weiter in die Nachbarstadt Wolschskij am
Anreise
In der Nachbarstadt Wolschskij feiert man in der Sunset Bar am Achtuba-Strand die heißen Sommernächte durch.
anderen Ufer. Vorausgesetzt natürlich, es gelingt einem gleich den einheimischen Wolschanje, mit ausgestrecktem Arm einen Kleinbus (Marschrutka) anzuhalten: lässig, sekundenschnell, mit gekonnter Beiläufigkeit.
Heißes Nachtleben Gegen Abend und bei abklingender Hitze zieht es die Menschen an den Fluss. Auf der Uferstraße Nabereschnaja tummeln sich Jung
und Alt, Rollerblader und Fahrradfahrer, der eben eröffnete Supermarkt kann nicht über mangelnde Kundschaft klagen. Wer es sich leisten kann, geht später in einen der angesagten Clubs wie das Amsterdam, in dem für ein Karaoke-Lied auf Deutsch schon mal eine Ägyptenreise verlost wird. Das Piranja am Hafen dagegen ist für seine internationalen DJs bekannt. Rockiger geht es im Belaja Loschad (Weißes
Pferd) zu: In einem Hinterhofkeller feiert der Nachwuchs unter den wachsamen Augen von Türsteher Djadja Sascha (Onkel Sascha) seine ersten Auftritte. Für einen ganz normalen Kneipenbesuch ist das Café von Alexander vor dem Dom Sojusow zu empfehlen. Es hat zwar keinen Namen, dafür gibt es aber stets ein kühles Bier, das in lockerer Atmosphäre von einem bunten, einheimischen Publikum genossen wird.
Picknick am Wolgaufer Wolgaab- und aufwärts laden lauschige Plätzchen am Wochenende zu einem Bad im Fluss und ein paar Stunden des Müßiggangs. Man muss sein Essen nicht unbedingt mitbringen: Immer ist ein Schaschlikstand in der Nähe, alles ist frisch zubereitet und kostet nicht viel. Die Wolschanje kennen ihre Geschichte gut und können Er-
staunliches berichten. Während einer Führung zum Mamajew-Hügel, wo seit 1967 eine 85 Meter hohe und 8000 Tonnen schwere Statue an den Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht erinnert, erzählt Wladimir, Veteran des sowjetischen AfghanistanKrieges, wie seine Kinder hier früher gespielt haben: Mit gefundener deutscher Munition zogen sie erneut in die Schlacht.
Tasse Kaffee mit Wladimir Das hindert Wladimir nicht daran, Geschichte und Gegenwart strikt zu trennen. Er nimmt gerne die Einladung eines Deutschen auf eine Tasse Kaffee und zum Plaudern an, wie unter alten Bekannten üblich. Und diese Mischung ist es, welche die Millionenmetropole an der Wolga für seine Bewohner und Besucher gleichermaßen so reizvoll macht: der tolerante Umgang mit Geschichte, urbane Strukturen mit großem Erholungswert und nicht zuletzt der freundliche Umgangston in den Straßen. Dennis Strömsdörfer ist DAADLektor an der Pädagogischen Universität Wolgograd.
Reisen
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
9
Reportage Nur an 40 Tagen im Jahr können zahlungskräftige Touristen vom Camp Barneo aus den Nordpol erobern
Manche mögen’s kalt
Bis zu 30 Minusgrade draußen, aber gemütliche 18 Grad plus innen: das Camp Barneo
Am Nordpol gefriert schon mal der Champagner in den Gläsern – gut, dass der Helikopter einen gleich wieder ins nördlichste Camp der Welt bringt. STEFANIA ZINI EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE
Ich habe schon in allen möglichen Unterkünften geschlafen – in einer Unterwassersuite in Florida, auf Bäumen in der Türkei, in einer Schlafbox an einem japanischen Bahnhof, in einer ehemaligen Kirche in Schottland oder einem früheren slowenischen Gefängnis. Doch die Übernachtung am Nordpol übertraf alles. Die russische Arktisstation Barneo hat noch nicht einmal eine Adresse. Seit über zehn Jahren erscheint sie jedes Jahr für gerade einmal 40 Tage – von Ende März bis Anfang Mai – auf der Landkarte. Auf Drifteis mitten im Meer werden dann mehrere Zelte gestellt und eine behelfsmäßige Start- und Landebahn eingerichtet. Die Strömung lässt die GPS-Koordinaten von Sekunde zu Sekunde heftig schwanken.
zen wir fünf Australier ab. Sie wollen die letzten Kilometer auf Skiern zurücklegen. Noch 15 Minuten im Helikopter, und wir sind am Ziel. Und jeder feiert diesen Moment auf seine Art. Ein Ehepaar aus Neuseeland zückt prompt Golfschläger und hebt zu einer Partie Nordpolgolf an, vier Japanerinnen klicken ihre Eindrücke hastig in ihre Kameras. Ein britischer Romeo fällt vor seiner chinesischen Julia auf die Knie und macht ihr einen Heiratsantrag. Unser Begleiter entkorkt eine Flasche Champagner, doch niemandem gelingt es, auch nur einen Schluck zu trinken – der edle Tropfen ist sofort eingefroren. Zurück im Camp gibt es Borschtsch mit Sauerrahm. „Ohne Zusatzstoffe und direkt aus Moskau eingeflogen“, brüstet sich der Küchenchef nicht ohne Stolz. Der Gemeinschaftsraum mit dem vor sich hinköchelnden Samowar ist rund um die Uhr belegt, zu Tee oder Kaffee wird trockenes Gebäck im Verbund mit kauzigen Geschichten serviert.
Scheidung am Pol Zur Begrüßung ein Gläschen Wodka auf dem Ölfass Im Flugzeug von der norwegischen Insel Spitzbergen nach Barneo sieht man unter sich nur Wasser und Eis. Doch nach der Landung im Camp bleibt keine Zeit für bange Minuten. Leiter der Station Wiktor Bojarskij, Direktor des Sankt Petersburger Arktis- und Antarktismuseums und eine Art lokale Legende, begrüßt kurz die neue Gruppe und bittet dann unvermittelt zum Willkommensschmaus: gefrorenen Fisch (Stroganina) mit Wodka, serviert auf einem leeren Ölfass. Wir haben genau zehn Minuten, um unsere Rucksäcke zu den Zelten zu bringen und uns wärmer anzuziehen. Dann geht es zum riesenhaften Mi-8, dessen Turbinen und Propeller gerade anzulaufen beginnen. Schließlich steigt der Dinosaurier der sowjetischen Helikoptertechnologie schwerfällig in die Luft, voll bepackt mit Menschen auf dem Weg zum nördlichsten Punkt der Erde. In der Nähe des 89. Breitengrades set-
An dem einen Tisch beklagen amerikanische Wissenschaftler den Verlust einer teuren Boje, die ins Meer geweht wurde. Am anderen tauscht eine Gruppe Manager Visitenkarten aus. Derweil erzählt unser Begleiter dem frisch vermählten interkulturellen Paar eine der unzähligen Anekdoten von der Polarstation: „Am Pol wird nicht nur geheiratet. Kürzlich hat ein Gast per Satellitentelefon von seiner Frau die Scheidung verlangt.“
VOSTOCK-PHOTO
MICHAEL MARTIN
Vom Camp Barneo erreicht man den Nordpol entweder mit dem Schlitten oder mit dem Helikopter.
Das im Meer treibende Camp Barneo ist weltweit das nördlichste seiner Art. Im Nordpolarmeer ist es der einzige Zufluchtsort für Wissenschaftler – und Touristen, die gerne einmal Polarforscher spielen und einen Fuß auf die sich in steter Bewegung befi ndliche Erdspitze setzen möchten. Vergeblich versuchen sie, Ost und West zu definieren. Von hier aus liegt alles südlich, Tag und Nacht haben andere Dimensionen. Jedes Jahr sei es ein Leichtes, einen Standort für das aktuelle Camp Barneo zu bestimmen und die Station einzurichten, sagen die Organisatoren. Genauer gesagt, gibt es zwei Standorte, der erste liegt ungefähr auf dem 87. Breitengrad, der zweite befindet sich wesentlich näher am Pol. Anfang
So komme ich zum Nordpol Von der norwegischen Insel Spitzbergen bringt ein Flugzeug die Reisenden zunächst ins Camp Barneo, 50 Kilometer vom Nordpol entfernt. Es steht jährlich von Ende März bis Anfang Mai seinen Gästen zur Verfügung. Von dort geht es mit dem Helikopter, einem Husky-Schlitten oder auf Skiern weiter. Für Extremsportler und alle, die es wagen, wird der Ab-
sprung mit einem Fallschirm über dem Pol angeboten. Je nach Länge und Programmpunkten kostet die Reise ins Eis zwischen 9400 bis 27 000 Euro. Wer schon jetzt sein Abenteuer fürs Frühjahr 2012 buchen will: www.polar-expeditions.com. Unter www.barneo.ru/2011e.htm ist das Tagebuch der Crew vom Frühjahr 2011 in englischer Sprache nachzulesen.
Niemandem gelingt es, auch nur einen Schluck des Champagners zu trinken. Der edle Tropfen ist sofort eingefroren. März geht die Arbeit los. Ein Aufklärungsteam macht sich zunächst auf die Suche nach einer geeigneten, massiven Eisscholle. Ihre Koordinaten gibt das Team nach Murmansk weiter, von wo aus ein Flugzeug mit Traktoren startet. Sobald diese eine Start- und Landebahn geräumt haben, reist eine Kommission aus Krasnojarsk an und begutachtet die Basisinfrastruktur. Eingeflogene Schlepper, Stromgeneratoren, Lebensmittel, Zelte sowie Brenn- und Schmierstoffe machen die neue Polarstation dann bezugsfertig. Für Touristen ist Barneo nur Zwischenstation, wenn auch ihre letzte auf dem Weg zum Nordpol. Sie kommen mit dem Flugzeug vom Festland. Von Barneo aus geht es dann mit Skiern, Hundeschlitten oder Helikoptern weiter in Richtung Norden. Bereitwillig erfüllen die Organisatoren alle Wünsche ihrer exklusiven Besucher, denn der Ausflug zur Nordkappe über Barneo ist mindestens so teuer wie die mehrwöchige Fahrt auf einem Luxusliner.
Rund 40 Polarforscher und Touristen können sich gleichzeitig im Camp aufhalten, darunter findet sich auch immer wieder Prominenz aus aller Herren Länder. Nur wenige Tage vor meiner Ankunft war der britische Kronprinz Harry mit einiger Verspätung abgereist. Während seines Aufenthalts hatte sich auf der Landebahn ein Riss im Eis von einem halben Meter aufgetan und den Flugverkehr für ganze zwei Tage lahmgelegt.
Golden schimmert das Eis Auch im Moment sieht man einige unrasierte, aber glückliche Touristen. Gerne nehmen sie die primitiven Zustände im Camp und alle Reisestrapazen in Kauf, um dann sagen sagen zu können: „Ich war dort!“ Das reine bläuliche Eis trägt einen goldenen Schimmer für die Organisatoren touristischer Exkursionen in die Arktis. Offensichtlich sind Pioniergeist und Abenteuerlust in der Welt noch nicht ausgestorben – zumindest bei jenen nicht, die sich die Nachahmung von Fridtjof Nansen und Alfred Wegener leisten können. Stefania Zini schreibt für Russia Oggi, die italienische Ausgabe von Russia Beyond The Headlines.
10
Gesellschaft
WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
Gesellschaft Ein Zirkus in Sankt Petersburg zeigt Kindern aus Problemfamilien, wie man auf eigenen Beinen steht
Bühne frei für die Rabauken Der kleine Danila und der große Maxim prügeln sich, werfen sich durch die Luft, giften sich an. Klar, es geht um ein Mädchen. Am Zelthimmel leuchten die Sterne - Probe im Zirkus Upsala.
Clownshow im Upsala: Das Fliegende-Kinder-Festival für Toleranz in Sankt Petersburg.
gesagt, das sei für ihn sehr praktisch“, erzählt sie empört. Upsala will die Kinder aus der Routine reißen, aus dem Teufelskreis von Heim, Sonderschule, Knast.
Unabhängig und frei Nicht immer klappt alles, manchmal „reißt die Schnur“, wie Larisa sagt. Es ist Anfang Juni – in einem Monat will der Zirkus durch Deutschland und Frankreich touren, und gerade jetzt ist ein Artist abgesprungen. „Er ist einfach nicht zur Vorstellung gekommen, hat seine Freunde im Stich gelassen“, sagt Larisa. Sie hat lernen müssen, mit solchen Enttäuschungen zu leben. Der größte Luxus, den Upsala sich leistet, ist seine Unabhängigkeit: Zwar treten die jungen Rabauken auch bei Stadtfesten auf, aber auf staatliche Institutionen angewiesen zu sein – niemals. Larisa muss keine Rechenschaft ablegen vor irgendwelchen Vorgesetzten und nicht für jeden Kugelschreiber einen Antrag ausfüllen. Vor Kurzem bat das Sozialministerium sie, bei einer Veranstaltung des Einigen Russlands aufzutreten, der allgegenwärtigen PutinPartei. „Der Moment, als ich einfach Nein sagte, war einer der schönsten in meinem Leben“, erklärt Larisa lächelnd.
MORITZ GATHMANN
Jonglieren an der Metro Der Bauunternehmer, der ihnen Asyl gewährt hat, nimmt keine Miete von den „Upsalanern“ und bezahlt ihnen sogar den Strom. Rundum frischer grüner Rasen, neben dem Zirkuszelt das renovierte Verwaltungsgebäude. Von einem kleinen Teich weht frische Luft herüber, und am anderen Ufer wächst ökogrün Googles Russlandrepräsentanz in die Höh. An diesem Ort versucht die 36-jährige Theaterregisseurin, Kindern aus zerrütteten Familien das zu geben, was ihnen am meisten fehlt: Selbstvertrauen. Elf Jahre ist es her, da gab Larisa zusammen mit ihrer deutschen Freundin Astrid Schorn den ersten Straßenkindern Bälle in die Hand und stellte sie zum Jonglieren an die Metroausgänge. Über die Jahre haben die Upsalaner ihre Salti in Frankreich gezeigt, in Finnland und in Deutschland. Der Zirkus steht in der Tradition des berühmten Clowns Slawa Polunin: Die Artisten schlagen Salti, jonglieren und balancieren, aber vor allem erzählen sie Geschichten, träumerische, rabaukische. Larisas Warteliste ist lang, Platz hat sie nur für 60 Kinder. Gut, dass manche frühere „Schüler“ nun selber als Trainer die Jüngeren das Zirkushandwerk lehren. Der 23-jährige Sergej bewirbt sich gerade sogar an der Sankt Petersburger Schauspielschule. Es
Das Video zum Thema www.russland-heute.de
Die Artisten jonglieren und schlagen Salti, vor allem aber erzählen sie Geschichten, träumerische und rabaukische.
Mehr Spenden aus Russland
PRESSEBILD
M. GATHMANN
sind diese Erfolgsgeschichten, die Larisa Mut machen. Der kleine Danila, ein quirliger Achtjähriger, ist das Nesthäkchen, die Älteren behandeln ihn wie ihren kleinen Bruder. Gerade versucht er, den Sattel eines Einrads auf seine Höhe zu schrauben. Fragt man ihn, was er werden will, sagt er „Zirkusdirektor“. Schon mit fünf ist er zum Zirkus gekommen, Larisa gabelte ihn bei der Essensausgabe des Roten Kreuzes auf: Vater im Knast, Mutter tot, Danila wohnte im Heim. Wie es da aussieht, weiß Larisa von ihren Besuchen. „Einmal saßen alle Kinder rum und schnüffelten Klebstoff. Der Direktor hat
Hinter den Kulissen
Der achtjährige Danila, das Nesthäkchen, ist schon beim Zirkus dabei, seit er fünf ist. Zirkusdirektorin Larisa Afanasjewa (rechtes Bild) erzählt, wie schwer es ist, die ganze Gruppe zusammenzuhalten: „Vor einigen Jahren gab es eine schwere Krise: Bei einer
Waisenkinder in Russland
Tournee durch Deutschland hatte jemand den Kindern ein paar Hundert Euro Honorar gezahlt. Das war ein Fehler. Nach der Rückkehr fing die Fragerei an: ‚Und wie viel hat wohl Larisa bekommen?‘ Nach ein paar Wochen fiel die Gruppe auseinander.“
Upsala auf Tour Die Termine der Deutschlandtournee: BERLIN 8. Juli, 10.30 Uhr, Hofcafé Mutter Fourage, Chausseestr. 15A, BerlinWannsee 9. und 10. Juli, 18.00 und 16.00 Uhr, Circus Schatzinsel, May-Ayim-Ufer 4 LEIPZIG 12. Juli, 15.00 und 19.30 Uhr, UT Connewitz, Wolfgang-Heinze-Str. 12 DUISBURG 14. Juli, 19.00 Uhr KOM’MA-Theater, Schwarzenberger Straße 147
ITAR-TASS
Der Ton bei Upsala ist rau. „Verflucht, Mischa, was ist? Ich geb dir genau 24 Stunden. Schlaf nicht, iss nicht – mir egal. Wenn du bis dahin nicht die Nummer draufhast, fährst du nicht mit nach Deutschland, kapiert?“ Mischa, zwölf Jahre, schaut erschrocken unter seinen blonden Haaren hervor. „Und warum?“, zischt Larisa, „weil du dich selbst achten musst!“ Die Regisseurin in den weißen Baggy Pants hat fertig. Kuschelpädagogik ist das nicht. Larisa sucht die „Play“-Taste auf dem mächtigen schwarzen Ghettoblaster. Träumerische Klavierklänge erfüllen das Zirkuszelt, und Mischa, jetzt konzentrierter, tänzelt mit den anderen der schönen Eldara mit dem Regenschirm hinterher. Über ihnen prangen die Sterne am Himmel. „Upsala – Rabauken können fliegen“ steht auf einem Transparent, das hoch oben über der Zeltkuppel im Wind flattert. Larisa Afanasjewas Arche Noah für schiffbrüchige Kinder ist vor wenigen Monaten im Norden von Sankt Petersburg vor Anker gegangen. Nach Jahren des Vagabundierens von einem Provisorium zum nächsten hat sie jetzt das, was sie gesucht hat. „Ich wollte immer diesen Kindern eine Heimat geben“, sagt Larisa.
PRESSEBILD
RUSSLAND HEUTE
2010 gab es in Russland mehr Waisenkinder als im Zweiten Weltkrieg: Waren es in den 1940er-Jahren 678 000, so lag die Zahl nach Angaben der Duma-Abgeordneten Jelena Misulina im letzten Jahr bei 697 000. Zwei Drittel sind „soziale Waisen“, das
BONN 18. Juli, 18.00 Uhr, Junges Theater, Hermannstr. 50 heißt, mindestens ein Elternteil ist noch am Leben, kümmert sich aber nicht um das Kind. Fast die Hälfte der Adoptiveltern kommt aus dem Ausland. Allein amerikanische Eltern nahmen in den letzten 20 Jahren mindestens 60 000 russische Kinder auf.
DÜSSELDORF 21. bis 29. Juli, FFT, Kasernenstraße 6, zu unterschiedlichen Zeiten (www.forum-freies-theater.de) Mehr Infos: www.upsala-zirk.org
Dafür ist sie ständig auf der Suche nach Sponsoren: Zu Beginn lebte Upsala praktisch nur von Spendengeldern aus Deutschland, erst letztes Jahr spendete eine Berlinerin 60 000 Euro, mit denen Larisa das kleine Bürogebäude renovieren konnte. Heute kommt die Hälfte aus Russland. Natürlich ist Larisa über die Hilfe aus dem Ausland unendlich dankbar, aber in Zukunft will sie auf eigenen Beinen stehen. „Es muss doch in einem so reichen Land möglich sein, genug Sponsoren zusammenzubekommen“, sagt sie. Die 150 000 Dollar für das neue Zirkuszelt sollen aus Russland kommen – „das ist Ehrensache!“ Am Nachbartisch sitzt schon eine professionelle Fundraiserin. Danila und der einen halben Meter größere Maxim mimen jetzt zwei Gauner, die durch die Straßen ziehen. Aus dem Ghettoblaster singt Garik Sukatschow ironisch: „Das ist ein richtiger Mann – der sein Gewehr in den Himmel halten kann“, sprich bei der Luftabwehr dient. Die beiden ungleichen Jungs lassen ihre Muskeln spielen. Schließlich kommt es zur Prügelei mit einem anderen Gauner, getanzt natürlich wie in der Westside Story. Die Szene stammt aus dem Alltag der Jungen, nur derjenige kann sich durchsetzen, der zuschlägt. Aber im Theater sind sie zögerlich, zurückhaltend. Larisa springt auf, baut sich vor den beiden auf, den Kopf provozierend nach vorn gestreckt: „Was willst du, Alter, hä?“ Die Umstehenden lachen. „Es gibt im Theater keine Bewegung mit 50 Prozent“, ruft sie. „Nein, nur 100 Prozent“, sekundiert der kleine Danila. „Mein Schlaumeier“, lacht Larisa. Danila, das Nesthäkchen.
Feuilleton
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
11
Literatur In diesem Jahr wäre der russische Schriftsteller Sergej Dowlatow 70 geworden
LESENSWERT
Die Nerven der russischen Sprache
Insidertipps für Russlands Hauptstadt
selgesang der Zynismen war das große Thema Dowlatows, der bittere Hintersinn all seiner Anekdoten und Witzeleien, die auf den ersten Blick klischeehaft erscheinen können: Saufereien, Schlägereien, Armut, Zensur. Aber Dowlatow kommt immer virtuos aus allen Klischees heraus: mit kunstvoll gesetzten Pointen, mit dem berühmten, bis zur Perfektion geschliffenen „Dowlatow’schen Satz“. Wie eine Gedichtszeile bleibt er im Gedächtnis haften. Dieser Satz kann gesprochene Sprache ohne Verlust an Natürlichkeit und Witz schriftlich festhalten. Wie schwierig das ist, weiß jeder, der es einmal versucht hat. Dieser Satz sticht tödlich, bleibt aber immer unter dem Schleier von Selbstironie und Gutmütigkeit. Eben das macht Sergej Dowlatow zu einem bedeutenden Schriftsteller und unterscheidet ihn von zahlreichen Epigonen, die makabre und absurde Anekdoten ohne tragische, existenzielle Dimension sammeln und nacherzählen.
Die Lebensgeschichte Dowlatows liest sich wie eine Tragikomödie, und so lesen sich auch seine Werke. 21 Jahre nach seinem Tod sind seine Bücher längst kein Geheimtipp mehr. OLGA MARTYNOVA FÜR RUSSLAND HEUTE
Der ungezwungen wirkenden Erzählweise Dowlatows liegt eine einfache, aber stabile Rahmenkonstruktion zugrunde. Und obschon ein Herr Sergej Dowlatow Protagonist vieler seiner Erzählungen und Romane ist, sind diese doch nicht rein autobiografisch. Dichtung und Wahrheit. „Der Koffer“, 2008 auch in deutscher Sprache erschienen, handelt von einem Emigranten namens Dowlatow. Für seinen gesamten Besitz steht ihm nur ein einziger Koffer zur Verfügung: „Ich betrachtete den leeren Koffer. Am Boden Karl Marx. Im Deckel Brodsky. Und dazwischen ein verpatztes, wertloses, einziges Leben.“ Inhalt des Koffers ist Anlass zu den absurdesten Geschichten: Ein Paar Handschuhe stammen aus dem Requisitenfundus des Leningrader Filmstudios, „ausgeliehen“ von einem avantgardistischen Filmregisseur. Es folgt die Anekdote: Dowlatow, größter Schriftsteller aller Zeiten (1,94 m), steht in der Schlange vor einer Bierbude, verkleidet als Peter der Große, größter Zar aller Zeiten (2,12 m). Der Regisseur erhoffte sich aufgebrachte oder verstörte Reaktionen aus der Bevölkerung, doch nichts dergleichen. Die Leute ach-
KULTURKALENDER
Das Theaterstück „The Death of Bessie Smith“ von Edward Albee handelt von dem Gerücht, die große Jazzsängerin sei gestorben, weil sie keine Klinik für Weiße betreten durfte. Als man sie endlich in eine Klinik für Schwarze brachte, war es zu spät. Dowlatow hatte keine Krankenversicherung. Als er mit einem Herzinfarkt nach mehreren Versuchen in anderen Kliniken endlich auch ohne Versicherungsschein in einem New Yorker Krankenaus aufgenommen wurde, war es zu spät. Als hätte er diese Eigenschaft gehabt – die markantesten und absurdesten Geschehn isse sei ner Umgebu ng a m eigenen Leibe zu überprüfen. Beschreiben konnte er diese letzte Absurdität nicht mehr.
Meister der kurzen Form: Sergej Dowlatow in Tallin, 1974
BIOGRAFIE
Sergej Dowlatow
In Ufa geboren, zog Sergej Dowlatow dreijährig nach Sankt Petersburg. Er studierte Philologie, schaffte aber den
Abschluss nicht und schlug sich fortan als Gefängniswärter und Journalist durch. 1972 ging er für drei Jahre nach Estland, wo sein erstes Buch vom KGB vernichtet wurde. 1978 wanderte er in die USA aus. Auf Deutsch sind erschienen „Die Unsren“, S. Fischer (vergriffen), „Der Koffer“, DuMont, und „Der Kompromiss“, Pano Verlag.
ten lediglich penibel darauf, dass der „Zar“ nicht drängelt oder bevorzugt behandelt wird und sein Bier außer der Reihe bekommt. In den USA war Dowlatow erstaunlich erfolgreich für einen Exilautor ohne „Vorruhm“ oder „politische Versehrtheit“. Nicht zuletzt dank seines einflussreichen Freundes Joseph Brodsky, der auch aus der Leningrader Literaturszene der 60er kam, aber Ruhm und den Ruf eines politisch Verfolgten mitgebracht hatte. Dowlatow wurde zum Stammgast internationaler politischer und literarischer Konferenzen. In einem Brief schreibt er, wie ein verdien-
ter Dissident Besäufnisse mit alten Freunden zum eigentlichen Zweck dieser Konferenzen erklärte. Die „amerikanischen Veranstalter“ hätten das mit einigem Staunen vernommen, waren sie doch sicher, es ginge um die Niederschlagung totalitärer Regime. Ist das zynisch? Ja und nein. Es ist in erster Linie eine nüchterne Feststellung: Die russische Literatur, das einzige, was für Dowlatow wichtig war, scherte im Westen keinen – solange es nicht um politische Spielchen ging. Mit Zynismus auf Zynismus antworten – das war die traurige sowjetische Lebensschule. Dieser Wech-
THEATER LIEBE JELENA SERGEJEWNA
FEIER FESTIVAL DER RUSSISCHEN KULTUR
LEBEN: 3.9.1941 (UFA) BIS 24.8.1990 (NEW YORK) WERK: ZWÖLF BÜCHER (IM EXIL)
TERMINE AB 14. JULI, THEATER AALEN
Olga Martynova, Lyrikerin, Essayistin und Prosaautorin, lebt seit 1991 in Deutschland. Ihr Roman „Sogar Papageien überleben uns“ schaffte es in die Longlist des Deutschen Buchpreises 2010.
IM BLICKPUNKT
RG
Peter der Große (2,12 m)
Ein traurig-absurdes Ende
AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV
Im Sommer 1990 starb der große russische Schriftsteller Sergej Dowlatow im Alter von 49 Jahren in New York. In Deutschland so gut wie unbekannt, genießt er in Russland Kultstatus. Seine Bücher werden regelmäßig neu aufgelegt, viele seiner Sätze und Wendungen gehören mittlerweile zum allgemeinen Sprachgebrauch, Anekdoten aus seinem Leben erzählt man sich nicht nur in seiner Wahlheimatstadt Sankt Petersburg. In der UdSSR wurden Dowlatows Texte nur selten publiziert. Und nachdem er 1978 in die USA ausgewandert war, kam das erst recht nicht mehr in Frage: Emigranten wurden aus der sowjetischen Literaturgeschichte gestrichen. Als seine Bücher dann endlich zu Zeiten der Perestrojka erscheinen durften, war es, zumindest für ihn, zu spät. Er starb an der Schwelle zum Erfolg.
Auf den Spuren Sergej Dowlatows: Wie im Park Puschkinskije Gory bei Pskow ein Museum des Literaten entsteht. Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de
KLASSIK CLASSIC OPEN AIR DRESDEN 21./22. JULI, DRESDEN, NEUMARKT
16./17. JULI, KOLONIE ALEXANDROWKA
ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF
Ein kontroverses Drama der Russin Ljudmila Rasumowskaja: Die Schüler der Klasse 10b erscheinen bei Jelena Sergejewna und gratulieren ihr zum Geburtstag. In Wirklichkeit aber wollen sie ihre Lehrerin erpressen.
Klein-Russland bei Berlin, das ist die Kolonie Alexandrowka, gegründet 1826 von Wilhelm III. Das Festival bietet Kasatschok, Balkanbeat und das ein oder andere Gläschen Wodka.
Zum 50-jährigen Bestehen der Städtepartnerschaft mit Sankt Petersburg kommt das Sinfonische Orchester der Staatlichen Kapelle Sankt Petersburg nach Dresden. Am ersten Abend spielt der Pianist Arkadij Zenziper.
RUSSLAND-HEUTE.DE
› www.theateraalen.de
› www.kultur-alexandrowka.de
› www.classicopenair-dresden.de
N
eunzig Prozent aller ausländischen Russlandreisenden fahren nach Sankt Petersburg oder Moskau. Moskau. Faszinierend, in welch atemberaubender Geschwindigkeit die Zehnmillionenmetropole ihr Gesicht verändert, sich der wechselhaften Gegenwart anpasst, gezeichnet von ihrer zum Teil dramatischen Vergangenheit. Beidem – Geschichte und Gegenwart – ist der im letzten Jahr erschienene Reisebildband „Zeit für Moskau“ gewidmet. Darin stellt Autorin Ulrike Gruska thematisch klug gebündelte Geschichte – Kreml, Kirchen, Kunstepochen und Außenbezirke – dem vibrierenden Moskau von heute gegenüber. Der Leser erfährt von Zarenwillkür und Gulag, und er erfährt von der 2006 in ihrem Haus ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. Passend zu den Themenschwerpunkten werden gezielt Empfehlungen für Gaumen und Unterkunft gegeben. Nach dem Besuch des Majakowski-Theaters bietet sich das Restaurant Majak im selben Haus an, im Hotel Kebur Palace kommt man unter, wenn man in Sachen Tolstoi unterwegs ist. Dazu gibt es aktuelle Informationen zu den angesagtesten Clubs und trendigsten Modedesignern. Leider altert das Allerneueste mitunter schnell: Bürgermeister von Moskau ist jetzt Sergei Sobjanin, nicht Juri Luschkow. Der Fotograf Olaf Meinhardt ergänzt den Text mit suggestiven Bildern von Menschen bei der Arbeit, protzigen Grabanlagen, stalinistischer Prachtarchitektur und unter Hochhäuser geduckten Zwiebeltürmen und macht damit auf die Paradoxien der russischen Gesellschaft aufmerksam. Seine Aufnahmen von Restaurants und Unterkünften lassen den Leser sofort die Koffer packen. Olaf Meinhardt, Ulrike Gruska: Zeit für Moskau. Bruckmann Verlag 2010, 191 S. Barbara Münch-Kienast
empfiehlt
12
Porträt
WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU
Theater In der legendären Moskauer Kinderoper sorgt ein Regisseur aus der Provinz für frischen Wind
Aschenputtel entstaubt Georgij Isaakjan gilt als Junger Wilder in Russland. Er brachte Solschenizyn auf die Bühne und inszenierte „Fidelio“ im Gulag. Jetzt sucht er eine neue Herausforderung: Opern für Kinder.
Premiere von „Die Liebe zu den drei Orangen“ am Theater von Natalja Saz.
ANASTASIA GOROKHOVA
Es riecht nach Verfall Seit einem Jahr ist er hier Intendant und Regisseur. Er hat ein schweres Erbe angetreten, denn die „Mutter aller Kindertheater“, wie Natalja Saz genannt wird, setzte die Messlatte hoch: Sie war befreundet mit Igor Strawinski, musizierte mit Albert Einstein, inspirierte Sergej Prokofjew zu „Peter und der Wolf“ – ein Stück, das hier uraufgeführt wurde. Das war vor 67 Jahren, aber Saz regierte im Operntheater bis zu ihrem Tod 1993. Heute riecht es nach Verfall: staubige, marode Dielen, das Parkett auf der Hauptbühne ist abgewetzt. Auch das Repertoire ist angestaubt, besteht vor allem aus sowjetischen Stücken. „Als hätte es danach nichts Neues gegeben“, Isaakjan schüttelt den Kopf. Auf seinem Weg kommt er am Büro von Natalja Saz vorbei. Seit ihrem Tod ist es verschlossen, die Türe ziert ein vergoldetes Schild mit ihrem Namen, den die Theatermitarbeiter noch immer voller Ehrfurcht flüstern.
PRESSEBILD
Lautsprecher auf. Es ist 15 Uhr, eine Kinderoper läuft gerade auf der Hauptbühne an. Konzentriert hört Isaakjan einige Minuten zu, runzelt die Stirn und fährt fort. „Die heutigen Kinder wissen viel mehr. Sie verstehen die einfache Märchensprache nicht, weil sie täglich mit Gewalt, Terror, Pornographie und Drogen konfrontiert werden, Computer spielen und im Internet surfen.“ Statt mit Bildern müsse man direkter auf sie zugehen und ihre Probleme ansprechen.
BIOGRAFIE
Georgij Isaakjan HERKUNFT: JEREWAN ALTER: 43 PROFIL: OPERNVISIONÄR
1968 wurde Georgij Isaakjan in der armenischen Hauptstadt Jerewan geboren, in der er auch seine Kindheit verbrachte. Er ging nach Moskau und machte 1991 seinen Abschluss an der Theaterhochschule GITIS. Im Anschluss wurde er an die Oper Perm „beordert“ (was in der Sowjetunion so üblich war). Dort wirkte er zunächst als Regisseur, ab 1996 als Intendant. 1998 inszenierte Isaakjan
Seit dem Tod von Natalja Saz vor 18 Jahren ist ihr Büro versiegelt. Noch heute flüstert man ihren Namen ehrfürchtig. Isaakjan wirft einen nachdenklichen Blick auf die Tür. Kann er dem Werk der Gründerin wieder Leben einhauchen? „Ich will ein neues Theater schaffen – atmosphärisch, einzigartig, lebendig“, sagt er dann voller Energie. Neu ist die Herausforderung für den 43-Jährigen nicht. Nach dem
„Boris Godunow“ in der Metropolitan Opera in New York. 2007 wählte die Zeitschrift Kultura ihn zum Regisseur des Jahres, 2009 erhielt er die „Goldene Maske“ – die höchste Theaterauszeichnung Russlands für die „beste Regie“ in der Oper „Orpheus“. 2007 nahm Isaakjan an einer Schulung für Kulturmanager teil, die er teilweise an der Washington National Opera unter der Leitung von Placido Domingo absolvierte. 2009 inszenierte er im Rahmen des Projekts „Oper/GULAG“ das Stück „Ein Tag des Iwan Denisowitsch“ und 2010 „Fidelio“. Er spricht fließend Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch.
Studium in Moskau ging der gebürtige Armenier Anfang der 90er als junger Regisseur an die Permer Oper. Das Theater mit seiner 140-jährigen Tradition war gerade am Auseinanderbrechen: Sänger, Regisseure und Tänzer wanderten aus, weil kein Geld da war. Der junge Mann mit dem schüchternen Lächeln rettete das Opernhaus – und machte es berühmt. „Wir haben da Sachen auf der Bühne gemacht, die hat es noch nie gegeben“, sagt er stolz. Zu seinen bedeutendsten Experimenten gehört die Oper „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“
Die Kinder vor 20 Jahren
ITAR-TASS
Der Dirigent zückt seinen Taktstock, im Orchestergraben folgt eine einsame Pianistin seinen Bewegungen. Auf der Bühne hebt ein Tenor zu einer ausgelassenen Arie an. Als der Chor einstimmt, wirft er sich auf den Boden und wälzt sich wild hin und her. „Stopp!“, ruft eine tiefe Stimme aus dem Zuschauerraum. Abrupt bricht alles ab. Auf die Bühne springt ein dunkelhaariger, gut gebauter Mann in Jeans, Turnschuhen und einem lässig baumelnden Hemd. Er rennt herum, gestikuliert, verliert seinen großen Notizblock und wirft sich dann selber zu Boden: „So geht das!“ Der Regisseur Georgij Isaakjan probt eine Oper für Kinder, über Prinzen und Apfelsinen, böse Zauberinnen und Helden. Mehr verrät er nicht. Aber „es wird schräg“, verspricht er, und seine Augen funkeln lausbübisch. In den verwinkelten Gängen des weltweit einzigartigen Operntheaters für Kinder, das auf den Namen seiner Gründerin Natalja Saz getauft ist, wirkt Georgij Isaakjan fremd. Manchmal, gesteht er auf dem Weg in sein Büro, fühle er sich auch so.
ITAR-TASS
RUSSLAND HEUTE
nach dem Buch von Alexander Solschenizyn 2009 und Beethovens „Fidelio“, den er letztes Jahr im ehemaligen sowjetischen Straflager Perm-36 auf die Bühne brachte. Nun also Operntheater für Kinder. Isaakjan weiß, dass die jungen Zuschauer sich nicht mehr so leicht von der klassischen Bühnensprache mitreißen lassen, dass man neue Wege der Kommunikation braucht: „Ein Aschenputtel wie vor 30 Jahren lockt kein Kind mehr ins Theater.“ Plötzlich eilt er zur Bürotür und dreht einen kleinen schwarzen
Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook
www.facebook.com/ RusslandHeute
„Ich glaube nicht, dass die Menschheit die ganze Evolution durchgemacht hat, um im Büro vor dem Computer zu enden“, sagt der Regisseur weiter. Nur die Kultur sei fähig, das Menschliche im Menschen zu bewahren, „Werte zu erhalten, die immer mehr verloren gehen.“ Und dann spricht Isaakjan über das Hauptproblem seiner Arbeit: die Eltern, immerhin die Hälfte der Zuschauer. Sie waren vor 20 Jahren Kinder, in einer Zeit, als ihre Eltern ums Überleben kämpften und für Kultur nichts übrighatten. „Die haben jetzt großen Nachholbedarf, und wir müssen szenisch mit zwei Ziel- und Altersgruppen gleichzeitig arbeiten.“ Issakjans Lösung: ein „userfriendly theatre“, in dem sich Kinder, Eltern – und Großeltern wiederfinden.
Hier könnte eine Anzeige stehen. Ihre. Anzeigenannahme +7 495 775 31 14 sales@rbth.ru