Russland Heute

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www.russland-heute.de

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Jobs und wir

Narr und Zar

Kasan – Russlands heimliche dritte Hauptstadt

„Träumt endlich von mehr als nur einem weichen Sessel unterm Hintern”, schimpft der Publizist Daniil Dugajew

Pjotr Mamonow ist genial, verrückt. Und gläubig

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Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Mittwoch, 2. November 2011

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich.

Ernüchtert in die Wahlen

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Kollektives Wählerfischen CHEFREDAKTEUR

S

Mit der Rute zu Gast beim Präsidenten: Staatschef Dmitri Medwedjew und die russischen Parteichefs Sergej Mironow, Gennadi Sjuganow sowie Duma-Vorsitzender Boris Gryslow gucken auf ihre Schwimmer.

Der Politologe Fjodor Lukjanow blickt zurück auf seine Hoffnungen, als der 42-jährige Medwedjew 2008 Präsident wurde. „Das

Lenken und Leiten der damals 40-jährigen ist ein gescheitertes Experiment“, stellt er heute fest. Jetzt kämen wieder die „Alten“

DAS THEMA

OKSANA JUSCHKO

Von Rubeln und Euros EU, Bankenpleiten, Rettungsschirm, die Zukunft des Euro – das sind die Schlagworte, die auch russischen Financiers und Managern inzwischen den Tag versauern. Russen, die in den „turbulenten 90ern“ ihr Erspartes unter der Matratze in D-Mark anhäuften, trauten dem Euro nie so recht über den Weg. Mit der heranpirschenden EU-Bankenkrise lässt die russische Zentralbank ihren Rubel heute gar nicht mehr nach Europa rollen, obwohl immerhin 41 Prozent der Währungsreserven in der Gemeinschaftswährung angelegt sind. Russische Banker blicken nervös auf das Debakel um Griechenland und suchen nach Alternativen. Die Zentralbank wird indes die Goldreserven aufstocken und lieber australische Dollar kaufen.

POINTIERT

Alexej Knelz

KOMMERSANT

„Der Wähler in Russland ist der beste der Welt“, sagt Wladimir Tschurow, oberster russischer Wahlleiter, im Interview. Er habe nicht nur eine ausgesprochen hohe Bildung, er sei auch an der politischen Entwicklung in seinem Land interessiert. Dass Tschurow den Wählern derart schmeicheln muss, hat einen einfachen Grund: 53 Prozent der Russen sind wenige Monate vor den Parlamentswahlen davon überzeugt, dass sie am 4. Dezember die „Imitation einer Wahl“ erwarte. Nur etwas mehr als die Hälfte der Wähler wollen deshalb zur Urne schreiten. Die Partei Einiges Russland, die seit 2007 die Gesetze von Präsident Medwedjew mit einer ZweiDrittel-Mehrheit durchwinkt, will ihre Position verteidigen. In aktuellen Umfragen kommt sie aber nicht über 57 Prozent. Der Blogger Alexej Nawalny ruft derweil die Politikverdrossenen dazu auf, in jedem Fall zur Wahl zu gehen und unbedingt für eine andere Partei zu stimmen. Russland HEUTE erklärt, welche anderen Parteien es neben Einiges Russland noch gibt.

ITAR-TASS

ALAMY/LEGION MEDIA

Boom tatar

GENERATION AUFBAU EINE TYPISCHE FAMILIE AUS DER RUSSISCHEN MITTELSCHICHT

Die deutsche „Generation Wiederaufbau“ packte hart an und schaffte nach 1948 ein Wirtschaftswunder. Als Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem Aufbau begann, waren die Zeiten des weltweiten Wirtschaftswachstums längst vorbei. Ein Wunder ist nicht in Sicht, wohl aber der Einsatz von qualifizierten Russen heute, die wie einst die Deutschen hart auf den Wohlstand hinarbeiten. SEITEN 6 UND 7

an der Macht, und die würden sie so schnell nicht abgeben. SEITEN 2,3 UND 10

Von Rentieren und Pipelines

tellen Sie sich vor, Merkel, Rösler und Gysi gehen gemeinsam angeln. Der Gysi fängt einen Karpfen, der Rösler eine Forelle und die Merkel schaut entzückt zu. Unvorstellbar? Das liegt wohl daran, dass die deutschen Parteien relativ verschiedene Profile, Programme und auch Parteispitzen haben. In Russland ist dem noch nicht so – würden sich sonst die Vorsitzenden der Duma-Parteien im Beisein des Präsidenten Dmitri Medwedjew auf einen idyllischen Angelausflug einlassen, wie auf dem Bild links? Das fragt sich der russische Wähler natürlich auch. Ein Fünftel der politisch Aktiven will bei den kommenden Duma-Wahlen gegen alle Parteien stimmen, am allerliebsten gegen die kremltreue Partei Einiges Russland, ein Viertel bleibt gleich daheim. Die restlichen Zehntel setzen am 4. Dezember die Innenpolitik für die kommenden fünf Jahre fest.

SPEZIAL

„Lass Gazprom gehen und Jamal wieder nur für uns da sein“, betet Lena Sarteto. Die Angehörige der Nenzen, einer Minderheit, zieht jedes Jahr gemeinsam mit ihrem Wandervolk und den Rentierherden durch die Tundra, lebt vom Fischfang und vom Fleisch ihrer Tiere. Unter der Erde der JamalHalbinsel, ihrer Heimat im hohen Norden Russlands, liegen fünf Billionen Kubikmeter Erdgas, die der Energieriese in den nächsten Jahren fördert. Pipelines und Bohrtürme versperren den Nenzen den Weg auf ihren jahrhundertealten Routen. Gazprom entschädigt sie finanziell und fliegt ihre Kinder für die Sommermonate mit Hubschraubern in Internate. Doch die Nenzen wollen nur eines: so leben wie bisher in unberührter Natur.

Kino Hotel Lux – eine tragische Geschichte mit Humor erzählt

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FEUILLETON

PRESSEBILD

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Politik

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Wahlen Bei der Duma-Wahl geht es für viele Russen nur um die eine Frage: für oder gegen die mächtigste Partei

Einiges Russland und die anderen Am 4. Dezember wählt Russland ein neues Parlament. Die Parteien feilen an ihren Programmen und Parolen, purer Machthunger verhindert aber eine echte Suche nach neuen Ideen.

Einiges Russland liegt, das keine Konkurrenz toleriere. „Zweitens gibt es keinen Bedarf an einer unabhängigen Partei. Die Öffentlichkeit will starke Persönlichkeiten und Parteiführer.“ Die gesetzlichen Vorgaben für die Gründung einer Partei und ihre politischen Möglichkeiten sind strenger geworden: Die Hürde für die Aufnahme in die Duma wurde auf sieben Prozent angehoben, die Registrierung einer neuen Partei ist aufwendiger gewonnen.

Das politische System in Russland

Wladimir Ruwinskij russland heute

In Russland haben die Namen der politischen Parteien wenig mit deren Inhalten zu tun. Die Partei namens „Rechte Sache“ soll angeblich ein Zusammenschluss von Politikern mit rechter, also (wirtschafts-)liberaler Ausrichtung sein. Aber das Parteiprogramm setzt auf den Schutz sozial Schwacher und auf eine antiklerikale Politik. Was kann man von einer Partei halten, die sich Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR) nennt? Eine Bastion liberaler und demokratischer Werte? In Russland bezeichnet sich die LDPR selbst als „Partei der Etatisten“. Außerdem fischen die sogenannten „Liberalen“ auch im trüben Wasser der Nationalisten nach Stimmen. Das Fehlen klarer Konturen und Programme wird oft durch die schillernde Persönlichkeit des Parteiführers kompensiert. In diesem Fall handelt es sich um Wladimir Schirinowski, Populist und Exzentriker, der jüngst angekündigt hat, ein Gesetz mit dem Titel „Über die staatliche Unterstützung des russischen Volkes“ auf den Weg zu bringen.

Schillernde Führer statt Ideen

Ähnliches gilt für die Kommunisten und ihren Parteiführer Gennadij Sjuganow. Müssten sie nicht für die Interessen des einfachen Volkes kämpfen und sich für eine klassenlose, atheistische Gesellschaft einsetzen? Die russischen Kommunisten (KPRF) dagegen sind unternehmerisch sehr aktiv und unterstützen die orthodoxe Kirche. Die Partei Gerechtes Russland unter Führung von Sergej Mironow wurde dem Politexperten Alexej Tschesnakow zufolge von der Präsidialverwaltung als Nischenpartei gegründet, und zwar

Die Amtszeit der Abgeordneten wird nun fünf Jahre betragen, die des Präsidenten ab 2012 sogar sechs.

Im präsidentiell-parlamentarischen System Russlands ist die meiste Macht auf den Präsidenten übertragen. Seine Amtszeit beträgt ab 2012 sechs Jahre, bisher waren es vier. Es dürfen maximal zwei aufeinanderfolgende Legislaturperioden von derselben Person besetzt werden. Nach einer Pause kann sie wieder kandidieren. Die Sperrklausel bei der Duma-Wahl liegt für die Parteien bei sieben Pro-

zent, bis 2007 waren es fünf. Die zweite Kammer des russischen Parlaments, der Föderationsrat, besteht zur einen Hälfte aus Vertretern der Regionalregierungen, die vom Präsidenten berufen werden, zum anderen Teil aus Parlamentariern dieser Regionen. Die Regierungsbildung findet unabhängig von der Sitzverteilung im Parlament statt. Der Präsident ernennt die Minister, die nicht gleichzeitig in

der Duma sitzen dürfen. Auf eine Mehrheit in der Duma ist er angewiesen, um Gesetze zu verabschieden und den Ministerpräsidenten zu wählen. Duma-Gesetze müssen vom Föderationsrat gebilligt und vom Präsidenten unterzeichnet werden. Lehnt der Föderationsrat ein Gesetz ab, kann die Duma erneut abstimmen und mit einer Zweidrittelmehrheit die Kammer überstimmen.

um die öffentliche Nachfrage nach einer Umweltpartei zu befriedigen. Als Mironow allerdings zu selbstständig und selbstbewusst agierte und auf Konfrontationskurs mit Einiges Russland ging, wurde er seines Amtes als Sprecher des Föderationsrates enthoben, und die Partei verlor an Popularität. Tschesnakow ist überzeugt, dass Ideenstreit, politisches Konkurrenzdenken und inhaltsreiche Debatten in den letzten Jahren in der Duma einer neuen Konstellation gewichen sind: Jeder nimmt seinen altbewährten Platz ein und ist es zufrieden.

Die Partei Einiges Russland unter dem Vorsitz von Wladimir Putin, dem potenziellen neuen Präsidenten und Nachfolger Medwedjews, der nicht einmal Parteimidglied ist, nimmt für sich in Anspruch, gemäßigt zu sein. Doch Kritiker meinen, dass Einiges Russland eine Partei ohne spezifisches Wahlprogramm sei, eine Partei, die jede Devise unterstützt, so sie der Kreml hervorgebracht hat. Eine Partei der Macht, nicht deswegen, weil sie die Mehrheit in der Bevölkerung besitzt, sondern weil sie wegen ihrer populären Anhänger einen so großen Agitationsspielraum hat.

Einiges Russland hat die gesamte regierende Elite des Landes hinter sich versammelt. 70 der 85 Gouverneure Russlands sind Mitglieder, dazu der Sprecher der Staatsduma, eine erhebliche Zahl an Ministern und die wichtigsten Regierungsbeamten.

Überblick: Parteien, die sich für die Duma-Wahl 2011 aufstellen

Eine handzahme Opposition

In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der politischen Akteure in Russland gesunken; diejenigen, die geblieben sind, haben gelernt, fügsam zu sein. Politologe Alexej Muchin sieht einen Grund dafür darin, dass die faktische Politik in den Händen von

Formal werden sieben Parteien um die Sitze in der Duma bei den Dezemberwahlen kämpfen, von denen vier derzeit im russischen Parlament vertreten sind: Einiges Russland, LDPR, KPRF und Gerechtes Russland. Umfragen zufolge wird Einiges Russland den Wahlsieg davontragen, gefolgt von KPRF und LDPR.

Die Volksfront als Joker

Putin hat – um seine Regierungspartei besserzustellen – die Allrussische Volksfront gegründet. Damit könnte die Dominanz von Einiges Russland in diesem Jahr am Ende noch größer werden: Denn bei den Wahlen werden die Listen von Einiges Russland zu 25 Prozent aus Nicht-Parteimitgliedern bestehen. Umfragen des Lewada-Instituts zeigen, dass eine Hälfte aller Russen für die Beibehaltung des Status quo in der russischen Politik ist; die andere Hälfte möchte unbedingt Veränderungen sehen. Der Wahlkampf dreht sich also nicht um Ideologien, sondern gleicht einer Konfrontation zwischen der Partei der Macht und allen anderen. Der Einsatz ist höher als je zuvor: Die Amtszeit der Abgeordneten in der Staatsduma wird nun fünf Jahre betragen, die des Präsidenten sogar sechs Jahre.


Politik

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Duma-Wahlen 2011 – der Hintergrund

W

enn am 4. Dezember in Russland die Wahllokale schließen, tritt Wladimir Tschurow vor die Kame-

ras und gibt das vorläufige Ergebnis der Parlamentswahlen bekannt. Dass die Kreml-Partei Einiges Russland erneut siegen

INTERVIEW WLADIMIR TSCHUROW

„Wir haben auch unseren Stolz“ DER OBERSTE WAHLLEITER UND SEINE SICHT AUF DIE OSZE, DIE RUSSISCHEN WÄHLER UND DIE PRESSEFREIHEIT

wird, ist so gut wie sicher. Putin ist „Leader“ der Partei, Medwedjew ihr neuer Spitzenkandidat. Und beide dominieren die Bericht-

erstattung. Ob Einiges Russland allerdings wie 2007 eine ZweiDrittel-Mehrheit erhält, ist ungewiss. Zuletzt stritt die russische Wahlkommission mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE): Diese wollte 260 Wahlbeobachter

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schicken, Russland lud am Ende 200 ein. Die OSZE hält nicht viel von der gelenkten Demokratie, und auch 53 Prozent der Russen meinen, dass sie am 4. Dezember nur die Imitation einer Wahl erwartet. Wahlleiter Wladimir Tschurow sieht das anders.

BIOGRAFIE BERUF: LEITER ZENTRALE WAHLKOMMISSION ALTER: 58

Wladimir Tschurow wurde 1953 in Leningrad geboren und studierte später Journalistik. In den 90erJahren arbeitete er unter Wladimir Putin im Komitee für Außenbeziehungen von Sankt Petersburg. Von 2003 bis 2007 war Tschurow als LDPR-Abgeordneter in der Staatsduma, 2007 schlug Putin ihn als Leiter der Zentralen Wahlkommission vor. Im vergangenen März wurde er für weitere vier Jahre im Amt bestätigt. Für große Aufmerksamkeit sorgte der Wahlleiter, als er vor den Duma-Wahlen 2007 gelobte, seinen Bart abzurasieren, falls die Wahlen nicht korrekt ablaufen würden. Dazu kam es nicht: Nach seinen Angaben sei es zu keinen nennenswerten Verstößen gekommen. VLADIMIR NOVIKOV_ITOGI

Bei den Duma-Wahlen 2007 haben russische und ausländische Beobachter viele Verstöße registriert. Wird es auch bei den kommenden Wahlen Manipulationen geben? Es gab keine Vielzahl an Verstößen – das ist alles gelogen! 2007 sind wir 595 Wählerbeschwerden nachgegangen. Nur bei 63 wurden Verstöße festgestellt. Aber es ging immer um kleinere Delikte, nie um wirkliche Fälschung. 2007 lag die Wahlbeteiligung bei 63 Prozent. Was erwarten Sie dieses Mal? Die Wahlbeteiligung wächst, die politische Aktivität wächst – darin ist Russland eine der wenigen Ausnahmen in Europa. Nennen Sie mir ein anderes Land, in dem sich im August, noch vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes, 50 Prozent der Bevölkerung für die Wahlen interessieren! Woran liegt’s? Erstens ist der Wähler in Russland der beste der Welt: Er hat die höchste Bildung, ist politisch am beschlagensten und hat Interesse an der Entwicklung seines Staates. Zweitens gibt es bei uns sehr aktive Parteien – und es sind siebenmal mehr als in der UdSSR. Sie buhlen um jeden Wähler, entsprechend aktiv ist der Wahlkampf. Zeigen Sie mir ein anderes Land, in dem es gesetzliche Regulierungen gibt, die den Umfang der medialen Berichterstattung im Wahlkampf für alle Duma-Parteien als gleich groß festsetzen! Drittens muss man die Arbeit der russischen Medien loben, die realistisch und professionell über DIE RUSSISCHE BOTSCHAFT IN DEUTSCHLAND INFORMIERT

das politische Leben berichten. In Russland herrscht absolute Meinungsfreiheit, die es nicht einmal in Westeuropa gibt, weil dort der Einfluss der Verleger und der staatlichen Zensur wesentlich größer ist. Aber auf dem letzten Petersburger Dialog kritisierte Präsident Dmitri Medwedjew selbst die unzureichende Medienfreiheit in seinem Land. In einer Diskussion wurde eine Zahl genannt: Über 80 Prozent der regionalen Medien in Russland würden direkt oder indirekt von den Behörden beeinflusst. Das ist Unsinn. Derjenige, der diese Zahl genannt hat, hat entweder falsch gezählt, oder er lügt. Unsere Medien sind absolut frei. Selbst die Kontrolle durch ihre Eigentümer ist marginal. Die Rede war von indirekter Einflussnahme und Steuerung. Eine indirekte Steuerung kann zahlenmäßig nicht erfasst werden. Vielleicht sollten die ausländischen Journalisten einmal Russisch lernen und sich unsere Fernsehsendungen anschauen. In Russland gibt es inzwischen viele Satellitenkanäle. 40 Prozent der Bevölkerung verfügen über einen eigenen Internetzugang. Das alles entspricht nicht der Wahrheit. Unsere Medien sind großartig. Haben Sie konkrete Daten zur Ausgewogenheit der Berichterstattung im Wahlkampf? Wir haben alle Informationen zu den vier in der Duma vertretenen Parteien sowie zu den anderen Parteien, die in den regionalen Parlamenten vertreten sind.

Was erwarten Sie von den kommenden Duma-Wahlen? Werden sie transparenter sein? Jede Wahl in Russland ist transparenter als die vorhergehende. Es gibt eine Tendenz zum Besseren. Jetzt setzen wir auf Technik: In den Wahlbezirken gibt es ein System der Videoüberwachung, das Auszählen der Stimmen ist vollelektronisch und automatisch. Es ist praktisch unmöglich, diese Daten zu manipulieren. Wo wir bei der Elektronik sind: Gerade diese Technik birgt doch Fälschungsrisiken. Man nehme die vorletzten Wahlen in den USA, wo es Probleme wegen der Zweideutigkeit der elektronischen Stimmzettel gab. Unser System ist anders: Wir benutzen Scanner, die die Kreuzchen auf dem Stimmzettel zählen. Es ist unmöglich, dieses System zu knacken. Die Ergebnisse werden auf drei Ebenen geprüft. Das Wahlbezirksprotokoll wird über ein Terminal in Echtzeit an die lokale Wahlkommission, an die Wahlkommission des Föderationssubjekts [entspricht in Deutschland der Landeswahlkommission – Anm. d. Red.] und in die Zentrale Wahlkommission geschickt. Jede Kommission zählt unabhängig voneinander aus. Erst wenn die Ergebnisse auf allen drei Ebenen miteinander übereinstimmen, veröffentlichen wir das vorläufige Wahlergebnis. Warum gestattet Russland der OSZE nicht, so viele Wahlbeobachter zu entsenden, wie sie möchte? Im Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte

[das ODIHR leitet die Wahlbeobachtungsmissionen der OSZE, Anm. d. Red.] arbeiten Leute, die nicht Wahlen beobachten, sondern gegen Russland gerichtete Politik betreiben. In die Länder der ersten Kategorie werden zehn bis zwölf Beobachter entsandt – das sind alle europäischen Länder der OSZE plus die USA und Kanada. In die Länder der zweiten Kategorie – das sind die ehemaligen Republiken Jugoslawiens und der UdSSR, Albanien und Russland – werden mindestens 300 Beobachter geschickt. Und Ihnen passt nicht, dass Russland in die zweite Kategorie eingeordnet wird? Wenn nicht sogar die dritte. Dabei gab es in Russland keine Entscheidung des Verfassungsgerichts, die ein elektronisches Abstimmungssystem verbietet, weil unser System das Wahlgeheimnis nicht verletzt, wie das zum Beispiel in Deutschland der Fall war. Nach Deutschland werden jedoch höchstens elf Beobachter geschickt, in die USA, wo es wirklich Probleme mit dem Auszählen der Stimmen gibt, höchstens 60. Und dabei gibt es dort doppelt so viele Wähler wie in Russland. Ja, aber es gibt in Russland viermal mehr Wahlbezirke als in Deutschland – ungefähr 100 000. Da könnten wir in Russland wohl jede Hilfe brauchen, oder? Dann sollen sie 44 Beobachter schicken. Wir sind ihnen ja auch noch entgegengekommen und haben fast 200 eingeladen. Dann könnten Sie doch auch alle Beobachter einladen, die die

OSZE nach Russland schicken möchte. Letztendlich haben wir Russen auch unseren Stolz, so wie die Amerikaner und die Deutschen. Aber die russische Demokratie ist gerade einmal zwanzig Jahre alt. So jung ist sie auch nicht. Zählt man ab 1989, als die ersten alternativen Wahlen stattfanden, ist die russische Demokratie jetzt in ihrem 23. Jahr. In Deutschland fanden die ersten Nachkriegswahlen im Jahr 1946 statt. Rechnen wir plus 23 Jahre, sind wir im Jahr 1969. Haben wir 1969 die deutsche Demokratie noch als jung bezeichnet? Was halten Sie von der Parteienlandschaft Russlands? Wir haben sieben registrierte Parteien. Das Verhältnis der Mitglieder der Zentralen Wahlkommission zu ihnen ist gleich. Einst sagten Sie in einem Interview, Ihre Regel Nummer eins laute, Putin habe immer recht. Der Wahlkampf hat begonnen – kein Kommentar. Könnten diese Worte in den lokalen Wahlbezirken falsch interpretiert worden sein? Keineswegs. Alle Wahlkommissionen führen ausschließlich die Gesetze der Russischen Föderation aus. Das Gespräch führte Alexej Knelz. Lesen Sie die volle Fassung auf www.russland-heute.de


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Wirtschaft

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Regionen Zwischen Moskau und Sankt Petersburg liegt das Gebiet Pskow, dessen Gouverneur große Pläne hat

Mehr als nur ein Durchgangsland Mit der Region an der Grenze zum Baltikum ging es nach dem Ende der Sowjetunion steil bergab. Jetzt sollen ausländische Investoren Pskow wieder auf die Beine helfen.

zahlen

13,5

Prozent Gewinnsteuer statt der üblichen 18 Prozent müssen Investoren in der Region Pskow entrichten.

Natalia Lazareva

für russland heute

lnvestoren aus der EU

Turtschaks Strategie zeigt erste Erfolge. Im ersten Halbjahr 2011 stiegen mit 45 Millionen Dollar die ausländischen Investitionen um mehr als das Doppelte. Der Großteil ging in die Land- und Forstwirtschaft und in die verarbeitende Industrie. 182 ausländi-

0,01

Prozent Vermögenssteuer statt der üblichen zwei Prozent kommen auf einen ausländischen Investor zu.

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Jahre nach Investition treten diese Steuerver-günstigungen in Kraft.

pressebild

„Wir sind von Investoren nicht gerade verwöhnt, und darin sehe ich einen wichtigen Vorteil. Das erlaubt es uns, jeden Investor individuell zu betreuen“, sagte Andrej Turtschak, als er jüngst in Bonn seine Region vorstellte. Seit 2009 ist der heute 36-Jährige Gouverneur des Gebiets Pskow, die Verbesserung des Investitionsklimas stehe bei ihm ganz weit oben. Pskow, das an Estland, Lettland und Weißrussland grenzt, hat Investitionen dringend nötig: Seit 1989 hat es ein Fünftel seiner Einwohner eingebüßt. 673 000 Menschen, die zu den ärmeren des Landes gehören, bevölkern ein Gebiet anderthalbmal so groß wie Baden-Württemberg. Das regionale Bruttoinlandsprodukt lag 2009 bei 1,8 Milliarden Euro.

Zukunft für Hightech: Der Industriepark Moglino wird demnächst eine Sonderwirtschaftszone.

sche Firmen, vor allem aus der EU, haben hier inzwischen Fuß gefasst. Pskow liegt zwischen den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg und spielt beim Transit zu etlichen Absatzmärkten eine große Rolle. Mehr als 30 Prozent der Güter, die in den Nordwesten des Landes transportiert werden,

gehen durch die Region. Ein dichtes Netz aus Straßen und Bahngleisen verbindet Pskow mit dem nahe gelegenen Ausland und den anderen russischen Regionen. Die geografische Lage war bestimmend für die wirtschaftliche Entwicklung: Die wichtigsten Sektoren sind Handel, verarbeitende Industrie, Transport, Logistik und

der Agrarsektor. Letzterem gilt Turtschaks besondere Aufmerksamkeit: Die Produktion von rotem Fleisch, Gemüseanbau und -verarbeitung oder Aquakultur seien lukrative Investitionsobjekte. Einer der großen Agrarinvestoren ist die dänische Idavang, die hier seit 2008 Schweinezucht betreibt und gerade mit 38 Millionen Euro eine neue Anlage für 100 000 Tiere gebaut hat. „Immer wieder fragt man mich nach der Kriminalität hier“, sagt Tatjana Scharygina, Geschäftsführerin von Idavang. „Ich wüsste gerne, wie die Mafiosi aussehen. Ich habe noch keinen getroffen.“ Dagegen verfüge Russland

Devisen Lange galten Euro und Dollar als sicher. Nun suchen die Russen nach Alternativen

Wiktor Kusmin Russland Heute

Obwohl Australien bei Weitem nicht zu Russlands stärksten Handelspartnern gehört und nicht einmal Mitglied der BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China ist, soll der australische Dollar bis Ende 2011 in die Goldund Devisenreserven der Zentralbank aufgenommen werden. „Ich habe entsprechende Dokumente unterzeichnet“, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Zentralbank Alexej Uljukajew im Oktober. Außerdem teilte er mit, dass Russland den Goldanteil in sei-

Wirtschaftskalender Lesen sie mehr über die russische Wirtschaft auf

russland-heute.de

Deutsche Möbel aus Pskow

Auch die Deutschen sind in Pskow angekommen. 2005 eröffnete der Möbelhersteller Dula ein Werk. Geschäftsführer Heinz-Herbert Dustmann ist begeistert von Pskow: „Wir können selbst verzollen und brauchen nicht über die großen Zollämter in Sankt Petersburg oder Moskau zu gehen. Auch haben wir die Erfahrung gemacht, dass es sehr gut ausgebildete Fachkräfte gibt. Das Engagement unserer Mitarbeiter ist vorbildlich.“ Um Investoren den erheblichen bürokratischen Aufwand zu erleichtern, werden sie seit 2009 vom regionalen Komitee für Tourismus und Infrastruktur betreut. Entspricht ein Projekt den regionalen strategischen Zielen und liegt der Investitionswert über drei Millionen Dollar, steht dem Investor auf Wunsch ein hochrangiger Berater zur Seite. Derzeit werden speziell für Hightech-Betriebe die beiden Industrieparks Moglino und Stupnikowo bei Pskow gebaut, mit Hilfe von Jurong Consultants aus Singapur. Moglino wird in Kürze den Status einer Sonderwirtschaftszone erhalten.

hatten: Vielen schien, dass die EU sich viel zu schnell ausdehnte und Staaten mit offenkundig schwächelnder Wirtschaft in ihre Reihen aufnahm. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise haben die Bedenken gegenüber der Stabilität der europäischen Währung

neue Nahrung erhalten. Allerdings könnte der Euro bei den Russen noch schlechter dastehen, wenn sein Hauptkonkurrent, der Dollar, stabiler wäre: Der Beschluss der Obama-Administration über weitere Anleihen, um ei ner Za h lu ngsu n fä h igkeit entgegenzusteuern, hat das Schuldenproblem der größten Volkswirtschaft der Welt nur herausgezögert, nicht aber gelöst. Die Instabilität auf den Finanzmärkten hat das Interesse in Russland an ausländischer Währung zumindest kurzfristig hochschnellen lassen. War der Bestand der Euroeinlagen im Juli noch um 1,5 Prozent geschrumpft, so stieg er im September innerhalb einer Woche um 19 Prozent an. In der Bankenwelt weiß man, dass in erster Linie VIP-Kunden am Euro interessiert sind und die Hälfte

ihrer Einlagen in dieser Währung getätigt haben. Dementsprechend kann man einen Abfluss der Rubeleinlagen beobachten, allerdings längst nicht so dramatisch wie erwartet. Im Gegenteil: Bis jetzt übersteigen sie die Einlagen in einer ausländischen Währung beträchtlich – ungeachtet der Krise von 2008 und der derzeitigen Probleme in Europa. Der russischen Zentralbank zufolge liegt der Anteil an Fremdwährung nur bei 18 Prozent. Inzwischen haben Privatpersonen ihr Vertrauen in den Rubel zurückgewonnen. Am 1. September 2011 betrugen ihre Einlagen insgesamt 10,7 Trillionen Rubel (250 Milliarden Euro), wovon 8,8 Trillionen in nationaler Währung angelegt sind. Dies erklärt sich zum großen Teil damit, dass der Kurs des Rubels schon seit mehreren Jahren stabil ist und Schwankungen in einem erwarteten Rahmen stattfinden. Zudem ist es vorteilhafter, Kredite in jener Währung aufzunehmen, in der man auch verdient. Für die Russen ist das immer noch der Rubel.

Gespräch Dialog mit dem Gouverneur

Fortbildung Interkulturelles Seminar

Beratung wirtschaftstag Russland

FachMesse Woodex 2011

17. Nov., Deutsche Botschaft, Moskau

18. November, Ihk, Dortmund

23. November, Dorint, Mannheim

29. November bis 2. Dezember, Crocus Expo Center, Moskau

Alexej Gordejew, Gouverneur der Region Woronesch im fruchtbaren Schwarzerdegebiet, stellt sich an diesem Tag in der Residenz des deutschen Botschafters den Fragen deutscher Unternehmer.

Muss ein Geschäftsabschluss unbedingt mit Wodka begossen werden? Wie geht man mit russischen Kollegen um? An Beispielen aus der Praxis lernen Sie hier, mit den russischen Gepflogenheiten umzugehen.

Russlands Wirtschaft zieht an: In der ersten Jahreshälfte stiegen die deutschen Exporte dorthin um 38 Prozent. Wer sich über Steuern, Zoll, Chancen und Risiken informieren will, findet hier potenzielle Ansprechpartner.

Wer Ausrüstung und Maschinen für die Holzverarbeitung produziert, ist auf der Woodex richtig. Die internationale Messe versammelt alle zwei Jahre knapp 20 000 Fachbesucher aus aller Welt.

›› russland-ahk.de

›› dortmund.ihk24.de

›› r-n-rus.de

›› woodexpo.ru

Der Rubel rollt nach Australien Euro und US-Dollar schwächeln, und die russische Zentralbank beweist Kreativität: Jetzt will sie einen Teil der Gold- und Devisenreserven in australische Dollar umtauschen.

über sehr gute Erde, bei deren Anblick dänische Unternehmer weinen müssten. „Natürlich sind viele Felder verwildert, und es ist am Anfang schwer, die Erde zu bearbeiten, aber mit etwas Geduld ...“

nen Reserven weiter aufstocken werde. Dieser lag am 1. Oktober bei 8,5 Prozent und damit knapp ein Prozent höher als noch zu Beginn des Jahres. Ein richtiger Schritt: Der Marktwert der russischen Goldreserven ist inzwischen um 24 Prozent auf 48,6 Milliarden Dollar gestiegen. Die russischen Devisenreserven betragen derzeit eine halbe Trillion US-Dollar und bestehen zu 47 Prozent aus Dollar, gefolgt von 41 Prozent Euro, neun Prozent britischem Pfund, zwei Prozent japanischem Yen und einem Prozent kanadischem Dollar. Noch immer gibt es an jeder belebten Ecke Moskaus Wechselstuben, in denen man Rubel gegen Euro oder Dollar umtauschen kann. Eingerichtet wurden sie in den 90ern, als die Russen das Vertrauen in die eigene Währung ver-

loren hatten und versuchten, ihre Ersparnisse zu retten. Laut Zentralbank war die D-Mark beliebteste Fremdwährung. Nach 2000 löste der Euro die Deutsche Mark ab. Es dauerte, bis sich die Russen mit ihm angefreundet

Die Zentralbank bunkert Fremdwährungen im Wert von einer halben Trillion US-Dollar. 41 Prozent davon sind Euro.


Regionen

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Tatarstan Die Erdöl- und Multikultur-Region an der Wolga stellt sich vor

Die amtlich dritte russische Hauptstadt the moscow times

Wer die Stadt an der Wolga 700 Kilometer westlich von Moskau vor zehn Jahren verlassen hat und heute zurückkehrt, erkennt sie nur mit Mühe wieder. Das Stadtbild prägt wie eh und je der weiß-blaue Kasaner Kreml mit seinen christlich-orthodoxen Zwiebeltürmen, aber neu hinzugekommen sind 2005 die Minarette der Kul-Scharif-Moschee. Kleine, verfallende Häuser aus Ziegeln und Mauersteinen werden derzeit wieder aufgebaut und mit frischer Farbe getüncht. Mancherorts müssen sie allerdings Hochhäusern aus Stahl und Glas weichen. Ganze Stadtviertel haben ein neues Gesicht bekommen. Die pulsierende, lebensfrohe Stadt, die 2005 ihr tausendjähriges Jubiläum feierte, hat inzwischen eine Metrolinie, besitzt mehrere Sportarenen, einen der größten Technoparks in Europa (Idea) sowie seit Anfang 2000 Tausende von Quadratmetern an Wohn- und Büroflächen. „Die Stadt verändert sich rasant“, meint Chaidar Chaliullin, 57, der seit Langem in Kasan lebt. „Neue Gebäude schießen wie Pilze aus dem Boden.“ Derzeit entstehen besonders viele Sportanlagen. Längst laufen die Vorbereitungen für die Sommer-Universiade 2013 (siehe Kasten). Und 2018 ist Kasan einer der Austragungsorte der Fußballweltmeisterschaft. Leser der größten Sportzeitung Sowjetski Sport kürten Kasan deshalb 2009 zur russischen Sporthauptstadt. Die Stadt selbst sieht sich lieber als die „dritte Hauptstadt“ des Landes – und meldete 2009 beim Patentamt das Recht auf diesen Titel an.

Helikopter, Öl, Touristen

Milliarden von Rubeln sind in die als Produktionsstandort bekannte Republik geflossen. Hier fördert Tatneft Öl, Kazan Helicopters produziert Mi-8-Hubschrauber, daneben sind die chemische Industrie und die Landwirtschaft von Bedeutung. Die starke Industrialisierung ist jedoch kein Hindernis für Touristen: Eine Million besuchte die

500 Jahre Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen Die Gründung von Kasan, der Hauptstadt Tatarstans, geht auf das Jahr 1005 zurück. Heute ist sie ein Symbol des Religionsfriedens. Mitten im Zentrum, im Kasaner Kreml, finden sich christliche Kirchen neben islamischen Moscheen. Ein beeindruckender Fotoband anlässlich der Züricher Ausstellung „Vom freundschaftlichen Zusammenleben von Muslimen und Christen in Tatarstan“ ist soeben im Benteli Verlag erschienen: In „... zum Beispiel Kasan“ porträtiert die Fotografin Silvia Voser die Stadt und ihre unterschiedlichen Bewohner. Peter Gysling, Korrespondent des Schweizer Radios und Fernsehens in Moskau, steuert wertvolles Hintergrundwissen bei.

silvia voser

Kristina Naryzhnaya

Stadt im letzten Jahr. Laut einer aktuellen Studie der New Economic School und der Beratungsfirma Ernst & Young rangiert Kasan an erster Stelle aller russischen Städte, was das Investitionsklima angeht. Stadt und Republik sind bemüht, ausländische Investoren anzulocken. Islamische Anleihen namens Sukuk, bei denen keine Zinsen auf das angelegte Kapital fällig sind, werden voraussichtlich noch in diesem Jahr erstmalig in Kasan angeboten. Kleinere Unternehmen machen etwa 25 Prozent des wirtschaftlichen Volumens der Region aus, das ist mehr als der nationale Durchschnitt von 20 Prozent. „Es ist wichtig für uns, dass wir ein geschäftliches Umfeld schaffen, in dem jeder unternehmerisch Denk e n d e u n d A g ie r e n d e e i n eigenes Geschäft eröffnen und erfolgreich betreiben kann“, erklärte Präsident Rustam Minnichanow, seit 2010 im Amt, auf einer Konferenz im März.

liullin, Vorsitzender des Verbands kleiner und mittlerer Unternehmen in Tatarstan. „Ich kann nicht sagen, dass Kleinbetriebe sich so entwickeln, wie es möglich wäre“, stellt er fest, „sie könnten aber wachsen, wenn der Präsident seine politische Linie beibehält.“ Trotz der muslimischen Wurzeln Tatarstans ist Kasan eine multi-

Ein Klima der Toleranz

Mittelständische Unternehmen hätten noch viel Entwicklungsspielraum, meint Chaidar Cha-

kulturelle Stadt. Moscheen, orthodoxe Kirchen, enge, europäisch anmutende Straßen mit barocker Architektur, große sowjetische Wohnblocks und hypermoderne Hochhäuser fügen sich erstaunlicherweise zu einem harmonischen Ganzen. Alle Straßenschilder sind in Russisch und Tatarisch beschriftet,

Gaudeamus igitur – die Universiade 2013 wladimir ruwinski russland heute

In zwei Jahren werden in Kasan die Weltsportspiele der Studenten stattfinden, und zwar während der 27. Universiade vom 6. bis 17. Juli 2013. Die Spiele gelten als bedeutendes Ereignis in Russland, das an Wichtigkeit und Umfang nur von der Olympiade übertroffen wird. Erst ein Mal, 1973, konnte Russland bei der alle zwei Jahre stattfindenden Universiade die Gastgeberrolle übernehmen. Die Veranstalter rechnen mit rund 13 500 Sportlern und Delegationsmitgliedern aus 170 Ländern, dazu etwa 100 000 Fans. Teilnahmeberechtigt sind Studenten und Doktoranden zwischen 17 und 28, aber auch Alumni, die den Abschluss vor weniger als zwei Jahren gemacht haben. Über die Hälfte sind auch bei den Olympischen Spielen vertreten. Die Universiade wurde von dem französischen Wissenschaftler

pressebild

Von Kasan aus bekriegten sich die Tataren einst mit Moskau. Heute ist die Stadt ein wichtiges kulturelles und wirtschaftliches Zentrum mit christlichen Kirchen und Moscheen.

lori/legion media

Jean Petitjean 1923 in Paris initiiert. Ein Jahr später folgte die Gründung einer internationalen Studentenvereinigung (Confédération Internationale des Étudia nts), d ie bis zu m Zweiten Weltkrieg die Wettkämpfe organisierte. 1948 wurde von einigen

europäischen Staaten der Internationale Hochschulsportverband (FISU) ins Leben gerufen, der seine eigenen Wettkämpfe durchführte. Eigentlicher Geburtsort der Universiade ist Turin. Dort veranstalteten beide Studentenverbände gemeinsam erstmals 1959 die Universiade, wie wir sie in ihrer heutigen Form kennen. Seit 1960 gibt es Winterspiele. Mit ihren 27 Disziplinen brechen die kommenden Spiele in Kasan jetzt schon den Rekord. Neben Leichtathletik, Schwimmen, Fußball, Boxen, Tennis und Volleyball werden erstmalig auch Wettkämpfe in Schach, Badminton, Kurash, Sambo und 7er-Rugby ausgetragen, Letzteres ist eine aus Schottland stammende Variante des Rugby. In Russland ist die Zuversicht groß, dass die Kasaner Universiade in der Öffentlichkeit als Auftakt zu den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi wahrgenommen wird.

beide Sprachen sind auf der Straße zu hören. In Kasan ist die Bevölkerung Fremden gegenüber auffallend freundlich gesinnt – egal welcher Hautfarbe oder Nationalität. Die Wege kreuzen sich, man toleriert die Gepflogenheiten des anderen. In Juweliersläden werden neben christlichen Kreuzen islamische Ringe verkauft.

Anreise Mehrmals wöchentlich fliegt die Lufthansa (www.lufthansa. de) von Frankfurt nach Kasan, mittwochs gibt es einen Direktflug von München mit der russischen Linie Akbars Aero (www.akbarsaero.ru). Ausgezeichnet ist Kasan zudem an Moskau angebunden.

Unterkunft Das neue Hotel Riviera (1A Ulitsa Fatykha Amirkhana; www. kazanriviera.ru/en) ist die erste Adresse am Platz, EZ ab 113 Dollar. Das Hotel Mirage (1A Moskovskaya Ulitsa; www.mirage-hotel.ru) mit fünf Sternen liegt gleich neben dem Kreml und ist etwas teurer.

Essen & Trinken Das Tango (38 Ulitsa Bratyev Kasimovykh; www.tangorest. ru) ist Kasans ältestes Restaurant und für seine Meeresfrüchte bekannt. Wer die fleischreiche tatarische Küche probieren möchte, geht ins Dom Tatarskoj Kulinarii (31/12 Ulitsa Baumana; www.domtk.ru).


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Das Thema

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MITTELSCHICHT GENERATION AUFBAU SIE KLAGEN NICHT ÜBER DEN STAAT, SIE KLAGEN NICHT ÜBER DAS SCHICKSAL, SIE NEHMEN ES SELBST IN DIE HAND: EINE NEUE SCHICHT, DIE FÜR IHRE ZUKUNFT UND DEN WOHLSTAND HART ARBEITET

25 JAHRE ARBEIT FÜR EIN KLEINES STÜCKCHEN GLÜCK Zu Sowjetzeiten vertrauten Russen auf den Staat. Heute kämpfen sie selbst für den Arbeitsplatz, eine kleine Wohnung am Fluss und den Kinderkrippenplatz: mit Erfolg. A. MOLODYCH, F. TSCHAPKOWSKI RUSSKI REPORTJOR

Ein gewöhnlicher Innenhof in der Stadt Tomsk: rundum fünfstöckige Plattenbauten, in der Ferne erahnt man zwischen Pappeln die in die Jahre gekommenen Holzhäuser der Altstadt. Noch im Herbst stehen überall Reklameschilder, die den Spatenstich für das Innovationsforum Innovus im Mai ankündigen.

ZAHLEN

Wladimir

702

8,25

500

dauert es im Schnitt, bis ein Investor die Papiere für den Bau eines Wohnhauses zusammen hat.

beträgt der Leitzins der russischen Zentralbank. Deshalb sind Wohnungen in Russland so teuer.

15 000 Rubel, betrug das durchschnittliche Einkommen in der Region Tomsk im März 2011.

Tage OKSANA JUSCHKO

Die Frolows sind eine typische Familie der aufstrebenden neuen Mittelschicht. In der Nähe eines modernen Plattenbaus begrüßt uns Wladimir, er ist 28, seine Frau Nastja 22. Sie kamen aus nahe gelegenen Ortschaften ins sibirische Tomsk. Das ist eine Stadt fast 3000 Kilometer östlich von Moskau mit einer halben Million Einwohner. Er besuchte das Polytechnikum, sie das Pädagogische Institut. Nach dem Studium fi ng Wladimir beim Tomsker Werk für Elektromechanik an. Dort lernte er seine Frau Nastja kennen, als sie ihn um Hilfe bei einer technischen Zeichnung bat. Sie heirateten, und bald wurde ihr Sohn Sergej geboren. Wladimirs Anfangsgehalt lag bei 10 000 Rubel – etwa 250 Euro, selbst für Tomsk nicht viel. Doch er blieb – nicht allein der Liebe wegen. Sein Unternehmen hatte dem aussichtsreichen jungen Ingenieur einen zinslosen Firmenkredit für 25 Jahre angeboten, zum Kauf einer Ein-ZimmerWohnung in einem Neubau am Fluss. Der einzige Haken: Wird er entlassen oder kündigt aus freien Stücken, ist nicht nur der Kredit sofort fällig, sondern er muss mit Zinseszins die bisher erlassenen Zinsen nachzahlen. Wladimir ist also für mindestens 25 Jahre an das Unternehmen gebunden, die Zukunft der Familie Frolow ist ziemlich vorbestimmt. Die Konditionen findet Wladimir jedoch fair: „Vom Standpunkt des Arbeitgebers ist die Sache logisch, sonst würden viele versuchen, an billige Kredite über die Firma zu kommen.“ Die feste Bindung an sein Unternehmen sieht er locker: „Mag sein, dass wir von ihm abhängig sind. Aber dafür haben wir jetzt eine eigene Wohnung.“ Wladimir hat Glück gehabt. Denn die Mehrheit der jungen russischen Familien kann sich keinen Kredit leisten, weder von einer Bank noch vom Arbeitgeber. Ihnen fehlen die Sicherheiten, oder ihr Arbeitgeber ist nicht bereit, ihnen

Prozent

Euro,

Blümchentapeten, Frikadellen, U-Hemd: Familienglück in den bescheidenen vier Wänden

Gutes Leben, das ist für Nastja eine Reise zu den Verwandten nach Sewastopol oder nach Ägypten und Thailand. durch die Übernahme der Zinsen zu helfen. Ein Grund, warum in Russland nur 15 Prozent aller Immobilien mithilfe von Darlehen erworben werden, in Europa hingegen fast jede Immobilie auf diese Weise finanziert wird. Wohnraum ist Mangelware, die Mieten stehen oft in keinem Verhältnis zur Qualität der Wohnung. Mieterschutz gibt es kaum, und so ist der Mieter häufig der Willkür des Vermieters ausgesetzt.

Lebe und arbeite

Das Tomsker Elektromechanikwerk produziert zum Beispiel Luftreinigungsturbinen für die U-Bahn, riesige Ventilatoren zum Absaugen von Rauch. Heute stehen sechs dieser Turbinen in Mos-

kauer U-Bahnhöfen, wie viele nachbestellt werden, ist nicht gewiss. Die Zukunft der Frolows hängt aber auf Gedeih und Verderb vom Unternehmenserfolg ab. Nach Abzug der Kreditrate von 8,25 Prozent bleiben der Familie rund 630 Euro. Wladimir ist Alleinverdiener, da Nastja ein Zweitstudium begonnen hat und sich um die Erziehung von Sergej kümmert. Für Essen gehen monatlich rund 150 Euro drauf. „Den Rest müssen wir zwischen Kind, Kleidung, Kultur und Sonstigem aufteilen“, sagt Wladimir. Seine Zukunft sieht er wenig zuversichtlich: „Theoretisch können die Aufträge im Werk jederzeit zurückgehen oder ausfallen. Wenn die da oben im Betrieb irgendeinen Unsinn fabrizieren, hat das sofort Auswirkungen auf unsere Arbeitsbedingungen und unseren Lohn.“ Damit er ein Gefühl der Sicherheit habe, sagt Wladimir, brauche er mindestens 1000 Euro im Monat. Aber für höhere Löhne

Einkommensverteilung in Russland (%)

müsste die Produktivität steigen, und dafür müsste wiederum die Ausstattung in Wladimirs Werk modernisiert werden. „Gäbe es in unserem Staat eine Umorientierung bezüglich der Industrie, die den einheimischen Herstellern zugutekäme, wäre die Hälfte gewonnen. Ich bin manchmal beruflich in Deutschland. Dort versucht man grundsätzlich, möglichst mit deutschen Produkten zu arbeiten. Das bräuchten wir in Russland auch.“

Der pflichtbewusste Bürger

Wladimirs Patriotismus lässt sich, anders als der staatliche, in absolut realen Kategorien beschreiben. Er möchte weiterhin in Tomsk leben und für das Wohl der Familie und des Betriebs arbeiten. Ein schönes Leben? Das sind für ihn ein Haus vor der Stadt und drei Kinder. Bislang erfüllt er seine Pflichten als Bürger: Er ist für sein Land eine gute Fachkraft geworden, er wird in der Fabrik geschätzt, und er hat sich für die Herstellung russischer, innovativer Produkte eingesetzt. Das einzige Problem dieses gewöhnlichen russischen Bürgers besteht darin, dass ihm ein Traum fehlt. Genauer gesagt, ist sein Traum in Form einer Wohnung Wirklichkeit geworden. In dem Rahmen, in dem er jetzt lebt, lässt sich aber kaum fantasieren oder träumen, sonst würde er wohl seinen Alltag unerträglich fi nden. Und er muss noch 22 Jahre durchhalten, bis er das Darlehen abbezahlt hat.

Nastja QUELLE: ROSSTAT, DEUTSCHE AHK MOSKAU

Nastja fällt ihrem Mann nicht ins Wort. Sie sitzt ruhig daneben, bis es an ihr ist, vom Leben zu erzäh-

len. Sie hat ähnliche Träume, doch würden ihr zwei Kinder reichen. Ihre Ziele sind pragmatischer: Sie will den Sohn in einem Kindergarten unterbringen und dann arbeiten gehen. Dahinter steckt ein weiteres ernstes Problem für junge Familien: In vielen Regionen warten Zehntausende Kinder auf einen Kindergartenplatz, in ganz Russland sind es nach Angaben des russischen Gesundheitsministeriums anderthalb Millionen. Die Regierung fährt zwar Kampagnen für mehr Kinder, doch es fehlt an Infrastruktur. Viele Kindergartengebäude aus Sowjetzeiten sind als Büroräume vermietet, und übermäßig strenge Vorschriften bei der Registrierung von Kindereinrichtungen behindern das Entstehen von privaten Kinderkrippen. Oder die Aufnahmegebühren werden unerschwinglich, weil die Schmiergelder an die für die Registrierung verantwortlichen Beamten zu hoch sind. Wenn es denn endlich klappt mit dem Kindergartenplatz, will Nastja im sozialen Bereich arbeiten, verdienen würde sie gerne 20 000, mindestens aber 15000 Rubel (400 Euro). Wladimir und Nastja gehören zur neuen Generation, die es gewohnt ist, ihre Probleme selbstständig anzugehen, ohne dabei auf soziale Fürsorge zu vertrauen. Sie beschweren sich über den Staat und versuchen, alles auf eigene Faust zu lösen. Und selbstverständlich sind sie vom Gesundheitssystem genervt. Worin sie sich mit der absoluten Mehrheit der Russen einig sind. Gutes Leben, das ist für Nastja eine Reise nach Sewastopol, dort hat sie Verwandte. Und dann nach Ägypten, wegen der Pyramiden. Und nach Thailand, in die Wärme am Meer. Und auch nach Deutschland, weil Wladimir darüber viel Gutes berichtet hat. Das wär’s dann auch schon. Kurzum: Was diese Familie für ein schönes Leben braucht, wäre endlich mal aus den eigenen vier Wänden herauszukommen. Da die Eltern niemanden haben, der auf das Kind aufpassen könnte, und sich einen Babysitter nicht leisten können, gehen sie praktisch nie aus. „Die Frikadellen sind angebrannt.“ Nastja kommt mit schuldbewusster Miene aus der Küche. „Macht nix“, beruhigt sie Wladimir, „dann essen wir sie halt gut durch.“ Wie lang ist es her, dass die beiden in einem Restaurant waren? „Neun Monate“, antworten die jungen Eltern unisono.

Das freundliche Unternehmen

Wladimir pendelt als Angestellter der mittleren Führungsebene stets zwischen dem Bürobereich und der Werkhalle hin und her. Einen Teil seiner Arbeitszeit widmet er der Auftragsabwicklung,


Das Thema

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Die russische Mittelschicht – noch weit entfernt von der deutschen und noch weiter von der sowjetischen Auch nach zehn Jahren Wirtschaftsboom ist die russische Mittelschicht nur schwer zu fassen. Fragt man die Russen selbst, zählen sich zwischen 35 und 42 Prozent dazu. Als wichtigstes Kriterium geben sie ein Einkommen über dem Landesdurchschnitt an. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung präsentierte dagegen jüngst eine Untersuchung, wonach 20 bis 25 Prozent der Russen der Mittelschicht angehören: Sie verdienen mindestens 750 Euro und besitzen Auto und Wohnung, müssen von ihrem Geld aber oft noch andere Familienmitglieder versorgen. Sie arbeiten in der Öl- und Gasindustrie, dem Finanzsektor und bei der Bahn. Ärzte, Lehrer oder Professoren gehören laut Studie nicht dazu: Sie verdienen zu wenig.

Quelle: Penny Lane Realty

Immobiliendarlehen Russland – EU im Schnellvergleich

lori/legion media

manchmal geht er auf Dienstreisen zu Kunden und Zulieferern, manchmal steht er auch selbst an der Maschine. Ein Teil der Maschinen ist durch deutsche Anlagen ersetzt worden, etwa die Werkhalle, in der Präzisionsinstrumente für Ölpipelines hergestellt werden. Alle alten Anlagen durch neue zu ersetzen, ist nicht möglich. Das

Unternehmen wirft nicht genug ab. Die größte Gefahr für sein Überleben ist das Fehlen langfristiger Aufträge. Die Fabrik hält sich also mit kurzfristigen Arbeiten über Wasser, verdient vor allem an Luftreinigern und automatischen Kontrollsystemen für Ölpipelines. Das Werk wäre laut Wladimir aus dem Gröbsten heraus, wenn es zwei bis drei lang-

fristige Verträge mit Ölgesellschaften oder der Moskauer Metro abschließen könnte. Dann ließe es sich ganz gut leben. Nicht schlechter als die Westeuropäer und insbesondere die Deutschen. Die fallen Wladimir durch ihre Freundlichkeit auf – weil sie optimistisch in die Zukunft blicken. „Was der deutsche Arbeiter alles so selbstverständlich nutzen kann:

Betriebsrente, Krankenversicherung, Haus, Auto, Muckibude, Schwimmbad. Unsere Zukunft dagegen ist eher unsicher.“ Was passiert, wenn Wladimir im Werk einen Unfall hat? Wird dann das Darlehen fällig? Plötzlich strahlt auch Wladimir aus irgendeinem Grund, ist fröhlicher als ein Deutscher. „Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Wenn

Mobilität

Steuern, Kredite, Inflation

etwas passiert, wird eine Versicherung mein Darlehen bezahlen.“ Das kostet zwar auch ein paar Rubel, aber beim Hinausgehen bleibt er noch einmal stehen und sagt: „Um ehrlich zu sein, habe ich doch ein Riesenglück. Millionen Russen beneiden mich wahrscheinlich darum.“ Dieser Beitrag erschien in Russki Reportjor

Produktivität und Gehalt oksana Juschko

Wladimirs kleines Gehalt resultiert aus der geringen Arbeitsproduktivität, die in den USA viermal so hoch ist wie in Russland. Das Hauptproblem sind die mancherorts schrottreifen Produktionsanlagen, die zum Teil noch aus den 30er-Jahren stammen. Doch allmählich beginnen die Reformen zu greifen. Alte Maschinen werden durch moderne Anlagen ersetzt, inno-

vative Arbeitsorganisation und Abläufe erhöhen kontinuierlich die Produktivität. In den letzten zehn Jahren ist sie fast um ein Drittel gestiegen. Trotzdem sind noch immer drei Viertel der Maschinen älter als 15 Jahre. Ihre Erneuerung lässt sich nur mit Hilfe umfangreicher Investitionen umsetzen. Auch hier greift der Staat stabilisierend ein: Tomsker Unternehmen erhalten aus dem Gebietshaushalt Subventionen zur Deckung der Zinsen von Krediten, die sie zum Ankauf moderner Anlagen aufgenommen haben. Die Unternehmen in Russland sind hochgradig importabhängig. Nach Schätzung der Gesellschaft Stankoimport beträgt der Marktanteil einheimischer Anlagen lediglich ein Prozent.

Eine neue Arbeit in einer anderen Stadt könnte Menschen wie Wladimir Frolow mehr Lebensqualität und deutlich mehr Geld bescheren. Mit seinen Fähigkeiten hätte er in der sich dynamisch entwicklenden Region um Leningrad gute Chancen. Doch durch sein Darlehen ist er fest an Tomsk gebunden. Solche und auch administrative Schranken verhindern den Austausch zwischen den Regionen und eine effiziente Verteilung der Arbeitskräfte. In Russland ziehen jährlich nur sechs von tausend in eine neue Stadt. In den USA sind es viermal so viele. Mangelnde Mobilität treibt viele russische Familien in die Armutsfalle. Dann können sie sich einen Umzug gar nicht mehr leisten.

oksana Juschko

wirtschaft konkret

Viele russische Unternehmen haben mit denselben Problemen zu kämpfen: einem Teufelskreis aus hohen Steuern und Zinsen, Protektionismus und Korruption. Wegen der hohen Zinssätze ist es auch in Wladimirs Industriebetrieb nicht möglich, auf einen Schlag alle Anlagen zu modernisieren. Fehlt es jedoch an neuen Maschinen, ist die Produktion weniger effektiv. Man ist zu

Dumpingpreisen gezwungen, nachhaltige Großkunden brechen weg, und die Chancen auf eine längere Kreditlinie zu vorteilhaften Zinssätzen fallen. Der Kreis schließt sich. Obendrein heizen Lohnerhöhungen, steigende Energiekosten, verschärfte Umweltbestimmungen und nicht zuletzt höhere Staatsausgaben die Inflation an. Jede Erhöhung von Beamtengehältern und -pensionen lässt das Haushaltsbudget von Wladimirs Familie etwas schrumpfen. Gäbe es auf dem Binnenmarkt mehr Konkurrenz, würde sich das positiv auf die Preisentwicklung auswirken und die Inflation drücken. Doch: Viele Unternehmen schwächeln wegen ihrer veralteten Produktionsanlagen ...


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Gesellschaft

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Natur Das Wandervolk der Nenzen muss sich mit immer mehr Straßen, Pipelines und Bohrtürmen arrangieren

Die letzten Nomaden des Nordens

Im Sommer ziehen die Nenzen mit ihren Rentieren über den Polarkreis und später wieder in die Tundra.

anna nemtsova (3)

Vorbereitung auf den harten Winter: das Zeltlager der Nenzen

Die Nenzen sind eines der letzten Wandervölker Russlands. Seit vielen Jahrhunderten leben sie zwischen Nordpolarmeer und Tundra. Doch nun sind sie von der Zivilisation bedroht. anna nemzowa

exklusiv für russland heute

Lenas geschwollene, raue Hände zeugen von Tatkraft. Sie hat es eilig. Während das Wasser über dem Feuer in der Mitte ihres Zeltes kocht, bereitet Lena Sarteto, eine Nomadin aus dem Volk der Nenzen, Ureinwohner von Westsibirien, ein Festmahl für die Gäste und ihre fünfköpfige Familie. In wenigen Stunden wird ihre Gruppe aus zehn Familien, die noch immer den offiziellen Namen Brigade Nr. 5 aus der Sowjetzeit trägt, weiter nach Norden ziehen. Sie schnippelt dunkelrotes, in Streifen geschnittenes und getrocknetes Rentierfleisch, schuppt einen riesigen silberfarbenen Fisch und legt trockenes Brot auf Holzplatten. Der Fußboden ist das Gras unter ihren Füßen; Fischgräten und Schuppen liegen ums Feuer herum. Das alles bleibt liegen, wenn sie weiterziehen. Denn es ist früher Polarsommer, und sie nutzen die nie untergehende Sonne, um mit ihren 3000 Rentieren an die Küste der Karasee zu ziehen. Dort bleiben sie nur für kurze Zeit, dann fliehen sie gemeinsam mit ihren Rentieren vor dem bitteren Frost und kehren zurück zum Gras und Moos der wärmeren Tundra. Es ist ein

jahrhundertealter Zyklus. Doch in jüngster Zeit wird es immer schwieriger, ihm zu folgen.

Die Gazprom-Badlands

Denn auf der Jamal-Halbinsel ist auch Gazprom zu Hause, der russische Energiegigant, der Westeuropa mit Erdgas beliefert. Und mit Gazprom kamen Straßen, Eisenbahntrassen und Pipelines, die die Tundra nachhaltig veränderten. Die Nenzen wurden erstmals mit Asphalt, verrostetem Metall, Stromleitungen und Bohrtürmen konfrontiert. „Der Fisch schmeckt nicht mehr; wir fühlen uns krank, wenn wir Wasser aus den Seen trinken; unsere Rentiere verfangen sich in Drahtschlingen. Sie stolpern über

Rohre, brechen sich die Beine und verenden kläglich“, erzählt Lena. Immer wieder sagt sie: „Wir sind die letzte Generation, die ein Nomadenleben führt. Unsere Kinder werden nicht mehr in der weiten Tundra leben. Sie gehen in die Städte.“ Auf der Jamal-Halbinsel liegt das Gasfeld Bawanenkowo, ein riesiges Areal, aus dem ab 2012 fast fünf Billionen Kubikmeter Erdgas gepumpt werden sollen. Eine 500 Kilometer lange Eisenbahntrasse ist schon gebaut, und immer neue Bohrtürme und Straßen kommen dazu. Viele der 13 000 Nomaden haben bereits die Jamal-Halbinsel verlassen aus Angst, man werde sie zur Sesshaftigkeit zwingen. Ihre ganze Identität verbinden sie mit dem Herumziehen in der Tundra, da hilft auch keine Unterstützung der Regierung für ein „zivilisiertes“ Leben an einem Ort. Niemand weiß genau, wie viele Jahrhunderte die Nenzen im Rhythmus des Polarjahres mit langen Wintern und kurzen Sommern ihre Rentiere vor der beißenden Kälte hergetrieben haben. Die Männer üben sich im Lassowerfen, während Frauen die Myas, wie die Nenzen ihre Zelte nennen, einrichten. Von den Rentieren stammt alles: das Essen, die Zeltbespannung und das Material für die Kleidung. Nicht erst seit gestern bedrohen Bohrtürme und breite Trassen durch die Tundra den Lebensraum

der Nenzen. Schon die Sowjets hatten die Bestrebung, aus den Nomaden eine Art Kollektivfarmer zu machen. Sie unterteilten verschiedene Stämme in „Kolchosbrigaden“ und verlangten von ihnen Abgaben in Form von Rentierfleisch. Tausende Ureinwohner zogen damals in sibirische Städte, doch einige Nenzen kämpften für den Erhalt ihrer Traditionen. Und es

„Wir haben weder Abgeordnete, die sich für uns einsetzen, noch Oligarchen, die uns Geld für einen Anwalt geben.“ ist kein Wunder, wenn diese heute die Versuche der Regierung, sie zur Umsiedlung in Städte zu bewegen, als neuerlichen Angriff betrachten. „Wir sind ein kleines Volk“, sagt Jezingi Hatjako, mit 61 schon Stammesältester. „Wir haben weder Abgeordnete, die sich für uns einsetzen, noch Oligarchen, die uns Geld für einen Anwalt geben würden.“

Unversöhnliche Gegensätze

Als Lena Sartetos Brigade Nr. 5 nach Norden zieht, muss sie zwei asphaltierte Autobahnen überqueren, eine echte Herausforderung für die 300 Rentiere pro Familie und die Lenker der 100 Holzschlitten. Gazprom hatte die Teerschicht mit Dämmmaterial über-

Zahlen

13 000

Nomaden leben noch immer auf der Jamal-Halbinsel, obwohl die Sowjetunion jahrzehntelang versuchte, sie in Städten sesshaft zu machen.

1800

Euro erhält Lena Sartetos Familie jeden Monat von Gazprom. Aber sie würde lieber ohne das Geld und dafür in einer unberührten Natur leben.

Nach einem langen Tag sind im Zelt Wind und Eis ausgeschlossen.

zogen – eine Geste des guten Willens, d ie den Nomaden das Überqueren erleichtern sollte. Denn traditionell ziehen die Nenzen stets auf festgelegten Routen und Korridoren über die Halbinsel. Diesmal ist es anders. Die ursprüngliche Route von Sarteto würde mitten durch ein Gasfeld führen. Ein entnervter Gazprom-Sprecher versteht die Nenzen nicht: Man strebe eine gemeinsame Nutzung des Landes mit den Stämmen an und versuche, sich wie ein freundlicher Nachbar zu verhalten. Allerdings werde es ihm kaum gedankt. „Wir stellen ihnen Transportmittel zur Verfügung, bezahlen ihnen Löhne für Dinge, die sie seit jeher umsonst gemacht haben, wir bauen Brücken über die Rohre sowie Schulen und Kindergärten für ihre Kinder – doch die Nenzen beklagen sich immer nur“, ist es Andrej Tepljakow leid, verantwortlicher Sprecher für das Jamal-Projekt. In der Tat ist die Liste mit Vorschlägen lang, die Gazprom für eine Verbesserung der Lebenssituation der Jamal-Nenzen erstellt hat. Jeden Sommer fliegt das Unternehmen Hubschrauber zu den Lagern der Nomaden, um von dort über 2000 Kinder nach Yar-Sale, Hauptstadt der Tundravölker, in Internate zu bringen. Es zahlt den Stammesangehörigen sogar Löhne fürs Viehhüten oder für Pflegetätigkeiten der Frauen. Lena und ihr Ehemann bekommen rund 1800 Euro pro Monat, was in diesem Teil Russlands ein stolzer Lohn ist. Doch Lena Sarteto und ihre Familie würden lieber ohne das Geld auskommen, wenn sie dafür wieder eine unberührte Tundra hätten. Als könnte sie die alte Zeit beschwören, kramt sie nach dem Familienfetisch, der in einem Stück Pelz steckt, und bringt die Statuette ins Freie. Der hölzerne Gott soll das Haus nicht mit Fremden teilen – ein Versprechen, das immer schwerer einzuhalten ist. Sarteto wiederholt ihr aussichtsloses Lamento: „Lass Gazprom bald gehen und Jamal wieder nur für uns allein da sein.“ Anna Nemzowa ist MoskauKorrespondentin des amerikanischen Newsweek.


Reisen

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

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Traditionen Die einen begehen das Weihnachtsfest an Neujahr, die anderen am 7. Januar. Wie bitte?

Viele Feiern für Väterchen Frost und Snegurotschka DIANA LAARZ

FÜR RUSSLAND HEUTE

Weihnachten könnte so einfach sein. War es auch mal: vor etwa 300 Jahren, als Peter der Große in Russland noch das Sagen hatte und von seinen Reisen aus Europa den Tannenbaum und ein paar andere Traditionen mitbrachte. Seitdem gab es in Russland einige Umstürze – und Weihnachten ist kompliziert geworden. Machen wir uns zunächst mit dem Personal vertraut. Der Weihnachtsmann heißt „Djed Maros“ – Väterchen Frost. Er kommt in Begleitung seiner Enkelin Snegurotschka (dem Schneeflöckchen), einer lieblichen jungen Frau. Beide wohnen seit über zehn Jahren offiziell etwa 950 Kilometer nördlich von Moskau, in Welikij Ustjug. Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow hatte aus unerklärbaren Gründen die 30 000-Einwohner-Stadt zur Hauptresidenz von Väterchen Frost erklärt. In der Silvesternacht spannt er dort die Pferde vor die Trojka und macht

sich hurtig auf, Geschenke zu verteilen. In der Silvesternacht? Eben. Genau hier wird die Geschichte kompliziert. Wenn in Europa schon die Tannenbäume nadeln, geht die Feierei hier erst richtig los. Denn was Peter der Große begründete, schafften die Bolschewiken nach der Oktoberrevolution ab: Das Fest zur Geburt Christi war den Atheisten ein Dorn im Auge. Und sie führten den gregorianischen Kalender ein, der schon in ganz Europa galt. Die russische Kirchenführung dagegen blieb dem julianischen Kalender treu. Da der aber gegenüber der neuen Variante um 13 Tage „nachging“, fällt das Weihnachtsfest seit dieser Zeit in Russland auf den 7. Januar. Viel zu feiern gab es zu Sowjetzeiten freilich nicht. Weihnachten wurde zu einem Fest in den eigenen vier Wänden, für manche Querdenker und geheime Kirchgänger. Dass es ganz ohne großes Winterfest doch nicht geht, wurde den Kommunisten ein paar Jahre später klar. Sie schufen ein atheistisches Weihnachten, legten es auf den 1. Januar und nannten das Fest „Nowy God“ – Neujahr. Der erste sowjetische Neujahrsbaum wurde 1937 im Säulensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses

aufgestellt. Auch Djed Maros marschierte ein. Die Russen freundeten sich schnell mit dem Fest an, bis heute ist Nowy God der wichtigste Feiertag, an dem d ie Familie an einem reich gedeckten Tisch b e i sammensitzt,

GEOPHOTO

Eigentlich gibt es ja drei Weihnachten, darin integriert Silvester. Deshalb dauern die Feiern in Russland auch so ungewöhnlich lange an. Schon jetzt ist die Vorfreude groß.

zwischen Weihnachten und Neujahr in einen kollektiven zehntägigen Urlaub. Moskau wird in diesen Tagen traditionell zu einem schlafenden Riesen. Die Einwohner feiern mit ihren Familien in den russischen Regionen, die Hotels sind leer, an den Theaterkassen gibt es endlich ei n mal kei ne Schlangen. Ein w a h r e s Weihnachtsparadies.

Streithähne einander um Entschuldigung bitten und Geschenke unterm Tannenbaum liegen. Gleichzeitig gewinnt das ursprüngliche Weihnachten („Roschdestwo“ – Geburt) wieder an Bedeutung. Christen fasten heute wieder 40 Tage vor dem Weihnachtsfest und beginnen das Festmahl mit Sotschiwo, einer Speise aus Nüssen, Mohn, Honig und Getreide. An Heiligabend, d e m Koljada-Fest, ziehen Prozessionen durch die Straßen.Doch damit nicht genug. Nach einem Erlass von 2005 geht Russland

Der größte Weihnachtsbaum Russlands steht in seinem Herzen – auf dem Roten Platz in Moskau.

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WEISSE WEIHNACHT IN MOSKAU

Schampanskoje auf Weihnachten mit dem Roten Platz dem Patriarchen INSIDER-TIPP PIROUETTEN DREHEN UNTERM FENSTER DES PRÄSIDENTEN

Erst schlemmen und trinken die Moskauer, dann trainieren sie die Pfunde wieder ab – auf Schlittschuhen. Am schönsten und teuersten geht das auf dem Roten Platz. Im Gorki-Park dagegen werden einfach die Wege vereist.

Entdecken Sie Russland von einer neuen Seite

hört…

Radio

Stimme Russlands Die Frequenzen finden Sie auf

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Ne

ter t e l ws

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Das Neue Jahr wird traditionell mit dem Läuten der Glocken im Moskauer Kreml begangen – auch wenn die Wladiwostoker dann schon sieben Stunden feiern. Danach gibt es auf dem Roten Platz jede Menge Krimsekt und ein Konzertprogramm bis in den Morgen hinein.

Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook

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Das Weihnachtsfest feiern die gläubigen Moskauer in der Kirche. Zum Gottesdienst in der ChristiErlöser-Kathedrale kommen bis zu sechstausend Menschen. Der Gottesdienst am 6. Januar dauert von 22 Uhr bis ein Uhr nachts. Wer das miterleben möchte, sollte einige Stunden vorher da sein.

Ein Gläschen Glühwein im Gorki-Park Weihnachtsmärkte gibt es auch in Moskau, den größten auf dem Theaterplatz in der Nähe des Bolschoi-Theaters. International geht es im Gorki-Park zu. Dort bieten die russischen Völker ihre Spezialitäten feil, es werden aber auch Glühwein und belgische Waffeln angeboten.

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Meinung

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

Das Experiment ist zu Ende Fjodor Lukjanow

politologe

I

m März 2008, als Dmitri Medwedjew neuer Hausherr im Kreml wurde, bat mich die Redaktion der Zeitschrift Ogonjok um einen unkonventionellen Artikel. Ich, fast gleichaltrig mit dem Staatsoberhaupt und in einem ähnlichen sozialen Umfeld groß geworden, sollte versuchen, diese Generation zu charakterisieren. Der Artikel hieß „42: zwischen UdSSR und Russland“. Heute ist dieser Präsident bereits 46. Und ein warmer Tag im September des Jahres 2011, als Putin sich als neuer Präsidentschaftskandidat präsentierte, hat vieles verändert: mehr noch als den persönlichen Lebensweg Medwedjews die Wahrnehmung dessen, was sie bedeutet haben, diese drei Jahre, in denen „unsere Generation“ das größte Land der Welt lenkte und leitete. Bald werden wieder „die Alten“ das Ruder übernehmen, und es lohnt ein Blick darauf, ob sich etwas von dem, was ich seinerzeit mutmaßte, als zutreffend erwiesen hat. Mein Text begann so: „Ungeachtet ihrer Jugend erlebte die Generation Medwedjews genug Umbrüche und Kataklysmen. Deshalb entspricht Stabilität für sie dem tief empfundenen Wunsch, von neuerlichen Erschütterungen verschont zu bleiben.“ Ich konnte damals nicht ahnen, wie weit die Liebe zu dieser Stabilität gehen würde. Unabhängig davon, ob das gesamte Szenario der Machtrochade von Anfang an geplant war: Die Abneigung des

Präsidenten, über vorgegebene Grenzen hinauszugehen, ist frappierend. Sucht man die Ursachen außerhalb von Medwedjews Persönlichkeit, ließe sich so etwas wie ein Perestroika-Syndrom bemühen. Die Erinnerung daran, wie kurz der Weg von hehren Wünschen und edlen Absichten hin zu Kontrollverlust und Katastrophe sein kann, ist noch frisch. Seinerzeit schien mir, meine Altersgenossen, die in der Mehrzahl leidenschaftlich an Gorbatschow geglaubt, sich dann aber tief enttäuscht von ihm abgewandt hatten, wären immun gegen den spezifischen Stil jener Zeit. Doch wird Medwedjew heute gerade mit Michail Gorbatschow

verglichen. Wegen der Vielzahl wohlgefügter, ideologisch korrekter Reden, aus denen nichts folgte. Wegen des liberalen Flairs, dessen stromlinienförmige Glätte zu nichts verpflichtete. Wegen seines Wohlwollens gegenüber dem Westen. Weiter schrieb ich: „Man hat uns jede Art von Naivität ausgetrieben, wir sind misstrauisch geworden. Denn auf den Bildschirmen der Fernsehgeräte, den Tribünen der Kundgebungen war zu viel Schönes, Überzeugendes zu sehen und zu hören, von dem sich dann zu wenig als wahr und aufrichtig erwies. Unsere Allergie gegen Pathos ist eine Reaktion auf sowjetische wie auf postsowjetische

Lügen jeder Art, seien sie nun prooder antikommunistisch.“ In der Tat, von der Naivität haben wir längst endgültig Abschied genommen und Aufrichtigkeit ist Luxus geworden. Allergisch gegen Pathos war Medwedjew allerdings nicht, obwohl das Pathetische angesichts seines gemäßigten Temperaments stets ein wenig aufgesetzt wirkte. In diesem Pathos erschöpfte sich seine Vision denn auch schon. „Modernisierung“ beschloss eine Serie von Begriffen, die in der späten UdSSR und im jungen Russland diskreditiert worden waren: von „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und „Perestroika“ bis hin zu „Demokratie“ und „Markt“. Kann man Medwedjews Position als pragmatisch bezeichnen? Der September 2011 lässt die Logik seines Handelns verschwommen erscheinen, wahrscheinlich war es einfach keine Logik der Macht. Auf die Nutzung seiner vornehmlichsten Möglichkeit – nämlich ein echter Präsident zu werden – hat Medwedjew bewusst verzichtet. Obwohl es schien, als habe er eine reelle Chance. Für unsere Generation ist die vierjährige Präsidentschaft Medwedjews zu einem Negativsymbol geworden, das nur allzu deutlich versinnbildlicht: Die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung sind begrenzt. Das Lenken und Leiten der Vierzigjährigen war ein seltsames Intermezzo, ein gescheitertes Experiment, nach dem die „alten Genossen“ aus der BabyboomerGeneration wieder ihre rechtmäßigen Plätze einnehmen. Sie sind noch im Vollbesitz der Kräfte und

ziele setzen lernen Daniil Dugajew

E

Journalist

s heißt, dass Steve Jobs 1983 den damaligen Präsidenten von PepsiCo, John Sculley, überredete, zu Apple zu wechseln. Jobs hatte ihn gefragt, ob er sein ganzes Leben lang Limonade verkaufen oder doch lieber die Welt verändern wolle. Warum wohl mag Sculley, ein erfolgreicher Marketingexperte, damals bereits weit über 40, sich auf eine solch unverblümte Ansage eingelassen haben? Wahrscheinlich, weil er sich die eigene Rolle in der Weltgeschichte tatsächlich anders vorgestellt hatte und von Jobs einfach überrumpelt wurde, wie hoch ein Ziel gesetzt werden kann. Eine solche Zielsetzungsfähigkeit, sprich das Vermögen, sich selbst die richtigen Aufgaben zu stellen,

entwickeln die Menschen immer seltener. Eigentlich müsste man so etwas in besseren Wirtschaftsschulen lehren, denn gerade im Big Business spielt dieser Skill die größte Rolle. So ist beispielsweise Google, das genau wie Apple in einer Garage geboren wurde, ausschließlich dadurch zum Erfolg gekommen, dass seine Gründer eben mehr wollten als eine weitere Suchmaschine: Sie wollten einfach alle Informationen der Welt erfassen. Die Tatsache, dass diese gigantomane Aufgabe eigentlich nicht umsetzbar ist, zwingt Google dazu, immer weiterzugehen – wie ein Esel hinter der Mohrrübe. Wäre die Zielsetzung aber eine geringere gewesen, wäre Google wohl längst dem Dotcom-Tod erlegen wie einst AltaVista. Daraus könnten viele russische Mitbürger lernen. Denn es ist gar

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nicht so schwer, sich kaum lösbare Aufgaben zu stellen – viel schwieriger ist es zu begreifen, warum man das tun muss. Diese Fähigkeit, sich ein Ziel zu setzen, sollte fest in den Köpfen verankert sein und steht doch in Russland derzeit au f u nterstem Niveau. Nehmen wir als Beispiel die Zielsetzungen der Generation, die Anfang der 1990er geboren wurde, also jener jungen Menschen, die die gravierendsten Umbruchphasen in ihrer Kindheit überdauerten und eigentlich in der Stabilität aufwuchsen. Die „Macher“ unter ihnen würden am liebsten im Ausland studieren; die „Geschäftsleute“ träumen von der Selbstständigkeit, indem sie kleinere Internetläden gründen, deren einziges Geschäftsmodell darauf basiert, billig aus dem Ausland Importiertes zum dreifachen Preis

zu verkaufen. Die „Künstler“ denken nur an Wettbewerbe und Preise. Und selbst die patriotisch fixierten Abhänger der kremltreuen „Naschi“-Jugendbewegung, die schließlich keine klinischen Idioten, sondern einfach nur Kinder sind, denen kein besseres Freizeitmodell geboten wurde, träumen von der Karriere eines Vorstandsvorsitzenden bei einem der vielen Energieriesen. Ich vermute, dass sich die Probleme Russlands nicht etwa wegen Korruption, Schmiergeldern oder Blaulichtern häufen. Vielmehr sind sie Resultat dürftiger Zielsetzungen. Die Bürger träumen karg. Und wenn man karg träumt, wird es schwierig mit Dingen wie zivilgesellschaftlichem Selbstbewusstsein. Wie soll das auch gehen, wenn man schon als Jugendlicher davon träumte, möglichst viel Öl zu verkaufen und sich in ein Steu-

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion der Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. Verlag: Rossijskaja Gaseta, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114 Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Ilja Owtscharenko;

denken gar nicht daran, die Zügel aus der Hand zu geben. Und doch werden sie irgendwann abgelöst, nicht von den heute Vierzigjährigen, sondern von noch Jüngeren. Den dreißigjährigen Trägern jener Ambitionen, die das neue Russland prägte. Oder bereits von der „Generation der Freiheit“, die die UdSSR gar nicht mehr erlebt hat und die Welt vermittels Gadgets und Devices wahrnimmt. Wobei man den Eindruck gewinnt, Medwedjew mit seinem Faible für moderne Kommunikationsmittel sei gerade ihr Präsident gewesen, und sie würden ihm ernsthaft nachtrauern. Fatal nur, dass die postsowjetische Epoche vorüber ist. Zusammen mit der kollabierten sowjetischen Infrastruktur, die ihre Reserven erschöpft hatte, verlieren auch alle dieser Zeit entlehnten ideologisch-politischen Konzepte oder gar Imitate ihren Sinn. Die neue Führungsgeneration, die stärker vorwärts gerichtet und in Medwedjew verkörpert zu sein schien, konnte oder wollte aus bestimmten Gründen den Sprung nach vorn nicht wagen. Sie zog es vor, weiter unter der Patronage derjenigen zu stehen, die zwangsläufig nach hinten blicken. Selbst wenn die Rezepte der Vergangenheit unpraktikabel und die Instinkte stumpf geworden sind. Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs. Dieser Beitrag erschien zuerst in Ogonjok

erparadies abzusetzen? Damit die Idee einer Zivilgesellschaft überhaupt attraktiv werden kann, müsste wenigstens jeder dritte russische Schüler heute etwas anderes wollen als nur einen weichen Stuhl für seinen dicken Hintern. Dabei müssten sie gar nicht die Welt umkrempeln wie Steve Jobs. Für den Anfang könnten sie ja von sauberen und ebenen Straßen für das ganze Land träumen. Oder von einer unabhängigen Justiz. Oder vielleicht auch sogar davon, dass sie ein Loch zum Mittelpunkt der Erde bohren. Und erst hinterher sollten sie die so beliebte Politik der kleinen Schritte für die Lösung größerer Aufgaben anwenden: vor der eigenen Tür kehren, keine Schmiergelder mehr bezahlen und das erste Loch im Sandkasten graben. Nach der g roßen Zielsetzu ng – n icht vorher. Daniil Dugajew ist Chefredakteur des Reisemagazins AfischaMir, in dem dieser Beitrag zuerst erschien.

Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Chef vom Dienst für online: Wsewolod Pulja; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2011. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau

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Kino „Hotel Lux“ – Leander Haußmann erzählt eine tragische Geschichte mit Scharfsinn und viel Humor

Im Herzen der Weltrevolution

„Hotel Lux“ Kinostart: 27. Oktober 2011 Regie, Drehbuch Leander Haußmann Produktion Corinna Eich, Günter Rohrbach Darsteller Michael „Bully“ Herbig, Jürgen Vogel, Thekla Reuten, Alexander Schenderowitsch, Waleri Grischko www.hotel-lux-film.de

Darf man lachen, wenn nebenan einer erschossen wird? Nobelherberge, Kommunistenzentrale und Stoff für eine Verwechslungskomödie: Das Moskauer Hotel Lux hat viele Gesichter. ulrike gruska

für russland heute

Plötzlich ist das Hauptquartier der Weltrevolution in aller Munde. Seit „Hotel Lux“, der neue Film von Leander Haußmann, Ende Oktober in den deutschen Kinos anlief, interessieren sich selbst jene Menschen für das schicksalsträchtige Haus an der Twerskaja-Straße, die nie viel mit Diktaturen und Ideologien anfangen konnten – und mit Weltverbesserung schon gar nicht. Im Hotel Lux aber arbeiteten die Berufsrevolutionäre der Kommunistischen Internationale genau daran. Vier Jahre nach der Oktoberrevolution richteten sie in dem 1911 als Nobelhotel erbauten Haus ihr Hauptquartier ein und gewährten dort verfolgten Kommunisten aus aller Welt Unterschlupf.

pressebild (2)

Alltag im Hotel Lux: Die kommunistische Internationale ruft zur Versammlung.

Walter Ulbricht wohnte hier mit seiner Lotte neben Wilhelm Pieck und Herbert Wehner, der Spion Richard Sorge neben zukünftigen Staatenlenkern wie Ho Chi Minh und Tito. Der Alltag indes war trotz Marmorsäulen und Kristalllüstern wenig luxuriös: In Tagebüchern und Briefen klagten die Bewohner über Wanzen- und Rattenplagen, die Saufgelage junger Revoluzzer und den Gestank in den Gemeinschaftsküchen. Der eigentliche Schrecken aber begann Ende der 30er-Jahre, als das Hotel Lux – zuvor mit zusätzlichen Lebensmittelzuteilungen und hauseigener Arztpraxis immerhin noch ein wenig privilegiert – unter Stalins Terror zur Menschenfalle wurde. Der sowjetische Geheimdienst NKWD verbreitete eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen. Wer seinen Zimmernachbarn nicht verriet, der wurde verraten. In Nacht- und Nebelaktionen führten Stalins Helfer etliche ausländische Funktionäre ab, die Flure der Komintern-Herberge leerten sich beträchtlich. In

Hotel Lux – die wahre Geschichte Der Geschichte im Film steht die wahre Geschichte Ruth von Mayenburgs gegenüber, die sieben Jahre (1938 bis 1945) in dem internationalen GhettoHotel Lux in Moskau lebte. Dabei lernte sie nicht nur dessen Bewohner kennen, meist junge Kommunisten aus ganz Europa, sondern erlebte auch die stalinistischen Säuberungen hautnah mit. Die Neuausgabe ihres Berichts darüber wird ergänzt durch bislang unveröffentlichte Drehbuchnotizen des renommierten Filmemachers Heinrich Breloer. Verfasst hat er sie nach einer Moskaureise 1991 mit Ruth von Mayenburg.

kulturkalender erfahren sie mehr über russische kultur auf

russland-heute.de

Ruth von Mayenburg: Hotel Lux – die Menschenfalle. Elisabeth Sandmann Verlag 2011. 400 S., 24,80 Euro

sowjetischen Gulags starben schließlich mehr führende deutsche Kommunisten als in den Konzentrationslagern Adolf Hitlers.

Twerskaja trifft Sonnenallee

Darf man sich so einer Geschichte mit Humor nähern? Darf man Stalin „besoffen wie zehn Kosaken“ in Unterhemd im Bad sitzen lassen und ihm einen albernen Hitler mit schief angeklebtem Bärtchen und feuchter Aussprache zur Seite stellen? Der Regisseur Leander Haußmann, in der DDR aufgewachsen und mit „Sonnenallee“ zu Ruhm gelangt, tut es einfach. Er nimmt zwei brillante Schauspieler (Michael „Bully“ Herbig und Jochen Vogel), lässt sie zwei nicht minder begabte Komödianten spielen und spinnt daraus eine aberwitzige Geschichte voller Humor: Die beiden Freunde feiern in Berlin mit Hitler-Stalin-Parodien Erfolge, bis einer von ihnen untertaucht, um für eine bessere Welt zu kämpfen, und der andere eben diese in Hollywood sucht. Beide stranden im Hotel Lux, treffen dort eine schöne blonde und von der roten Sache zutiefst überzeugte Frau und rennen schließlich nach etlichen Verwechslungen zu dritt um ihr Leben. Das leichte Genre sei für ihn ein „trojanisches Pferd“, um das Publikum für die historischen Vorgänge in der Sowjetunion zu interessieren, sagt Haußmann. Er war einer der Letzten, die das legendäre Haus in Moskau von innen sahen. Unter dem Namen „Zentralnaja“ war es nach Stalins Tod wieder zu einem gewöhnlichen Hotel geworden und blieb nach 1991 einer der wenigen Plätze, an denen man im Moskauer Zentrum preiswert übernachten konnte, wenn auch ohne Komfort. In die Mehrzahl der über 500 Zimmer hatten sich inzwischen Rei-

sebüros, Übersetzerdienste und Internetcafés eingemietet, und im Hotelrestaurant mit seiner barocken Stuckdecke fand eine FastFood-Pizzeria Unterschlupf. Doch mit den langen Fluren und den Gemeinschaftsduschen, den vergilbten Tapeten und durchgelegenen Betten wäre das Haus ein idealer Drehort gewesen – wenn er nicht in Russland läge. Dort die Genehmigung für eine Stalin-Satire zu bekommen, hielt Leander Haußmann für unmöglich. „Die jetzige russische Führung ist

Das leichte Genre sei ein „trojanisches Pferd“, um das Publikum für die historischen Vorgänge zu interessieren. immer noch sehr stalinfreundlich“, so der Regisseur. „Man mag es nicht, wenn Ausländer sich auf diesem Gebiet kritisch betätigen, schon gar nicht die Deutschen.“ Sein Team fand Ersatz in Westberlin: im Haus Cumberland am Kurfürstendamm, das seinem Moskauer Pendant nicht nur verblüffend ähnlich sieht, sondern auch dessen jüngstes Schicksal teilt. Kaum war die letzte Szene von „Hotel Lux“ abgedreht, rückten die Bauarbeiter an, um den historischen Bau zu entkernen und Platz für exquisite Eigentumswohnungen zu schaffen. In Moskau sind an der Twerskaja-Straße statt des alten Hotels schon seit Jahren nur Planen und Bauzäune zu sehen. Ein georgischer Geschäftsmann investiert 200 Millionen USDollar in den Nachbau des Hotels, diesmal mit mehrstöckiger Tiefgarage und überdachter Einkaufsmeile im Hof. Es soll 2012 neu eröffnen – dann wieder unter dem alten Namen „Lux“.

Rock Zemfira

austausch Moskauer Tage Berlin

film Russische Filmwoche berlin

24. november, Zapata , Stuttgart

14. bis 29. November, Berlin

ab 30. november, Berlin

Die Sängerin Zemfira mit tatarischen Wurzeln ist emotionaler als Alanis Morissette und poetisch wilder als Herbert Grönemeyer. Mit dieser Mischung sorgt sie für Erfrischung im Einerlei des russischen Rock.

Höhepunkt ist das Konzert des Dirigenten Wladimir Spiwakow und seiner Moskauer Virtuosen am 15. November im Konzerthaus. Daneben bieten Ausstellungen Einblicke in die Geschichte und den Alltag Moskaus.

›› zapata.de

›› kulturprojekte-berlin.de

Zur Eröffnung erwartet die Berliner eine kleine Sensation: Sie bekommen den Film über den legendären russischen Liedermacher Wladimir Wyssozki einen Tag vor der Russlandpremiere zu sehen, und zwar am 30. November im Delphi-

nachgefragt Darf man einen Ort, in dem gemordet und denunziert wurde, zum Schauplatz einer Komödie machen?

„Unbedingt! Weil Film, genau wie Theater und Musik, frei sein sollte. Man muss sich aber erst mal fragen, ob dieser Film wirklich eine Komödie ist. In meinen Augen ist das eher ein Abenteuerfilm mit komödiantischen Momenten.“ Jürgen Vogel, Darsteller „Ich hätte mich das nicht getraut. Aber Leander Haußmann ist in einem Staat aufgewachsen, in dem es nicht die Freiheit gab, die man heute genießt. Wer da wen verraten und bespitzelt hat, kann man sich kaum vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat.“ Michael Herbig, Darsteller „Gerade das Böse lässt sich am besten durch die Komödie zeigen und entzaubern. Zum Beispiel, wenn im „Hotel Lux“ kommunistische Chefideologen das erbärmliche Scheitern einer großen Idee am eigenen Leib erleben und doch immer wieder ins Gegenteil umlügen – aus Todesangst, Eitelkeit und religiösem Wahn. Das Ehrenwerte und das Lächerliche, Spießertum und Grauen hausten im Lux unter einem Dach.“ Corinna Aich, Produzentin „Ja, wobei es sich nicht um eine reine Komödie handelt. Es ist eine Mogelpackung. Die Dramen, die wir mit dem Schicksal von 20 Millionen Opfern verbinden, sind extrem komödienunfreundlich. „Hotel Lux“ muss sich sein eigenes Genre schaffen: eine typisch deutsche literarische Gattung, die nur noch nicht im Kino angekommen ist – den Schelmenroman.“ Leander Haußmann, Regisseur

Filmpalast. Neben einer Filmreihe über Moskau bringt das Festival aktuelle Streifen wie „Sibirien. Monamour“ oder „Lektionen in den schönen Künsten“ über die Erfahrungen einer Schauspieltruppe in der russischen Provinz erstmals nach Berlin. Spielorte sind Kant-Kino, Delphi-Filmpalast und das Russische Haus der Wissenschaft und Kultur. ›› russische-filmwoche.de


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Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Kultfigur Vom Punk zum Prediger: die wunderbare Wandlung des Pjotr Mamonow

Raus aus Sodom und Gomorrah

BIOGRAFIE BERUF: SCHAUSPIELER, MUSIKER, STILIKONE, PROPHET ALTER: 60

Pjotr Mamonow wird 1951 als Sohn einer Übersetzerin und eines Ingenieurs in Moskau geboren. Mitte der 60er stellt er seine erste Band zusammen und avanciert zu Moskaus Ober-Hippie. Seine exzentrischen Ein-MannStücke machen ihn in der Theaterszene bekannt, seine erste Filmrolle ist die eines Drogenbarons im Kultfilm „Igla“ (Die Nadel, 1988). 2006 spielt er in „Ostrow“ (Die Insel) einen Einsiedlermönch, drei Jahre später in „Zar“ Iwan den Schrecklichen. Seit 15 Jahren lebt Mamonow mit seiner Frau zurückgezogen in einem Dorf bei Moskau.

Weitere Inhalte zum Thema www.russland-heute.de KOMMERSANT

Zu Sowjetzeiten war er Oberhippie, Kultmusiker und Trinker. Heute hat Pjotr Mamonow Gott gefunden und lebt zurückgezogen. Für seine Fans wird er damit erst recht zur Ikone. WLADIMIR RUWINSKIJ RUSSLAND HEUTE

Eine sternenklare Nacht in Russlands Süden. Auf einer Bank sitzt ein älterer Mann in gebeugter Haltung. Schlichte erdfarbene Jacke, Halbstiefel. Hager. Glatzköpfig, fast ohne Vorderzähne. Eine Mischung aus Steve Jobs und Iwan dem Schrecklichen. „Die Welt ist ein einziger großer Organismus – und dem geht es schlecht. Mir tut ein Zahn weh, aber ich schreie als ganzer Mensch ‚Au!‘. Genauso ist es auch hier.“ Das ist Mamonow, Kultfigur des Underground-Rock der 80er mit der Gruppe Zwuki Mu. Der Produzent Brian Eno, der mit der Band zusammengearbeitet hat, sagte über ihn: „Ich habe im Leben nichts Gleichartiges gesehen. Der Mann ist einfach besessen.“ In Mamonows Konzerten entstand der russische Punk, im Theater schuf er mit seinen magischen Körperbewegungen und dem Tempera-

ment eines Tobsüchtigen sein eigenes Genre des absurden EinMann-Stücks.

Heute ist er ein „heiliger Narr“

Das wilde Leben gehört der Vergangenheit an. Heute verlässt Mamonow selten sein abgelegenes Dorf in der Nähe von Moskau, betreibt mit seiner Frau seit 15 Jahren biologische Landwirtschaft und denkt über das Leben nach. Er ist tief in den christlichen Glauben eingetaucht. Doch das russische Publikum hat ihn nicht vergessen. Seine seltenen Konzerte sind gerammelt voll. Mamonow ist inzwischen bekannter als Schauspieler und als, sagen wir, orthodoxer heiliger Narr, einer, der alles sagt, was er denkt. 2006 zum Beispiel, als er bei der Verleihung des russischen Filmpreises für die beste Rolle im Film „Ostrow“ (Die Insel) vor versammelter Künstlerbohème in Strickjacke, Jeans und Turnschuhen erschien – im Film ein reuiger Einsiedlermönch – und dem Publikum mit sanfter Stimme ein wenig stotternd die Leviten las. Russlands reale Probleme – die geistigen – würden ja niemanden im Saal interessieren. „Putin soll diese Pro-

bleme lösen? Dafür ist er eine Nummer zu klein, er ist ein Geheimdienstler, was soll der schon machen? Wir sind es, die was machen müssen“, erklärte er und ließ die Vertreter des Showbusiness ratlos zurück.

Im Kampf gegen sich selbst

1951 geboren, wurde Mamonow ab Mitte der 60er-Jahre mit seiner Band als Oberhippie und Exzentriker unglaublich populär. Auf der Bühne führte er sich mal wie ein Schimpanse auf, mal wie ein gigantisches Reptil, das sich zu raffinierten Knoten windet, und imitierte epileptische Anfälle. „Russische Volkshalluzination“ nennen das seine Fans. In den 80ern, auf dem Gipfel seiner musikalischen Popularität, reduziert sich sein Leben auf „Weiber und Saufen“, wie er es ausdrückt. Mamonow ist selten nüchtern, prügelt sich, landet in der Reanimation. Nach Erscheinen eines 1989 in London aufgenommenen Albums löst er kurzentschlossen seine Gruppe Zwuki Mu auf. 1988 gelangt er auf der Leinwand zu Berühmtheit und spielt die Rolle eines paranoiden Drogenbarons in dem sowjetischen Kultfilm „Igla“

(Die Nadel). Den internationalen Durchbruch bringt ihm der Musikfilm „Taxi Blues“ aus dem Jahr 1990, der in Cannes den Preis für die beste Regie abräumt. Während unseres Gesprächs auf der Bank erklärt er, dass er seine Popularität nutze, um den Menschen bei ihrer Annäherung an Gott zu helfen. „Ich bin 60 Jahre alt, ich habe mein Leben gelebt, ich werde bald sterben“, sagt er. „Und natürlich muss ich meinen Mitmenschen erzählen, was ich von diesem Leben verstanden habe.“ Verstanden hat er einfache Dinge: dass „der Mensch stolz ist, und Stolz den Verstand trübt“ und dass letztlich „die Menschen nicht mehr aufeinander hören“. Dass Gott das Wichtigste sei und „die Menschen sich durch die Sünde von ihm entfernen“, der eine durch Alkohol, der andere durch Hochmut, wieder einer durch Neid und Betrug. Dass alles von einem allein abhänge: Gutes oder Böses. All das sagt er ruhig, ein wenig müde vielleicht. Das Interview verwandelt sich mal in eine Predigt, mal in eine Beichte. Patriarchalische Floskeln wechseln sich ab mit Jugend-Slang. Wenn ein Mensch so schlicht über der-

PRESSEBILD

RIA NOVOSTI

In „Taxi Blues“ blies die Russische Halluzination Saxophon, in „Die Insel“ philosophierte Pjotr Mamonow als Starze über Schuld und Sühne.

artige Dinge spricht, wird einem klar, dass Mamonow sein ganzes Leben lang mit seinem eigenen Ich kämpfte, mit wechselndem Erfolg. Er will ein besserer Mensch werden. Und verliert immer wieder diesen Kampf gegen sich selbst: „Aus meinem Sumpf, in dem ich bis zur Halskrause stecke, schreie ich: ‚Leute, nicht hierher!‘“

Europa? Sodom und Gomorrha

„Was ist das christliche Europa heute? Nur noch Denkmäler, kein Glaube. Wozu haben sie denn diesen gigantischen Petersdom erbaut? Er war mal voller Menschen. So haben die Menschen gelebt, alle Hoffnung, alle Zuversicht auf Gott. Und jetzt? Der Komfort hat sämtliche geistigen Bestrebungen erdrückt, die Familien sind kaputt, wir bringen keine Kinder mehr zur Welt. Europa ist eine Gesellschaft von Alten, und auch wir gehen in diese Richtung.“ Mamonow ist unerbittlich: „Ich liebe Frankreich und England, wir sind mit dieser Musik, mit dieser Kultur groß geworden. Aber jeder vernünftige Deutsche, Engländer oder Schweizer – vorausgesetzt, der ganze Zaster hat ihm noch nicht das Hirn vernebelt – wird sagen, dass alles auf Sodom und Gomorrha zutreibt, und zwar zügig.“ Der Schriftsteller Boris Akunin kommt einem in den Sinn, der die russische Nationalidee darin sieht, ein „hohes Ziel anzupeilen; mit den Erniedrigten und Schwachen Mitleid zu haben; nicht nur ein materielles Leben zu führen.“ All das schwingt mit im Leben Mamonows. Selbstzerstörung und Talent, ein enormes Gefühl für Freiheit. Warum glauben die Menschen ihm? „Ich war bei allem, was ich gemacht habe, aufrichtig, auch in meinen Verirrungen.“ Vielleicht ist das die Idee, die in Russland am meisten gebraucht wird.

Weiße Pracht oder eisige Herausforderung? Wie Russen dem Winter Paroli bieten. In der nächsten Ausgabe am

7 Dezember


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