Russland Heute

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Initiator

Als die Waschmaschine den Geist aufgab, kam Ingenieur Patschikow eine geniale Idee. Sie brachte ihm weltweiten Erfolg.

Schluss mit dem Drama um den WTO-Beitritt Russlands und keine Angst vor Gazprom, meint Manager Klaus Mangold.

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Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

MITTWOCH, 7. SEPTEMBER 2011

Schwere Wiedergeburt

SEITEN 2 UND 10

Erntezeit an der Börse „Stabilisiert sich die Lage noch weiter, könnte Russland uns die Überraschung des Jahrzehnts bescheren“, sagt Peter Reichel, der einen 28 Millionen Euro schweren Fonds der Berenberg Bank für Global Emerging Markets verwaltet. Mit Hoffnung blicken Reichels Kollegen auf die Präsidentschaftswahlen Anfang 2012. Sie erwarten eine neue Welle von Reformen, die Russlands Wirtschaft endlich unabhängiger vom Öl- und Gasexport machen könnte. Aber nicht nur Fondsmanager blicken nach Osten: Die Saisonalität des russischen Aktienmarktes bietet findigen Kleinanlegern große Chancen. Der jährliche Ausverkauf von Aktien beginnt Ende April. Wer im September investierte und im darauffolgenden Mai verkaufte, konnte in den letzten zehn Jahren ein knappes Viertel Dividende einstreichen. SEITE 2

POINTIERT

Wladimir und die Nachtwölfe Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

G

CORBIS/FOTO SA

August 1991: Gorbatschow festgesetzt, Panzerkolonnen auf den Straßen Moskaus und Hunderttausende Menschen, die gegen den Putsch der alten kommunistischen Garde demonstrieren. Russische Kommentatoren machen sich zwanzig Jahre später über die zitternden Hände des Putschistenanführers Gennadij Janajew lustig und lassen den Putsch aussehen, als sei er von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. „Zwei Sekunden hätten gereicht, um ein Streichholz anzuzünden, dann wäre es zur Katastrophe gekommen“, erzählt jedoch Major Walentin Nikitin, der damals mit einer Kolonne schwer bewaffneter Panzerwagen nach Moskau geschickt wurde. Er erinnert sich vor allem an die Planlosigkeit der Führung. „Handle den Umständen entsprechend“, erklärten sie Nikitin, dessen Kolonne in einem Menschenmeer versank. Der junge Major behielt die Nerven, andernorts kam es zu Zusammenstößen, drei Demonstranten starben. Warum diese drei zu Märtyrern für ein freies Land wurden und heute fast vergessen sind, erklärt Konstantin von Eggert.

DMITRI DIVIN

PRESSEBILD

Simulator

Moskau, August 1991. Das friedliche Bild lässt vergessen, dass dem Land ein Bürgerkrieg drohte.

DAS THEMA

LANDWIRTSCHAFT DEUTSCHE BAUERN VERSUCHEN IHR GLÜCK IN RUSSLAND ITAR-TASS

Die deutschen Felder waren ihm zu klein, heute ist Christian Kowalczyk verantwortlich für 20 000 Hektar Land. Nicht nur ihn zieht es nach Russland: Ausländische Fonds investieren in eine Branche, die in den nächsten Jahren die Bedürfnisse der russischen Mittelschicht befriedigen soll. SEITEN 6 UND 7

Freiheit heißt Verantwortung Sie begann ihr Studium, kurz nachdem Stalin gestorben war. Und es war ihr Glück: Die Philosophin Nelly Motroschilowa, heute 77, wurde zu einer Vermittlerin der westeuropäischen Philosophie in Russland. Heidegger, Husserl und Kant beschäftigten sie ein Leben lang. Ihr jüngstes Projekt: eine deutschrussische Ausgabe von Kants Werken, die Motroschilowa zusammen mit deutschen Kant-Experten erarbeitet hat. Motroschilowa ist Idealistin, eine Ikone ihrer Generation, die dem totalitären Stalinismus von der Schippe sprang und den liberalen Geist der 60er-Jahre über die Jahrzehnte trug. Die russische Wirklichkeit macht ihr zu schaffen: „Offener, durch nichts verdeckter Zynismus ist ein Zeichen für Antizivilisation.“ Und empfiehlt wahre Ideale, anstatt sich hinter Begriffen zu verstecken. SEITE 12

ar rebellisch gab sich Premier Wladimir Putin jüngst bei den Nachtwölfen, der größten russischen Biker-Gang. Auf einer dicken Dreirad-Harley rollte er gemeinsam mit Nachtwölfe-Boss Chirurg vor den russischen Rockern vor, die sich in Noworossijsk zum 16. Jahrestreffen versammelt hatten. Wladimir Putin erklärte die Nachtwölfe zu seinen Brüdern und setzte sich ratternd an die Spitze ihrer Motorrad-Kolonne. Stehen aber Biker-Gangs nicht für Rebellion, Freiheit und Rock’n’Roll, eine brisante Mischung, die oft in Anarchie und Kriminalität ausartet? Denkste: Die meisten Nachtwölfe sind erfolgreiche Geschäftsleute oder ehemalige Afghanistan-Veteranen; und sie stehen für „gesunden Lifestyle ohne Alkohol und Drogen, Patriotismus und Freiheit“. Unabhängig davon, was die Hells Angels dazu sagen würden: Wenn die Nachtwölfe noch die richtige Distanz zur Politik finden, ist Russland wohl in der Demokratie angekommen.

INHALT Reform Kein Bier mehr am Kiosk für Nachtschwärmer WIRTSCHAFT

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Familie Gegen den Demografiekollaps GESELLSCHAFT

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Poesie Vor 70 Jahren starb Marina Zwetajewa. Eine Hommage

FEUILLETON

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VOSTOCK-PHOTO


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Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Jahrestag Vor 20 Jahren putschte die alte Garde gegen Gorbatschow – das Land stand am Rande eines Bürgerkriegs

Ein Streichholz - und es wäre zur Katastrophe gekommen Im August 1991 befehligte der 33 Jahre alte Major Walentin Nikitin das 2. Bataillon des 1. motorisierten Schützenregiments der Division Taman. Und marschierte auf Moskau.

Die Feigheit der Generäle

WITALIJ MELIK-KARAMOW

GETTY IMAGES/FOTOBANK

OGONJOK

Eine riesige Menschenmenge wohnt der öffentlichen Beisetzung dreier junger Männer bei, die getötet wurden, als sie versuchten, eine Panzerkolonne aufzuhalten. Boris Jelzin erklärte die ehemals zaristische Flagge in Weiß, Blau und Rot zur neuen russischen Nationalfahne.

Mit neun Schützenpanzerwagen, zwei Lastwagen, einem Fahrzeug für Technische Hilfeleistung und zwei Feldküchen machte ich mich auf den Weg zum Zentralen Telegrafenamt, einige hundert Meter vom Kreml entfernt. Ein Vertreter der Stabsführung des Militärbezi rks sa ß m it i n mei nem Panzerwagen. Ich gab Befehl, den Abstand zwischen den Fahrzeugen auf 50 Zentimeter zu verringern, damit sie nicht von der Menschenmenge voneinander abgeschnitten wurden. Die beiden Lastwagen mit der Munition ließ ich in der Mitte fahren. Auch die Panzerwagen waren mit kompletten Kampfsätzen bestückt. Ich hatte so viel Munition mitgenommen, wie wir transportieren konnten. In der Nähe der Metrostation Majakowskaja ging der Stabsvertreter verloren. Als er mitbekam, was sich zusammenbraut, sprang er vom Wagen und haute ab. Ich habe ihn nie wiedergesehen, obwohl ich ihm bis heute gern ins Gesicht spucken würde. Vom Regimentskommandeur bekam ich nur zu hören: „Handle den Umständen entsprechend.“ Um mich herum: Menschen über Menschen.

Knapp am Unglück vorbei

Ich hatte den Fehler gemacht, die Kanister mit dem Benzinvorrat am Aufbau des Schützenpanzers anzuschnallen. Einer aus der Menge machte einen Kanister los. Der Mann kam mir betrunken vor, auf jeden Fall nicht ganz normal. Er schraubte den Kanister auf und begoss meinen Wagen mit Benzin. Zwei Sekunden hätten genügt, um ein Streichholz anzureißen. Wäre der Wagen mit der Munition in Flammen aufgegangen, hätte es ein furchtbares „Feuerwerk“ und viele Opfer gegeben. Ich sprang vom Wagen und stieß den Burschen mit den Füßen beiseite. Die Jungs von der Aufklärungskompanie versuchten, niemanden näher als zehn Meter an das Fahrzeug heranzulassen. Aber es kostete uns größte Mühe.

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

Menschen über Menschen

RIA NOVOSTI

Der 18. August fiel auf ein Wochenende. Ich war zu Hause, als ein Melder die Nachricht brachte, die Einheit sei in Alarmzustand versetzt worden. Sofort fuhren alle zum Standort. Am frühen Morgen erfolgte der Marschbefehl, wir fuhren in Richtung Hauptstadt. Eine konkrete Gefechtsaufgabe gab es nicht, aber man hatte mir mitgeteilt, dass mein Bataillon das Hauptpostamt, das Zentrale Telegrafenamt und die Redaktion der Zeitung Komsomolskaja Prawda blockieren sollte.

uns nicht provozieren ließen. Es war nicht leicht. Ich habe zum Beispiel von hinten einen Schlag mit einem Kugellager abgekriegt. Einer aus unserer Kompanie hat ihm gleich die Arme auf den Rücken gedreht. Dann kamen plötzlich aus einer Toreinfahrt Leute in Zivil. Sie haben ihn verprügelt, auf die Fahrbahn geworfen und einen Krankenwagen gerufen. Da ist mir klar geworden, dass nicht nur wir hier standen.

August 1991, vor dem Obersten Sowjet: Der Präsident der russischen Teilrepublik Boris Jelzin hält eine Rede von einem Panzerfahrzeug.

Die Menschenmenge war unberechenbar, die Leute hatten vor nichts Angst, legten sich direkt vor die Räder, sprangen auf die Fahrzeuge. Vom Regimentskommandeur hörte ich wieder nur: „Entscheide je nach Situation.“ Auf dem Puschkin-Platz gab es kein Durchkommen mehr. Ich beschloss zu wenden, um über eine Parallelstraße zum Telegrafenamt

Abends kamen gut angezogene Männer und boten uns Geld, wenn wir zu Boris Jelzin überlaufen würden. zu kommen. Als wir wendeten, sprangen vier kräftige junge Kerle auf unseren Wagen, sie waren vielleicht bekifft oder betrunken. Ich sagte: „Schreit laut, dass wir in die Division zurückkehren.“ Die haben tatsächlich gebrüllt, dass die Leute uns nicht anrühren und ruhig wenden lassen sollen. Auf der Höhe des Theaters MChAT versperrte uns die Menge erneut den Weg. Diesmal ging es weder vor noch zurück. Plötzlich kletterte ein junger Mann mit einem Lautsprecher auf meinen Wagen und schrie: „Leute, Jelzin bittet euch, sofort zum Weißen Haus zu

Mehr Bilder zum Thema russland-heute.de/6935

Ausnahmezustand in Moskau: In der Nähe des Kremls verhandeln aufgebrachte Bürger mit der Besatzung eines Schützenpanzerwagens.

kommen. Es soll gestürmt werden.“ Dann rannte er los und die Menge, die gar nicht richtig verstand, was vor sich ging, hinterdrein. Vielleicht war der extra für so etwas geschult oder von jemandem beauftragt, mir hat er jedenfalls mächtig geholfen. So erreichten wir das Telegrafenamt. Wissen Sie, was ich verblüffend fand? Eigentlich wollte die Bevölkerung doch Demokratie und eine neue Regierung, aber die Leute waren uns gegenüber nicht feindselig. Alte Frauen brachten den Soldaten Essen. Oft mussten sie sogar ablehnen, es waren einfach zu viele Torten und Süßigkeiten. Ich achtete streng darauf, dass ihnen niemand Wodka zusteckte. Unangenehme Zwischenfälle hat es aber doch gegeben. Irgendwelche Leute haben die Soldaten getreten und provoziert. Ich hatte Schießverbot erteilt. Selbst für den Fall, dass die Mannschaft in eine brenzlige Situation geraten sollte. Abends kamen drei Männer und boten uns Geld. Die Herren waren gut angezogen, ihre Autos hatten ausländische Kennzeichen, damals eine Seltenheit. Wir sollten in den besten Hotels untergebracht werden, wenn wir zu Jelzin überlaufen würden. Aber mein Befehlshaber war weder Jelzin noch das Staatsko-

mitee für den Ausnahmezustand. Ich hatte einen Befehl des Regimentskommandeurs auszuführen. Die Männer versuchten mich damit zu ködern, dass ein Bataillon unserer Division das Angebot schon angenommen hätte. In der Nacht kamen viele Leute und lobten uns dafür, dass wir

Am Morgen des 20. August erhielt ich Befehl, die Gorki-Straße zu blockieren. Dann kam die Meldung, dass sich vom Roten Platz her eine riesige Menschenmenge näherte. Der Befehl lautete: Auf keinen Fall durchlassen! Eine bewaffnete OMON-Polizeieinheit nahm vor den Schützenpanzern Aufstellung. In meiner Nähe sah ich zwei Polizeigeneräle. Aus dem Stab erhielt ich keinerlei Befehle mehr. Und viele, so viele Menschen kamen auf uns zu. Plötzl ich machten sich d ie OMON-Kräfte aus dem Staub. Auch die beiden Polizeigeneräle stiegen in ein Auto und rasten davon. Ich stand ganz allein da, und die Menschenmenge kam immer näher. 300 oder 400 Meter trennten die ersten Demonstranten noch von uns. Da hab ich eine Gasse freigemacht, damit der Zug weitermarschieren konnte. Die Demonstranten hielten eine endlos lange Fahne hoch. Als sie an mir vorbeikamen, dachte ich, dass das jetzt schon ernsthafte Leute waren, nicht mehr jugendliche Störenfriede. Von einigen bekamen wir Schimpfworte zu hören, aber andere dankten uns, weil wir den Weg freigegeben hatten. Es dauerte bestimmt 40 Minuten, bis alle vorbeigezogen waren. Anschließend habe ich die Schützenpanzerwagen abgezogen. Abends kam der Abmarschbefehl. Solche himmelschreienden Fakten wie die Feigheit der Generäle und des Oberstleutnants aus dem Stab des Militärbezirks und dazu noch das völlige Sich-selbst-überlassen-Sein vergisst man nicht. Im Rückblick begreife ich, dass jener Augenblick entscheidend war, als die Menschenmenge vom Roten Platz herangezogen kam. Hätte ich damals auch nur einen einzigen Schuss über die Köpfe der Menschen abgegeben …

1991 und die demografischen Folgen

QUELLE: ROSSTAT

Das Ende der UdSSR hatte katastrophale Folgen für die Demografie in Russland. Mit der Perestroika brach die Lebenserwartung ein, ebenso die Geburtenrate. Jährlich schrumpfte die Bevölkerung um Hunderttausende Menschen, 2009 wurde der Rückgang erstmals kompensiert – durch Einwanderung.


Wirtschaft

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Reform Ein neues Gesetz schränkt den Bierverkauf ein und verbietet Bierwerbung im Fernsehen und auf der Straße

Bier frei für die kleinen Brauereien In Russland gilt Bier nun offiziell als Alkohol. Das eröffnet neue Chancen für kleine Brauereien, deren Marktanteil bei weniger als zehn Prozent liegt.

ßenverkauf von Bier wird komplett untersagt, Geschäfte dürfen ab 23 Uhr überhaupt keinen Alkohol mehr anbieten. Bier darf dann nur noch zu Hause und in Gaststätten getrunken werden. Die wichtigste Einschränkung ist jedoch das totale Werbeverbot für Bier im Fernsehen und auf der Straße. „Der Bierkonsum ist durch die massive Werbung gewaltig gestiegen“, erklärt der Leiter des Zentrums für Nationale Alkoholpolitik Pawel Schapkin.

Wladimir Ruwinskij Russland Heute

Den Großbrauereien in Russland, die hauptsächlich von ausländischen Unternehmen kontrolliert werden, geht es an den Kragen. Präsident Dmitri Medwedjew hat ein Gesetz unterzeichnet, demzufolge Bier nunmehr zu den Alkoholika zählt. Bislang galt es in Russland als „Lebensmittel“, weshalb es praktisch zu jeder Uhrzeit, an jedem Ort und mit laxer Alterskontrolle verkauft werden konnte. Die von Medwedjew 2009 gestartete Anti-Alkohol-Kampagne bereitet dieser Tradition ein Ende.

Harte Zeiten für Kioske

Die Rechnung ging nicht auf

Noch ein schnelles Bier nach der Schule – damit soll 2013 Schluss sein.

AFP/eastnews

Innerhalb der vergangenen 15 Jahre stieg laut Verband der Alkoholproduzenten der Bierkonsum in Russland um das Vierfache. Anstelle von Erfrischungsgetränken konsumieren die Russen in großen Mengen Bier – eine Flasche kostet etwa 30 Rubel (75 Cent), wenig mehr als eine Cola. Von 2000 bis 2009 verdoppelte sich die Bierproduktion auf 1,2 Milliarden Dekaliter, wodurch Russland in die Troika der weltweit führenden Staaten aufrückte, hinter China und den USA. Gleichzeitig stellte sich ein von der Regierung erhoffter Nebeneffekt jedoch nicht ein: Der Konsum von harten Alkoholika – in erster Linie Wodka – hat sich nur unwesentlich verringert.

Experten sprechen mittlerweile von einer „Alkoholisierung der Bevölkerung“. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation stirbt zurzeit jeder fünfte Russe an den Folgen des Alkoholmissbrauchs – weltweit liegt die Quote bei Männern bei 6,2 Prozent. Schon in den letzten Jahren schränkte der Staat die Bierreklame ein, und seit 2005 ist es

untersagt, den Gerstensaft an Minderjährige zu verkaufen. Das Verbot wurde allerdings kaum eingehalten, der Bierkonsum stieg weiterhin und erreichte im Vorkrisenjahr 2008 ein Niveau von 80 Litern pro Kopf. Mit den neuen Verordnungen, die 2013 in Kraft treten, folgt Russland dem Vorbild vieler Länder Europas und der USA. Der Stra-

Die neuen Verbote treffen die Großbrauereien und kleine Einzelhändler: 25 Prozent des Bieres werden auf der Straße verkauft. Die Vereinigung der Kleinunternehmer Opora Rossii befürchtet nun, dass die Besitzer von Kiosken fast die Hälfte ihres Erlöses einbüßen werden. Maxim Kljagin, Analyst der Investmentgesellschaft Finam, schätzt, dass dagegen kleine Bierbrauer von dem neuen Gesetz profitieren. Denn das von den Großbrauereien produzierte Bier ist vor allem in Flaschen abgefüllt und enthält Konservierungsstoffe. Die kleinen Brauereien dagegen liefern frisches Bier nach dem Vorbild von Deutschland und Tschechien.

Mehr Frischgebrautes

In der letzten Zeit sind die Russen laut Kljagin auf den Geschmack von Frischgebrautem gekommen – Tendenz steigend. Doch dieser Markt ist eng mit einer Bierkneipenkultur verbunden, die in Russland noch wenig ausgeprägt ist. Nach Einschätzung von Finam wird sich der

zahlen

85

Prozent des russischen Biermarktes werden von den internationalen Unternehmen Carlsberg, InBev, Heineken, Efes und SABMiller kontrolliert.

1,2

Milliarden Dekaliter betrug die Bierproduktion in Russland im Jahr 2009. Damit nahm das Land den dritten Platz hinter China und den USA ein.

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Liter reinen Alkohols trank der Durchschnittsrusse 2009 laut Gesundheitsministerin. Allerdings bewerten manche Experten diese Zahl als zu hoch.

Markt in dem Maße entwickeln, wie das Einkommen der Bevölkerung wächst. Bislang besucht nur ein geringer Teil Cafés, Kneipen oder Restaurants. Der Direktor der privaten Bierbrauerei Tinkoff aus Sankt Petersburg, Anatolij Schamaldinow, geht davon aus, dass es noch zu früh ist, über einen möglichen Boom in der russischen Kneipenlandschaft zu sprechen – zunächst müssten die administrativen Hürden für deren Eröffnung gesenkt werden.

Zivile Luftfahrt Ein neuartiges Passagierflugzeug soll der russischen Flugzeugindustrie belebende Impulse geben

Hoffen auf den neuen Superjet Russlands Flugzeugindustrie, die seit dem Kollaps der Sowjetunion darbt, ist in die Schlagzeilen zurückgekehrt – in positiver und negativer Weise.

Die internationalen Zulieferer für den Suchoi Superjet 100

Paul Duvernet, Dmitri Rodionow Russland HEUTE

Die einen schimpften über den Einfluss der Banken auf die Flugzeugindustrie. Andere prophezeiten bis 2025 einen russischen Anteil von zehn Prozent am weltweiten Luftfahrtverkehr. Doch die Stimmung war überwiegend optimistisch auf dem Internationalen Lufttransport-Forum Ende April in Uljanowsk. Dann schlug die Nachricht ein: Am Abend des 20. Juni stürzte eine Tupolew Tu-134 sowjetischer Bauart beim Versuch, in dichtem Nebel zu landen, auf eine Straße in der Nähe der Stadt Petrosawodsk ab. 47 Menschen starben. Inzwischen ist klar, dass nicht technische Mängel, sondern ein Versagen des Piloten das Unglück herbeiführten. Aber bei den Vertretern der russischen Flugindus-

trie, die seit den 90er-Jahren auf ihre Wiederauferstehung wartet, war die Stimmung im Keller. Die Russen begründen ihre Hoffnung auf den Suchoi Superjet 100, ein Passagierflugzeug mit 75 bis 95 Sitzen. Die Produktion des Jets

gilt als Schlüsselfaktor für die Zukunft des Luftfahrtsektors. Der Suchoi Superjet 100 ist das erste russische Flugzeug, das vollständig in der postsowjetischen Ära entwickelt wurde. Gleichzeitig wird eine große Anzahl aus-

ländischer Bauteile eingesetzt, zum Beispiel ein in Frankreich produzierter Motor oder das Fahrwerk aus den USA. Die für die Vermarktung verantwortliche Gesellschaft SuperJet International ist ein Joint Venture, in dem

die Russen nur 49 Prozent halten – die Mehrheit gehört der italienischen Alenia Aeronautica. Im April 2011 passierte der Superjet mit den ersten kommerziellen Flügen bei der armenischen Fluggesellschaft Armavia einen wichtigen Meilenstein. Die Unternehmensführung schätzt das Marktvolumen auf über 800 Flugzeuge, bisher gibt es aber nur 22 Festbestellungen (von Gazprom Avia und eine aus Indonesien) und an die 200 Absichtserklärungen aus Lateinamerika und den GUSStaaten. In Europa hat Suchoi die Konkurrenten Embraier aus Brasilien und Bombardier aus Kanada noch nicht überwunden. Fluggesellschaften zögern angesichts einer Maschine, bei der es noch Betriebsprobleme gibt und die mit langen Lieferzeiten aufwartet. 2010 wurden nur sieben Superjets gebaut, aber das Unternehmen ist optimistisch, dass es in diesem Jahr 30 werden. In Zukunft könnte die Zahl auf 50 bis 60 Flugzeuge erhöht werden. Einen wichtigen Schritt erwartet Suchoi mit Ungeduld: Bis Ende 2011 will die Europäische Agentur für Flugsicherheit den Superjet zertifizieren.


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Wirtschaft

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Börse Der Aktienhandel in Russland ist wenig ausgereizt – darin stecken Chancen für findige Anleger

Neujahrsrallye an Moskaus Börsen Russische Wertpapiere sind volatil. Doch Wertverfall und -wachstum folgen im Jahreszyklus einfachen Regeln. Wer sie kennt, kann am Aktienmarkt gut verdienen.

Fondsmanager blicken nach Osten

Ben Aris

für russland heute

Geldregen im ersten Quartal

Der russische Markt ist weitaus unbeständiger als seine westlichen Pendants, wodurch er sensibler auf das regelmäßige Auf und Ab des Investitions- und staatlichen Kapitalflusses reagiert. Es gibt fast keine institutionellen Investoren für langfristige Anlagen, die auch einmal einen Kurs unter die Tiefstgrenze fallen lassen würden. Die meisten – Banken vor Ort und ausländische Hedgefonds – vertreten einen kurzfristigen Standpunkt und machen sich davon, wenn der Verkauf beginnt. Genau diese Volatilität bewirkt, dass der Markt sich an den saisonalen Kapitalzuweisungen orientiert. Der russische RTS-Index sei in neun der letzten zehn Jahre regelmäßig im ersten Quartal

Deutsche Fondsmanager rechnen damit, dass nach den Präsidentschaftswahlen 2012 und möglichen Reformen auch die russischen Aktien neu bewertet werden. Tim Gosling

für russland heute

aleksandr kriakov_kommersant

Die Saisonalität des russischen Aktienmarktes ist so stark ausgeprägt, dass sie eine kinderleichte Investmentstrategie ermöglicht, die die Ergebnisse fast jedes bedeutenden Investmentfonds der Schwellenmärkte überträfe. Man müsste sich nur die Mühe machen, den Fluss des Geldes in seinen verschiedenen Jahresetappen zu analysieren und aufzubereiten. In den vergangenen fünfzehn Jahren habe der russische Aktienmarkt, nur mit zwei Ausnahmen, alljährlich einen Ausverkauf um die Maifeiertage erlebt, sagt Alexander Krapiwko, Aktienfondsmanager bei Renaissance Asset Managers in Moskau. Von der Regelmäßigkeit dieser Korrekturen können Anleger profitieren. Investiert man am 1. September 100 Dollar in einen IndexTracker-Fonds und verkauft die Anteile am 1. Mai des folgenden Jahres, hat man durchschnittlich 24 Dollar mitgenommen. So war es jedenfalls in den letzten zehn Jahren. Der große Sell-Off beginnt Ende April.

Warten auf den Tiefstand, dann kaufen: Broker in Stankt Petersburg

gestiegen, erläutert Krapiwko. Aus ganz einfachen Gründen: Der Rest des im Dezember getätigten föderativen Haushaltstransfers erreicht den Markt im Januar. Ebenfalls zu Jahresbeginn wird verstärkt in SchwellenländerFonds eingezahlt, im Spätmärz sind dann neue Gelder aus russischen Rentenfonds verfügbar. Hinzu kommt, dass im ersten Quartal neue Aktienplatzierungen (IPOs) vorgenommen werden, um die zusätzliche Liquidität der Schwellenmarkt-Fonds zu nutzen und überschüssige Gelder in den Markt zu pumpen. Gewinnmitnahmen Ende April, wenn die Berichtssaison der Fonds ansteht, lösen den Beginn der Aktienverkäufe aus.

Weihnachtsrallye 2011?

In den Sommermonaten ist der Markt ruhig, denn die Urlaubszeit lässt das Handelsvolumen schrumpfen und die Aktienkurse infolge des Nachfragemangels verfallen. Allerdings können die Kurse in Erwartung des Septembers, wenn die Russen aus ihrem Sommerurlaub zurückkehren,

zahlen

24

Dollar Gewinn konnte in den letzten zehn Jahren ein Anleger machen, der zum 1. September 100 Dollar investierte und seine Anteile zum 1. Mai wieder verkaufte.

88

Prozent verlor der russische Aktienmarkt 1998 nach der Rubelkrise. Sein Allzeithoch erreichte der RTS mit 2487 Punkten im Mai 2008.

wieder steigen. Im letzten Quartal des Jahres kommt es zu einer regelrechten „Weihnachtsrallye“, da Russen im Dezember das meiste Geld ausgeben. Ein Teil davon fließt in die Aktienmärkte. Vor den Duma-Wahlen im Dezember und der Präsidentschaftswahl im März 2012 wird es in diesem Jahr zu besonders hohen Staatsausgaben kommen. Die diesjährige Weiße-Nächte-Rallye dürfte also noch opulenter ausfallen.

„Die Regierung ist offenbar bereit, nach der Wahl eine Reihe entschlossener Reformen einzuleiten“, glaubt Odenijas Dscharapow. Er managt in Russland für die DWS, einen Ableger der Deutschen Bank, Investitionen von rund einer Milliarde Euro. Durch größere staatliche Transparenz und Rechenschaftspflicht werde sich nicht nur der Abschlag, mit dem russische Werte gehandelt werden, sondern auch die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von Energieexporten verringern. Peter Reichel, der den 28 Millionen Euro schweren Global Emerging Markets-Fonds der Berenberg Bank managt, sieht das ähnlich. „Seit Jahren warten Investoren auf solche Reformen. Durch kürzlich beschlossene Programme wie Präsident Medwedjews 10-Punkte-Plan scheint eine

Realisierung dieser Signale diesmal viel wahrscheinlicher, besonders vor dem Hintergrund der soliden Wirtschaftslage.“ Dscharapow bestätigt, dass diese Einschätzung von einer wachsenden Zahl deutscher Anleger geteilt werde, die dem russischen Markt mittlerweile größeres Vertrauen entgegenbringen: „Sie wollen langfristig vom Wirtschaftsboom profitieren und sich nicht nur auf Ölwerte konzentrieren.“ Reichel weiß: „Deutsche gelten als risikoscheu, nahezu jede Anlage birgt für sie Risiken. Deshalb mischen die Anleger russische Aktien in der Regel zur Diversifizierung bei.“ Als im Mai die Aktienmärkte in den Keller gingen, hätten die deutschen Anleger jedoch die Nerven behalten und kaum Geld abgezogen. Einige hätten sogar, überzeugt vom langfristigen Potenzial, in der Baisse zugekauft. „Russland bietet zurzeit einen enormen Ausgabeabschlag gegenüber allen anderen Schwellenmärkten“, argumentiert er. „Fällt das Risiko noch weiter, könnte das Land uns die Überraschung des Jahrzehnts bescheren.“

Säsonalität am RTS-Aktienindex Jahr

Index Index Jahresanfang Ende April (Punkte) (Punkte)

Zuwachs (Prozent)

Jahrestief am

Jahrestief (Punkte)

Differenz zum April (Prozent) -42

2000

175.26

226.87

29,4

21.12.2000

132.07

2001

143.29

180.68

26,1

03.10.2001

174.20

-4

2002

256.75

386.10

50,4

06.08.2002

313.99

-19

2003

359.07

422.37

17,6

17.07.2003

427.64

1

2004

567.25

631.11

11,3

28.07.2004

518.15

-18

2005

614.11

670.36

9,2

21.10.2005

-

-

2006

1 125.60

1 657.28

47,2

14.06.2006

1 274.39

-23

2007

1 921.92

1 915.27

- 0,3

30.05.2007

1 724.69

-10

2008

2 290.51

2 122.50

- 7,3

24.10.2008

549.43

-74

2009

631.89

832.87

31,8

13.07.2009

835.61

0

2010

1 444.61

1572.84

8,9

25.05.2010

1 226.57

-22

2011

1 770.28

2 026.94

14,5

-

-

-

Quelle: Bloomberg, VTB Capital

Für Großanleger und Kleininvestoren – die abenteuerliche Geschichte der Börsen in Russland Die erste Börse Russlands entstand 1731 in Sankt Petersburg. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts galt dann die Moskauer Börse als eine der einflussreichsten Handels- und Industrieorganisationen des Landes. Und das, obwohl sie sich gegenüber einer Vielzahl von Konkurrenten behaupten musste, denn die Wirtschaftsreformen der 1860erJahre hatten in Russland die Gründung von fast einhundert Handelsplätzen zur Folge. Als 1917 die Oktoberrevolu-

tion hereinbrach, existierten 115 Börsen. Die Sowjets stellten jegliche Börsentätigkeit ein, erkannten in den 1920er-Jahren jedoch, dass die Börse zwar ein „Übel“, aber ein unverzichtbares war. Innerhalb von zehn Jahren etablierten sich erneut etwa einhundert Handelsplätze, die allesamt Staatsunternehmen oder Kooperativen waren und ausschließlich Waren und Rohstoffe handelten. Mit dem Machtantritt Stalins wurden die Börsen ent-

gültig abgeschafft, da die Ökonomie vollständig zur Planwirtschaft überging. Absatz und Bedarf waren nun von vornherein festgelegt. Bis zum Ende der 1980er-Jahre existierte in der Sowjetunion kein einziger offener Handelsplatz. Heute agieren als größte Wertpapierbörsen das Russische Handelssystem RTS (Russian Trading System) und die Interbanken-Devisenbörse MICEX (Interbank Currency Exchange). Beide

entstanden in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre. RTS wurde von Anfang an für ausländische Börsenteilnehmer konzipiert, selbst die Quotierungen erfolgen in Dollar. Eine Fusion von RTS und MICEX Ende 2011 soll die Handelsbedingungen für internationale Investoren weiter verbessern. Das Wertpapier-Engagement der russischen Bevölkerung ist weitaus geringer als in Europa und in den USA. Der Durchschnittsaktionär ist zu 90 Pro-

zent männlich und zwischen 20 und 40 Jahre alt. Die ältere Generation misstraut Aktien in hohem Maße, seit in den 1990er-Jahren viele Anleger ihre Ersparnisse durch Investitionen in Finanzpyramiden und andere dubiose Unternehmungen verloren. Aus diesem Grund kauft der russische Durchschnittsaktionär seine Wertpapiere nie direkt an der Börse und vertraut sich Investmentgesellschaften an, die seine Depots verwalten.


Wirtschaft

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profil georgi Patschikow Firmengründer Parallel Graphics

Virtuelle Anleitung zum Anpacken Russland heute

Auf dem Bildschirm von Georgi Patschikow erscheint eine große weiße Museumshalle. Auf Podesten stehen ein Rennwagen, ein großer Holzteller auf Rädern, ein Flugzeugtriebwerk. Alles anschaulich dreidimensional. Flink greift Patschikow mit dem Mauszeiger den Holzteller auf Rädern, der sich als Panzerfahrzeug Leonardo da Vincis mit Kanonen und metallischer Hülle entpuppt. „Siehst du, hier dreht sich dieses Zahnrad, und das treibt gleichzeitig den Turm an.“ Nach zehn Sekunden zoomt er eine Holzschnitzmaschine heran: „Hier setzt du waagerecht den Holzrohling ein und hier senkrecht von oben den Stichel. An diesem Knopf machst du die Maschine an. Je länger du jetzt die Maustaste gedrückt hältst, desto tiefer wird der Einschnitt im Holz. Schau mal! Wuuuusch!!“, zischt Patschikow begeistert. Patschikow ist Gründer und Geschäftsführer von Parallel Graphics. Die Software-Firma entwickelt virtuelle Handbücher – animierte Reparaturanleitungen und technische Dokumentationen in 3D. Die Frage, auf die er Antworten gibt, stellt er sich seit seiner Kindheit: „Wie funktioniert das eigentlich?“

Eine kaputte Waschmaschine verändert die Welt

Patschikow sitzt freundlich lächelnd in einem Asia-Café im Zentrum Moskaus. Sein Alter lässt sich durch seine jugendliche Art kaum bestimmen. „Wie fühlst du dich heute?“, steht auf Englisch auf seinem Comicfratzen-Shirt. 1989 gründeten Georgi und sein Bruder Stepan, beide SoftwareIngenieure, die Firma ParaGraph. „Damals waren wir weltweit die Ersten, die den Alltag auf dem Rechner simulierten, lange vor Second Life“, erzählt Patschikow stolz. Sie entwickelten eine virtuelle Umgebung, in der jeder Nutzer mit einem Alter Ego über den Roten Platz spazieren konnte. „Jeder Avatar hatte eine

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biografie Beruf: software-entwickler Alter: 58

Georgi Patschikow wurde 1953 im georgischen Tiflis geboren. Er studierte Wirtschaftskybernetik in Moskau. Bis 1988 arbeitete er als Software-Ingenieur im Ministerium für Gasindustrie. 1986 eröffnete er mit seinem Bruder und dem Schachspieler Garri Kasparow den ersten Computerclub der UdSSR. 1989 gründeten die Brüder ParaGraph, die der US-Softwareriese Silicon Graphics 1997 für 57 Mio. Dollar kaufte. Seine heutige Firma Parallel Graphics kooperiert u.a. mit Siemens PLM. Umsatz 2010: 4 Mio. Euro.

antizyklisch: „Hierzulande laufen die Innovationsprozesse genau spiegelverkehrt: Der Russe erfindet etwas und macht sich erst hinterher Gedanken, was er damit überhaupt anstellen kann und wo es einen Markt dafür gibt.“ Patschikow hingegen weiß, für welche Zielgruppe er tüftelt. Nach einer zweijährigen Entwicklungsphase bringt Parallel Graphics Cortona3D heraus, eine Software, die technische Beschreibungen einzelner Arbeitsabläufe in dreidimensionale Animationen umwandelt. Patschikows erster großer Kunde wird 2001 der US-Flugzeugbauer Boeing: „Boeing unterhält in Mos-

aus dem persönlichen Archiv

Alexej Knelz

Sprechblase über dem Kopf, in die er hineinchatten konnte.“ So innovativ das Ganze auch war, der Erfolg blieb aus. „Nach einer Weile ließen alle User ihre Avatare stehen und beschränkten sich aufs Chatten – zwischenmenschliche Kommunikation war eben doch das Wichtigste“, lernte Patschikow. Keiner wusste so recht, was man mit 3D-Grafik alles anstellen kann. Der Markt war noch nicht da. Als Patschikow 1999 in eine neue Wohnung zieht, geht seine Waschmaschine kaputt. Zusammen mit einem Kollegen nimmt er das Gerät auseinander, „bis auf die letzte Schraube“. Als sie die Maschine wieder zusammensetzen und einschalten, funktioniert sie zwar, aber fünf Schrauben sind übrig. „Wir wussten überhaupt nicht mehr, wo sie hingehören: Die Gebrauchsanweisung war auf Französisch, es gab keine Übersetzung. Und obwohl wir beide Ingenieure sind, waren wir völlig aufgeschmissen“, erinnert sich Patschikow. Die Waschmaschine bringt den Programmierer auf die geniale Idee: „Eine animierte Reparaturanleitung in 3D, die die einzelnen Arbeitsschritte nacheinander erklärt, übersetzt in mehrere Sprachen – das wäre die Rettung für alle Techniker!“ Im gleichen Jahr gründet er Parallel Graphics. Flugs legt sein Team die Projektdokumentation auf. Für Russland agieren sie

Komplexes einfach erklären – das ist das Erfolgsgeheimnis von Georgi Patschikow.

kau ein Design Center, in dem die Jungs den russischen Markt nach Innovationen und neuen Talenten scannen“, erzählt er. Nach seiner Präsentation bieten ihm „die Jungs“ einen Exklusivvertrag über fünf Jahre an. Die Zusammenarbeit ist äußerst erfolgreich. „Just an dem Tag, als der Vertrag mit Boeing auslief, klopfte Airbus an die Tür“, lacht Patschikow. Weitere Größen folgen, darunter General Electric, Honda und Siemens. Für den Business Jet, das neue Kleinflugzeug der Japaner, gestaltet Parallel Graphics die komplette technische Dokumentation. Und 2011 unterschreibt Patschikow ein General

Cortona3D: Wenn technische Zeichnungen laufen lernen Cortona3D ist eine Software, die den Entwicklungsprozess technischer Dokumentationen automatisiert. Die Anwendungsbereiche für die Software sind nahezu grenzenlos: Vom Foucaultschen Pendel bis zum Wasserkraftwerk kann man beliebige technische Mechanismen simulieren. Alles, was die Software dazu braucht, sind die technischen CAD-Daten, die in das gängige S1000D- oder ATA2200Format umgewandelt und hinterher visualisiert werden. Der Animationsprozess läuft komplett automatisch ab. Hinterher lassen sich die Daten in Reparatur- und Wartungsanleitungen integrieren – als Videosequenzen, die den jeweiligen Arbeitsprozess Schritt für Schritt aufzeigen.

FORUM NEUGIER – KOMPETENZ – ERFAHRUNG 24. SEPTEMBER, BERLIN, RUSSISCHES HAUS

Das Forum „Neugier – Kompetenz – Erfahrung. Deutschland und Russland im wissenschaftlichen Dialog“ lädt junge Wissenschaftler zum Austausch. ›› www.go-east-generationen.de ›› russisches-haus.de

aus dem persönlichen Archiv

Vor zwölf Jahren stand Georgi Patschikow vor einer kaputten Waschmaschine und überlegte: Was tun? Heute entwickelt seine Software-Firma technische Anleitungen in 3D – weltweit.

Messe Industrial Trade Fair 27. bis 30. September, Moskau, Crocus Expo International Exhibition Centre

Fachtagung Agribusiness – Investitionsstandorte in Osteuropa

Partnership mit Siemens. Seine v ir tuel le Au f bereitu ng von technischen Produkten wird in d a s P r og r a m mpa ket Te a m Center des Elektronikriesen integriert. Der Nutzen für die Industrie, so Patschikow, sei enorm: „Durch unsere Software hat General Electric 70 Prozent der Ausgaben für die technische Dokumentation eingespart“, sagt er. Die Software ermögliche auch, ein Produkt früher auf den Markt zu bringen, weil sie es bereits in der Entwicklungsphase zur Gänze darstellen kann. Außer in der Wirtschaft kann Cortona3D auch für die Ausbildung an technisch ausgerichteten Schulen eingesetzt werden. „In Zukunft wird jeder Automechaniker, jeder Feinelektoroniker auf einem Tablet-PC die einzelnen Arbeitsschritte bequem abrufen, um sie dann umzusetzen“, schwärmt Patschikow. Um von seinem Traum, dem „Exploratorium“, zu erzählen, klappt er noch einmal seinen Computer auf. Er zoomt jetzt auf ein Triebwerk, greift es mit dem Mauszeiger, baut es virtuell auseinander und setzt es wieder zusammen, lässt die Turbinen rotieren. „Stell dir ein virtuelles Museum vor, in dem alle technischen Erfindungen der Menschheit versammelt sind. Und du kannst durchgehen und jede einzelne bedienen, auseinandernehmen und wieder zusammensetzen.“ Und die Antwort auf die Frage finden: Wie funktioniert das eigentlich?

Delegationsreise der russische Nordwesten

29. September, Frankfurt, KFW

17.-20. Oktober, Sankt Petersburg, Leningrader Gebiet, Nowgorod

Die ITFM ist die führende Industriemesse Russlands und zeigt Innovationen in den Bereichen Industrieautomation, Oberflächentechnik, Bewegungstechnik und Intralogistik.

Agrarmärkte, Agrarstrukturen und Agrarpolitik. Investoren berichten über ihre Erfahrungen in Osteuropa, Experten erklären die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen.

Der Nordwesten zählt zu den wirtschaftsstärksten Regionen, schon heute sind hier 500 deutsche Firmen präsent. Die Reise richtet sich an mittelständische Unternehmen aus NRW.

›› www.itfm-expo.ru

›› www.dlg.org/fachtagung_osteuropa.html

›› www.nrw-international.de


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Das Thema

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Landwirtschaft in russland Die russische Agrarwirtschaft ist nach dem absturz der 90er-Jahre wieder auf dem aufsteigenden Ast

Heidi Beha

russland heute

Einsam grast eine schwarzbunte Kuh am Straßenrand im Südwesten Russlands, 100 Kilometer von der Stadt Kursk entfernt. Die Landwirtschaftsberater Klaus John und Sergej Jarowoj sind auf dem Weg zu einem Betrieb ihres Arbeitgebers Prodimex. Wiesen, Sonnenblumenfelder und erntefertiges Getreide säumen die holprige Landstraße. John deutet auf das Tier und sagt: „So sieht die russische Milchwirtschaft aus.“ Ein paar Kilometer weiter steht wieder eine Kuh. Nicht nur mit Milch versorgen sich viele Russen selbst, auch Kraut und Kartoffeln bauen noch viele auf ihren Datschen an. Mehr als die Hälfte des russischen Rindfleischs stammt aus eigener Schlachtung, über 90 Prozent der Kartoffeln aus den Gärten.

Kredite statt Subventionen

Auf den Dörfern sammeln Kinder täglich die Kühe, um sie als Herde auf die Weide zu treiben. „Als ob Peter die Ziegen auf der Alm hütet. Das schaut idyllisch aus, aber es ernährt kein 147-Millionen-Land“, sagt John. Russland muss jährlich eine Million Tonnen Schweinefleisch allein aus den EU-Staaten importieren.

Um Autarkie ging es Präsident Dmitri Medwedjew deshalb auch in seiner Doktrin zur Lebensmittelsicherheit. Darin erklärte er, dass bis zum Jahr 2020 Fleisch zu 85 Prozent und Milch zu 90 Prozent aus heimischer Produktion stammen sollen. Das entspräche einer Steigerung um 20 Prozent. Der Staat hilft mit billigen Krediten – vor allem für die Tierhaltung. Bisher flossen aus Moskau rund sieben Milliarden Euro jährlich in den Agrarsektor, wesentlich weniger als in der Europäischen Union – Brüssel zahlt 100 Milliarden pro Jahr an die Landwirte. Aber: „In Russland kann man schon jetzt zu Weltmarkt-

Die Hälfte des russischen Rindfleischs stammt aus eigener Schlachtung, Kartoffeln und Kraut aus den Datschen. preisen produzieren“, sagt John. Die russische Landwirtschaft sei durchaus auch ohne Subventionen konkurrenzfähig. Dennoch gehört das Land derzeit zu den weltweit größten Agrarimporteuren. Mit einem Kuhbestand von elf Millionen ist man noch weit entfernt von den 42 Millionen Milchkühen, die es bei Zusammenbruch der Sowjetunion gab. Milch, Soja und Rindfleisch werde man noch lange Zeit einführen müssen, meinen Agrarexperten. In zehn Jahren könnte sich Russ-

land aber mit Schweinefleisch selbst versorgen. Im vergangenen Jahr wuchs die Schweinefleischproduktion um 8,6 Prozent. Auch bei Geflügel gab es einen Zuwachs von 375 000 Tonnen, etwa zehn Prozent. Getreide und Raps werden schon jetzt im Überschuss produziert und ausgeführt. 2009 wurden 108 Millionen Tonnen Getreide geerntet, 2010 brach die Erntemenge wegen Dürre und Waldbränden auf 60 Millionen Tonnen ein, 2011 erwartet man aber wieder gute Erträge. Damit ist das Niveau von 1990 mit 117 Millionen Tonnen fast wieder erreicht. Zum Vergleich: In Deutschland werden etwa 45 Millionen Tonnen Getreide jährlich eingefahren.

Es muss nicht immer Assam oder Ceylon sein, der Anbau von Tee ist auch in Russla

400 Prozent Aufwertung

Wer derzeit in den russischen Agrarsektor investiert, erwartet hohe Wertsteigerungen. Im Juli kaufte ein tschechisch-holländischer Fonds das Unternehmen RAV Agro-Pro, dem 160 000 Hektar Land im fruchtbaren Schwarzerdegebiet gehören. Der Fonds rechnet mit 400 Prozent Aufwertung in den nächsten Jahren. In russischen Fachmagazinen für Agrarwirtschaft liest man von Investitionen in neue und bestehende Betriebe. Auch die Unternehmen rund um die Landwirtschaft versuchen, sich besser aufzustellen: 2008 schlossen sich fünf deutsche Saatguthersteller strategisch zur German Seed Alliance zusammen mit regionalem Schwerpunkt Russland.

itar-tass

Bekannte Bilder vom russischen Land: einzelne Kühe, zerstörte Kolchosen und verwilderte Felder. In anderen Gegenden stecken derweil Investoren Millionen in neue Betriebe.

ria novosti

GroSSbetrieb und Selbstversorger

Öko-Farmen wie die Konowalowo sind der neue agrarische Trend.

Doch viel liegt in der russischen Landwirtschaft noch brach: „Die meisten Betriebe arbeiten ineffizient“, sagt Sergej Jarowoj. „In der Schwarzerderegion könnten wir bis zu 40 Prozent mehr erwirtschaften. Wenn John und Jarowoj

Um 1900 war Russland größter Getreideexporteur der Welt: Fast ein Drittel des Weltexports kam aus dem Zarenreich. Der Erste Weltkrieg, Revolution und jahrelanger Bürgerkrieg führten zu einer Entvölkerung der Dörfer und starken Einbrüchen der landwirtschaftlichen Produktion. Erst in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre stiegen die Erträge wieder. 1929 entschied Stalin, den gesamten Agrarsektor zu kollektivieren. Viele Bauern schlachteten ihre Pferde, Kühe und Schweine allerdings lieber, anstatt sie an die überall gebildeten Kolchosen abzuliefern. Dies hatte einen neuerlichen Einbruch der landwirtschaftli-

ria novosti

Zwischen Kriegen und Kolchosen – die russische Landwirtschaft seit 1900 chen Produktion zur Folge, besonders in der Viehwirtschaft. Durch den verstärkten Einsatz von Maschinen erreichte die Getreideproduktion 1940 wieder das Volumen der Vorkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg ließ die Produktion von Fleisch und Getreide um die Hälfte einbrechen. Anfang der 80er-Jahre war die Sowjetunion weltgrößter Produzent von Weizen, Roggen, Gerste und Baumwolle, obwohl die staatlich gesteuerten Kolchosen und Sowchosen ineffizient arbeiteten. Nach dem Ende der Sowjetunion zerfielen Kolchosen und Sowchosen – im Jahr 1998 produzierte Russland nur

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halb so viel Getreide wie 1990. Erst in jüngerer Zeit konnte dieser Erdrutsch aufgehalten werden. 2008 wurde mit 108 Millionen Tonnen erstmals wieder mehr als 1990 geerntet. In der Viehwirtschaft war der Fall noch tiefer: Vielerorts wurden ganze Bestände geschlachtet, um schnelle Gewinne zu machen. Die Branche hat sich bis heute nicht davon erholt: Der Kuhbestand liegt bei 11 Millionen, das sind 31 Millionen weniger als noch in den 80er-Jahren. Heute sind in der Landwirtschaft zehn Prozent der Bevölkerung beschäftigt, ihr Umsatz betrug 2009 1,53 Trillionen Rubel (38 Milliarden Euro).

zu den Betrieben hinausfahren, erwartet sie oft eine Überraschung: Wo die Fahrer der Unkrautspritze eine Reihe vergessen haben, sprießt alles, nur keine Zuckerrübe. Um die Mittagszeit stehen die Mähdrescher stundenlang still: Pause. Im Vergleich zu Mitteleuropa kostet ein Mähdrescher in der Russischen Föderation deutlich mehr bei der Anschaffung, erntet durchschnittlich aber nur die Hälfte. Mit solchen Effizienzverlusten rechnet man, das Geschäft lohnt sich trotzdem.

Felder so groß wie Landkreise

Ein weiterer Grund für die Ineffizienz ist die Struktur der Agrarwirtschaft: Die Selbstversorger sind zu klein, die bestehenden Agrarunternehmen zu groß. Für eine Holding mit Feldern so ausgedehnt wie deutsche Landkreise ist es schwierig, jeden Teilbetrieb zu steuern oder mit großen Ertragsschwankungen zu wirtschaften. Börsennotierte Holdings schütten außerdem ihre Gewinne an die Aktionäre aus,


Das Thema

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Porträt Ein deutscher Landwirt baut einen Betrieb in Russland auf ZAHLEN

Bauer sucht Frau und Land

Millionen Dollar flossen 2010 aus dem Ausland in den Agarsektor.

Die bayerischen Felder waren ihm zu klein, Brandenburg zu unbelebt. Vor sechs Jahren wanderte Christian Kowalczyk aus. Im westrussischen Sewsk hat er gefunden, was er suchte.

77,9

Millionen Hektar groß war 2010 die Anbaufläche in Russland.

108

Millionen Tonnen Getreide erntete Russland 2008. 2010 waren es wegen Dürre nur 60 Millionen.

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Prozent mehr Geflügel und 8,6 Prozent mehr Schweinefleisch wurden 2010 produziert.

and lukrativ – Krasnodar ist das nördlichste Teeanbaugebiet der Erde.

Deshalb wird um Fachkräfte aus dem In- und Ausland geworben: „Für gut ausgebildete Russen lohnt es sich finanziell nicht, ins Ausland zu gehen“, sagt John. Umgekehrt ist es für Ausländer interessant, in Russland anzuheuern – nicht nur wegen des Geldes: „Ich bin hierher gekommen, weil das Leben einfach spannender ist“, sagt Torbjörn Karlsson. Der Schwede ist nicht allein: Abends treffen sich Agrarfachleute aus Deutschland, Südafrika und der Schweiz zum Feierabendbier in Woronesch, dem Sitz ihrer Unternehmen. Die Gesprächsthemen: Getreidepreise, Feuchtigkeitswerte der Böden und turbulente Erlebnisse mit der russischen Straßenpolizei. Jeder arbeitet für eine andere Holding, doch man tauscht sich aus, die Konkurrenz ist nicht groß. Es scheinen genug Land und Gewinne für alle da zu sein.

für schlechte Zeiten bleibt da kein Polster. Besonders deutlich wurde das in der Finanzkrise 2008 und ihren Folgen. Einige Holdings konnten monatelang keine Gehälter zahlen. Agrarexperten werben daher um Stabilität von unten: Kleine Selbstversorger sollten sich zu mittelgroßen Familienbetrieben zusammenschließen und ihre Produkte vermarkten.

Hohe Löhne gegen Landflucht

IM BLICKPUNKT

KOMMERSANT

Doch viele Eltern sehen für ihren Nachwuchs keine Zukunft auf dem Land, wie Olga Jujukina. Ihr Sohn ist mit Kühen, Traktoren und Heueinfahren aufgewachsen. Nun wird er in der Stadt studieren. „Er soll Manager werden“, sagt die Mutter. Die Ag ronomen der g roßen Unternehmen beklagen eine Überalterung in der ländlichen Region. „Uns fehlt es an ausgebildeten Kräften, die mit den landwirtschaftlichen Maschinen und neuester Technologie umgehen können“, sagt Alexander Musnik vom Agrarbetrieb Soldatskaja in der Nähe der Stadt Kursk. Nach ihrem Studium wollen nur wenige zurück aufs Land. „Nicht einmal Kinos gibt es und nur wenige Restaurants, außerdem leben alle unsere Freunde in der Stadt“, erklärt Hochschulabsolvent Sergej Jarowoj. Er arbeitet in der Großstadt Woronesch, in sein Heimatdorf fährt er nur übers Wochenende. Auch Absolventen der Agraruniversitäten lockt selbst ein höheres Gehalt nicht wieder aus den Zentren in die Peripherie. Wer auf dem Dorf wohnt, wird oft abwertend als „Derewentschina“ (Dorftrottel) oder „Kolchosnik“ bezeichnet.

FÜR RUSSLAND HEUTE

Im verdreckten blauen Lada Niva fährt Christian Kowalczyk auf die Felder, Ackerflächen, so groß wie ein bayerischer Landkreis. „Ich liebe den stinkigen, dreckigen Wagen“, sagt er. Sein schickes neues Familienauto will nicht so recht zu ihm passen. Krawatte und Anzug trägt er nur, wenn es unbedingt sein muss, sein Standarddress: ausgewaschenes T-Shirt, ausgebeulte Wanderschuhe und eine kurze Hose. Die braunen Haare trägt er kurz und praktisch. Für Mode ist seine russische Frau Anja Baranowa zuständig, dazu hat der selbstbewusste Landwirt keine Zeit. Der gebürtige Franke wuchs in einer Apothekerfamilie auf, als Kind half er auf dem Nachbarhof. Später studierte er im fränkischen Triesdorf Landwirtschaft und arbeitete danach auf einem landwirtschaftlichen Betrieb in Brandenburg. Aus purem Zufall heuerte er vor sechs Jahren bei einem russischen Agrarunternehmen mit 500 000 Hektar Land an. Nach Wirtschaftskrise und Lohnausfällen macht er sein eigenes Ding – „am Ende der Welt“. Kowalczyks neue Heimat, die 9000 -Ei nwoh ner- G emei nde Sewsk, liegt im armen Westen Russlands, unweit der ukrainischen Grenze. Bis zur nächstgrößeren Stadt geht es zwei Autostunden über löchrige Teerpisten. Wo jetzt Raps, Winterweizen und Braugerste sprießen, wucherten vor Kurzem noch Brennnesseln, Ackerwinde und junge Birken. 20 Jahre lag alles brach. „Wir haben ganz von vorne angefangen in Sewsk“, sagt Kowalczyk und ist stolz, dass er keine alte Kolchose übernommen hat, sondern einen ganz neuen Betrieb aufbaut. Gemeinsam mit seinem Partner Eckhart Hohmann bewirtschaftet er im Auftrag eines Moskauer Investors 20 000 Hektar Land. Schwarze Zahlen schreibt die Kowalczyk-Farm trotz der ersten guten Ernten nicht. Noch muss investiert werden.

Er mag es schwierig

Stefan Dürr ist seit zwei Jahrzehnten in der russischen Landwirtschaft tätig, seine Firma Ekoniva gehört heute zu den größten Agrarholdings des Landes. Wie hat er die Krisen überstanden, und was reizt ihn so an diesem Land? Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de

Thema der nächsten Ausgabe

MODERNE LITERATUR RESS PHOTOXP

LJUDA LIFTSCHIKOWA

Was wird in Russland gelesen? Wo bleiben die jungen Tolstois und Dostojewskis? Das Thema zur Frankfurter Buchmesse.

200 Kilometer südlich von Sewsk beginnt die Schwarzerderegion mit sehr guten Böden und viel Sonne. Dort könnte er es einfacher haben. Kowalczyk aber liebt die westrussische Wildnis, die er und seine etwa 100 russischen Mitarbeiter immer noch nicht komplett erschlossen haben. „In den fruchtbaren Gegenden ist das Land schon verteilt“, sagt er. „Die Böden hier sind schlechter, aber

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

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Das sind die Elemente, die Bauer Kowalczyk glücklich machen: unendliche Felder, blauer Himmel, der Mähdrescher im wogenden Korn.

BIOGRAFIE

Christian Kowalczyk HERKUNFT: COBURG ALTER: 35 BERUF: LANDWIRT

Nach dem Studium der Landwirtschaft arbeitete Christian Kowalczyk zunächst auf einem Betrieb in Brandenburg. Vor sechs Jahren ging er nach Russland, wo er für das Agrarunternehmen Ekoniva tätig war. Dann verließ er die Firma, um seinen eigenen Betrieb aufzubauen. Seit zwei Jahren bewirtschaftet Kowalczyk zusammen mit einem deutschen Partner 20 000 Hektar Land im Gebiet Brjansk an der ukrainischen Grenze.

dafür regnet es genug und die Brände im vergangenen Sommer haben bei uns nicht so viel Schaden angerichtet.“ Die Auflegetaste seines Handys drückt Kowalczyk so schnell wie jeder Russe, meist noch mitten im Satz. Wenn er mit seinen Mitarbeitern russisch spricht, flicht er

Einen Sprachkurs hat Kowalczyk nie belegt. Sein Chef sagte zu ihm: „Russisch lernst du auf dem Acker.“ mit nahezu muttersprachlichem Geschick Schimpfworte ein, die man in der Zeitung nicht schreiben darf. An die Umgangsformen auf dem russischen Dorf und unter den Mähdrescherfahrern habe er sich erst gewöhnen müssen, aber: „Wer an den richtigen Stellen flucht, kommt mit den Menschen hier besser zurecht“, sagt der 35-Jährige lachend mit fränkischem Dialekt. Ohne deftige Sprache würde er von den Arbeitern

Noch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper russland-heute.de/e-paper

nicht ernst genommen. Einen Sprachkurs hat Kowalczyk nie belegt. Sein erster Chef in Russland sagte zu ihm damals: „Das Sprechen lernst du auf dem Acker.“ Er hat recht behalten. Mit seinen wenigen Brocken Russisch lernte Christian Kowalczyk in einem kleinen Dorf auch seine Frau Anja kennen. „Es war wie ein Zauber, denn man trifft auf dem Land nicht viele Ausländer“, sagt die studierte Agrarökonomin. Vor zwei Jahren fuhr das Paar auf einem Mähdrescher zum Standesamt, das erste deutsch-russische Kind kam am 26. August zur Welt. „Wenn man eine Russin heiratet, tut man sich leichter mit dem Eingliedern“, sagt Kowalczyk. Im Sewsker Kleinstadtleben sei es dennoch schwer, sich einzubringen, selbst für seine Frau.

Düngung, Grammatik, Sarrazin

Die Kowalczyks wohnen in der Wohnung Nummer 23 im ersten Stock eines dreigeschossigen Hauses mit russischem Standardtreppenhaus: hellblau gestrichene Wände und abgenutzte Betonstufen. „Die Tapete kommt noch nicht herunter“, beschreibt Kowalczyk sein bescheidenes Heim. Wenn er über sein Leben in Russland erzählt, lehnt er sich entspannt zurück. Im Wohnzimmerregal der Kowalczyks steht zwischen den Buchtiteln „Düngung“ und „Standardgrammatik Russisch“ auch „Deutschland schafft sich ab“. Hat Kowalczyk den langen russischen Winter satt, und ist auf dem Hof nicht viel zu tun, fährt er für kurze Zeit zurück nach Deutschland oder macht Urlaub: Neuseeland, Argentinien, Brasilien, natürlich, um sich dort mit seiner Frau die Farmen anzuschauen. Strand gibt es höchstens zwei Tage zwischendurch. Kowalczyk lebt für die Landwirtschaft, und er ist angekommen: „In Russland wird dem deutschen Bauern alles geboten, wovon er in Deutschland zu wenig hat: Ackerland und Frauen.“


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Gesellschaft

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Demografie Paare ohne Kinder, steigende Scheidungsraten – Russland hat ähnliche Probleme wie Europa

Muttergeld und Land für einen reichen Kindersegen Mit dem „Muttergeld“ versucht der Staat, die Geburtenrate zu erhöhen. Aber viele machen lieber Karriere. Und bei der Zahl der Abtreibungen hält das Land einen traurigen Weltrekord.

Familienleben und Scheidungen: eine russische Statistik

Jelena Nowikowa russland heute

Scheidungen: „Nach wie vielen Jahren gemeinsamer Ehe haben Sie sich getrennt?“ (Quelle: Rosstat)

Mutterglück muss nicht immer das Höchste der Gefühle für eine Frau sein. Schon im sowjetischen Film „Warten wir noch bis Montag“ sagt die Schülerin Nadja im Unterricht, für sie bestehe das größte Glück darin, einmal Mutter von vier Kindern zu werden. Diese Aussage versetzt ihre Lehrerin, eine unerschütterliche Verfechterin der Sowjetideologie, in Rage, weil eine rechtschaffene Genossin ihre Erfüllung gefälligst in der Arbeit und im Aufbau des Kommunismus zu finden habe. Inzwischen ist der Film über vierzig Jahre alt; das Land hat sich radikal verändert und mit ihm auch der Lebensstil der Menschen. Doch noch immer treffen Mütter mit vielen Kindern auf Lächeln und Ablehnung. Und das, obwohl die Geburtenraten dramatisch sinken und staatliche Programme und Anreize dem entgegenwirken sollen.

Eheschließungen und Scheidungen* 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

Wiktoria Jakowlewa ist 34 Jahre alt, seit fünf Jahren verheiratet – und kinderlos. „Mein Mann und ich haben einen Kredit für eine Wohnung aufgenommen“, begründet Jakowlewa ihre Kinderabstinenz. „Wir müssen die Hypothek abbezahlen und viel arbeiten. Ich möchte kein Kind in die Welt setzen, das von einer Tagesmutter aufgezogen wird und seine Mutter nur am Abend sieht. Doch leider ist es in unserer Gesellschaft sehr schwierig, gleichzeitig arbeiten zu gehen und Mutter zu sein“, erklärt sie weiter.

scheiden, allerdings heirateten auch nur 376 000. Psychologen und Soziologen schlagen schon seit Langem Alarm und sprechen von einer „Krise“ oder sogar der „Abschaffung“ der Institution Familie. Dabei geht es

Drei von vier Ehen scheitern

Zwar gibt es keine Daten über Scheidungen bei kinderreichen Familien, doch die Statistik zeigt, dass jährlich rund eine Million Ehen in Russland geschlossen und 700 000 Paare geschieden werden, also fast drei von vier Ehen scheitern. Zum Vergleich: In Deutschland ließen sich 2009 etwa 191 000 Paare

Anzahl der Kinder: „Wie viele Kinder haben Sie?“

nicht nur um die Scheidungsstatistik. Immer mehr Paare leben inzwischen ohne Trauschein zusammen. Ein weitverbreiteter Trend sind auch die alleinerziehenden Mütter. Mehr als 30 Prozent der rus-

In der nächsten Ausgabe Warum Russen früh heiraten

Vom Plattenbau zum Eigenheim – ab drei Kindern gratis

itar-tass

Maria Ipatowa, 25, hat zwei Söhne und denkt mit ihrem Mann über ein drittes Kind nach. „Mein älterer Sohn war nach der Geburt sehr schwach, und die Ärzte meinten, er würde vielleicht nicht überleben. Deshalb wollen wir viele Kinder. Ein Einzelkind wird zum Egoisten, zwei Kinder sind Rivalen, und erst drei Kinder bilden eine Familie“, erläutert Maria Ipatowa ihr Weltbild. Allerdings teilen nicht viele diese Meinung. Jahr für Jahr gibt es weniger Familien, die sich für Kinder entscheiden. Lediglich drei Prozent aller Paare haben mehr als zwei Kinder, aber 48 Prozent, fast die Hälfte aller Paare, überhaupt keine. Hauptgründe sind die finanzielle und zeitliche Belastung, die Kinder auf die Eltern ausüben. Der Trend zum Ausleben des Individualismus verschiebt Heiratsund Geburtstermine zu höheren Altersjahrgängen. Manche heiraten gar nicht, und viele verzichten auf Kinder. Dieser Trend hat auch das moderne Russland erfasst. Die Moskauerin Anna Kuleschowa, 30-jährige Mutter von drei Töchtern, berichtet: „Ich komme aus der Plattenbausiedlung Tschertanowo. In unserer Nachbarschaft gibt es viele Familien mit Kindern. Wir unterstützen uns gegenseitig. Doch außerhalb unseres Zirkels wirft man uns vor, dass wir uns überall vordrängen, faul sind und Kinder in die Welt setzen, um davon zu leben und nicht arbeiten zu müssen.“ Kuleschowa ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und ging schon wieder arbeiten, als ihre jüngste Tochter drei Monate alt war.

Auch in Russland prägen alleinerziehende Mütter immer häufiger das Straßenbild.

photoxpress

Individualismus statt Kind

Scheidungsgrund: „Nennen Sie die Hauptgründe für Ihre Trennung.“ (Quelle: VTsIOM)

sischen Kinder kommen unehelich zur Welt. Rechnet man die stark sinkenden Geburtenzahlen hinzu, entsteht ein beängstigendes Bild. In Russland hat die Durchschnittsfamilie nur noch 1,59 Kinder (1,36 in Deutschland) – 1990 waren es noch 1,9. Um die normale Reproduktion – das heißt, die der heim ischen Bevöl ker u ng oh ne Berücksichtigung von Aus- oder Einwanderung – langfristig auf einem konstanten Niveau zu halten, geht man in modernen Gesellschaften davon aus, dass etwa 2,1 Kinder pro Frau geboren werden müssen. Es gibt viele Gründe für den Rückgang der Geburten. Nach Angaben des russischen Meinungsforschungsinstituts VTsIOM haben sich rund 31 Prozent der Russen aufgrund finanzieller Schwierigkeiten und mangelnder staatlicher Unterstützung gegen ein Kind entschieden. Die Unvereinbarkeit von Karriere und Kindern stellt ein weiteres Problem dar. Jede fünfte junge Frau zwischen 24 und 35 Jahren möchte beruflich erfolgreich sein und ihre Zeit nicht am Herd bei den Kindern verbringen. Der Mangel an Kindergärten und hohe Kosten für Tagesmütter verschärfen die Situation noch. Die fallende Geburtenrate ist auch der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche geschuldet. Sie liegt mit 60 Prozent in Russland weltweit an der Spitze. Der Staat versucht gegenzusteuern und fördert junge Familien zum Beispiel durch das sogenannte „Mutterkapital“. Hierbei winken 365 000 Rubel (etwa 9000 Euro) für die Geburt des zweiten und dritten Kindes. Solche staatlichen Maßnahmen haben zwar seit 2006 zu einem Anstieg der Geburtenrate um 22 Prozent geführt, sie konnten die demografische Entwicklung grundsätzlich jedoch nicht aufhalten. Im vergangenen Jahr erinnerte sich die russische Regierungspartei Einiges Russland an die Kinderlosensteuer, die in der UdSSR von 1941 an galt und noch bis 1992 in Kraft war. Kinderlose Männer zwischen 20 und 50 Jahren und kinderlose verheiratete Frauen zwischen 20 und 45 Jahren mussten sechs Prozent ihres Lohnes als Kinderlosensteuer abführen. Erst ein eigenes oder adoptiertes Kind erlöste sie von der Steuer. Doch die neue Zeit verbietet solche Zwangsmaßnahmen. Die Idee blieb auf der Vorschlagsebene stecken.

Das größte Problem für Familien in Russland ist der Wohnraum: Der Mietmarkt ist chaotisch, Wohnungen zu teuer, Kredite nur mit hohen Zinsen zu haben. Ein am 17. Juni 2011 beschlossenes Bodengesetz ermöglicht nun zumindest Familien mit drei oder mehr Kindern den kostenlosen Erwerb einer Parzelle, die als Bauland für die Errichtung eines Eigenheims genutzt werden kann. Dabei handelt es sich um Grundstücke aus staatlichem und kommunalem Besitz. Allerdings müssen die genauen Parameter noch in weiteren Gesetzen beschlossen wer-

den. Eine Vorreiterrolle bei der Initiative, kinderreichen Familien ein Stück Land zur Verfügung zu stellen, spielte die Region Iwanowo. 65 Prozent der Gesamtbevölkerung sind dort Frauen. „Für uns ist das eine sehr erfreuliche Nachricht, die wir als ernst zu nehmenden Fortschritt bei der Entwicklung des Eigenheimbaus in Russland bewerten. Der Staat hat damit den Schwerpunkt eindeutig auf kleinteiliges Bauen gesetzt“, erklärt Jelena Nikolajewa, Präsidentin der Nationalen Agentur für niedrigetagige Bebauung und Eigenheimbau.


Reisen

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Tourismus Metrofahren lohnt sich in Moskau ganz besonders. Nicht nur, weil man dadurch den Staus entgeht

Unterirdische Spiegelbilder Von unterirdischen Palästen für das Volk träumten die Sowjets. 80 Jahre nach Baubeginn besitzt die Moskauer Metro 182 Stationen und ist ein Museum der russischen Geschichte.

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ALJONA LEGOSTAJEWA

Schon 1902 hatten zwei Ingenieure der Moskauer Stadt-Duma den Bau einer Metro vorgeschlagen. Doch die Duma lehnte ab – schließlich residierte die reiche Bourgeoisie im Zentrum, deren Häuser dem Bau hätten weichen müssen. In den nächsten 30 Jahren wurden mindestens fünf weitere Projekte für eine Moskauer Metro aus verschiedenen Gründen verworfen. Der Bau begann schließlich 1931, und am 15. Mai 1935 wurde Moskaus Untergrundbahn in Betrieb genommen: Die ersten Passagiere betraten die Rolltreppen und nahmen begeistert auf den weichen Sitzen der neuen Waggons Platz (in den Straßenbahnen gab es nur Holzbänke). Mittlerweile verfügt die Moskauer Metro über mehr als 300 Schienenkilometer, zwölf verschiedene Linien und 182 Stationen. 6,5 Millionen Passagiere nutzen sie täglich. Bis 2020 sollen 120 Kilometer hinzukommen und ein dritter „Umsteigering“. 1955 wurde die Metro zu Ehren Lenins umbenannt, Darstellungen des Arbeiterführers säumen auch

RUSSOS

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Art Déco 33 Meter unter der Erde – Majakowskaja ist eine der schönsten Metrostationen Moskaus. Anlässlich des 75. Metrojubiläums 2010 gaben hier Studenten des Gnessin-Musikinstituts ein Konzert.

heute noch vielen Stationen, beispielsweise als Mosaike in der Baumanskaja und Kiewskaja sowie aus Fliesen im Durchgang zwischen den Stationen Borowizkaja und Biblioteka imeni Lenina. „Die Entwicklungswege unserer Kunst und Architektur über und unter der Erde verliefen absolut identisch. Alles, was über der Erde passierte, fand auch unter der Erde seinen Niederschlag. Das gab es nie: schlechte Architektur unten

und gute oben“, erklärt der Chefarchitekt der Moskauer Metro Nikolaj Schumakow. „Die ersten Metrostationen, die bis Mitte der 50er-Jahre entstanden, sind reiche „Paläste für das Volk“, große Architektur für einen großen Staat. Beeindruckende Beispiele sind die Stationen Majakowskaja und Nowokusnezkaja, in denen man sich unbedingt die Deckenmosaike „Ein Tag im Land der Sowjets“ und „Die heroische

Arbeit der Sowjetbürger im Hinterland“ ansehen muss. Die Zeit des unter- und überirdischen Prunks endete 1955 mit dem Parteierlass „Über die Beseitigung von Ausschweifungen bei Planung und Bau“. Unter der Losung „Kilometer statt Architektur“ entstanden einheitliche Stationen ohne Stuck, Mosaike und Säulen. Einen Eindruck von der Architektur dieser Zeit verschaffen die Stationen Twerskaja und Kitaj-Gorod.

Die dritte Etappe beim Metrobau, die „Wiedergeburt“, setzte mit dem Umbau der Station Worobjowy Gory (Sperlingsberge) 2002 ein. Bei der Planung wurde auf den Architekturkanon der 30er- und 40erJahre Bezug genommen, und bei der Ausgestaltung zog man erneut Künstler heran. So schmücken die Station Sretenskij Bulvar Silhouetten von Puschkin, Gogol und Timirjasew sowie eine Moskauer Stadtansicht. Ein schwarz-weißes Wandbild in der Station Dostojewskaja erinnert an Helden der Romane „Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Schuld und Sühne“ und „Die Brüder Karamasow“. Pastorale Landschaftsmosaike säumen die Station Marina Roschtscha. 2004 wurde im Norden von Moskau das erste Einschienen-Transportsystem in Russland eingeführt – eine überirdische Linie in sechs bis zwölf Metern Höhe, die ihre Fahrgäste noch schneller ans Ziel bringt. In den nächsten Jahren soll die Architektur der Moskauer Metro den Menschen nähergebracht werden. „Wir wollen einige Stationen gewissermaßen entkleiden“, sagt Schumakow. „Dabei versuchen wir, den Fahrgästen die Konstruktionen möglichst vollständig zu zeigen – denn die Baumaterialien Eisen und Beton, aus denen die Stationen bestehen, haben für sich ihren ganz eigenen Reiz.“

Reise Wer den Reiseführer links liegen lässt, kann in der russischen Hauptstadt so manche Überraschung erleben

Sirtaki tanzen im Gorki-Park, frösteln im Stalin-Bunker Neben Rotem Platz, Mausoleum und Kreml hat Moskau auch anderes zu bieten: Eisbaden im Silberwäldchen, ein 360Grad-Kino oder die deutsche Kirche St. Peter und Paul. DIANA LAARZ

RUSSLAND HEUTE

Geheimnisse unter der Erde

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Natürlich muss man als Tourist den Roten Platz gesehen haben. Gerade zu die bunten Kuppeln der Basilius-Kathedrale, rechts Lenins Mausoleum vor erdrückenden Kremlmauern, links die Fassade des Edelkaufhauses GUM. Doch wie weiter? Immer den Empfehlungen des Reiseführers hinterher? Lieber der Nase nach. Für den Moskau-Besucher lohnt sich ein Blick über den Index seines Handbuches. Er könnte sich zum Beispiel in einem Kino wiederfinden, das schwindlig macht. In das Allrussische Ausstellungszentrum WWZ verirrt sich so manch ein Moskau-Besucher. Mit seinen pompösen Bauten gilt es als Inbegriff der Sowjetästhetik. Doch selbst die meisten Moskauer wissen nicht, dass dort im „Kinopanorama“ cineastische Raritäten gezeigt werden. Wenn der Tonarm vom Plattenspieler genommen und das Licht gedimmt wird, beginnt eine Zeitreise in die Vergangenheit. Schon 50 Jahre lang zeigt das

Moskau ist immer schnell, manchmal schneller, als es guttut – das spürt jeder Besucher nach dem ersten Tag. Und sehnt sich nach Ausgleich. Das Ufer der Moskwa etwa verwandelt sich in lauen Sommernächten in eine Tanzbühne. Am südlichen Rand des Gorki-Parks versammeln sich Moskauer jeglichen Alters, und selten ist die Stimmung so entspannt und friedlich wie hier. Tagsüber verbergen die Städter sich hinter versteinerten Gesichtern, aber hier jauchzen sie ausgelassen bei Sirtaki, Irish Dance und Hustle. Wer einmal anfängt zu tanzen, hört so schnell nicht wieder auf.

Lust auf eine Partie Riesenschach? Moskauer Spieler im Gorki-Park

„Kinopanorama“ Filme auf einer 360-Grad-Leinwand. Oft verirrt sich gerade mal eine Handvoll Besucher zu den Vorstellungen. Sie sitzen auf Bänken in der Mitte des runden Kinos, rumpeln mit dem Zug durch sibirische Wälder, vorbei an Holz hackenden Männern. Der Ton fällt manchmal aus, das wacklige Bild ebenso. Doch dafür bringt das „Kinopanorama“ seine Besucher

Am Ufer der Moskwa jauchzen die sonst verschlossenen Moskauer ausgelassen bei Irish Dance und Hustle. in ein Land, das es nicht mehr gibt. So ganz anders als die pulsierende Millionenmetropole dieser Tage.

Nach dem Besuch im Kreml sollte man nicht versäumen, bei den Patriarchenteichen ein wenig auf den Spuren von Bulgakows „Meister und Margarita“ zu wandeln. Wenn es kalt wird, verstecken sich Ortskundige nicht nur in der Tretjakow-Galerie, sie härten sich im „Silberwäldchen“ (Serebrjany Bor) beim Eisbaden ab. Manche Moskauer Besonderheit liegt gut verborgen unter der Erde. So der „Bunker 42“ unter der Metrostation Taganka. Was sich hinter dem unscheinbaren Haus mit der Nummer 11 versteckt, ahnten 40 Jahre lang selbst die Nachbarn nicht. In den 1950ern hatte Stalin vier Röhrenbunker in den Untergrund bohren lassen, um im Falle eines Atomangriffs der USA die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Fernschreiber und Generatoren heizten die Tem-

peratur auf 30 Grad, heute frösteln Besucher in 60 Metern Tiefe bei 16 Grad. Viel ist nicht übrig geblieben von dem technischen Wunderwerk. Dafür können die Gäste Uniformen anlegen, Kalaschnikows in die Hand nehmen und am Schreibtisch vor einem Porträt Leonid Breschnews posieren. Und wenn das Licht ausgeht, rote Warnleuchten blinken und eine Lautsprecherstimme verkündet, Moskau sei soeben zerstört worden, bekommt man eine Ahnung von der Zeit, in der die Menschen sich auf ein Leben 60 Meter unter der Erdoberfläche vorbereiteten. Auch deutsche Spuren gibt es in Moskau. In der „Nemezkaja Sloboda“ (Deutsche Vorstadt) im Nordosten siedelten die Deutschen seit dem 16. Jahrhundert. Ihr Erbe ist allgegenwärtig. Die Schokoladenfabrik Roter Oktober auf einer Insel mitten auf dem Fluss Moskwa – heute Treffpunkt der Kunst- und Partyszene – wurde von den Deutschen Ferdinand von Einem und Julius Geis gegründet. Den Grundstein für die evangelische Peterund-Paul-Kirche legte 1818 Kaiser Friedrich Wilhelm III. Bis heute treffen sich dort die Nachfahren der deutschen Auswanderer. Besonderer Tipp: Der deutsche Architekt Peter Knoch bietet fachkundige Führungen durch die Hauptstadt mit viel Insiderwissen: www.ga-moskau.com. Mehr über die deutschen Spuren in Moskau auf www.russland-heute.de


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Meinung

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Dynamische Partnerschaft Klaus Mangold

Zur Zeit bewegen sich die deutschrussischen Beziehungen und die Partnerschaft zwischen EU und Russland auf einem Niveau, das mehr Normalmaß beschreibt, als dass es eine dynamisch orientierte Zukunftsstrategie beinhaltet. Können wir damit in die nächsten Jahre gehen? In der Russischen Föderation werden die kommenden Monate durch die Wahl der Duma und des Präsidenten geprägt sein. In Deutschland sind wir stark mit uns selbst und den Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten beschäftigt. Ähnliches gilt für die EU. Die Weltlage lässt aber keine langsamere Gangart im deutschrussischen Dialog zu. In zu vielen Bereichen haben wir keine durchgängige Orientierung. Die europäische Energiepolitik braucht neue Impulse hinsichtlich des starken Partners Russland. Gerade Deutschland muss Russland wieder in den Fokus rücken, weil wir durch die Förderung der erneuerbaren Energien bis zu 30 Prozent mehr Gas aus der Russischen Föderation benötigen. Es ist abzusehen, dass dies die Diskussion über Abhängigkeiten beleben wird. Dem muss schon jetzt mit einem konstruktiven Ansatz der Partnerschaft entgegengetreten werden. Energie wird weiter-

dmitri divin

Manager

hin im Mittelpunkt der deutschrussischen und der europäischrussischen Beziehungen stehen. Hinzu kommt, dass Russland in Zukunft als Lieferant von Metallen und Seltenen Erden an Gewicht gewinnt. Ohne eine gesicherte, politisch abgefederte Rahmenvereinbarung werden viele Investoren zögern,

die Geschäfte auszubauen. Dies gilt auch für Investitionen in Transportwege, wo wir mit der North-Stream-Pipeline in kurzer Zeit eine hervorragende neue Versorgungsader erschlossen haben. South Stream muss folgen. Die Unsicherheiten bezüglich der Nabucco-Pipeline sollten im Rahmen der immer größer werdenden

Transportkapazitäten bald geklärt werden. Auch der russische Handelspartner braucht Klarheit. Wenn Unter nehmen wie Gazprom in Deutschland große Summen investieren wollen, müssen wir sie unterstützen, anstatt ihnen Barrieren in den Weg zu stellen. Die jetzt beginnende Diskussion über die wettbewerbsrechtliche Dimension des Vorgehens lässt die große strategische Bedeutung des Projekts zu Unrecht in den Hintergrund treten. Gazprom – wie auch RWE und andere – braucht für sein Vorgehen politische Berechenbarkeit und rechtliche Absicherung. Auch hier ist die EUKommission gefordert, sowohl im Bereich des Wettbewerbsrechts als auch in der Abfederung der Investitionsentscheidungen. Wir müssen die russischen Investitionen bei uns als auch die europäischen Investitionen in Russland auf breiter Basis schützen. Das zweite große Thema ist die Modernisierung der russischen Wirtschaft. Hier ist Russland in den letzten Jahren nicht weitergekommen, zum Teil sogar zurückgefallen. Das Land setzt noch immer zu einseitig auf den Export von Rohstoffen und Energie. In vielen Bereichen liegt die russische Industrie 20 Jahre hinter seinen wichtigsten Wettbewerbern zurück. Diese Herausforderung muss eine neue russische Regierung annehmen.

Wir brauchen endlich einen Beitritt Russlands zur World Trade Organization WTO, wir brauchen ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU und einen neuen Geist globalen Denkens. Das Drama der 18-jährigen Verhandlungen über den WTO-Beitritt sollte schnellstens beendet werden! EU und Bundesregierung sind auch bei der Erleichterung der Reisebedingungen von Bürgern aus der EU und Russischen Föderation gefordert.

Wir müssen russische Investitionen bei uns und europäische Investitionen in Russland auf breiter Basis schützen. Wir verlieren wertvolle Zeit angesichts der dramatischen Umund Neugestaltung der Weltwirtschaft. Diesen Herausforderungen der Globalisierung müssen sich Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft stellen, um die Früchte des dynamischen Austauschs der letzten Jahre zwischen Europa und Russland nicht zu gefährden. Der Autor ist Aufsichtsratsvorsitzender bei TUI. 2000 bis 2010 stand er dem Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft vor.

Die helden von 1991 sind vergessen Konstantin von Eggert

Journalist

Kürzlich habe ich festgestellt, dass nur wenige Russen jemals vom „Tag der Staatsflagge der Russischen Föderation“ am 22. August gehört haben. Und noch weniger erinnern sich daran, was zur Einrichtung dieses Feiertags geführt hat. 1994 eingeführt, erinnert er an das Scheitern des Putsches gegen Gorbatschow, an jenes Ereignis, das eines der düstersten und zugleich vielversprechendsten jener Tage war. Dmitri Komar, Ilja Kritschewski und Wladimir Usow wurden durch Querschläger getötet oder von Truppentransportern, die über den Gartenring rollten, zu Tode gequetscht. Die drei gehörten zu jenen, die versuchten, die Panzer auf ihrem Vormarsch zum Weißen Haus aufzuhalten – dem Amtssitz der Russischen Föderation und dem Zentrum der Opposition gegen die Putschisten. Später stellte sich heraus, dass die Offiziere und ihre Männer keine

direkte Weisung hatten, doch an jenem chaotischen Abend des 21. August war das keineswegs klar. Noch am selben Tag brach der Putsch zusammen. Am 22. August gingen die Moskauer zu Hunderttausenden auf die Straße, um die drei jungen Männer zu ehren. Und an jenem Tag wurde eine riesige weiß-blau-rote Trikolore über der Menge entfaltet und zum Weißen Haus getragen, wo Präsident Boris Jelzin sie später offiziell zur neuen Staatsflagge Russlands erklärte. Am 24. August wurden die drei Männer mit allen Ehren bestattet, und Michail Gorbatschow verlieh ihnen posthum den goldenen Stern „Held der Sowjetunion“. Als ich kürzlich aus purer Neugier nach ihren Namen im Internet suchte, waren die häufigsten Treffer im russischen Netz Fragen wie: „Wer sind diese Leute?“ oder „Sagen euch diese Namen was?“. Ein ähnliches Ergebnis erbrachte die Suche nach dem „Tag der Staatsflagge“. Scheinbar haben die Russen einen der ruhmreichsten Momente ihrer Geschichte fast ganz vergessen.

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de

Für sämtliche in dieser Beilage veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redakteure von Russland HEUTE oder von Rossijskaja Gaseta dar.

Ich könnte es verstehen, wenn diese Ereignisse mehr Hass und Verzweiflung hervorriefen: Der Zu s a m me nbr uc h de r S owjetunion war schließlich für viele ein schmerzvolles Ereignis. Mich verblüfft die Gleichgültigkeit. Die Meinungsforscher bestätigen meine Vermutung: Die Gleichgültigkeit ist das Ergebnis der zynischen und desillusionier-

Immer mehr Russen wenden sich gegen den Zynismus, suchen nach einer neuen Bedeutung ihrer Existenz als Bürger. ten Haltung, die die russische Gesellschaft durchdringt. Das staatlich kontrollierte Fernsehen fördert sie fleißig, damit die Menschen sich möglichst überhaupt keine Gedanken über Politik machen. „Nichts wird je aufgrund von Ideen oder Idealen getan. Alles, was getan wird, geschieht aufgrund von Gier oder einer ande-

ren Form von persönlichem Interesse“ – ist die in der russischen Gesellschaft verankerte Einstellung, über alle ethnischen, sozialen und Altersgrenzen hinweg. Keiner von uns, der die Ereignisse in jenem August miterlebt hat, wird sich je dieser zynischen Beurteilung anschließen. Ich arbeitete damals für eine Moskauer Zeitung, und für mich war es eine Zeit der Hoffnung und des Idealismus, eine Zeit der grenzenlosen Horizonte und des Gefühls, einen Moment zu erleben, in dem Geschichte geschrieben wird. Russland knüpfte 1991 an seine vorsowjetische Vergangenheit an und wurde doch zu einem ganz neuen Land. Nie zuvor hatte es die Demokratie zu seiner verfassungsmäßigen Grundlage erklärt, nie hatte es in diesen Grenzen existiert und in einer solchen demografischen Zusammensetzung. Zum ersten Mal seit 300 Jahren war Russland kein Großreich mehr. Man begann, einen modernen Nationalstaat aufzubauen und ein Jahrhundert verpasster Gelegenheiten wettzumachen.

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion der Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. Verlag: Rossijskaja Gaseta, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114 Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Ilja Owtscharenko;

Offenbar findet die Vorstellung immer mehr Akzeptanz, dass dieser fast vergessene Jahrestag auch eine Quelle von Inspiration und Stolz sei, dass man diese Ereignisse als Wendepunkt sehen könnte, an dem Russland begann, ein freies Land zu werden. Präsident Dmitri Medwedjew scheint ähnlicher Ansicht zu sein. Immer wieder bezieht er sich auf 1991 als einen Meilenstein der russischen Geschichte, angefangen von seiner letzten Neujahrsansprache bis zu seinem Interview im Juni für die Financial Times. Man sagt, es tue einem russischen Politiker nicht gut, die glorreiche Vergangenheit zu beschwören. Ich bin da nicht so sicher. Immer mehr Russen wenden sich gegen den Zynismus der letzten Jahrzehnte, suchen nach einer neuen Bedeutung ihrer Existenz als Bürger. Diese Menschen sind die Zukunft des Landes, wenn es denn eine hat. Der Autor schrieb in den 90erJahren für die Zeitung Iswestija. Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.

Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Chef vom Dienst für online: Wsewolod Pulja; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2011. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Todestag Vor 70 Jahren starb Marina Zwetajewa, die große russische Dichterin

Wie ein Komet, der zur Erde stürzte „In der Gegenwart und in der Zukunft ist für mich kein Platz“, sagte Zwetajewa, und tatsächlich vergingen nach ihrem Tod Jahrzehnte, bis die Welt die Dichterin wiederentdeckte.

Denkmal für die Dichterin vor dem Zwetajewa-Museum in Moskau

RUTH WYNEKEN

FÜR RUSSLAND HEUTE

Gegen Vulgarität und Diktate

1919 schrieb sie in ihr Tagebuch: „In mir sind viele Seelen. Doch meine Hauptseele ist deutsch. In mir sind viele Ströme, doch mein Hauptstrom ist der Rhein. … Wenn man mich fragt: ‚Wer ist Ihr Lieblingsdichter‘, verschlucke ich mich zuerst, dann schleudere ich gleich ein Dutzend deutscher Namen auf einmal hervor.“ Heine, Hölderlin und Goethe, vor allem Rilke, gehörten zu ihren Lieblingen und poetischen Partnern. Doch auch im Exil in Berlin, Prag und Paris, in das sie ab 1922 die Umbrüche in Russland trieben, verließ die Sehnsucht nach der Heimat sie nie. Wo und wie sie auch lebte (jedoch stets unter dem Existenzminimum), focht sie gegen Vulgarität und Diktate, war nur ihrem Gewissen verpflichtet. Ihr Leben und Werk sind Ausdruck von Provokation und radikaler Wahrhaftigkeit, ihre großen Themen: Liebe und wieder Liebe, die Kunst, der leidenschaftliche Konfl ikt zwi-

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Ruhm zum 100. Geburtstag

Klage des Zorns und der Liebe! Salz, das auf Augen ruht! Oh, und Böhmen in Tränen! Oh, und Spanien im Blut!

Ich weigre mich zu schwimmen Als Hai des Lands, stromab Den Strom gebeugter Rücken – Ich weigre mich, lehn ab.

O schwarzer Berg, der du das Licht verdunkelt hast! Zeit ist, Zeit, dem Schöpfer Hinzuwerfen den Pass. Ich weigre mich zu leben Im Tollhaus, unter Vieh. Ich weigre mich, ich heule Mit den Wölfen nie.

Ablehn ich, dass ich höre, Ablehn ich, dass ich seh. Auf diese Welt des Irrsinns Gibt es nur eins: ich geh. Paris, März – Mai 1939 Marina Zwetajewa: Vogelbeerbaum. Ausgewählte Gedichte, herausgegeben von Fritz Mierau, Verlag Klaus Wagenbach, 1968/1986

schen irdischer Existenz und metaphysischem Sein. Sie war ein Komet, der zur Erde stürzte. Rilke hat es gewusst. Seine Elegie an sie beginnt: „O die Verluste ins All, Marina, die stürzenden Sterne!“ Die Zwetajewa verdichtete nicht nur Innenwelten, sondern das Wesen ihrer Zeit in Wortschöpfungen und Rhythmus zu universellen und starken poetischen Bildern. Wie im Brennglas bündeln sich in ihrem Schicksal und Werk

die Höhen, Unruhen und Abgründe der großen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Im Juni 1939 reiste die Dichterin mit ihrem 16-jährigen Sohn Georgij, von düsteren Vorahnungen gequält, nach 17 Jahren Exil zurück in die Sowjetunion. Zwei Jahre zuvor waren ihre Tochter Ariadne als überzeugte Kommunistin und ihr Mann Sergej Efron, der in die Schlinge des sowjetischen Geheimdienstes geraten war, heimgekehrt.

Die Verhaftung der Angehörigen, Demütigungen durch Behörden und Kollegen und Streitereien mit dem pubertären Sohn hatten die Kräfte der Dichterin verzehrt, doch den letzten, tödlichen Schlag versetzten ihr, das wissen wir heute, die „Organe“. Als „Remigrantin“ und Ehefrau eines ehemals weißen Offiziers stand sie per se unter Verdacht und wurde überwacht. Der Geheimdienst wollte sie zur Mitarbeit erpressen. Zwetajewa lehnte ab. „Selbstmord gibt es nicht, es gibt nur Mörder“, schrieb sie über die Dichterkollegen Jessenin und Majakowskij, die aus dem Leben schieden. Oder getrieben wurden. Ab den 60er-Jahren wurde die Dichterin in ihrer Heimat zögerlich veröffentlicht, zum 100. Geburtstag 1992 gab es einen Zwetajewa-Boom, der über die Öffnung ihres Archivs im Jahre 2000 hinaus anhielt. Ihre Tagebücher, die ihres Sohnes, der Schwester Anastasija und der umfangreiche Briefwechsel der Dichterin sowie ihrer Tochter sind nun ungekürzt veröffentlicht, doch die Forschung hält nicht Schritt, denn Zwetajewas Werk ist ein Kosmos. Als Ariadne Efron 1955 aus dem Lager entlassen wurde, fand sie kein einziges Grab: Hinter den Mauern des Geheimdienstes war im Herbst 1941 ihr Vater erschossen worden, ihr Bruder fiel 1944 mit 19 Jahren an der lettischen Front, das Grab der Mutter war nicht mehr zu identifi zieren. Es gibt nun eine Gedenkstätte in Jelabuga – und einen Gedenkstein in Tarussa, dem Sehnsuchtsort der Dichterin. Denn der Weg von Dichtern gleicht dem von Kometen – unvorhersehbar und „maßlos in einer Welt nach Maß …“

KLASSIK ZWEITES RUSSISCHES KAMMERMUSIKFEST HAMBURG

OPER „KRIEG UND FRIEDEN“ – SERGEI PROKOFJEW

LESUNG STREET VIEW REISE NACH PETUSCHKI

7. BIS 18. SEPTEMBER, HAMBURG

16. BIS 28. SEPTEMBER, OPER KÖLN

24. BIS 25. SEPTEMBER, NATO LEIPZIG

In diesem Jahr steht Samuil Feinberg (1890-1962) im Fokus des Festivals, dessen Werke renommierte Musiker wie der Pianist Victor Bunin und der Cellist David Geringas interpretieren.

Sergei Prokofjew (1891-1953), der Schöpfer von „Peter und der Wolf“, komponierte mit „Krieg und Frieden“ nach dem Roman von Leo Tolstoi seine bedeutendste Oper.

„Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew ist Kult. Eine Art sowjetisches „On the road“ über einen versoffen-verzweifelten Philosophen auf dem Weg zu seiner Liebsten.

› russisches-kammermusikfest.de

› buehnenkoeln.de

› nato-leipzig.de

RIA NOVOSTI

„Ich würde gerne auf dem Chlysten-Friedhof von Tarussa unter einem Holunderstrauch liegen, in einem jener Gräber mit den silbernen Tauben, dort, wo die größten und rötesten Walderdbeeren wachsen.“ Marina Zwetajewa schrieb es im Exil. Tarussa an der Oka, 100 Kilometer südlich von Moskau, war der Ort ihrer Kindheit, jener üppigen, wilden Sommer, die mit einem Schicksalsschlag abrupt endeten: Sie ist 14, als die Mutter an Tuberkulose stirbt. Der Schlusspunkt ihrer Biografie, die den Stoff für eine griechische Tragödie hergibt: ein Grab im tatarischen Jelabuga, weitab von der Idylle ihrer Kindheit. Zwetajewa war an diesem trostlosen Ort gestrandet, nach jahrelangen Irrfahrten. Am 31. August 1941 nahm sie sich das Leben. 1892 als Tochter eines Kunstprofessors und einer deutschstämmigen Pianistin geboren, wuchs Marina in Moskau auf. Sie sprach fließend Französisch und Deutsch, begleitete die kranke Mutter nach Italien, lebte in Internaten in der Schweiz und in Freiburg.

Keiner aus der Familie ahnte das Ausmaß des Stalinterrors. Die Realität belehrte sie eines Besseren: Im August 1939 wird Ariadne verhaftet, im Oktober Sergej Efron. Zwetajewa irrt mit Georgij von Provisorium zu Provisorium. Den Alltag dominieren Existenzangst, die Verantwortung für den hochbegabten Sohn und die Unmöglichkeit, auch nur eine einzige Gedichtzeile drucken zu dürfen. Dann fallen deutsche Bomben auf Moskau, überstürzt entscheidet sie sich für die Evakuierung; nach zwölf Tagen Schifffahrt erreichen Mutter und Sohn Tatarstan. Als die Bäuerin am 31. August 1941 nach Hause kommt, stößt sie gegen einen Stuhl, darüber hängt ihre Mieterin, das Haar grau, das Gesicht von Entbehrungen gezeichnet, die Hände abgearbeitet und gelb vom Rauchen. Die Silberringe findet die Polizei, die zwei Stunden später eintrifft, nicht mehr – sie sind gestohlen. In der Schürze der 49-jährigen steckt ein Notizbüchlein mit dem Wort Mordwinien – dort vermutete sie ihre Tochter im Lager.

Klage des Zorns und der Liebe!

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LESENSWERT

Was hinter der Berliner Mauer steht

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ünfzig Jahre nach dem 13. August hat Russland die Schlüsseldokumente für die Entscheidung zum Mauerbau freigegeben. In vier Bänden werden die bislang streng geheimen Gesprächsprotokolle des sowjetischen Partei- und Staatschefs Nikita Chruschtschow mit hochrangigen westlichen und östlichen Politikern von 1955 bis 1964 vom Historiker Gerhard Wettig in Zusammenarbeit mit dem Russischen Staatsarchiv herausgegeben. Pünktlich zum Jubiläum des Mauerbaus hat Wettig die Dokumente zu den dramatischen Monaten der Berlin-Krise zwischen 1960 und 1962 ediert. Chruschtschow, so veranschaulichen sie, erwies sich als Politiker, der von seinen persönlichen und ideologischen Ansichten bestimmt war. Und erst recht von seinen Emotionen. Er bezeichnete US-Präsident John F. Kennedy im Vorfeld eines Treffens als „Hu rensoh n“ u nd war der Ansicht, mit dem in seinen Augen noch unerfahrenen Politiker ein leichtes Spiel zu haben. Kennedy blieb jedoch in der Berlin-Frage hart, selbst als der Kremlchef mit Krieg drohte. Die DDR war deshalb nur noch durch die Schließung der Grenzen vor dem Zusammenbruch zu retten. Wenig später musste Chruschtschow im Gespräch mit SED-Chef Walter Ulbricht jedoch frustriert feststellen, dass der ostdeutsche Staat ob seiner wirtschaftlichen Schwäche auch n ach de m Mauerbau nicht ohne sowjetische Panzer zu halten war. Wettig gelingt es, erstmals detailliert zu zeigen, wie hinter den verschlossenen Türen des Kremls Politik gemacht wurde. Wie spannend die Lektüre von Akten sein kann, belegt dieses Buch. Gerhard Wettig: Chruschtschows Westpolitik 1955–1964. Band III: Kulmination der Berlin-Krise. Oldenbourg Verlag, 656 S. Matthias Uhl

empfiehlt


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Porträt

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Philosophie Dem Zynismus ihrer Zeitgenossen setzt Nelly Motroschilowa die Kritik der reinen Vernunft entgegen

Die Philosophin aus Liebe Was konnte Kant den Sowjetbürgern, was kann er den heutigen Russen sagen? Nelly Motroschilowa ist seit einem halben Jahrhundert die Postbotin westlicher Denker.

Motroschilowa lehrt in Moskau Philosophie. Unten: die russisch-deutsche Kant-Ausgabe

ANASTASIA GOROKHOVA RUSSLAND HEUTE

Sie geht nachdenklich auf und ab, während sie spricht. Manchmal bleibt sie stehen und sieht direkt in die ängstlichen Augen der Studenten, die voller Ehrfurcht an ihren Lippen hängen und gleichzeitig versuchen, jedes ihrer Worte mitzuschreiben. An ihren dünnen Fingern – große, schwere Silberringe mit Edelsteinen besetzt, dazu immer eine passende Kette und ein farblich abgestimmtes Jacket. Ein blonder, modischer Pagenschnitt und leuchtend blaue Augen – selbstverständlich geschminkt. Die schwierigsten Theorien Kants und Hegels erklärt sie so, als sei die deutsche klassische Philosophie ein Kinderspiel. Frau Professorin Nelly Motroschilowa hat die Gabe, komplizierte Dinge mit einfachen Worten zu erklären und die scheinbar sinnlosesten Dinge mit Sinn zu füllen. Und das mit beinahe achtzig. Über die Gänge des Instituts für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften geht sie seit knapp fünfzig Jahren mit demselben festen Schritt, seit 25 als Leiterin der Abteilung für westeuropäische Philosophie.

Ikone der Sechziger

„Dabei war ich die ersten zwei Jahre meines Studiums sicher, dass ich die falsche Fachrichtung gewählt habe“, sagt Motroschilowa, während sie jetzt den dunklen Flur ihres Sommerhauses aus weißem Stein, fünfzig Kilometer nordöstlich von Moskau, betritt. Von einem verliebten Mitschüler ließ sie sich zum Philosophiestudium verleiten. Die Romanze verging, die Philosophie blieb. Für immer. Motroschilowa studierte in den Jahren nach Stalins Tod, einer Zeit der Liberalisierung, in der es plötzlich wieder möglich wurde, sich ohne ideologische Scheuklappen mit der Philosophie des Westens zu beschäftigen. Ein Kollege hat Motroschilowa einmal zur „Ikone der Sechziger“ erkoren, der Generation, die den liberalen Geist der Sechzigerjahre bis in die Neunzigerjahre trug. In jedem Fall aber wurde Motroschilowa zur „Postbotin“ der westeuropäischen Philosophie in Russland. Besonders die großen deutschen Denker hatten es ihr angetan: Husserl, Hegel, Kant und Heidegger. Viele ließen sich damals nur im

AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

KURZVITA

Nelly Motroschilowa GEBURTSORT: STAROWEROWO GEBURTSJAHR: 1934 BERUF: PHILOSOPHIN

Nelly Wassiljewna Motroschilowa wurde 1934 in dem Dorf Starowerowo in der Ukraine geboren. 1936 siedelt ihre Familie nach Moskau über. 1956 schließt Motroschilowa ihr Studium der Philosophie an der Lomonossow-

Original auftreiben, und so musste Motroschilowa ihr Schuldeutsch auspacken, was sie mit der Zeit zu einem fließenden Deutsch perfektionierte. Auf Deutsch tauscht sie sich nun schon seit mehreren Jahrzehnten mit ihrem langjährigen Freund und Kollegen Jürgen Habermas aus. Jetzt, im heißen Moskauer Sommer, ruht sie sich etwas aus auf ihrer schokoladenfarbenen Wohnzimmercouch neben dem Kamin. Draußen zwitschern Vögel, der akkurat gemähte Rasen und die Blumenbeete erinnern an deutsche Vorgartentradition. Motroschilowa erzählt von ihrem Lebenswerk: G e me i n s a m m it Bu rk h a r d

Universität ab. 1963 promoviert sie am Institut für Philosophie, 1970 folgt die Habilitation „Erkenntnis und Gesellschaft“ über die Philosophie im 16. und 17. Jahrhunderts. 1975 wird Motroschilowa Professorin. Seit 1986 leitet sie den Bereich der Philosophiegeschichte sowie die Sektion für westeuropäische Philosophie an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Motroschilowa wurde mehrfach in Russland ausgezeichnet, zudem ist sie Preisträgerin der Alexander von Humboldt-Stiftung. 2005 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Neben Deutsch spricht sie fließend Englisch und Französisch.

Tuschling, Philosophieprofessor in Marburg, arbeitet sie seit 1990 an einer weltweit einzigartigen Ausgabe von Kants Werken in russischer und deutscher Sprache. Einzigartig ist das Projekt nicht nur aufgrund der Zweisprachigkeit, sondern weil einige der ursprünglichen Übersetzungen, etwa von der „Kritik der reinen Vernunft“, korrigiert und dabei von groben Fehlern gesäubert wurden. Das Ergebnis sind vier Bände, der fünfte folgt in diesem Jahr.

„Zeichen von Antizivilisation“

Motroschilowa betont, wie wichtig das Mammutwerk heute sei. „Kant erinnert uns daran, dass

Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook

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www.facebook.com/ RusslandHeute

‚Freiheit‘ immer mit ‚Verantwortung‘ verbunden ist. Und das wird heute oft vergessen“, erklärt sie. Die Anerkennung für diese und all ihre anderen Arbeiten bekam sie 2005 aus Deutschland in Form des Bundesverdienstkreuzes. Jeder weiß, wann man einen Arzt aufzusuchen hat, einen Rechtsanwalt oder einen Psychotherapeuten. Aber wann braucht man Philosophen? Nelly Motroschilowa sagt: „In Zeiten wie diesen, wenn jegliche Moral den Bach heruntergeht.“ Diese Zeit beschreibt sie in ihrem jüngsten Buch „Zivilisation und Barbarei in einer globalen Krisenepoche“. Die Datscha-Idylle um sie herum kann sie nicht von den Gedanken über die Zukunft der Zivilisation ablenken. „Offener, durch nichts verdeckter Zynismus ist ein Zeichen für eine Antizivilisation. Das ist ein globales Problem, auch wenn es in Russland besonders sichtbar ist“, urteilt sie. Den Zynismus habe bei den Russen der Zerfall der Sowjetunion hervorgerufen und fest verankert, insbesondere in den Machtetagen. Die Geisteswissenschaftler könnten der Gesellschaft die Orientierung zurückgeben, die sie so dringend brauche, doch man ließe sie nicht. „Man versteckt sich hinter Begriffen wie ‚Innovation‘ und ‚Modernisierung‘, die zeigen sollen, dass man sich auf Wissen stützt. Wissenschaftler werden

manchmal zur Beratung hinzugezogen, aber nur die bequemen. Und auch die lässt man nicht ausreden“, erklärt die Professorin etwas resigniert. „Das Versteckspiel hinter Begriffen ist eine Art Tarnung der Politik, ein Alibi.“

Nachbarn hinter hohen Mauern

Nelly Motroschilowa spaziert langsam auf einem holprigen, steinigen Weg in Richtung der neu gebauten Häuser in der Nachbarschaft. Sie stehen hinter hohen Zäunen, doch ihre Größe lässt sich nicht gänzlich verbergen. „Jeder weiß, dass diese Villen Beamten gehören. Die haben sie wohl kaum mit ihrem offiziellen Gehalt bauen können. Leider sind das genau die Menschen, die wir ständig sehen: im Fernsehen, in der Zeitung, auf den Straßen. Es scheint so, als gäbe es nur sie“, sagt sie. Doch der Schein trügt, weiß die Philosophin. Die Statistik zeige deutlich: Vierzig Prozent der Bevölkerung sind redliche Steuerzahler. Sie nennt sie „die Armen“, die nur Nachteile haben und sich durchs Leben schlagen müssen. Menschen wie Nelly Motroschilowa, mit deren Wissen und Errungenschaften wohl kaum ein Beamter mithalten kann. Menschen, die die Welt besser machen. Leicht gebückt kehrt Nelly Wassiljewna zu ihrem Sommerhaus zurück, für das sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet hat.

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