Russland Heute

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www.russland-heute.de

ITAR-TASS

Anderes Land.

Andere Sicht.

Andere nicht.

Ilja Ponomarjow führt die Proteste an. Wohin?

Das Volk gegen Putin? Alles viel komplexer! Boris Tumanow wirft den westlichen Korrespondenten Denkfaulheit vor.

Eine Frau will den Journalismus im Land verändern.

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LUDMILA SINTSCHENKO

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 1. Februar 2012

Kein Sturm auf die Bastille

POINTIERT

Wer zu schnell berichtet Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

D

Moskau, 24. Dezember: Fast 100 000 Menschen sammelten sich zur Protestdemo gegen gefälschte Wahlen.

Wer dieser Tage in den russischsprachigen Netzwerken á la Facebook liest, bekommt den Eindruck, als sei die Niederlage Wladimir Putins schon besiegelt. Blogger, Twitterer und Kommentatoren schütten eimerweise Hohn und Spott über den Premier und Präsidentschaftskandidaten aus. Und auf Facebook kündigen über 23 000 Bürger ihre Teilnahme an der Demonstration „Für faire Wahlen“ am 4. Februar an. Mitte Januar hat sich ein politischer Flügel formiert – eine

„Bürgerbewegung“, die all jene unterschiedlichen politischen Gruppierungen umfasst, die seit Dezember gegen die Regierung protestieren. Gleichzeitig bildeten Schriftsteller wie Boris Akunin und Ljudmila Ulizkaja zusammen mit Journalisten, Ärzten und Bloggern eine „Liga der Wähler“, die sich zum Ziel setzt, die Präsidentschaftswahlen am 4. März zu überwachen. Wie der Teufel das Weihwasser fürchten die Vertreter der Liga das Wort „Politik“ –

DAS THEMA

einem Mantra gleich wiederholten sie bei der Gründung, sie verfolgten keine politischen Ziele und nähmen keine Politiker auf. Die Teilung macht die Bewegung einerseits stark, sagt der junge Politiker und Protestführer Ilja Ponomarjow im Interview (S. 3). Gleichzeitig bleibt ihre Schwäche, dass ihr die politischen Führer fehlen, urteilt Wiktor Djatlikowitsch (S. 2). Denn keiner jener Kandidaten, die am 4. März zur Wahl stehen, hat das Vertrauen der Demonstranten: Alle haben

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Wein in teuren Schläuchen Gegen ein gutes Glas Wein hätten die meisten der 142 Millionen Russen nichts einzuwenden. Schon lange muss es nicht mehr bei jeder Gelegenheit Wodka sein. Aber eine gute Flasche zu einem annehmbaren Preis zu finden, ist schwer. Den Durchschnittsrussen kommt ein gewöhnlicher französischer Roter fünfmal teurer zu © ANDREJ STENIN_RIA NOVOSTI

MEDIEN KLEINE FREIHEIT ZWISCHEN POLITIK UND WIRTSCHAFT

schon auf die ein oder andere Weise ihre Machtspiele mit der Regierungsspitze getrieben. Ohnehin ist die Mittelschicht, die jene Proteste trägt, nicht groß genug, um das Regime zum Einsturz zu bringen. Aber wer will das überhaupt? Ist es nur Wunschdenken der Journalisten? „Denkfaulheit“ wirft deshalb der langjährige Korrespondent Boris Tumanow (S. 10) seinen westlichen Kollegen vor.

Regionalmedien kämpfen um ihre Unabhängigkeit – von dem Gouverneur, Bürgermeister und den regionalen Oligarchen. Aber oft reichen Einnahmen aus Reklame und Verkauf nicht, um sich diese leisten zu können. Dann heißt es sich arrangieren. Wie es sich anfühlt, Journalist in diesem System zu sein? Alexej Sokolskij aus Klin erklärt, warum viele ihren Beruf hassen gelernt haben und wie man es doch schafft, kein Zyniker zu werden. SEITEN 6 UND 7

stehen als einem Deutschen. Die hohen Preise liegen an den Gewinnmargen der Supermärkte, aber auch an der Bürokratie: Erst nach zweieinhalb Jahren, so erinnert sich eine junge Weinhändlerin, habe sie alle nötigen Dokumente beisammen gehabt. SEITE 4

Buddha in der Steppe 1000 Kilometer südlich von Moskau, in der Steppe vor dem Kaukasus, steht der größte buddhistische Tempel Eu ropas – in Elista, der Hauptstadt Kalmückiens. Das kleine Volk der Kalmücken, ein Zweig der Mongolen, versucht seit dem Ende der UdSSR

ie gefühlte Zeit verläuft je nach Aufenthaltsort u nte r sch ie d l ich. I n Deutschland gleitet sie gemächlich dahin: Gestern war gestern, heute ist heute, morgen wird morgen. Dagegen gefühlt ist der Zeitbegriff in Russland vollkommen überflüssig: Was gestern noch morgen war, kann heute schon vorgestern sein. So wie bei der letzten Ausgabe, in der es um die Duma-Wahlen ging. Fünf Stunden nach Redaktionsschluss gingen die Moskauer auf die Straße, um gegen die Wahlverstöße zu demonstrieren. Als die Beilage am Mittwoch erschien, war sie überholt. Heute liest sie sich wie ein Archivdokument, denn in den vergangenen acht Wochen hat sich in Russland eine Bürgerbewegung formiert, eine Mittelschicht gezeigt, eine Politik – sachte – verändert. Das alles mit einer zivilgesellschaftlichen Rasanz, die in Deutschland unvorstellbar ist. Lesen Sie daher bitte diese Ausgabe so schnell wie möglich durch. Für den kommenden Samstag sind in Moskau wieder Proteste gegen die politische Ignoranz geplant. Und wer weiß schon, wie Russland am Sonntag aussehen wird? Oder wie ein russischer Weiser vor gefühlten Jahrmillionen formulierte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

INHALT Sotschi Noch zwei Jahre bis Olympia REGIONEN

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Chabarowsk Die Ostsee liegt bei China REISEN

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Puschkin Mehr als der Bär im Mann

seine buddhistischen Traditionen wiederzubeleben. Doch Kalmückien ist eine der ärmsten Regionen Russlands. „Der Tempel ist schön – aber er ernährt uns nicht“, sagen deshalb die Kritiker. SEITE 8

FEUILLETON

THOMAS AURIN

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Politik

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Wahlen Die russische Mittelschicht hält nicht mehr still. Aber den Politikern, die sie vertreten wollen, traut sie nicht

Schluss mit der schönen alten Welt Die Massenproteste nach den Duma-Wahlen haben blitzartig die politische Situation verändert – werden aber nicht Putins dritte Amtszeit als Präsident verhindern können.

Dieses Bild vom 10. Dezember ist für viele Symbol einer Zeitenwende.

Wiktor djatlikowitsch

exklusiv für russland heute

Diese neue Schicht zog es auf die Straße, weil sie den mit dem Regime seinerzeit abgeschlossenen „Pakt“ satt hat. „Ihr gebt uns Loyalität, und wir geben euch Stabilität“, erklärt Alexander Ausan, Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, die Mensch-Macht-Beziehungen Russlands. Der Schriftsteller Boris Akunin, einer der Protestführer, formuliert es bissiger: „Macht doch, was ihr wollt, aber lasst uns unser Popcorn.“ Kurzum: Hingerissen vom Aufbau einer Konsumgesellschaft, vergaß die Mittelschicht völlig die Politik. Bis der Pakt an einem bestimmten Punkt zu Bruch ging. „Bis heute wollte der russische Bürger nur eines, nämlich Ruhe vom 20. Jahrhundert – nach der Revolution, den Kriegen, dem Stalinismus und diesem ganzen Hokuspokus. Er wollte arbeiten, sich einrichten, eine Wohnung kaufen. Diese Regierung hat das ermöglicht. Aber jetzt brauchen die Menschen eben mehr“, glaubt der 46-jährige Fjodor Scheberstow, Mitarbeiter einer Personalagentur, der erstmals im Leben an einer Demonstration teilnimmt. Der Unternehmer Wladimir Zai bringt es auf den zivilgesellschaftlichen Punkt: „Ich habe mich stets als Staatsbürger wahrgenommen. Aber früher habe ich der Regierung vertraut und gedacht: Na gut, vielleicht nicht sofort, aber irgendwann wendet sich alles zum Guten. Ich war bereit, vieles hinzunehmen in der Hoffnung, dass es meine Kinder einmal besser haben. Doch dann habe ich begriffen: Es ändert sich überhaupt nichts. Ich bin das Warten leid.“

Ausmaße

Die Machtanhänger schätzen das Protestpotenzial als gering und auf das Internet beschränkt ein. So ließ das Magazin Expert jüngst die Akademie der Wissenschaften das politisierte Segment des russischen Internets auswerten. Über zwei Wochen wurden sämtliche Einträge in Blogs und sozialen Netzwerken auf Begriffe aus dem politischen Sprachschatz analysiert – wie „Putin“, „Medwedjew“, „Nawalny“ oder „Einiges Russland“. Das Ergebnis: Von den inzwischen 60 Millionen Internetnutzern in Russland generieren etwa 1000 „politische“ Inhalte, die etwa 30 000 Nutzer kommentieren. Die Anzahl der Leser dieser Beiträge sei nicht abschätzbar. „Trotzdem dürfte das einschlägige Auditorium und damit das Protestpotenzial nicht über einer Million liegen“, schlussfolgert Walerij Fadejew, Chefredakteur des

Rostow. Die aberwitzige Korruption unter den Beamten ist die größte Triebkraft der Protestwahl. Der Blogger Alexej Nawalny begriff diese Tendenz und prägte den populären Slogan „Einiges Russland – Partei der Gauner und Diebe“. Diese Ablehnung richtet sich aber nicht gegen Wladimir Putin, sondern gegen die lokalen Behörden. Und in den kleineren Städten ist der Protest nur passiv. In besagtem Städtchen erhielt Einiges Russland offiziell 60 Prozent der Stimmen. Die Einwohner wissen, dass die Zahl nicht stimmen kann. Auf die Straße gehen sie nicht. Diese Passivität garantiert Putins dritte Amtszeit. Sie erklärt auch die hämische Reaktion der Machthaber auf die Proteste. Einerseits gingen sie Kompromisse ein: Die Parteiengesetzgebung wurde liberalisiert, die von Putin abgeschafften Direktwahlen der Gouverneure sollen wieder ein-

Magazins, Auftraggeber der Studie – und Mitglied von Einiges Russland. Seine Angaben erscheinen stark untertrieben. Im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2007 büßte Einiges Russland rund zehn Millionen Stimmen – etwa 15 Prozent – ein. Zieht man die manipulierten Wählerstimmen ab, dürfte die Zahl noch höher liegen. „Die Menschen haben gegen Einiges Russland gestimmt, weil die Korruption alle vorstellbaren Grenzen übersteigt. Unsere Stadt ist klein, hat nur 60 000 Einwohner, und jeder weiß, wie viel man zahlen muss, um bei der Polizei oder einem Gericht angestellt zu werden. Ohne Geld läuft überhaupt nichts“, beschwert sich der Bewohner einer Provinzstadt bei

Präsidentschaftswahlen: die Kandidaten

Im Blickpunkt

AP

Ursache und Wirkung

Keine Revolution, noch nicht

ilija warlamow

Iwan ist 20, kommt aus Moskau und studiert Physik. Heute sitzt er aber nicht in der Vorlesung, sondern in einer Baumkrone. Statt eines Stifts hat er ein Plakat in der Hand: „Moskau glaubt Einiges Russland nicht!“ Der Wahlbeobachter nimmt am 10. Dezember an der Protestkundgebung am BolotnajaPlatz teil, aus guten Gründen: „Ich wurde aus dem Wahllokal geworfen, weil ich die Manipulationen auf Video festhalten wollte. Ich bin hier, weil sie mich wie Vieh behandelten. Und damit ist jetzt Schluss.“ Jung, aktiv, gebildet: Eigentlich wäre Iwan der typische Vertreter einer Protestbewegung. Überall auf der Welt, nur nicht in Russland, wo die Studentenschaft meist lethargisch und apolitisch ist. Die vergangenen Proteste wurden von einer anderen Kraft getrieben – der Mittelschicht. 50 000, vielleicht 100 000 zog es zu den Protesten im Dezember. Laut dem Meinungsforschungsinstitut WZIOM war der Großteil der Demonstranten weit über 20. 37 Prozent waren sogar älter als 45. Fast 80 Prozent haben aber studiert.

geführt werden. Und Wladislaw Surkow, oft als „Graue Eminenz“ und größter Antidemokrat im Kreml bezeichnet, musste die Präsidialver waltung verlassen. Gleichzeitig aber bezeichnete Surkow die Demonstranten als „besten Teil der russischen Gesellschaft“, doch Putin wies die Ansprüche dieses „besten Teils“ auf Machtbeteiligung in einem Zeitungsartikel prompt zurück: „Worüber sollen wir uns denn einigen? Wie die Landesführung zu gestalten wäre? Und sie gleich an die ‚besten Leute‘ übergeben? Und was passiert dann?“

Präsidentschaftswahlen am 4. März: Wie ist die Kräfteverteilung? Warum gehen die Russen plötzlich auf die Straße? Und wie denken sie über die Kandidaten? Diesen Fragen geht das Sonderthema „Wahlen“ auf der Internetseite von Russland HEUTE nach. Das Spezial zum Thema russland-heute.de/wahlen

Mit ein Grund für Putins Spott sind fehlende Führungsfiguren innerhalb der Protestbewegung. Den Oppositionellen, die dem Putin-Regime die Stirn bieten wollen, misstrauen die Protestierenden. Deshalb waren es keine Politiker, die bei den Kundgebungen Gehör fanden, sondern Schriftsteller, Journalisten, Musiker und Blogger. Sie leiten die „Liga der Wähler“, die über den Ablauf der Präsidentschaftswahlen im März wachen will. Und sehen sich fern aller politischen Parteien. Strukturen, die den Protest der Mittelschicht bündeln könnten, wollen der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin und der Oligarch Michail Prochorow schaffen – was allerdings kein Indiz für eine Spaltung der Machtelite ist. Höchstwahrscheinlich agieren beide mit Billigung von Putin. Immerhin ist der mit Kudrin befreundet, und auch Prochorow zählt zu Putins Bekanntenkreis. Prinzipiell geht es darum, wer die Protestbewegung voranträgt: radikal gestimmte Internet-Aktivisten vom Schlage Alexej Nawalnys oder die „System-Nahen“ wie das Duo Kudrin-Prochorow. Wie sich die Protestbewegung entwickeln wird, hängt von den Wahlen am 4. März ab. Wird erneut gefälscht, könnte es zu noch massiveren Protesten kommen. Sollten sie ehrlich ablaufen, müssten Putins Gegenkandidaten seinen Sieg akzeptieren. Umso mehr, als die meisten Demonstranten gegen „extreme Szenarien“ sind. In seiner Rede am 24. Dezember ließ sich Alexej Nawalny zu der Äußerung hinreißen: „Ich sehe hier genug Leute, um auf Anhieb den Kreml und das Weiße Haus zu stürmen. Aber wir sind eine friedliche Kraft und tun es nicht. Noch nicht.“ Im Sturm und Drang überschätzte Nawalny offenkundig die revolutionäre Stimmung der Menschen. Die Mittelschicht will von den Machthabern gehört werden, aber nicht auf die Barrikaden gehen. Begeht die Regierung also keine groben Fehler, und stimmt die Konjunktur für Russland weiterhin, ist die entscheidende Auseinandersetzung zwischen der Machtriege und ihren Opponenten erst in fünf Jahren zu erwarten – bei den nächsten DumaWahlen. Bis dahin scheint Putins Macht unerschütterlich. Wiktor Djatlikowitsch ist Ressortleiter Politik beim Wochenmagazin Russkij Reporter.


Politik

Russland Heute www.russland-heute.de Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

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interview Ilja Ponomarjow

Opposition fordert faire Neuwahlen Der duma-Abgeordnete ist einer der Anführer der Proteste. Was eint die Demonstranten? Herr Ponomarjow, sehen wir das Ende von Putins Amtszeit? Das ist offensichtlich. Ob er es noch einmal zum Präsidenten schafft, hängt von den Aktivitäten der Protestbewegung ab, davon, wie gut wir uns abstimmen. Das Land ist schon jetzt nicht mehr das gleiche. Die Protestbewegung besteht aus allen möglichen Gruppen: Kommunisten, Liberalen, Nationalisten. Kann das gut gehen? Bisher gibt es keine ernsthaften Streitereien, obwohl es Versuche gab, Konflikte zu schüren. Aber doch hat sich die Bewegung nun in einen politischen Teil – die „Bürgerbewegung“ – und einen zivilgesellschaftlichen Teil – die „Liga der Wähler“ – aufgespalten. Die Vertreter der Liga, Schriftsteller wie Ljudmila Ulitzkaja und Boris Akunin, scheinen die Assoziation mit „Politikern“ zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Warum? Die Russen haben ein sehr schlechtes Verhältnis zu Politikern. Sie vertrauen ihnen nicht. Und dieses Misstrauen haben die Politiker durch ihr Verhalten in der Staatsduma verdient. Die Menschen wollen nicht einer Bewegung angehören, in der Politiker, und seien sie von der Opposition, führend sind. Deshalb begrüße ich es, dass sich eine Gruppe moralischer Autoritäten zusammengefunden hat. Diese Menschen haben sich bisher nicht an politischen Machtspielen beteiligt und garantieren die Neutralität der Bewegung. Nachdem das gelöst war, konnten wir die Politiker vereinen. Denn man braucht sie ja doch: Jemand muss Forderungen formulieren, Gesetze schreiben.

Sehen Sie ein Problem darin, dass in der Bürgerbewegung auch Nationalisten vertreten sind? Das ist ein Problem, aber es ist unausweichlich. Wir haben einen wichtigen Grundsatz: Alle, die an den Protesten teilnehmen, ob in Moskau oder anderen Teilen des Landes, müssen die Möglichkeit haben, Teil der Bewegung zu werden. Ich als Linker habe die Nationalisten immer als Gegner gesehen, aber in dieser Situation haben wir uns auf ein gemeinsames Ziel geeinigt: freie und ehrliche Wahlen. Deshalb ist unser Symbol auch die weiße Schleife: Sie vereint alle Farben. Die Silowiki, also Vertreter von Geheimdienst, Armee und Polizei, und ebenso Beamte, die ja von dem System profitieren, werden doch gegen dessen Auflösung kämpfen? Man kann auf zwei Arten profitieren: Wie kann man noch mehr bekommen? – und andererseits: Was tun, um nicht das zu verlieren, was man schon hat? Zurzeit neigt die putintreue Elite zu Letzterem. Man kann das an Alexej Kudrin sehen, dem früheren Finanzminister, der an der Demonstration am 24. Dezember teilgenommen hat. Die Elite nimmt Abstand von Putin und spricht von Kompromissen – um nicht alles zu verlieren. Bekommt das übrige Land denn eigentlich etwas mit von den Demonstrationen in der Hauptstadt? In Nowosibirsk sind am 10. Dezember 7000 Menschen auf die Straße gegangen. Das ist absoluter Rekord seit 1990. Aber man sollte dennoch nicht vergessen: Revolutionen werden in Russland in der Hauptstadt gemacht.

Sie sind seit 2007 in der Staatsduma. Haben Sie an Medwedjew geglaubt? Ja. Und ich wurde sehr enttäuscht. Ich habe mich als Teil von Medwedjews Mannschaft gefühlt. Natürlich hielt ich es für möglich, dass er die Macht wieder an Putin abgibt. Aber doch nicht so zynisch, so kampflos! Damit hat er nicht nur die gesamte Arbeit der vergangenen vier Jahre im Klo runtergespült, sondern auch sein Ansehen. Den Politiker Medwedjew gibt es nicht mehr. Aber nun soll er doch Premierminister werden? Das ist unmöglich. Niemand will mehr mit ihm reden – weder die Vertreter der Putin-Elite noch jene, die ihm geglaubt haben. Fürchten Sie, dass das Regime die Nerven verlieren und es zu einer gewaltsamen Auflösung der Proteste kommen könnte? Es gibt ein Zitat von Lenin: „Je schlechter, umso besser.“ Er meinte damit, dass die Niederlagen des Zarenreichs im Ersten Weltkrieg die Chancen auf eine Revolution erhöhten. Wovon kann ein Revolutionär heute träumen? Dass Putin das Internet abschaltet, Oppositionelle festnehmen lässt, die Demonstrationen auseinandertreibt? Das würde eine heftige Gegenreaktion auslösen, wir sind nicht an so einer Entwicklung interessiert. Aber wenn das Regime diesen Weg wählt, besiegelt es damit sein eigenes Schicksal. Innerhalb einer Woche wird es nicht mehr existieren.

kommentar

Putin braucht den Kandidaten Prochorow Ingo Mannteufel

M

journalist

ichail Prochorow ist nicht nur einer der reichsten Unternehmer Russlands, sondern auch Kandidat bei der russischen Präsidentschaftswahl am 4. März. Prochorow sagt, Russland brauche keine Revolution, sondern eine evolutionäre Entwicklung in Richtung Demokratie, Marktwirtschaft und Europa. Und dass mit den Dezember-Protesten die Ära der „gelenkten Demokratie“ zu Ende

gegangen sei. Auf den ersten Blick positioniert sich hier ein ernst zu nehmender Gegenspieler zu Wladimir Putin mit liberalen und europäischen Überzeugungen. Doch welche Rolle spielt Prochorow bei der Präsidentschaftswahl tatsächlich? Darüber wird in Russland heftig diskutiert. Es gibt keinen seriösen Beweis dafür, dass er im Auftrag des Kremls handelt. Doch es ist zweifellos im Sinne Putins, wenn Prochorow als Kandidat antritt. Denn Putin steht nach den Protesten gegen die offensichtlichen Wahlfälschungen bei der Duma-Wahl vor einem Dilemma: Die

Legitimität der Präsidentschaftswahl steht in Frage, sollte es erneut zu Unregelmäßigkeiten kommen. Daher benötigt der Kreml einen ehrenvollen neuen Kandidaten, der aber keine reellen Siegeschancen gegen Putin hat. Prochorows Ambitionen passen hervorragend ins Konzept: Er ist einer jener dynamischen Unternehmer, die in der postsowjetischen Ära aus dem Nichts zu Multimilliardären geworden sind. Viele gesellschaftliche Aufsteiger der letzten Jahre können sich mit diesem Selfmademan identifizieren. Er verkörpert die Ideale des

kommersant

biografie Geburtsort: Moskau AltEr: 36 Beruf: Politiker, IT-Experte

Mit 16 Jahren gründete Ilja Ponomarjow seine erste Firma, die mit Computern handelte und Programme entwickelte. Im IT-Bereich arbeitete er unter anderem bei dem später vom Staat zerschlagenen Yukos-Konzern. Seit 2010 ist Ponomarjow in der

Hat das Regime auf Ihre Forderungen reagiert? Es gibt keine großen Zugeständnisse. Klar – nach der zweiten Demonstration sagte die Regierung: „Bitte schön, wir führen die Gouverneurswahlen wieder ein, wir geben allen Parteien die Möglichkeit, sich zu registrieren.“ Aber unsere Hauptforderung sind Neuwahlen der Staatsduma. Was sollte Putin Ihrer Meinung nach als Nächstes tun? Er sollte sagen: „Ich verstehe, dass es in der gegenwärtigen Situation keine objektiven Wahlen geben kann. Und wenn alle anderen bereit sind, ihre Kandidaturen zu-

jungen russischen Mittelstands, dessen Vertreter sich so zahlreich an den Protesten in Moskau beteiligt haben. Mit seinen rechtsliberalen Positionen könnte er zudem die liberal gesinnte Mittelschicht bei der Wahl spalten. Als Neueinsteiger in die russische Politik gibt der smarte Prochorow der Präsidentschaftswahl den Schwung, den der Kreml nach den Protesten im Dezember braucht. Er nimmt die Grundpositionen eines Teils der Protestler auf, die eine politische und wirtschaftliche Stagnation in Russland befürchten. Zugleich ist dem Kreml klar, dass Prochorow in der breiten Masse nicht mehrheitsfähig ist. Einige gezielte Hinweise auf seinen in den letzten Jahren erwirtschafteten Reichtum könn-

Stiftung Skolkowo (das russische Silicon Valley entsteht derzeit in der Nähe von Moskau) für die internationale Zusammenarbeit und Kommerzialisierung von Technologien zuständig. Politisch bezeichnet sich Ponomarjow als links: 2005 gründete er die Linke Front und war bis 2007 Mitglied der Kommunistischen Partei. Im selben Jahr wurde er für Gerechtes Russland in die Duma gewählt. Ponomarjow ist einer der Initiatoren der seit Dezember andauernden Proteste wegen Wahlbetrugs.

rückzuziehen, ziehe ich meine auch zurück.“ Dann sollten die Wahlen um ein halbes Jahr verschoben werden, und in der Zwischenzeit könnte man die Gesetze so ändern, dass es faire Wahlen geben kann. Ist das wahrscheinlich? Um nicht alles zu verlieren, kann man einen Teil opfern. Putin ist ja noch immer ein äußerst populärer Politiker – und ich schließe nicht aus, dass er in fairen Wahlen erneut zum Präsidenten gewählt wird. Das Gespräch führte Moritz Gathmann

ten ihn unter den vielen am Rande der Armut lebenden Russen – vor allem auf dem Land – unglaubwürdig machen. Diesen Wählern liegen Putins Ansichten über die Zukunft des Landes wesentlich näher. In seinem kürzlich veröffentlichten Wahlprogramm setzt er auf das Konzept eines paternalistischen, starken Staates, der seinen Bürgern im Innern ein „Leben in Würde“ und nach außen Großmachtstatus verspricht. Selbst unter freien, fairen Bedingungen dürfte sich die Mehrheit der Russen in einer Stichwahl zwischen Putin und Prochorow eindeutig für Putin entscheiden. Ingo Mannteufel ist Leiter der Russischen Redaktion der Deutschen Welle.


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Wirtschaft

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Konsummärkte Bürokratie und Profitgier verzögern die Entwicklung einer Weinkultur für die Russen

Neuer Wein in teuren Schläuchen In Russland einen guten und günstigen Wein zu finden, gleicht der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Auch ist der Markt streng reguliert. Die Nachfrage steigt trotzdem.

ZAHLEN

700

Millionen Liter Wein tranken die Russen in den ersten neun Monaten 2011 – sowie 8,2 Milliarden Liter Bier und 1,1 Milliarden Liter Wodka.

JUSTIN VARILEK

THE MOSCOW TIMES

26

Prozent der russischen Bevölkerung trinken laut einer Umfrage von RosBusinessConsulting gelegentlich Wein.

58

Prozent der importierten Weine stammten 2010 aus Westeuropa, 18 Prozent aus ehemaligen Sowjetrepubliken.

MICHAIL MORDASOV_FOCUSPICTURES (2)

Etwa 190 Millionen Liter Wein importierte Russland in den ersten neun Monaten des Jahres 2011 und lag damit schon höher als im gesamten Jahr 2010. Seit der Millenniumswende ist der Absatz von Weinen aus Europa, Chile und den USA geradezu explodiert: Allein aus Deutschland wurden 2011 über 10 000 Hektoliter Qualitätswein im Wert von 200 Millionen Euro eingeführt – vor allem aus Rheinhessen. Spanien hat seinen Anteil seit 2001 von einem auf 15,2 Prozent gesteigert, Frankreich hingegen hatte bereits vor zehn Jahren einen Marktanteil von 5,6 Prozent und ist mit 21,9 Prozent der gegenwärtige Marktführer. Diese Steigerungen gingen zu Lasten der russischen Weinproduzenten – und der traditionellen Weinimporteure: Seit 2006 gilt ein Importverbot für georgische Weine, die Einfuhr von Wein aus Moldawien ist stark schwankend. Mittlerweile kommen nur 18 Prozent aus den ehemaligen Sowjetrepubliken gegenüber 85 Prozent noch zur Jahrtausendwende.

ken. „Auf dem russischen Markt fi nden Sie relativ billige amerikanische Weine“, erklärt Sylvia Nestorov, die aus dem kalifornischen Weinanbaugebiet nach Moskau gezogen ist. Daneben gebe es überteuerte Weine, die ihr Qualitätssiegel nicht verdienten, und einige wenige Spitzenweine. „Dazwischen existiert praktisch nichts“, beklagt sie. Seit August 2011 führt sie Wein aus dem kalifornischen Sonoma Valley ein. Jedoch sei der trotz steigender

Billiger Wein – teuer verkauft

Unabhängig vom Ursprungsland, schätzen Kenner der Branche, ist nach wie vor der Preis die größte Barriere für Russen, Wein zu trin-

Nachfrage geringe Weinkonsum gegenüber anderen Alkoholika wie Bier und Wodka nicht gerade ermutigend. Laut einer aktuellen Studie trinken lediglich 26 Prozent der russischen Konsumenten Wein. Das mag an den vielerorts niedrigen und regional schwankenden Löhnen liegen: Im Verhältnis zum Einkommen ist Wein bis zu fünfmal teurer als in Europa. Ein ausländischer Wein ist unter sieben Euro nicht zu haben. Die Halbli-

Der Import von Weinen ist eine Frage der Außenpolitik

KOMMERSANT

Verbraucherschützer Gennadij Onischtschenko stößt ungern an.

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terflasche Wodka dagegen schon ab 2,50 Euro. Die Importeure zielen auf hohe Gewinne: „Eine Flasche mittelmäßigen Weins kostet bei mir sechseinhalb bis sieben Euro – und wird dann für ein Zigfaches im Laden angeboten“, sagt Kamyar Vossoughi vom italienischen Weingut Scriani. „Durchschnittlich schlagen Händler und Restaurants das Vierfache auf den Einkaufspreis“, bestätigt auch Sylvia Nestorov. Deshalb gingen in den ersten neun Monaten des Jahres 2011 nur 700 Millionen Liter Wein über den Ladentisch, aber mehr als acht Milliarden Liter Bier und eine Milliarde Liter Wodka. Gleichzeitig sinkt die Zahl der einheimischen Winzer. Kleinere Produzenten verschwinden, übrig bleiben die Großunternehmen. Der Staat fördere diese Entwicklung, sagen Kritiker: Im Januar 2011 ließ die Föderale Regulierungsbehörde für Alkoholika die einheimischen Produzenten Unbedenklichkeitskontrollen für ihre Produktionsstandards einführen. Daneben mussten viele Großhändler ihre Lizenzen erneuern. Mit gravierenden Folgen: Die Zahl der einheimischen Erzeuger hochprozentiger Getränke und Weine fiel in den letzten anderthalb Jahren um 40 Prozent, die der Großhändler um die Hälfte. Die Behörden haben ihre eigene Sicht auf die Entwicklung der Dinge. „Auf der ganzen Welt

besteht der Alkoholmarkt aus Monopolen“, erklärt Wiktor Swagelskij, Vorsitzender des Ausschusses in der Staatsduma, der die Alkoholproduktion regelt. Kleine und mittlere Unternehmen seien nicht dazu fähig, Alkohol in hoher Qualität herzustellen.

Regulieren oder Deregulieren?

Weinexperten stimmen dem nicht zu. „Es ist enorm wichtig, junge Winzer und Weinimporteure mit einem kleinen Volumen zu fördern“, sagt der italienische Winzer Giovanni Laconis. „In Großbritannien gibt es immer mehr 30-jährige Jungunternehmer mit neuen Ideen. Hier dagegen haben die großen Importfirmen das Monopol, und wenn Sie nicht eine berühmte Marke vertreiben, gestaltet es sich als schwierig, ein neues Produkt einzuführen“, so Laconis Erfahrungen. Neu auf den Markt drängende Weinhändler werden auch durch langwierige Zertifizierungsverfahren abgeschreckt. Sylvia Nestorov erinnert sich, dass sie erst nach zweieinhalb Jahren alle notwendigen Genehmigungen beisammen hatte. Und noch ein Gesetz könnte der Entwicklung einer russischen Weinkultur im Wege stehen: Seit Juli 2011 ist der Verkauf von Getränken mit einem Alkoholgehalt von über 0,5 Prozent von 23 Uhr bis acht Uhr morgens verboten. Doch trotz aller Hindernisse stehen ausländische Erzeuger Schlange, um in den Markt einzusteigen. „Die Russen sind bereit. Sie wollen eine Weinkultur entwickeln, und ich will dabei helfen, ihnen diese Welt zu eröffnen“, gibt sich Mirko Lucio Furia von Salva Terra optimistisch. Dieser Text erschien zuerst in The Moscow Times

Die Entwicklung der Weinimporte ehemaliger Sowjetrepubliken in die Russische Föderation hat maßgeblich mit der russischen Außenpolitik zu tun. 2006 verbot Russland auf Empfehlung des obersten Verbraucherschützers Gennadij Onischtschenko die Einfuhr von Wein aus Georgien und Moldawien. Zu diesem Zeitpunkt hielten die beiden Länder den herausragenden Marktanteil von 60 Prozent. Während die Einfuhr des georgischen Weines damals komplett eingestellt wurde, schwankt der Import aus Moldawien seither beträchtlich – je nach moldawisch-russischer Großwetterlage. Im vergangenen Oktober empfahl Onischtschenko, das Einfuhrverbot für georgische Weine und Mineralwasser aufzuheben. Georgien hatte damit gedroht, Russlands Beitritt zur Welt-

handelsorganisation zu blockieren. Ende Oktober, nur wenige Tage, nachdem Georgien und Russland sich über den WTO-Beitritt der Russischen Föderation geeinigt hatten, empfing Onischtschenko Georgij Pilijewij, Eigentümer des georgischen Weinbrand-Herstellers Saradzhishvili, in Moskau. Im Anschluss an das Treffen teilte Onischtschenko mit, man habe sich über sämtliche offenen Fragen gütlich geeinigt, der Rest sei reine Formsache. Einen Monat später drohte Onischtschenko, den Weinimport aus der von Moldawien abtrünnigen Republik Transnistrien vollständig einzustellen. Genau einen Tag, nachdem der Kreml deutlich gemacht hatte, dass deren Präsident Igor Smirnow sich lieber nicht zur Wiederwahl im Dezember stellen sollte.

SEMINAR EXPORTGESCHÄFT MIT RUSSLAND

KONFERENZ PRAKTISCHE ASPEKTE DES WTOBEITRITTS RUSSLANDS

7. FEBRUAR, IHK HANNOVER

9. FEBRUAR, MOSKAU, HOTEL SAVOY

14. BIS 15. FEBRUAR, FRANKFURT AM MAIN, VILLA KENNEDY

Wer nach Russland exportiert, weiß um die Problematik von Zertifizierung und Zulassung. Auf dem Seminar informiert ein Experte der SGC Germany über die korrekte Vorgehensweise, aktuelle Trends und die wichtigsten Änderungen in der Gesetzgebung.

Am 16. Dezember ist Russland der WTO beigetreten. Die Erwartungen der Wirtschaft sind groß. Auf der Konferenz werden hohe russische Beamte und Wirtschaftsexperten versuchen, praktische Aspekte der bevorstehenden Änderungen zu beleuchten.

Olympia 2014, Fußball-WM 2018 – Russland hat viel vor. Welche Rolle deutsche Unternehmen bei der Modernisierung des Landes spielen können und was sie beim Markteintritt beachten sollten, erfahren die Teilnehmer dieser praxisnahen Konferenz.

Unter der Leitung des baden-württembergischen Ministers für Finanzen und Wirtschaft Dr. Nils Schmid führt diese Reise durch traditionelle Standorte sowie neue Automobilcluster wie Kaluga. Anmeldefrist: 10. Februar.

› hannover.ihk.de

› ccifr.ru/fr/

› blogs.pwc.de/russland-news

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KONFERENZ PRAXISFORUM RUSSLAND

IM BLICKPUNKT

Können Russen Sekt? Ja – angelehnt an den Champagner heißt er „Schampanskoje“ und kommt aus Abrau-Durso am Schwarzen Meer. 1870 von Alexander II. gegründet, wird das Weingut nun auf westliche Standards umgestellt. Lesen Sie den Beitrag auf www.russland-heute.de

DELEGATIONSREISE AUTOMOBILWIRTSCHAFT IN RUSSLAND 15. BIS 21. APRIL, MOSKAU, KALUGA, SANKT PETERSBURG, NISCHNIJ NOWGOROD


Regionen

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Olympia 2014 empfängt Sotschi die Winterspiele. Die Stadt ächzt unter den Bauarbeiten

Im Wirrwarr der Baustellen: heiraten mit Helm und Limo Tausende Arbeiter aus ganz Russland kommen auf die Olympia-Baustellen nach Sotschi. Neben der Arbeit findet manch einer am Schwarzen Meer auch sein privates Glück. diana laarz

Niemals würde Alija Bulawskaja die Baustelle des Eishockeystadions in der Olympiastadt Sotschi ohne Helm betreten. Das widerspricht allem, was die junge Ingenieurin und Spezialistin für Arbeitssicherheit an der Universität gelernt hat. Nur eine Ausnahme erlaubte sie sich. Es war der Tag, an dem Alija Bulawskaja ein weißes Kleid trug und in ihren dunklen Locken Perlen glitzerten. Es war der Tag ihrer Hochzeit. Neben Alija stand Sergej, Bauaufseher, seit wenigen Stunden ihr Ehemann – und hielt im Abstand von einigen Zentimetern einen Helm über ihren Kopf.

„Olympia unter Palmen“

In zwei Jahren beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi an der russischen Schwarzmeerküste. Für „Olympia unter Palmen“ muss von Abwasserleitungen über Straßen bis hin zu den Sprungschanzen so gut wie alles neu gebaut werden. Dafür sind Tausende Bauarbeiter aus ganz Russland in den Süden gezogen. Allein auf der Baustelle des Eishockeystadions, der zweitgrößten Arena in Sotschi, arbeiteten zu Hochzeiten 800 Menschen, darunter Alija und Sergej. Sie sind nicht das einzige Paar, das sich auf der Olympia-Baustelle gefunden hat. Doch sie waren die ersten, die sich trauten. Am Tag ihrer Hochzeit im Oktober 2011 kehrten sie zurück an den Ort, an dem sie sich kennengelernt hatten. Vom Standesamt ging es direkt ins Stadion. Angestoßen wurde mit Limonade, statt eines roten Teppichs lag Kunststoff vor ihren Füßen. Baustellenromantik. Als Alija Bulawskaja vor zweieinhalb Jahren aus dem sibirischfrostigen Kogalym in den mondänen Kurort Sotschi kam, war da statt eines Stadions nur eine Baugrube. Inzwischen liegt die Arena wie ein Pilzhut direkt am Meer, bald sind die letzten Lücken im Dach geschlossen.

michail mordasov (2)

für russland heute

Jawort auf dem Bau: Das Eheglück für Alija und Sergej begann auf der Baustelle direkt am Meer.

So rasant entwickelt sich die Arena und mit ihr Sotschi, dass sich manch ein Einwohner vorkommen muss, als habe jemand einen Zeitbeschleuniger eingeschaltet. Altgediente Taxifahrer verlieren im Wirrwarr aus neuen Schotterwegen und durcheinandergewürfelten Hausnummern die Orientierung. Lastwagen bilden lange Schlangen. Gefahren wird kaum: Auf der über 100 Kilometer langen Straße, die die Stadtteile Sotschis entlang der Küste verbindet, herrscht dröhnender Dauerstau. Alija, frisch

5,4 Prozent Wachstum – das Gebiet Krasnodar liegt ganz vorne in Russland. Aber leider auch in der Korruption. von der Uni, war zunächst eingeschüchtert. Dann fiel ihr ein Spruch ihres Vaters ein: „Die Augen haben Angst, die Hände arbeiten.“ Sie sagt: „Ich wollte Teil von Olympia sein.“ Russland knüpft große Erwartungen an die Winterspiele. Mindestens die Region Krasnodar, zu der Sotschi gehört, besser noch ganz Russland, soll einen Modernisierungsschub erhalten. Anfang des Jahres schaute Präsident Dmitrij Medwedjew vorbei – wieder einmal – und lobte die moderne In-

frastruktur, welche die Lebensqualität in der ganzen Region nachhaltig verbessern werde. Er widersprach jenen Kritikern, die prophezeien, die neuen Hotels stünden nach Olympia leer, die Sportarenen blieben ungenutzt. Von den Kosten sprach er nicht.

Die Kosten explodieren

Die steigen so schnell, dass selbst die Wirtschaftszeitung Wedomosti Mühe hat, hinterherzukommen. Allein der Staatskonzern Gazprom habe für seine beiden Hauptinvestitionen anfangs eine Milliarde Euro eingeplant, inzwischen koste das Ga n ze 2,5 Milliarden, berichtet das Blatt. Die Ausgaben für die Sicherheit der Spiele betragen 1,5 Milliarden Euro, doppelt so viel wie 2010 in Vancouver. Hinzu kommt: Laut Wedomosti ist Krasnodar die zweitkorrupteste Region Russlands. Und im vergangenen Jahr kamen, abgeschreckt von der Riesenbaustelle, erst einmal rund 35 Prozent weniger Touristen in den Großraum Sotschi. Aber das Bruttosozialprodukt steigt: im vergangenen Jahr um 5,4 Prozent, in der Nachbarregion Rostow sogar um 6,3 Prozent. Landesweit belegen die Regionen Spitzenpositionen. Für Alija und Sergej Bulawskij war die Baustelle das Beste, was ihnen passieren konnte. Die 27-jährige Alija ist zierlich, reicht

vielen Kollegen kaum bis zur Schulter. Bei einigen Mitarbeitern musste sie sich deshalb erst einmal Respekt verschaffen. Nicht jedoch bei Sergej. Der hörte von Anfang an auf ihre Anweisungen, trug seinen Helm von früh bis spät und schickte seinen Bautrupp in die Raucherzonen. Eines Tages schrieb Sergej ihr eine kurze Nachricht: „Ich fände es toll, wenn wir uns auch mal nach der Arbeit sehen könnten.“ Sie schrieb zurück: „Dawai!“ Das Arbeitspensum ist seitdem nicht weniger geworden. Sieben Tage die Woche, bis in die späten Abendstunden, ist Sergej unterwegs. Das Eishockeystadion soll bis Mai fertig sein. Seine Ehefrau steckt gern zurück: „Wir bauen ja eine ganz neue Stadt.“ Alija und Sergej werden Sotschi bald den Rücken kehren. Wenn im Februar 2014 die ersten Skiläufer die kaukasischen Berghänge hinabsausen und in der neuen Eishockeyarena um Medaillen gekämpft wird, dann sind die beiden längst schon auf der nächsten Baustelle. Ihr Arbeitgeber betreut Großprojekte in ganz Russland. „Wohin sie uns schicken, dahin gehen wir und bauen“, sagt Alija Bulawskaja. Diana Laarz arbeitet als freie Journalistin in Russland und ist Mitglied der Agentur Zeitenspiegel Reportagen.

Winterspiele 2014 – ein teurer Spaß

Sotschi streckt sich 145 Kilometer an der Schwarzmeerküste entlang.

Am 7. Februar 2014 werden die Olympischen Winterspiele in Sotschi eröffnet. Fest steht: Die Spiele in Russland werden teurer als die vorausgegangenen in Vancouver, die mit vier Milliarden Euro zu Buche schlugen. Ende 2011 bezifferte Russlands Vizepremierminister Dmitrij Kosak die Kosten auf 4,4 Milliarden Euro. Medien sprechen von einer Summe, die achtmal höher ist. Dabei werden nur geschätzte 20 Prozent der Ausgaben für den Bau von Sportstätten in Sotschi und im Bergort Krasnaja Poljana aufgewen-

det. Der größte Teil des Geldes fließt in die Infrastruktur – neue Straßen, Brücken, Energiekraftwerke sowie ein neues Wassersystem. Die Regierung geht davon aus, dass weniger als die Hälfte der Kosten aus dem Staatshaushalt finanziert werden muss. Den Großteil sollen Privatinvestoren tragen. Im Herbst 2010 gab das Organisationskomitee in Sotschi bekannt, es habe nun knapp eine Milliarde Euro von Sponsoren gesammelt. Viele davon sind allerdings staatlich geführte oder kontrollierte Unternehmen.

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aktuell Olympische Bestrafung Es läuft nicht alles glatt in Sotschi am Schwarzen Meer: Nach einer Sitzung mit Baustellenleitern und Vertretern des Rechnungshofs im Januar wies Präsident Dmitrij Medwedjew an, die Verantwortlichen für nicht eingehaltene Fristen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Rechnungshof hatte berichtet, es bestehe die Gefahr, dass 76 der 400 olympischen Objekte nicht fristgerecht fertig würden. Darunter sei neben der Sprungschanze auch die große Sportarena, in der am 7. Februar 2014 die feierliche Eröffnung der Spiele stattfinden soll. Weil der Eiskanal noch nicht „bezugsfertig“ war, mussten die für Januar geplanten Testläufe der Bobfahrer nun auf März verschoben werden. Schuld an den Verzögerungen sind nach den Worten von Dmitrij Kosak, dem für die Spiele verantwortlichen Vizepremier, Finanzierungsprobleme der privaten Investoren sowie Nichteinhaltung der Fristen durch die Planer.

Olympische Teambildung

pressebild

Das russische Olympische Komitee bessert unter dem Titel „Team Russia“ das Image des eigenen Olympiateams auf. Das Logo ist – natürlich – der Bär. Der solle die Nation rund um den Sport und einen gesunden Lebenswandel vereinen, schrieb die Zeitung Wedomosti. Der Name sei offenbar analog zum amerikanischen „Team USA“ gewählt worden, das dem amerikanischen Olympischen Komitee 2010 durch den Rechteverkauf an Sponsoren und Souvenirproduzenten neun Milliarden US-Dollar einbrachte.

Olympischer Ehrgeiz Putin hat die russische Geschäftswelt aufgerufen, das hier verdiente Geld nicht in ausländische, sondern doch verstärkt in einheimische Fußballclubs zu investieren. Drei russische Milliardäre sind im internationalen Fußballgeschäft tätig: Roman Abramowitsch besitzt den FC Chelsea, Dmitrij Rybolowlew den AS Monaco und Alischer Usmanow den FC Arsenal. „Sie haben das Recht, dort zu investieren, wo sie wollen, es wäre aber natürlich schöner, wenn sie dem eigenen Sport auf die Beine hälfen“, sagte Putin im Januar bei einem Treffen mit Fußballfans. Warum der Staatskonzern Gazprom als Sponsor jährlich zwölf Millionen Euro an den FC Schalke 04 zahlt, erklärte er nicht.


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Das Thema

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Mediensystem russlands russische Medien sind nicht frei, weil Beamte in ihnen nur ein Sprachrohr sehen – und weil das Geld fehlt

Die Fernsehkanäle unter Kontrolle der Gouverneure, die Zeitungen gezähmt durch finanzielle Abhängigkeiten. Aber gerade im fernen Sibirien sind regionale Medien unabhängiger. André Ballin

für russland heute

Es gibt Ärger im Ural: Eine Nachrichtenagentur aus der Region Swerdlowsk hat Gerüchte über einen möglichen Rücktritt von Gouverneur Alexander Mischarin in die Welt gesetzt. Die Beamten sind sauer und drohen harte Strafen an. „Wir ziehen ernsthaft in Betracht, die Medien wegen bewusster Falschaussage zur Verantwortung zu ziehen. Wir haben nichts gegen die Pressefreiheit, meinen aber, dass sich solche unverantwortlichen Aussagen negativ auf die Stabilität in der Region auswirken“, sagt Mischarins Verwaltungschef.

Klagen und zügeln

Die dünnhäutige Reaktion hat einen Grund: Der mögliche Rücktritt Mischarins wurde mit seinem schlechten Gesundheitszustand nach einem schweren Autounfall im Dezember begründet. Jenen Unfall, bei dem ein Mann ums Leben kam, möchte seine Verwaltung so schnell wie möglich vergessen machen – schließlich wird im Gebiet Swerdlowsk bis heute darüber diskutiert, wer daran schuld war. Ob es in dem Fall zur Verleumdungsklage kommt, ist offen. Fakt ist: Klagen gegen Journalisten und Medien sind häufig ein Druckmittel in Russland, gerade in der Pro-

vinz. 2011 gab es laut dem „Zentrum für Journalismus in Extremsituationen“ (CJES) 171 derartige Fälle. „Neben Verleumdungsklagen gibt es auch immer mehr Fälle, bei denen den Journalisten Erpressung vorgeworfen wird“, erklärt Irada Gussejnowa, Analystin bei CJES. Swetlana Krawtschenko kennt solchen Ärger. Sie berichtet seit Jahren über Korruption in ihrer Heimatstadt Sotschi. Kollegen loben sie für ihren Biss und ihre Faktentreue. Doch trotz Fakten wurde sie wegen eines Artikels über korrupte Grundstücksdeals zu einer Geldstrafe von 50 000 Rubel – rund 1250 Euro – verurteilt. Ein anderes Mal geriet sie nach einem Interview mit einem inhaftierten Richter in Bedräng-

„Ich musste dauernd zum Ermittler, während der Verhöre wurde ich erniedrigt, und auf mich wurde Druck ausgeübt.“ nis: „Ich musste dauernd zum Ermittler, während der Verhöre wurde ich erniedrigt, und auf mich wurde Druck ausgeübt“, berichtet die Journalistin. Nicht immer heißt eine Klage, dass sture Beamte und mächtige Oligarchen die Presse mundtot machen wollen. Teils sind die Medien an den Konflikten schuld, weil sie entweder aus Inkompetenz oder als bezahlte Handlanger falsche Informationen verbreiten. In den 90er-Jahren waren solche Schmutzkampagnen in Russland

Medienkonsum in Russland: Aufteilung

gang und gäbe: Oligarchen beherrschten die Medien und machten mit ihnen Politik. Bezeichnend waren die Auseinandersetzungen zwischen den Magnaten Boris Beresowski mit Hilfe des eigentlich staatlichen Senders ORT und Wladimir Gussinski mit seinem Sender NTW. Beide Sender vertraten strikt die Interessen ihrer Eigentümer und schwärzten ihre Gegner auch mit Lügen an.

Der Traum vom eigenen Sender

Nach dem Amtsantritt Wladimir Putins wurden beide Oligarchen kalt gestellt. Unter dem Druck von Steuerhinterziehungs- und Betrugsvorwürfen verloren sie ihre Sender, die seitdem die Informationspolitik des Kremls vertreten. Das Beispiel aus Moskau hat in den Regionen Schule gemacht. Viele Gouverneure streben nach einem eigenen Haussender. In Russlands westlichster Region Kaliningrad sicherte sich der damalige Gouverneur Georgi Boos 2006 die Kontrolle über den bis dato privaten Sender Kaskad. Die Sendeleitung wurde wegen angeblicher Aneignung von Reklamegeldern gefeuert. Tief im Osten, in der russischen Pazifikregion Primorje, besitzt die Regionalverwaltung um Gouverneur Sergej Darkin die Aktienmehrheit am Sender OTW. Und im Süden gab Krasnodars Gouverneur Alexander Tkatschow sogar Steuergelder zum Kauf des Senders NTK aus, um ihn zu seinem Sprachrohr zu machen. Die Liste ließe sich erweitern, auch auf Ebene der Städte und Kreise gibt es unzäh-

zahlen

234

Minuten am Tag verbringt der durchschnittliche russische Zuschauer vor dem Fernseher. Der durchschnittliche Deutsche sieht mit 232 Minuten am Tag gerade noch zwei Minuten weniger fern.

27

Prozent aller neuen Internetanschlüsse in Russland wurden 2010 in ländlichen Regionen beantragt. Landesweit haben 42 Prozent der Einwohner Internetzugang. In Ballungsräumen sind es rund 69 Prozent.

© grigori sisoev_ria novosti

die kleine freiheit zwischen Politik und wirtschaft

lige aus dem Etat bezahlte Sender und Zeitungen.

Ohne Geld keine Freiheit

Das größte Problem regionaler Medien ist das Geld. Ohne finanzielle Unabhängigkeit gibt es auch keine redaktionelle Freiheit. Gerade nach der Krise 2008 sind Anzeigen rar geworden, viele Werbende fordern, dass ihre Annonce wie ein Beitrag der Redaktion aussehen soll. Wer nicht mitmacht, verliert Kunden. In dieser Lage können die Behörden den Wettbewerb leicht aushebeln, z. B. durch sogenannte „Medienregister“. Wer im Register eingetragen ist, kann mit Steuervorteilen rechnen bis hin zu Druckkostenzuschüssen und anderen Subventionen. Im Gegenzug muss sich ein Medium aber oft zur PR für die Verwaltung bereit erklären. Der unlautere Wettbewerb hat Dutzende Zeitungen ruiniert. An-

dere wurden von lokalen Oligarchen aufgekauft, für die Medien kein Business, sondern Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen sind. Am schlechtesten sieht es für die Presse laut Irada Gussejnowa in Belgorod und der Republik Baschkirien aus. Baschkirien gilt seit Jahren unter Journalisten als „schwarzes Loch“ der Pressefreiheit. Der bis 2010 regierende Präsident Murtasa Rachimow hat die freie Presse dort de facto ausgeschaltet. Es gibt aber auch positive Beispiele, vor allem in Sibirien. So spart in Tomsk der private Kanal TV2 seit 1991 nicht mit Kritik an der politischen Führung. „Mitgefühl mit den Menschen und Ironie gegenüber der Obrigkeit“, heißt das Motto der Journalisten in der Nachrichtensendung „Tschas Pik“ – zu Neudeutsch „Rush Hour“. Das kommt an beim Zuschauer, und auch die Werbequote stimmt.

Fernsehen: Glaubwürdigkeit, Vertrauen


Das Thema

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Im eigenen Namen – ein Erfahrungsbericht Wie gehen Journalisten mit dem „Druck von oben“ um, wo beginnt Selbstzensur? Ein Lokaljournalist erzählt, wie es mit der Pressefreiheit in der Region Moskau bestellt ist.

enthielt keine Kritik an der „richtigen“ Partei, die Obrigkeit erzürnte die Selbstständigkeit: Ein Chefredakteur muss wissen, wer das Exklusivrecht auf Veröffentlichungen in seiner Zeitung hat. Der Redakteur einer anderen Zei-

ALEXEJ SOKOLSKI

FÜR RUSSLAND HEUTE

Freies Live-TV im Internet 2010 ging der unabhängige Moskauer Fernsehkanal Doschd – zu Deutsch „Regen“ – mit gesellschaftskritischen und kulturellen Beiträgen im Internet auf Sendung (tvrain.ru). Die Zielgruppe bilden Jugendliche und die neue Mittelschicht. Das Schmankerl: Während das Staatsfernsehen kaum Livesendungen bietet, werden bei Doschd zwei Drittel aller Programme live und unvermummt produziert, sodass der Zuschauer das Treiben im Studio hautnah miterlebt. Was hin und wieder den professionellen Auftritten einen – sympathischen – Abbruch tut. Seit 2011 sendet Doschd auch über Kabel und Satellit.

„Als überzeugter Anhänger des Markts glaube ich, dass Medien eine autarke Branche sind.“ in Krisenzeiten können sie genug Geld verdienen, um sich zu entwickeln – unabhängig vom Staat und der Unterstützung durch Finanz- und Industriegruppen“, erklärt Generaldirektor Jurij Purgin das Erfolgsgeheimnis. Dass man sich auf dem Erfolg nicht ausruhen kann, zeigt das Beispiel des 4. Kanals in Jekaterinburg. Der seit 20 Jahren privat betriebene Sender wurde Anfang 2012 von einem der Regionalverwaltung gehörenden Baukonzern übernommen. Seit der Krise 2008 hatten die Betreiber nach einem Käufer für den Sender gesucht. Der Wechsel werde sich nicht auf die Sendepolitik auswirken, sagte ein Beamter. Inzwischen übten Zuschauer aber schon Kritik an der neuen „lahmen Linie“.

tung erhielt einen gehörigen Rüffel, weil er einen von der Schirinowskij-Partei finanzierten Artikel mit einem Farbfoto des Parteiführers bestückte. Die Leitung war der Ansicht, der Redakteur hätte das Foto verhunzen oder doch zumindest ein SchwarzWeiß-Bild verwenden sollen. Ein Trauerspiel. Viele meiner Kollegen kennen dieses Gefühl. Ich will niemandem einen Vorwurf machen. Fast jeder hat Angst, seine Arbeit zu verlieren. Die einen haben kleine Kinder, die anderen kranke Eltern, wieder andere Schulden. Längst nicht alle sind zu eiskalten Zynikern geworden, die jeden Schreibauf-

Russland kommuniziert anders Boris Chlebnikow

K

Alexej Sokolski ist Journalist in der Stadt Klin bei Moskau.

Ein Bild, das Bände spricht: Die Hofjournalisten der Machthaber

Gutes Geschäft – dank Frauen Ende der 1980er-Jahre entdeckten deutsche Verlage den russischen Markt. Ihr Kerngeschäft sind seither Magazine. Vor allem jene, die von und für Frauen gemacht werden. ILJA LOKTJUSCHIN

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1987 gab es für die russischen Leserinnen eine kleine Revolution. Zu ihren drei gewohnten Zeitschriften, nämlich Krestjanka (Die Bäuerin), Rabotniza (Die Arbeiterin) und Sowetskaja Schenschina (Die Sowjetische Frau), war in jenem Jahr eine vierte hinzugekommen – das deutsche Burda Moden, und zwar auf Russisch. Und in dem bunt aufgemachten Magazin standen nicht etwa ertragsreiche Ernten oder Fünfjahrespläne im Vordergrund, sondern sie selbst, die Frauen. Die peppige Zeitschrift gab ihnen das, wovon sie immer geträumt hatten: bunte Einblicke auf die westliche Mode und Schnittmuster zum Nachmachen, was die be-

scheidene, vom Warendefizit geplagte russische Hausfrau unverzüglich tat. Heute ist Hubert Burda Media mit 54 Magazinen einer der Marktführer in Russland und bietet längst nicht nur Frauentitel wie Lisa oder Joy, sondern auch klassische Herrenblätter wie das Computermagazin Chip und den Playboy. 2003 fasste Axel Springer Fuß auf dem russischen Markt. In Deutschland durch das Zeitungsgeschäft groß geworden, hat der Verlag in Russland ebenfalls nur Magazine im Portfolio – wie Forbes, ComputerBild und GEO. Die WAZ Gruppe kaufte 2007 in Tula 75 Prozent der Sloboda – als erstes deutsches Medienunternehmen eine Zeitung. Was mit den Damen einst anfing, geht mit ihnen auch weiter: Herausgegeben wird Sloboda von einer Herausgeberin, Chefredakteur ist eine Chefredakteurin, das gilt auch für das anspruchsvolle Forbes und viele andere russische Medien, bei denen laut „Global

Report on the Status of Women in the News Media“ 75 Prozent der Beschäftigten Frauen sind, 55 davon in Führungspositionen. Der Trend internationalisiert: Kürzlich erschien das von Andy Warhol gegründete Interview in Russland. Chefredakteurin Aljona Dolezkaja fungiert auch als internationale Chefredakteurin der deutschen Ausgabe, die vor wenigen Tagen gestartet ist.

PRESSEBILD

André Ballin schreibt seit 2003 aus Moskau für RusslandAktuell und andere Zeitungen.

Längst nicht alle sind zu eiskalten Zynikern geworden, die jeden Schreibauftrag von oben bedienen.

KOMMENTAR

trag bedienen, sobald er von oben kommt. Die Mehrheit versucht, die Balance zu halten: kein überschwängliches Lob und keine allzu harsche Kritik. Viele meiner Freunde und Bekannten, die ihren Beruf eigentlich liebten, haben ihn hassen gelernt. Aber viele haben sich auch durchsetzen und der Lügen enthalten können. Die Hürden einer Zensur überwinden zu müssen – etwas, wovon sie im Studium in den Geschichtsbüchern gelesen hatten –, gehört für die meisten zum Lebensalltag. Neidvoll schauen sie auf die Moskauer Kollegen, die sich weitaus mehr erlauben können. Nachwuchsreporter wollen es ihnen nachmachen und riskieren eine dicke Lippe. Man kann Gift darauf nehmen: Je mehr Angst Menschen haben, desto tiefer werden sie unterjocht. Je mehr Freiheiten sich die Zeitungen und einzelne meiner Kollegen herausnehmen, umso mehr achtet man sie. Ja, es kommt vor, dass man sich eine andere Arbeit suchen muss. Aber besser die Branche wechseln als sein Gewissen gegen Angst eintauschen. Und doch wäre zu wünschen, dass das Recht auf freie Berichterstattung nicht nur im Pressegesetz festgeschrieben ist, sondern dass Journalisten dieses Recht auch ausüben können. Und zwar unter und in ihrem eigenen Namen.

AP

Im Altai hat das Verlagshaus Altapress seit über 20 Jahren alle politischen Wirren und Wendungen überstanden und kann sich im Machtkampf zwischen Gouverneur Alexander Karlin und dem politisch ambitionierten Oligarchen Anatolij Bannych als objektive Kraft behaupten. Basis ist der wirtschaftliche Erfolg. Altapress verdient mit dem Vertrieb seiner Zeitungen über ein eigenes Kiosknetz und dem Radio 22 reales Geld. „Als überzeugter Anhänger des Markts glaube ich, dass Medien eine autarke Branche sind. Selbst

Wenn ich mich mit Kollegen auf ein Bierchen treffe, stoßen wir oft darauf an, zu schreiben, zu sagen und zu filmen, was und wie wir wollen – und „dass wir dafür stets nur was von unseren Lesern und Zuschauern abbekommen – und zwar Anerkennung!“. Dieser Satz sorgt regelmäßig für trauriges Gelächter in der Runde. „Sagen Sie bloß, Sie müssen die Zeitungsseiten vor dem Druck nicht bei der Verwaltung vorlegen?“, fragte eine sympathische junge Dame erstaunt, als ich auf einem Seminar für angehende Journalistinnen und Journalisten einen Vortrag hielt. Ihre Verwunderung war so aufrichtig, ihr Blick so unschuldig, dass ich anfangs partout nicht darauf kam, die russische Verfassung ins Feld zu führen. „Im Grunde, meine Teuerste“, hob ich an, als ich mich wieder gefasst hatte, „nennt man das, wovon Sie reden, Zensur. Und diese kommt bei uns in der Region Moskau nur noch äußerst selten vor.“ Dass ich ein unverbesserlicher Idealist bin, stellte sich bald darauf heraus. Wieder zu Hause, erzählte ich Kollegen von der „Gruselgeschichte“ der Journalistin, und plötzlich räumte der eine oder andere ein, dass es leider auch im Dunstkreis der Hauptstadt diese Praxis gebe. Zum Glück nicht überall. Doch die regionalen Medien stünden nach wie vor unter der Fuchtel der Selbstzensur. Der Chefredakteur einer Kreiszeitung wurde entlassen, weil er vor den Wahlen ein Interview mit dem Vertreter der „falschen“ Partei abdruckte. Nein, das Interview

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GERMANIST

önnte man in Russland eine überregionale und unabhängige Tageszeitung ins Leben rufen? – Der Plan würde bereits an der Logistik scheitern: Sogar die Moskauer Tageszeitungen erreichen ihre Leser in der Provinz meist mit ein- bis zweitägiger Verspätung. Schuld daran hat die Post, die für Abozustellungen zuständig und mit der Größe des Landes sichtlich überfordert ist. Und selbst wenn „Aktualität“ nebensächlich wäre: Bei den riesigen Dimensionen Russlands definiert sich das Leserinteresse e he r n ac h R e g ione n u nd Zeitzonen – heißt, ein Nowosibirsker liest nur bedingt die Nachrichten aus Moskau. Das wird durch ähnliche Auflagenhöhen von Zeitungen aus der Hauptstadt deutlich: Fast 90 Prozent finden ihren Absatz in Moskau und Sankt Petersburg, der Rest ist auf die zehn anderen Millionenstädte relativ gleichmäßig verteilt. In Russland herrscht kein Kommunikationszwang wie in der Bundesrepublik, in der Bevölkerungsdichte und Mobilität größer sind und die Kommunikationsnetzwerke wesentlich dichter – mit der Grund, wieso eine Streitkultur in Russland schwächer ausgeprägt ist. Der russische Medienkonsument ist das Zuhören und Argumentieren weniger gewohnt, weil er keinen geordneten Diskurs kennt – wie er in Deutschland auf akademischen, gewerkschaftlichen oder kirchlichen Diskussionsplattformen normalerweise gegeben ist. Selbst beim intellektuell-renommierten und unabhängigen Radiosender Echo Moskaus schaffen es die Moderatoren nur selten, die Experten nach- und nicht durcheinander reden zu lassen. Russische Öffentlichkeiten sind vergleichsweise klein und intim, die Gruppenidentität akzentuiert mehr Abgrenzung und weniger Zugehörigkeit zu größeren Gemeinschaften oder Publica. Daher werden lokale Nachrichten bevorzugt, den Mund-zu-Mund-Informationen – sprich: Gerüchten – wird mehr vertraut, man ist schneller mit dem gruppeninternen Ur- bzw. Vorurteil. Beliebte Medien sind „zentrale“ Fernsehsender und der lokale Hörfunk, deren Informations-, Kommunikations- und Unterhaltungsangebote polarer nicht sein könnten. Die Situation ändert sich aber zurzeit grundlegend durch ein neues Medium: das Internet. Die Folgen im Sinne der kommunikativen und diskursiven Kultur sind noch schwer abzusehen. Boris Chlebnikow ist Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft und Spezialist für deutsche und russische Medien.


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Gesellschaft

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Kalmückien Wie die Menschen im Südwesten Russlands zu ihren religiösen Wurzeln zurückkehren

Buddha möge uns schützen In der Steppe zwischen Wolga, Kaukasus und Kaspischem Meer lebt ein mongolisches Volk, das sich nach jahrzehntelanger Verfolgung und Deportation neu zusammenfindet. anna nemzowa

für russland heute

Diese Zeremonie, ein Lichtgeschenk an Buddha, wurde in der Form zum ersten Mal im vergangenen Herbst unter den Buddhisten Russlands gefeiert – symbolisch zur Eröffnung eines internationalen BuddhismusForums in Elista. Trotz Einwänden der chinesischen Parteiführung sandte auch der Dalai Lama 30 tibetische Mönche, um den wichtigsten buddhistischen Tempel Kalmückiens und seine 17 Buddhastatuen zu segnen. Seit 2005 schmückt der Tempel das Zentrum von Elista zusammen mit einer neun Meter hohen Buddhastatue. „Möge dir ein leuchtender Weg beschieden sein“, sagen die Kalmücken, wenn sie sich treffen. Es ist der bescheidene Gruß eines kleinen und armen Volkes in einer topfebenen und aus sandiger Steppe bestehenden Region, die – wenn die Versteppung weitergeht – zur ersten Wüste in Europa werden könnte. Es wäre gut, wenn Buddha die Bevölkerung davor bewahren könnte. Eines der wichtigsten Ziele der 1917 an die Macht gekommenen Bolschewiki war die Auslöschung der Religion: Die unter Lenin begonnene Kampagne führte während des stalinistischen Terrors der 1930er-Jahre zur praktischen Liquidierung der religiösen Institutionen. Und während es in gro-

„Der Tempel ist schön und gut, aber er ernährt uns nicht.“

Elista, die Hauptstadt Kalmückiens, ist gleichzeitig die Hauptstadt der russischen Schachkultur.

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fakten zum russischen buddhismus

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Der Buddhismus kam im 17. Jahrhundert nach Russland. 1764 wurde er als Staatsreligion anerkannt. In Burjatien, Tuwa, Kalmückien, Sabajkalsk, Irkutsk und Altaj ist er historisch die wichtigste Religion.

ßen Teilen des Landes hauptsächlich die Orthodoxe Kirche traf, wurden in Kalmückien die buddhistischen Gebetshäuser, Tempel und Heiligtümer zerstört, die Bevölkerung für 17 Jahre nach Sibirien verbannt. Die Kalmücken sind ein westmongolisches Volk, das Ende des 16. Jahrhunderts in seinen heutigen Siedlungsraum einwanderte. Heute ist Kalmückien die zweitärmste Region Russlands: Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie der Landesdurch-

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Heute gibt es etwa 1,4 Millionen Buddhisten in der Russischen Föderation. Das entspricht etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Bis auf die Kalmücken leben die russischen Buddhisten vor allem in Sibirien.

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1979 reiste der Dalai Lama erstmals nach Russland, dann wieder in den 90er-Jahren. Seit 2004 wird ihm die Einreise verweigert, weil Russland um die guten Handelsbeziehungen zu China fürchtet.

bis in die späten 80er-Jahre war es für Kusajewa gefährlich, eine Kerze für Buddha anzuzünden, geschweige denn, diese mit einem Ballon in den Himmel steigen zu lassen. Sehr zu ihrer Freude wurden in Kalmückien in den letzten zehn Jahren 55 neue buddhistische Gebetshäuser und 30 Tempel gebaut. „Wir tun dies, um die Leute glücklich und friedvoll zu machen“, sagt Alexander Nemejew, Geschäftsmann aus dem kleinen Dorf Uldutschiny. Dabei deutet er auf die goldene Buddhastatue im örtli-

schnitt. Doch der Buddhismus hilft den Kalmücken, mit der harten Wirklichkeit fertig zu werden. „Wir haben schon viel Schlimmeres erlebt“, erzählt die 84-Jährige Jewdokija Kusajewa. Sie hat Tränen in den Augen, als sie sich an die Deportation unter Stalin erinnert: „In einer Oktobernacht 1943 haben sie die gesamte Bevölkerung in schmutzige Viehwaggons gesteckt und nach Sibirien verfrachtet. Tausende sind während der Reise gestorben. Ich kann mich an die gestapelten Toten auf den Bahnsteigen erinnern.“ Noch

Nicht alle Dorfbewohner nahmen an der Zeremonie teil. „Der Tempel ist ja schön und gut, aber er ernährt uns nicht“, sagt Chondor, 47, Elektriker und seit einigen Jahren Witwer, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Er wohnt mit seinen Kindern in einem bescheidenen Zweizimmerhaus. Immerhin, so sagt er, besetze er eine der beiden einzigen Vollzeitstellen im Dorf. Chondors Kinder Awejasch (14) und Nagaila (13) träumen davon, Kalmückien zu verlassen und in Moskau oder Sankt Petersburg zu studieren. Die buddhistischen Oberhäupter Kalmückiens lassen verlauten, dass sich ihre Bemühungen nicht nur auf den Tempelbau konzentrierten, der auch vom Staat mitfinanziert wird, sondern auf die Wiederbelebung der buddhistischen Werte wie Mitgefühl, Liebe, Freundlichkeit und Vergebung. Gebeutelt von zwei Jahrzehnten wirtschaftlicher und sozialer Krisen, reisten Kalmücken häufig zum zentralen Tempel der Republik, um ihre Seele zu heilen, erzählt das geistliche Oberhaupt Telo Tulku Rinpotsche: „Wir sind ein psychologisches Zentrum, das den Menschen Hoffnung, moralische Unterstützung und spirituelle Orientierung gibt.“ Auch der 2010 zurückgetretene kalmückische Präsident Kirsan Iljumschinow unterstützte während seiner mehr als 15-jährigen Regierungszeit die Lehren des Buddhismus. Diese hätten Kalmückien letztendlich davor bewahrt, in den Sog der Terroristenkriege des angrenzenden Nordkaukasus zu geraten. Anna Nemzowa ist RusslandKorrespondentin des USMagazins Newsweek.

Stalins Verbrechen an den Kalmücken Die kalmückischen Buddhisten wurden im stalinistischen Terror der 1930er-Jahre systematisch verfolgt. Auch Orthodoxie und Islam waren Restriktionen ausgesetzt, unter denen aber insbesondere der Buddhismus zu leiden hatte und nahezu vollständig ausgelöscht wurde. Bis 1941 waren alle buddhistischen Klöster und Tempel geschlossen oder abgerissen worden. Die geistlichen Oberhäupter (ranghohe Mönche, Experten der buddhistischen Lehren) wurden entweder erschossen oder verschwanden in den Arbeitslagern des Gulags. Eine zweite Welle der Unterdrückung folgte 1943: Im Verlauf

des Zweiten Weltkriegs war Kalmückien zeitweise von deutschen Truppen besetzt, Teile der Bevölkerung kollaborierten mit den Deutschen, unter anderem existierte ein Kalmückischer Kavallerieverband in der Wehrmacht. Zur Vergeltung verbannte Stalin einen Großteil der Kalmücken nach Sibirien. Ein Drittel starb bei der Deportation. Das kleine Volk wurde erst 1958 rehabilitiert und durfte in die neu geschaffene „Autonome Sowjetrepublik Kalmückien“ zurückkehren. Heute besinnen die Kalmücken sich wieder auf ihre buddhistischen Traditionen. Als ihr geistliches Oberhaupt erkennen sie den Dalai Lama an.

corbis/foto sa

Ein Lichtgeschenk an Buddha

chen Tempel, die er vor zwei Jahren gestiftet hat. Vor Kurzem kamen 100 Buddhisten ins Dorf, um zu beten, darunter auch tibetische Mönche.

Lizzie Whitebread/flickr

„Lasst alle Träume wahr werden! Lasst alle lebenden Geschöpfe frei von Leid, Gefahren, Krankheiten und Trauer sein! Mögen Friede und Freude die Welt beherrschen!“ Mehr als 200 buddhistische Mönche singen dieses Mantra vor dem Goldenen Tempel des Buddha Shakyamuni. Sie wiederholen Gebete des Buddhistenoberhaupts Telo Tulku Rinpotsche. Dann hüllt sich der ganze Platz in Schweigen, die Menschen versinken in tiefer Meditation. Nicht in Indien spielt sich die Szene ab, auch nicht in China, sondern in Elista, Hauptstadt der Republik Kalmückien, 1000 Kilometer südlich von Moskau. Knapp 300 000 Einwohner hat die Republik, und die 160 000 Kalmücken unter ihnen versuchen seit dem Ende der Sowjetunion, die traditionelle Philosophie und Kultur des tibetischen Buddhismus wiederzubeleben. Nach Einbruch der Dunkelheit werden Tausende Kerzen angezündet. Die Mönche aus Tibet, Thailand, den USA sowie den anderen beiden buddhistischen Regionen Russlands, Burjatien und Tuwa, segnen die Gläubigen. Dann steigen von Kerzen hell erleuchtete Ballons in den Himmel, bilden einen Weg des Lichts in der Dunkelheit. „Das ist unser leuchtender Weg“, flüstert jemand in der Menge.

Der Dalai Lama ist das geistliche Oberhaupt der Kalmücken.


Reisen

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Chabarowsk Die vorletzte Station der Transsibirischen Eisenbahn bietet europäisches Flair und viel unberührte Natur Die Brücke über den Amur wurde 1917 für die Transsib-Route gebaut.

Europa an der chinesischen Grenze

LORI/LEGION MEDIA

Eine der schönsten russischen Städte liegt – an der Grenze zu China. Umgeben von Amur und Taiga fasziniert Chaborowsk durch seine elegante Architektur und seine lebendige Kultur. AJAY KAMALAKARAN

EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Der letzte große Halt auf der transsibirischen Strecke vor Wladiwostok mit seinen 620 000 Einwohnern hat so gar nichts Asiatisches an sich. Zwar liegt China nur einen Katzensprung von 30 Kilometern entfernt, aber Chabarowsk weckt eher Erinnerungen an die 8000 Kilometer entfernte

Ostseeküste. Im Sommer strahlt die Stadt beinahe mediterranes Flair aus: Sonnenanbeter strömen an die Ufer des Amurs, um sich zu bräunen. An den Uferstraßen pulsiert dann das Leben, hier gibt es mehrere Cafés und Restaurants mit Livebands, die oft bis spät in die Nacht spielen. Besucher erkunden auf Tragflügelbooten den über zwei Kilometer breiten Amur, und abends lockt der zentrale LeninPlatz Skater, Künstler, Familien und Spaziergänger an. Eine 90-minütige Fahrt auf dem Amur bietet eine wunderbare Gelegenheit, die beleuchtete Archi-

tektur des Ufersaums zu betrachten. Man kann aber auch gen Norden bis nach Komsomolsk und Nikolajewsk vorstoßen.

historische Museum, eines der bestsortierten im Fernen Osten Russlands. Die Stadt pflegt ihre sowjetische Vergangenheit, erlebt aber auch eine religiöse Renaissance. Der ehemalige Gouverneur Wiktor Ischajew spielte eine bedeutende Rolle beim Wiederaufbau russisch-orthodoxer Kirchen, die unter Stalin zerstört wurden. Schon beim Landeanflug erkennt

Das fernöstliche Europa

Gegründet wurde Chabarowsk 1858 als Militärposten, und alles, angefangen von den breiten Alleen, den präsowjetischen Gebäuden und Straßenbahnen bis zu den malerischen Cafés, den Plätzen mit Springbrunnen und belebten Uferstraßen erinnert an Europa. Elegante Ziegelbauten aus dem 19. Jahrhundert schmücken die Murawjowa-Amurskowo-Straße. Hier befindet sich auch das

Im Sommer ist der nahe Archipel der SchantarInseln ein Paradies für Naturfreunde: Hier bekommt man Bartrobben, Grönlandwale und die vom Aussterben bedrohten Grauwale zu sehen.

Ein Deutscher erfindet die Transsibirische Eisenbahn Seit fast einem Jahrhundert existiert der Mythos Transsib – dank eines Deutschen, der russischer Finanzminister wurde.

hört…

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ter t e l ws

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Michael Strogoff, der Held aus Jules Vernes „Kurier des Zaren“, hatte einen hochgeheimen Auftrag. Er sollte eine Depesche des russischen Zaren nach Irkutsk bringen. Ein Verkehrsmittel, das der russische Offizier in dem anno 1876 veröffentlichten Buch angeblich genommen haben will: die Transsibirische Eisenbahn. Obwohl die mit 80 Stationen und fast 9300 Kilometern längste Eisenbahnstrecke der Welt erst 1891 aus der Taufe gehoben und 1916 fertiggestellt wurde. Die Transsib machte damals weltweit von sich reden. Wie ihr „Vater“ Sergej Witte heutzutage wieder als Vorbild von Dmitrij Medwedjew von sich reden macht.

Der Sohn eines ritterlichen Baltendeutschen und einer adligen Russin ist bereits mit 26 für die Eisenbahn Odessa zuständig, als es dort 1875 zu einem schweren Unfall mit vielen Opfern kommt. Der junge Ingenieur wird zu vier Monaten Haft verurteilt, aber freigesprochen, als er die Beförderung der Streitkräfte zum russisch-türkischen Krieg organisiert. Der Unfall prägt den Sicherheitsgedanken im angehenden Eisenbahnreformer. So soll laut einer Anekdote Zar Alexander III. auf Witte aufmerksam geworden sein, als dieser mit dessen Adjutanten stritt. Witte schlägt für den Zarenzug neue Sicherheitsmaßnahmen vor, findet aber kein Gehör. Als der Zarenexpress 1888 entgleist und Alexander III. und seine Familie nur knapp dem Tod entgehen, ernennt er Witte zum Eisenbahn- und 1892 zum Finanz-

Eine Karriere in Russland: der Deutsche Sergej Witte

minister. Zu jener Zeit versucht das zentralistische Russland Anschluss an seine östlichen Gebiete zu finden – sowie zu den Märkten in Asien, vor allem China. Wittes Idee einer Transsib verschlingt Unsummen, aber die Rechnung geht auf: Die Strecke ist bis heute eine wichtige Handelsroute – und dazu eine der bedeutendsten Touristenattraktionen des Landes.

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man deutlich die goldenen Kuppeln der Verklärungskirche von Chabarowsk, der größten orthodoxen Kirche im Fernen Osten Russlands. Während die Sommer heiß und feucht sind, fällt die Temperatur im Winter auf durchschnittlich 30 Grad unter Null. Doch auch diese Zeit hat ihre Reize: Man kann auf dem zugefrorenen Amur lange Spaziergänge machen, auf dem Lenin-Platz steht einer der größten Weihnachtsbäume der Region neben Eisskulpturen.

Eine Datscha in „Woronesch-1“

Bei einer Reise nach Chabarowsk darf ein Picknick in den nahen Wäldern nicht fehlen. Viele Einwohner haben eine Datscha, die meisten in Woronesch-1, einer Gegend, die für eine Grillparty mit Bier und volkstümlichen Weisen wie geschaffen ist. Wer das Abenteuer sucht, macht sich zum Berg Heksir auf, dessen

Gipfel 970 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Der Aufstieg gestaltet sich schwierig und führt durch dichte Wälder. Hier beginnt die „Ussuriskaja Taiga“, Heimat des Amurtigers, der größten lebenden Katze der Welt. Auf dem Weg zum Gipfel bieten sich immer wieder herrliche Ausblicke auf Chabarowsk, von der Spitze aus kann man die Kuppeln ihrer Kirchen erspähen. Doch viele, die die Strapazen der Bergwanderung zum Heksir auf sich nehmen, wollen eigentlich einen Blick auf die russisch-chinesische Grenze werfen. Und obwohl man dort, wo der Ussuri in den Amur mündet, von China lediglich ein Stückchen Wald sieht, braucht man für die Gipfelwanderung eine Sondergenehmigung. Ganz in der Nähe von Chabarowsk liegt auch der abgeschiedene Archipel der Schantar-Inseln, einer Inselgruppe, die in den Wintermonaten unzugänglich ist. Die 15 Inseln im Ochotskischen Meer sind berühmt für ihre schroffen Steilküsten und dichten Tannenwälder. Im Sommer jedoch ist der Archipel ein Paradies für Naturfreunde, die seltene Bartrobben, Grönlandwale und die vom Aussterben bedrohten Grauwale beobachten können. Von Chabarowsk kommt man nur per Hubschrauber auf die Inseln, oder man heuert auf einem der Fischkutter an, die in den vier eisfreien Monaten des Jahres auslaufen – bevor der Frost den Archipel wieder unzugänglich macht und auf dem Lenin-Platz Vorbereitungen für Eisskulpturen getroffen werden. Ajay Kamalakaran ist ein indischer Journalist, der mit seinen Länderreportagen bekannt wurde. Von 2003 bis 2007 lebte er auf Sachalin und war Herausgeber der englischsprachigen The Sakhalin Times.

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Meinung

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Durch die Klischeebrille

reflektiert

Reklame oder Propaganda?

Boris Tumanow

ie Demonstrationen im Dezember ließen bei der Auslandspresse erwartungsgemäß das Interesse aufflammen, die Vorgänge in Russland zu begreifen. Für mich und viele Kollegen bedeutete das, mehrmals am Tag auf die Fragen ausländischer Journalisten antworten zu müssen. Aber die meisten Journalisten richteten zu meinem wachsenden Erstaunen ihr Augenmerk auf zweitrangige Fragen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ins Wesen dieses beispiellosen Ausdrucks zivilgesellschaftlichen Engagements in der russischen Gesellschaft vorzudringen. Besonders deutlich wurde dies nach der Demonstration am 24. Dezember, als sich meine Gesprächspartner, als ob sie sich abgesprochen hätten, ausschließlich für Alexej Nawalny als politische Figur und für Michail Gorbatschow interessierten, der Putin den Rücktritt nahegelegt hatte. Ich wiederholte hartnäckig, dass die Ovationen der Demonstranten und die Leidenschaftlichkeit Nawalnys diesen keineswegs zu einem anerkannten Führer der Opposition machen würden. Dabei versuchte ich ihnen zu erklären, dass Russland, dessen Bevölkerungsmehrheit Putin weiterhin wie gewohnt vergöttert, keine Aufrufe zum Sturm auf den Kreml braucht, sondern die ausdauernde, mühsame und verantwortungsbewusste Arbeit an einer programmatischen und nicht durch bloße Schlagworte definierten Opposition, die die Interessen einer bestimmten Gesellschaftsschicht zum Ausdruck bringt. Und dass ich eben genau deshalb bei all meiner Verehrung gegenüber Gorbatschow glaube, dass sein Aufruf an Putin nur ein Sturm im Wasserglas ist. Ich versuchte die Aufmerksamkeit meiner ausländischen Kollegen auf das Aktionsprogramm von Alexej Kudrin zu lenken, das eine evolutionäre Entwicklung der Zivilgesellschaft vorschlägt. Dabei sind weder Nawalny noch Kudrin

W

natlija michailenko

D

Der Ulenspiegel

Journalist

Das Desinteresse an tiefergehenden Analysen bringt viele Medien zu kuriosen Schlussfolgerungen. geeignete Führer, sondern lediglich Symptome jener Prozesse, die gerade in der russischen Gesellschaft entstehen. Doch meine Bemühungen lösten bei den Gesprächspartnern nur ungeduldige Gereiztheit aus und ließen sie stur zu ihren Fragestellungen zurückkehren, ohne sich von tiefergehenden Analysen ablenken zu lassen. Dieses militante Desinteresse brachte in den letzten Tagen viele seriöse internationale Medien zu kuriosen Schlussfolgerungen. Die amerikanische Business Week beschloss, dass als einzig überzeugender Oppositionsführer nur der Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow in Frage komme, weil er „der einzige Vertreter der Oppositionsbewegung ist, der über internationales Ansehen verfügt“. Die Chicago Tribune beschloss, Wladimir Putin eine große Nähe

leserbriefe Über diverse Risiken des Metrofahrens Da schreiben Sie in der letzten Ausgabe über Moskau laut, anstrengend und gefährlich. Aus gegebenem Anlass möchte ich Erfahrungen über das Schubsen in der Moskauer Metro schildern. Am 22. Dezember 2011 weilte eine fünfköpfige Gruppe von Lufthanseaten in Moskau. Sie wollten Metro fahren. Schon am Eingang

hat wohl ein Bandenmitglied von Klauern diesen Auftritt der Deutschen auf dem Bahnsteig beobachtet. Die Bande umzingelte die Gruppe unauffällig und schob sie in den übervollen Wagen. Dann folgte das bewusste Schubsen – plötzlich fühlte man überall Hände an sich! Kurz vor der nächsten Station begehrte einer

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de

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zum Traktat „Über die Kriegskunst“ des chinesischen Militärstrategen Sunzi zuzuschreiben. Davon zeuge die Tatsache, dass er in Übereinstimmung mit den Ratschlägen des Chinesen „gegen seine Opponenten die ihnen eigene Desorganisation nutzt und steuert“. Man könnte meinen, dass Putin bei der Betrachtung der ewigen, sinnlosen Auseinandersetzungen unter seinen Gegnern ohne Sunzi niemals draufgekommen wäre. Diese freiwillige Ignoranz ist nicht nur den internationalen Medien eigen, sondern allen politischen Amtsstuben. Die Weigerung, sich in die Nuancen der ein oder anderen nationalen Realität zu vertiefen, bringt sowohl die westlichen Länder in Libyen als auch Russland in Südossetien oder Transnistrien in die Bredouille. Der Westen sieht Russland nach wie vor durch die Klischeebrille – ob wohlwollend, negativ oder neutral, aber eben klischeehaft. Hauptsache, es erfordert keine größeren kognitiven Anstrengungen: schwarzer Kaviar, Dostojewskij, Balalajka, die geheimnisvolle russische Seele, Wodka, Dissidenten, der dämonische KGB, die Oligarchie, Matrjoschkas und

revolutionäre Matrosen. Diese intellektuelle Faulheit mit dem Anstrich des gut verborgenen Gefühls der eigenen Überlegenheit hat den Westen schon einmal daran gehindert, die wahren Hintergründe des Zerfalls der Sowjetunion zu sehen, was ihn – völlig unangebracht – enttäuscht über die nachfolgenden Ereignisse sein ließ. Man muss in einer irrealen Welt leben, um daran zu glauben, dass Kasparow tatsächlich „internationales Ansehen“ als russischer Oppositionsführer genießt, und ignorieren, dass der Mehrheit der Russen der Grad der Popularität ihrer Politiker „in den internationalen Kreisen“ völlig gleichgültig ist: Der Mensch lebt nicht von Croissants allein. Umso schwieriger zu verstehen, warum die Auslandspresse es vorzieht, die Figur Kudrin zu ignorieren, der international tatsächlich angesehen ist.

aus der Bande plötzlich lauthals Wegfreiheit zur Tür. Nun begann erneut ein unbeschreibliches Geschubse und Gerangel, denn der Schrei war das Zeichen zum Klauen! Mit dem Öffnen der Türen waren die Diebe verschwunden und mit ihnen mobile Telefone und Geldbörsen. Das Klauen geht so schnell vonstatten, da es wohl täglich neu eingeübt wird, dass man erst hinterher, wenn die Mantelknöpfe offen stehen und der Schaden groß ist, begreift, was überhaupt passiert

ist. Die Hanseaten werden wohl nicht so schnell wieder einen Fuß in die Metro setzen – falls überhaupt jemals wieder. Da es aber immer mutige bzw. naive Touristen geben wird, könnte ein Bericht in Russland HEUTE über Klauen und Beklautwerden in der Metro durchaus dazu beitragen, dass diese Leute sich bewusst und vor allem besser schützen.

Dieser Text erschien zuerst bei gazeta.ru.

Boris Tumanow, geboren 1938, arbeitete als Korrespondent in Westafrika und gilt als einer der erfahrensten russischen Auslandsjournalisten.

Andrea L.

Zeitzeuge

em russische und gleichermaßen westliche Medien zur Verfügung stehen, der erfährt mehr. Will ich mich über die internationale Lage informieren, bevorzuge ich das russische Fernsehen. Geht es um russische Innenpolitik, schaue ich deutsche Sender. Als westliche Medien noch über den arabischen Frühling jubelten, warnten russische Kommentatoren bereits vor einem Vormarsch der Islamisten. Nicht ohne Grund, wie wir heute wissen. Will ich mehr über die Proteste in Moskau erfahren, nutzen mir russische Nachrichten nichts. Da besuchen die Staatslenker Fabriken und Kindergärten wie zu Breschnews Zeiten. Es gilt in Ost und West: Ohne Geld können Medien nicht existieren, das prägt die Berichterstattung. Entweder Reklame – oder Propaganda. In der Sowjetunion erschienen Zeitungen ohne Anzeigen, dafür warb jeder Artikel für die Partei. In der Perestroika entdeckten die Journalisten, dass sie ihre Autorität auch zahlungskräftigen Kunden zur Verfügung stellen konnten. Und zwar nicht nur mit Anzeigen, sondern auch mit Artikeln im Sinne des Sponsors. Medien waren zum Geschäft geworden, aber anders als erhofft. Die Journalisten verkauften ihre Texte meistbietend, und Oligarchen hielten sich Zeitungen, um die öffentliche Meinung zu lenken. Putin nahm die Medien wieder unter Staatskontrolle, und die Verleger sorgten dafür, dass die Einnahmen für bezahlte Berichterstattung nicht in den Taschen der Journalisten, sondern in ihren eigenen verschwanden. Doch so paradox es klingt: Zwar sind die Medien in Russland heute staatsfromm und käuflich, aber ihr Meinungsspektrum ist vielfältiger als in Deutschland. Journalisten können sich für Diktatur oder Demokratie aussprechen, wenn sie nur keine Spitzenpolitiker antasten. Umgekehrt in Deutschland: Merkel beschimpfen – bitte. Das System in Frage stellen – verboten. Die Verfassung, die Banken und Europa sind alternativlos. Wer es anders sieht, wird nicht erschossen, aber diskreditiert. Medien als vierte Gewalt: Dazu braucht es kritische Journalisten, einen Staat, der Pressefreiheit garantiert, genügend Geld, um finanzielle Abhängigkeiten zu vermeiden. Und Leser, die sich ihr eigenes Urteil bilden.

offenburg

Hiermit geschehen. Die Redaktion.

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114

Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.

Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Ilja Owtscharenko; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

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Person 175 Jahre nach Alexander Puschkins Tod: Kunst, Kult, Korsett und Konventionen Wandtüren ein, reichen historische Kleidung, schnüren Korsette, legen Hemden, Hosen, Kragen an, helfen in Strümpfe, Perücken, Frack und Zylinder. Wir werden mitgenommen auf eine Entdeckungsreise in die russische Alltagskultur der Puschkinzeit, in der deutsch gedacht, französisch gescherzt und auf Russisch nur gebetet wurde; wir begleiten Onegin als gelangweilten Dandy, erfahren Details über Korsette und Konventionen, persönliche Hygiene und das Lebensgefühl der Damen. Die Männer? Sie duellierten oder langweilten sich, waren teuflische Verführer oder rettende Engel. Ach Puschkin! Wie schrieb noch Andrej Sinjawski? „Auf dünnen, erotischen Beinchen kam Puschkin in die große Dichtung hereingelaufen – und löste einen Tumult aus …“

Der Albtraum Tatjanas: Eugen Onegin in der Schaubühne. Tilman Strauß (Onegin), Luise Wolfram (Tatjana), Eva Meckbach (Olga)

Unaufgeregt in den Tod

RUTH WYNEKEN

EXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Am 10. Februar werden sich wie jedes Jahr viele Menschen im kopfsteingepflasterten Hof an der Mojka in Sankt Petersburg versammeln und um 14:45 Uhr in einer Schweigeminute des Mannes gedenken, der hier anno 1837 mit nur 37 Jahren nach einem Duell gestorben ist. Danach erklingt das Requiem von Mozart, Kerzen brennen, Gedichte werden rezitiert und Blumen am Denkmal niedergelegt, die bei klirrendem Frost sofort gefrieren. Ein Heiliger? Ein Dichter! Keiner wird im Land so sehr verehrt wie Alexander Puschkin. Jeder der Großen im Pantheon der russischen Literatur beruft sich auf Puschkin, mit dem das Goldene Zeitalter seinen Anfang nahm. Von der Wiege bis an die Bahre sind seine Märchen, Lyrik, Prosa und Dramen lebendiges Erbe für alle Schichten der Bevölkerung. Im Volk lebte er in Anekdoten und Legenden als eine Art Narr und Hanswurst weiter, und heimlich trug man in Sowjetzeiten seine erotischen Dichtungen vor. Als nationale Autorität wurde er zu allen Zeiten verklärt und ideologisch vereinnahmt, jede Obrigkeit er-

KULTURKALENDER

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klärte Puschkin zu einem großen Poeten und Stolz der Nation. Was ist bloß sein Geheimnis? Puschkin, dieser „Mozart der russischen Sprache“, etablierte in seiner Dichtung verschiedene, sich widersprechende Positionen, ging frei und spielerisch, unterhaltend, ernst oder parodierend damit um. Er beherrschte nicht nur meisterhaft viele Rollen (Dandy und Salonlöwe, flatterhafter Don Juan, Provokateur und bissiges Filou, dem Skandale, Intrigen und Duelle auf dem Fuße folgten), sondern er war gleichzeitig ein tief empfindendes Genie, das sich in ungeahnte Räume des Geistes aufschwingen konnte. Er bescherte der russischen Literatur bahnbrechende Neuerungen, befreite sie von Dogmen und Zwang und forderte vehement die geistige Unabhängigkeit und Zweckfreiheit von Kunst. Seine eleganten, vor Geist sprühenden Dichtungen verfertigte er überall, ob im Bett, in der Kutsche oder auf dem Billardtisch. Ohne seine Biografie wird man sein Werk nicht verstehen – Puschkin mit seinem afrikanischen Blut wurde geliebt, gehasst, verbannt, zensiert – und er liebte ohne Ende. Liebe und Erotik waren der Motor seines Lebens: Über 100 Annas, Maschas, Katjas oder Sissies beichtete er seiner Frau Natalja Gontscharowa vor der Hochzeit. Schon als Knabe las er französische Pornografie in der Bibliothek des Vaters … Theaterbesuche und

Bälle mit adligen Fräuleins in den Salons von Sankt Petersburg? Prickelnde Rendezvous mit Ballerinen in der „Grünen Lampe“? Aus brennender Liebe zu einer Zigeunerin verschwand Puschkin gar in der südrussischen Steppe.

Puschkin löste mit seiner Dichtung einen Tumult aus

In Deutschland kennt man dieses Universalgenie der Weltliteratur kaum, denn Puschkins Dichtung angemessen zu übersetzen ist überaus schwer (an dieser Stelle sei auf die großartigen Übertragungen von Michael Engelhardt und Rolf-Dietrich Keil hingewiesen). Für die meisten bleibt es also bei den Opern „Boris Gudonow“ von Modest Mussorgski und „Onegin“ in der Vertonung von Peter Tschaikowski.

Und nun – sein berühmter Versroman „Eugen Onegin“ als Schauspiel in der Berliner Schaubühne? Alvis Hermanis, lettischer Kultregisseur, wagte die szenische Adaption. Wie im Schnitt durch eine übergroße Puppenstube sind historisches Mobiliar und Utensilien des Alltags über die Breite der Bühne verteilt. Hoch über einer Salonwand erscheinen Projektionen mit Gemälden, die uns in Puschkins Welt einsteigen lassen (Bühne: Andris Freibergs). Doch nicht nur uns. Unauffällig setzen sich Schauspieler in die Dekoration und erzählen uns über das 19. Jahrhundert, allmählich gehen sie über in die vierfüßigen Jamben des Versromans (deutsch: Ulrich Busch). Der erste Schauspieler schminkt sich. Leise treten Garderobieren durch

Daniil Charms führt Puschkin ad absurdum „Puschkin hatte vier Söhne, alle waren Idioten. Einer konnte nicht mal richtig auf dem Stuhl sitzen und fiel dauernd runter. Puschkin selbst saß auch mehr schlecht als recht auf dem Stuhl. Manchmal war es der reinste Schwachsinn: Sie sitzen am Tisch; am einen Ende fällt Puschkin dauernd vom Stuhl, am anderen Ende sein Sohn. Das soll mal einer aushalten!“ Der Auszug entstammt der Sammlung „Fälle“ von Daniil Charms, in denen der Schriftsteller die zahlreichen

Volksanekdoten über Alexander Puschkin bis zur Absurdität zuspitzte. Charms gehörte in den Zwanzigerjahren verschiedenen avantgardistischen Zirkeln an. Sein Werk ist geprägt von der Suche nach neuen Ausdrucksformen, von Experimenten mit Sprache und Form. 1942 verhungerte Charms in einem Gefängnis in Leningrad. Seine gesammelten Werke sind vor Kurzem bei Galiani Berlin erschienen (Übersetzer: Alexander Nitzberg und Beate Rausch).

THEATER TAGEBUCH EINES WAHNSINNIGEN

AUSSTELLUNG DIE PEREDWISCHNIKI – MALER DES RUSSISCHEN REALISMUS

4., 16. FEBRUAR, STUTTGART, THEATER AM OLGAECK

26. FEBRUAR BIS 28. MAI, CHEMNITZ, MUSEUM AM THEATERPLATZ

Sergey Chilikov ist eine lange vergessene und jetzt wiederentdeckte Fotografenlegende: Er lebt in der Provinz Mari El, und dort sucht er sich auch die Protagonisten für seine Bilder, auf denen er den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen nachspürt.

Man nehme Gogols „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ und verschmelze sie mit Tschechows „Krankenzimmer Nummer 6“ – heraus kommt ein grandioses Einmannstück voll Groteske und Dramatik.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten Maler wie Iwan Schischkin und Ilja Repin nach neuen Ausdrucksformen. Manche der in Chemnitz gezeigten Bilder sind erstmals in Deutschland zu sehen.

› pavlovsdog.org

› theateramolgaeck.de

› kunstsammlungen-chemnitz.de

FOTOGRAFIE SERGEY CHILIKOV BIS 25. FEBRUAR, BERLIN, GALERIE PAVLOV’S DOG

© RIA NOVOSTI

In Russland stark verehrt, kennt man Alexander Puschkin in Deutschland höchstens aus der Oper. Die Berliner Schaubühne hat sich nun an seinen Versroman „Eugen Onegin“ gewagt.

THOMAS AURIN

Puschkin, der Bär im Mann

In Frack und Löckchen erzählt uns Puschkin auf der Bühne seinen Roman, wir sind mitten in Tatjanas Albtraum, in dem der Bär los ist und die Geschichte unaufhaltsam auf den Tod zusteuert: Sie liebt Onegin, der weist sie ab und flirtet mit Olga; Lenski, Olgas Bräutigam, fordert den Freund zum Duell. Schon sitzt Tatjana mit zwei riesigen Messern da und kämpft mit einer Wassermelone, deren roter Saft ihr aus dem Mund läuft, doch Onegin liegt auf einer Bank und verschläft beinahe das blutige Duell. Unaufgeregt vollzieht sich Lenskis Tod. Das End von der Geschicht? Onegin kehrt nach drei Jahren zielloser Reise nach Petersburg zurück und findet eine souveräne, fürstlich verheiratete Tatjana wieder. Die Rollen kehren sich um. Onegin verliebt sich rasend in sie und wird abgewiesen. Halbnackt kriecht er auf dem Boden herum und verliert die Façon – wird er wahnsinnig? Aber dem Regisseur geht es nicht um Action, sondern um die präzise und sehr poetische Auseinandersetzung mit einer vergangenen Welt und Figuren, die in ihrer Verwandlung auch heute glaubwürdig sind. Wie bei Puschkin vor fast 200 Jahren.

empfiehlt


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Porträt

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Journalismus In Galina Woronenkowas Institut lernen Studenten, was es heißt, unabhängig zu sein

Das größte Problem ist die Schere im Kopf ten vor Ort eigentlich keiner Arbeit nachgehen. Doch mit Verboten nahm sie es nie genau. 1987 wird sie Pressesprecherin des Hauses der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur in Berlin. Klar, Woronenkowa träumt vom Westen, aber fliehen? Nein. Gleichzeitig wächst die Neugier, wie Journalismus wohl im Westen funktioniert. Als im November 1989 die Mauer fällt, schreibt Woronenkowa die renommiertesten Journalismusfakultäten der Bundesrepublik an, mit dem unmittelbaren Vorschlag, einander kennenzulernen. Die Reaktion folgt prompt. „Ich war eine Art Enigma der Sowjetunion“, erinnert sich die Professorin lachend, „das Interesse für mich war gigantisch!“ Zuerst öffnet die FU Berlin ihre Tore, Dortmund, Bonn, Mainz und Münster folgen. Das Ausbildungssystem für Journalisten, die Fachliteratur und das Wissen der deutschen Kollegen faszinieren sie. „Ich habe vierzig Kisten Fachbücher und Zeitungen nach Moskau mitgebracht“, erinnert sie sich. In der Sowjetunion galt das Schreiben nicht als Beruf, sondern als Begabung, „ja, als Funke Gottes“. Die Kommunisten ließen die Journalisten eine Schreibe pflegen, wie sie ihnen passte – nur regimekonform musste sie sein.

Anastasia Gorokhova Für Russland Heute

„Meine Kinder“, sagt Galina Woronenkowa und meint all jene jungen Menschen, die in dem 1994 von ihr begründeten Freien Russisch-Deutschen Institut für Publizistik (FRDIP) gelernt haben, was es bedeutet, ein unabhängiger Journalist zu sein. Die 59-Jährige empfängt in ihrer Wohnung im Zentrum Moskaus. Hausschuhe? Mittagessen? Kaffee? Kuchen? Galina Woronenkowa ist eine Frau mit großem Herz, die Mutter nahezu aller russischen Journalisten mit germanistischem Hintergrund. Sie setzt sich an den Wohnzimmertisch, zündet eine Zigarette an und zieht genüsslich den Rauch ein, bevor sie mit ihrer tiefen Stimme in die Geschichte ihres Lebenswerks taucht. Zwei Charaktereigenschaften sind für Woronenkowas Biographie entscheidend: ihre Neugier und ihre Liebe zu allem Deutschen. So wird sie zuerst Journalistin und lernt dann Deutsch, das sie bei Studienaufenthalten in Leipzig perfektioniert.

Berlin-Korrespondentin für „Die sowjetische Frau“

„In der Sowjetunion galt das Schreiben nicht als Beruf, sondern als Begabung, ja, als ‚Funke Gottes‘.“

Woronenkowa arbeitet als Dozentin an der Journalistik-Fakultät der Lomonossow-Universität, als 1982 – ein „Geschenk des Himmels“, wie sie sagt – ihr Mann als Korrespondent der Presseagentur Itar-Tass nach Ostberlin geschickt wird. „Für einen Sowjetbürger war das damals so, als ob man auf den Mond geschossen wird“, lacht die Professorin heute. Aus Ostberlin schreibt Woronenkowa für das Frauenmagazin Die sowjetische Frau – ein Ausnahmefall, dürfen doch die Ehepartner sowjetischer Korresponden-

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, 1993, als mit Ach und Krach ein neues Russland geboren wird, wird Woronenkowa klar, dass für die russischen Medien die Zeit für mehr Demokratie gekommen ist. „Ich wollte das Ganze beschleunigen“, sagt sie – und denkt über die Gründung eines Instituts für russische Nach-

biografie Geburtsort: Moskau Alter: 59 Beruf: Journalistin

1952 in Moskau geboren, studiert Galina Woronenkowa bis 1974 Journalismus an der Lomonossow-Universität. 1974–1976 Studienaufenthalt an der Universität Leipzig, 1980 Promotion. 1982 geht sie mit ihrem Mann nach Ostberlin, arbeitet als Korrespondentin für die Zeitschrift Die sowjetische Frau und wird 1987 Pressesprecherin am Haus der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur. Seit 1992 ist sie Professorin an der Fakultät für Journalistik der Lomonossow-Universität, seit 18. Oktober 1994 Direktorin des von ihr mitgegründeten Freien RussischDeutschen Instituts für Publizistik (FRDIP). 2004 wird Woronenkowa das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

wuchsjournalisten nach, in dem diese das deutsche Mediensystem und die Funktionsweise eines freien, unabhängigen Journalismus studieren könnten. Über die Idee spricht sie mit Dietrich Ratzke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Leiter des Instituts für Medienentwicklung und Kommunikation. Ratzke und andere Kollegen sind sofort Feuer und Flamme – Russland ist von großem Interesse. „Die Hauptidee war von Anfang an, der jungen Generation zu helfen, freier zu werden, als wir es waren“, erklärt Woronenkowa. Deswegen stellt sie das Wort „frei“ an die erste Stelle des Institutsnamens. „Der bilaterale Kontext sollte deutlich werden und ein von jeder Ideologie befreiter Journalismus – das konnte nur das Wort ‚Publizistik‘ widerspiegeln.“ Den Lehrplan erarbeitet sie zusammen mit den deutschen Kol-

ludmila sintschenko(2)

Kaum ein russischer Journalist mit Deutschland-Faible, der Galina Woronenkowa und ihr Institut für Publizistik nicht kennt. Ihren Anfang nahm die Geschichte 1989 in Ostberlin.

legen. Heraus kommen vier Kernbereiche, die bis heute die Basis des Programms bilden: Medienrecht, Medienmanagement, deutsche Landesku nde u nd Deutschunterricht. Am 18. Oktober 1994 wird das Institut schließlich feierlich eröffnet: Neben dem deutschen Bot-

„Das Internet bietet ein größeres Meinungsspektrum und wird nicht staatlich kontrolliert wie andere Medien.“ schafter kommt auch der russische Vize-Bildungsminister in die Journalistik-Fakultät an der Mochowaja-Straße gleich gegenüber des Kremls, wo das Institut bis heute seine Heimat hat. 2004, zum zehnten Jubiläum des Instituts, wird der Professorin das Bundesverdienstkreuz verliehen, wenig später von der Orthodoxen

Ein russisch-deutsches Institut am Kreml

Studierende des FRDIP während einer Studienreise in Deutschland

Das Freie Russisch-Deutsche Institut für Publizistik (FRDIP) wurde am 18. Oktober 1994 gegründet und befindet sich im Herzen Moskaus gleich gegenüber des Kremls in den Räumlichkeiten der Journalismus-Fakultät der Staatlichen Lomonossow-Universität. Aufgenommen werden Studenten aus allen Universitäten und Fachrichtungen, wenn sie gute Deutschkenntnisse und Publikationen in deutschen oder russischen Medien vorweisen. Das Studium findet in deutscher Sprache

statt, die Vorlesungen und Seminare werden von deutschen und russischen Professoren gehalten. Parallel zu ihrem Hauptstudium können die Studierenden die Veranstaltungen des FRDIP besuchen. Das Prüfungssystem ähnelt dem der Bundesrepublik Deutschland. Das Institut verfügt über kein eigenes Budget, nutzt aber Räumlichkeiten und Infrastruktur der Journalismus-Fakultät. Mehr Infos unter www.frdip.ru

Kirche der Orden der „Heiligen Olga und der Heiligen Sophia“ für ihr Lebenswerk. Woronenkowa, inzwischen ein „alter Hase“ und präsent auf allen Konferenzen, in denen die Wörter „Russland“ und „Medien“ vorkommen, beklagt heute das nachlassende Interesse deutscher Medien an Russland. „Die Erwartungen, die es nach der Wende gab, sind nicht mehr da. Außerdem dachte ich, dass in Deutschland mehr junge Menschen anfangen würden, Russisch zu lernen. Aber das ist nicht passiert“, bedauert die Professorin. Aber auch der russische Journalismus bereitet ihr Sorgen: Zensur und Selbstzensur, der Trend zum Boulevard. Mit ein Grund, warum die russische Blogosphäre boome, sagt Woronenkowa, die auf Facebook täglich mehrere Artikel postet: „Das Internet bietet ein größeres Meinungsspektrum und wird nicht staatlich kontrolliert, wie es bei anderen Medien der Fall ist.“ Das größte Problem der Pressefreiheit in Russland sieht sie aber in der „Schere im Kopf“, von Journalisten in der Sowjetzeit verinnerlicht. Eine „antrainierte Charaktereigenschaft“ nennt sie es, dass ein Journalist sich jedweder „Führung“ füge. Dieses Handicap ist ihren Studenten erspart geblieben. In den vergangenen 18 Jahren haben über 400 von ihnen, jetzt 50 pro Jahr, in Deutschland Praktika gemacht: Von der FAZ bis zum ZDF, vom Gelnhäuser Tagblatt bis zur Deutschen Welle – die „Kinder“ von Frau Woronenkowa durften überall mal schnuppern.

shutterstock

Russland nach den Präsidentschaftswahlen Das Spezial zur CeBIT: Was in der russischen IT-Branche passiert

7. März 2012


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