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Russischer Botschafter und die Bundesrepublik
Deutscher heiratet Russin: Wie man ihr Herz gewinnt und dabei die grenzenlose Liebe der Schwiegermutter erntet
Oppositioneller Wladimir Ryschkow in der Politik
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ITAR-TASS
Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES
Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.
Mittwoch, 4. April 2012
Das wahrhaft starke Geschlecht
POINTIERT
Russinnen von ihrer besten Seite Alexej Knelz
CHEFREDAKTEUR
M
© EKATERINA CHESNAKOVA_RIA NOVOSTI
Moskau, 2011: Karl Lagerfeld schmückt sich beim Fotoshooting für den Pirelli-Kalender mit russischen Models.
Schön sind sie in der Tat, doch Schönheit ist längst nicht ihre herausragendste Tugend. Sie sind gut organisiert und tatkräftig, wenn sie in ihrem Arbeitsrecht eingeschränkt werden (Seite 3). Sie sind karriere- und erfolgsorientiert, wenn sie ihre Unternehmen im Alleingang aufziehen. Und im geschäftlichen Umfeld können sie sich gegen das starke Geschlecht oft besser durchsetzen als die Männer selbst (Seite 5). Dennoch spielt der Fe-
POLITIK
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OPPOSITION DIE ZEIT DER WEISSEN LUFTBALLONS IST VORBEI Quo vadis?, fragen sich zehntausende Russen, die den Winter über für ehrliche Wahlen und gegen Putin auf die Straße gegangen sind. Bei den Protesten ist die Luft raus, dafür wenden sich die Aktivisten praktischen Problemen zu. Die Oppositionspolitiker gründen derweil neue Parteien. SEITE 2
minismus kaum eine Rolle: Nur unwillig gönnt die Gesellschaft einer Frau die Position einer erfolgreichen Unternehmerin oder Politikerin – an Ministerinnen wie Elwira Nabiullina, zuständig für wirtschaftliche Entwicklung, haben die Russen sich dagegen gewöhnt (Seite 6). Sicher ist die Rollenverteilung auch russischen Männern zu verdanken, mit denen Lagerfeld ein Hühnchen zu rupfen wusste und sie prompt als die „schlimmsten
Männer der Welt“ abtat. Doch während Lagerfeld über die russischen Männer herzieht, beginnen diese sich zu verändern: Immer mehr interessiere sich der Russe für Gender und Emanzipation, sagt Soziologin Irina Kosterina und erklärt, warum feministische Gruppen, die öffentlich ihre Brüste enthüllen oder in Kathedralen E-Gitarre spielen, gerade jetzt so populär sind (Seite 7). SEITEN 3, 5, 6 UND 7
Konsumieren statt sparen Barbies, Spielzeugautos und Kuscheltiere für 11,3 Milliarden Dollar gingen im vergangenen Jahr in Russland über die Ladentheke – das ist mehr als in Deutschland. Auch die Geburtenrate ist seit Neuestem geringfügig höher als in Deutschland. Der russische Konsummarkt wächst weiter, und es wird eingekauft, solange der Rubel rollt – eine Sparkultur hat sich bis heute nicht entwickelt. „Mit dem wachsenden Wohlstand ist das Land erstmalig in seiner Geschichte als mittelständiger Staat zu bezeichnen“, sagt Kingsmill Bond von der Citigroup. SEITE 4
INHALT Online Internet in Moskaus Metro WIRTSCHAFT
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Es sind immer wieder die gleichen Klischees: Russische Frauen sind zuverlässige Haushälterinnen und fürsorgliche Gattinnen. Und sie sind die Göttinnen der Laufstege, bei deren ungebremstem Charme und ungezügeltem Temperament selbst ein mit allen Wassern gewaschener Karl Lagerfeld dahinschmilzt: „Russinnen sind die schönsten Frauen der Welt“, verkündete der Modezar im Februar in einer Moskauer Zeitung.
üssen sich die russischen Frauen immer so auftakeln? Wozu all diese Stöckel, Röcke und Dinge, die eine Frau nicht braucht? Diese Frage stellen Deutsche oft: Zu aufgestylt sind die Russinnen, bieten sich förmlich den sexistischen Mannesbestien an. Wo bleibt da die Emanzipation? Wovon die Skeptiker Zeugen werden, ist jedoch keine Brautschau, sondern die Art, wie Russinnen ihre Unabhängigkeit und Femininität demonstrieren. Jahrhundertelang war der russische Mann als Leibeigener auf dem Acker, als Soldat im Krieg oder, um sein hartes Los endlich zu verdrängen, angedudelt daheim auf dem Sofa unterwegs. Seine Frau kümmerte sich um Haushalt und Kinder, um den Wiederaufbau und um den Mann mit dazu. Wenn sich die Russinnen also heute schick machen, dann maskieren sie ihre starke Seite auf fatale feminine Art, um für den Mann zwar begehrenswert, aber unerreichbar zu bleiben wie ein schöner Frühlingstraum. Die Männer wissen das. Und dass der Frühling da ist, erkennen sie nicht etwa an spr ießenden Schneeglöckchen, sondern an kurz berockten Schönheiten, die auf schwindelerregenden Absätzen grazil über die Matschpfützen tänzeln.
100 Jahre nach dem Untergang Am 15. April vor 100 Jahren sank die „Titanic“. Wie das Wrack heute aussieht, erzählt der russische U-Bootfahrer, der für James Cameron in 3800 Metern Tiefe auf Tauchfahrt ging. Cameron, selbst ein passionierter Tiefseetaucher, verfilmte die Geschichte. SEITE 8
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Antarktis Russen am Wostoksee WISSEN
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Versöhnung über den Kriegsgräbern MEINUNG
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Kunst Wandermaler in Chemnitz FEUILLETON
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Politik
www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau
Opposition Den Winter über protestierten viele gegen Wladimir Putin, im Frühjahr ist nun die Luft raus
Erst einmal ist Ruhe eingekehrt
Demonstrationen vor und nach der Wahl
für russland heute
„Freunde! Das Tierheim braucht Geld für Futter“ – dieser Aufruf wurde vor Kurzem im sozialen Netzwerk Vkontakte in der Gruppe „Gegen Putin und die Partei Einiges Russland“ mit ihren 170 000 Mitgliedern veröffentlicht. Die Moderatoren hatten den Beitrag nicht gelöscht. Daraus lässt sich pars pro toto eine neue Tendenz im politischen Bewusstein der russischen Bürger erkennen: In den letzten Wochen haben die Aufrufe zu Demonstrationen sich immer mehr vermischt mit allgemeinen Hilfsappellen, etwa Blut für kranke Kinder zu spenden oder die Mittel für eine komplizierte Operation aufzubringen. Das Engagement der Bürger, das die Proteste gespeist hat, beginnt andere Formen anzunehmen, die Kundgebungen werden wieder zu einer Angelegenheit einiger weniger politischer Aktivisten. „Nach der Demo auf dem Bolotnaja-Platz habe ich auch an anderen Aktionen teilgenommen, aber mit jedem Male wurde ich pessimistischer“, erklärt Sofja Schajdullina, eine junge Demonstrantin. „Die Wahlen rückten näher, und in den Diskussionen tauchte vermehrt das Wort ‚sinnlos‘ auf.“
Marsch der Zehntausenden
Zu den von der Opposition organisierten neuerlichen Aktionen in Moskau am 17. und 18. März kamen nicht einmal mehr 1000 Menschen. Der Aufr uf zum „Marsch der Millionen“, für den 6. Mai geplant, lässt die Oppositionsführer entweder als von der Realität losgelöste Romantiker oder als Utopisten erscheinen. Im günstigsten Falle wird es ein Marsch der Zehntausenden werden, und er wird vermutlich einen vorläufigen Schlussstrich unter das Kapitel der Proteste ziehen. „Die Menschen haben eingesehen, dass man mit weißen Luftballons und Schleifen nicht gegen die Sonderpolizei OMON ankommt. Ich denke, dass nun ein gesellschaft-
Bauernopfer Medwedjew
Die weitere Entwicklung hängt nun auch davon ab, wie Putin sich in seiner dritten Amtszeit als Präsident verhalten wird. Die Lage vor den Wahlen hat ihn dazu gezwungen, Gesprächsbereitschaft zu demonstrieren. Natürlich hat die politischen Reformen nicht er, sondern Dmitrij Medwedjew angestoßen, doch noch zu Beginn des Jahres hat Putin mehr Transparenz und politische Korrekturen angekündigt. Das System des Plebiszits, einer verstärkten Mitsprache des Volkes, wolle er wiederbeleben, die Prozedur der Gesetzgebung vereinfachen und die Kontrolle über die Exekutive stärken. Doch der überzeugende Sieg Putins lässt befürchten, dass es bei der bloßen Ankündigung bleiben wird. „Von Seiten der russischen Wähler gibt es keinen Bedarf an einem neuen Putin“, erklärt der Politologe Wjatscheslaw Nikonow. Besonders Putin-Anhänger aus der Provinz haben für politische Reformen wenig übrig. Hauptsache, die Korruption nimmt nicht überhand und die kommunale Wohnungswirtschaft funktioniert. Das ist die reibungslose Versorgung mit Strom, Gas und Wasser, das ist Preisstabilität. Putin hat sich stets durch eine vorsichtige Personalpolitik ausgezeichnet und keinen seiner Parteigenossen über die Klinge sprin-
Putin setzt auf eine Rotation des Personals in den Regionen. Die jüngsten GouverneursRücktritte beweisen das.
Primorje, Saratow und des Gebiets Moskau haben dies deutlich gemacht. Und der Kampf gegen Korruption wird sich von der unteren auf die mittlere und obere Ebene der Staatsbediensteten ausdehnen“, glaubt Alexej Muchin, Direktor des Zentrums für Politische Informationen. Die politische Zukunft Dmitrij Medwedjews steht derweil in den Sternen. Mit seiner Absage an eine zweite Amtszeit als Präsident hat er wenig Rückgrat bewiesen und an Glaubwürdigkeit verloren. Zweifellos wird er wieder Premier werden, aber kein Politologe
traut ihm zu, dass er die gesamten sechs Jahre unter Putin durchhält. Wahrscheinlich wird er eines der Bauernopfer infolge unpopulärer Regierungsentscheidungen sein. Solche Entscheidungen wird die Regierung fällen müssen – unausweichlich ist eine Anhebung des Rentenalters. Angesichts der vielen zukünftigen Rentner wird nur ein entsprechend großes Opfer die Umfragewerte und die politische Zukunft Putins sichern.
gen lassen. Aber wenn er nicht möchte, dass sich in der Provinz die Unzufriedenheit über einige Beamten vor Ort auf ihn überträgt, wird er diese Personalpolitik ändern müssen. „Putin setzt nun auf eine Rotation des Personals in den Regionen. Die Rücktr itte der Gouver neure von
Viktor Djatlikowitsch ist Ressortleiter Politik beim Magazin Russkij Reporter.
Im Dschungel der Demokratie Im April soll ein Gesetz in Kraft treten, das einer Partei die Registrierung schon ab einer Mitgliederzahl von 500 ermöglicht. Für die Opposition könnte das zum Bumerang werden. Die entscheidende Frage heute lautet: Wie viele der Menschen, die durch die aktuellen Proteste aufgerüttelt wurden, werden sich von der Politik nicht wieder enttäuschen lassen und sie vielmehr aktiv mitgestalten? Davon wird die Zukunft neuer politischer Parteien abhängen, die sich im Fahrwasser der Proteste und einer Liberalisierung des Parteiengesetzes gerade herausbilden. Es werden etliche neue Parteien entstehen, wahrscheinlich sogar zu viele. Und die Regierung hat kein Interesse daran, dies zu verhindern – ganz im Gegenteil.
„Eine große Anzahl von Parteien wird die oppositionelle Wählerschaft zersplittern lassen. Denn den Oppositionsparteien wird es nicht leichtfallen, die Fünf-Prozent-Hürde zu überschreiten und ins Parlament einzuziehen. Das kommt der Regierungspartei Einiges Russland nur gelegen“, erklärt der Präsident des Forschungszentrums Polititscheskaja analitika, Michail Tulskij. Und es wird die Arbeit des Präsidentschaftskandidaten und Oligarchen Michail Prochorow zweifellos erschweren: Der erhielt bei den Wahlen im März fast acht Prozent und kündigte danach eine neue liberale Partei an. Wahrscheinlich wird er den ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin mit ins Boot holen. Sein Wahlergebnis ist nicht nur ein Achtungserfolg, sondern für seine weiteren
itar-tass
viktor djatlikowitsch
liches Wachkoma einsetzen wird“, konstatiert einer der Organisatoren, der Schriftsteller Boris Akunin. Die Protestwelle flaute auch aufgrund einer gewissen Ermüdung der Leute ab. Diese Art von Basisdemokratie sind sie nicht gewohnt, sie gehen nicht zu einer Kundgebung wie zur Arbeit. Doch die Regierung hat sich auch intelligenter als im Dezember angestellt. Es gab bei den Präsidentschaftswahlen (zumindest in Moskau) weitaus weniger Verstöße gegen das Wahlgesetz als bei den Wahlen zur Staatsduma. Viele der Protestler haben sich innerlich mit Putins Sieg abgefunden. Sogar die parallel durchgeführte Stimmenauszählung von unabhängigen Wahlbeobachtern ergab für ihn noch über 50 Prozent. Diese Tatsache war für sie das stärkste Argument zur Beendigung ihrer Proteste.
gewähren ließ. Zwei weitere Großdemos und etliche kleinere folgten – bei eisigen Temperaturen. Dann wurde Wladimir Putin am 4. März zurück in sein Präsidentenamt gewählt: Am 10. März kamen weniger als 10 000 auf den Nowyj Arbat.
kommersant
reuters/vostock-photo
Der eindeutige Sieg Wladimir Putins als neuer Präsident nahm der Opposition den Wind aus den Segeln. Doch Putin wird sich nicht auf dem Ergebnis ausruhen können.
Ein Erweckungsmoment für viele: Am 10. Dezember demonstrierten an die 50 000 Menschen auf dem BolotnajaPlatz unweit des Kremls für ehrliche Wahlen. Noch überraschender als die große Anzahl der Teilnehmer war, dass die Polizei die Demonstranten
Oligarch Michail Prochorow will neue liberale Partei gründen.
politischen Aktivitäten eine gute Ausgangsposition. Aber eine Sache ist es, acht Prozent im Vergleich zu fünf Wettbewerbern zu erzielen, die viele Wähler nach 20 Jahren auf dem politischen Parkett satt hatten. Eine andere Sache ist es, sich die Sympathien der Wähler im Dschungel der neuen Parteien zu sichern: Im Justizministerium werden sich alle möglichen rechten, linken, sozialdemokratischen, monarchistischen und sonstigen Gruppierungen registrieren lassen.
Politik
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Interview wladimir grinin
Gemeinsam für eine tolerante Gesellschaft der russische Botschafter in Berlin über die integration, das kulturjahr und die visafreiheit Herr Botschafter, über drei Millionen Menschen kamen aus Russland und anderen Staaten der früheren Sowjetunion nach Deutschland. Wie sind sie Ihrer Meinung nach integriert? Die russischsprachigen Bürger sind relativ gut in die deutsche Gesellschaft integriert. Die meisten sprechen Deutsch und können sich mit den hiesigen Regeln und Traditionen arrangieren. Manchmal hapert es noch bei der schulischen und beruflichen Ausbildung, bei der Anerkennung
ausländischer Diplome oder bei der Vermittlung der russischen Sprache. Doch unsere Landsleute in Deutschland bemühen sich um Abhilfe. So nimmt die Zahl der von der russischsprachigen Diaspora gegründeten bilingualen Kindertagesstätten und Schulen zu. Es werden viele Integrationsprojekte initiiert, beispielsweise Künstlervereinigungen und Musikensembles. Das Jahr 2012/13 wurde zum Russlandjahr in Deutschland bzw.
nachgefragt
Der Botschafter persönlich Deutschland ist ... das Land, das mir am nächsten steht und das ich am besten kenne – nach Russland natürlich. Am meisten gefallen mir an Deutschland ... die Deutschen, die ihrem Wesen nach alle Tüftler sind, gleich welchen Berufen sie nachgehen. Aus all meinen Erinnerungen werde ich nie vergessen … die Wiedervereinigung. Meine Lieblingsorte in Deutschland sind … Bonn, Berlin, die Berge und Küsten der Nord- und Ostsee.
Die größten Deutschen sind … kaum einzeln aufzuzählen. Mit Bach, Beethoven, Goethe und Röntgen werde ich sicher nicht danebenliegen. Mein deutsches Lieblingssprichwort lautet … „Übung macht den Meister“. Mein deutsches Lieblingsgericht ist ... die Schweinshaxe. Unseren Ländern wünsche ich ... dass wir Hand in Hand gemeinsam unser Schicksal gestalten – so ist es sicherer, zuverlässiger und macht außerdem mehr Spaß.
Deutschlandjahr in Russland ausgerufen. Was können wir erwarten? Viele Aktivitäten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur werden die Länderjahre begleiten. Einen der Höhepunkte bildet die gemeinsame kunsthistorische Ausstellung „Russen und Deutsche: 1000 Jahre Verbindung in Geschichte, Kunst und Kultur“. Sie wird Ende Mai im Historischen Museum in Moskau eröffnet und ab Oktober im Neuen Museum in Berlin gezeigt. Es sei auch auf das Internationale Kinderforum „Diese Welt ist unsere Welt“ in Hamburg sowie das Internationale Studentenforum in Berlin hingewiesen. Wann können sich Deutsche und Russen gegenseitig ohne Visa besuchen? Die Bürger Russlands und der EU haben ein berechtigtes Interesse an einem visafreien Reiseverkehr. Bei Beibehaltung der Visahürde würden auch Unternehmen einen nachhaltigen Schaden davontragen, der Tourismus würde sich nicht so positiv entwickeln, und der wissenschaftliche, kulturelle und der Jugendaustausch kämen nur bedingt in Gang. Es ist notwendig, die Liste der gemeinsamen Schritte schnell und effektiv umzusetzen, die Fachleute beider Seiten ausgearbeitet haben. Parallel zur allmählichen Abschaf-
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fung der Visapflicht sind bereits kurzfristige Korrekturen beim Prozedere der Visaerteilung vorgesehen. Wir ergreifen alle erdenklichen Maßnahmen und erwarten auch von Deutschland und den anderen europäischen Partnern eine entsprechende politische Entschlossenheit. Über 6000 deutsche Unternehmen sind in Russland aktiv. Wie schätzen Sie das Engagement russischer Investoren in Deutschland ein? Deutschland ist einer der bedeutendsten und attraktivsten Märkte für russische Investoren. Dennoch gibt es ein deutliches Ungleichgewicht: Deutschland hat 2011 in Russland ungefähr 20 Milliarden Euro investiert. Demgegenüber machen russische Investitionen in Deutschland nicht einmal eine Milliarde Euro aus. Doch die Zahl der in Deutschland tätigen russischen Firmen nimmt kontinuierlich zu. Ihre diplomatische Karriere begann 1973 in Deutschland. Hat sich das Land seitdem verändert? Am anschaulichsten ist die Veränderung in der Wahrnehmung, in der Einstellung der Deutschen gegenüber Russen. Heute ist ein
biografie Geburtsort: Moskau Alter: 64 profil: diplomat
1971 absolvierte Wladimir Grinin das Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. Seine diplomatische Laufbahn begann zwei Jahre später an der Botschaft der UdSSR in Bonn. Seit 2010 ist er der Botschafter der Russischen Föderation in Berlin.
gegenseitiges Interesse an Sprache, Kultur und politischem Leben des Partnerlandes entstanden. Russland wird als strategischer Partner angesehen. Das ist nicht nur positiv, sondern auch wichtig, weil wir heute vor gemeinsamen Herausforderungen und Gefahren stehen, darunter fremdenfeindliche und radikale Strömungen, besonders bei Jugendlichen. Das Problem hat internationale Ausmaße angenommen. Dafür müssen wir unsere Anstrengungen bündeln, Vertrauen aufbauen und stets zusammenstehen. Das Gespräch führte Lucien Koch.
Arbeitsrecht Eine Organisation aus Sankt Petersburg kämpft für das Recht auf Mutterschutz
Die Arbeitsrechtsberatung EGIDA vertritt Frauen vor Gericht, denen während und nach der Schwangerschaft gekündigt wurde – und bringt ihnen so Zivilcourage bei. Pauline Tilmann
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Das EGIDA-Büro liegt versteckt, in einem Hinterhof von Sankt Petersburg. Die 28-jährige Elena Pleschko betreut darin seit 2005 eine Hotline für Menschen, denen plötzlich gekündigt wurde. „Die meisten kennen ihre Rechte als Arbeitnehmer überhaupt nicht“, sagt die Juristin. Deshalb sei es so wichtig, dass es eine verlässliche Anlaufstelle gebe. Seit 2008 gilt der Schwerpunkt ihrer Arbeit schwangeren Frauen und jungen Müttern. Laut Gesetz steht Frauen ein Mutterschutz von 70 Tagen vor und nach der Geburt zu – bei Auszahlung des
vollen Gehalts. Danach bekommen sie weitere 15 Monate 40 Prozent ihres Gehalts. Dass sich Arbeitgeber zunehmend zieren, den Mutterschutz und gleichzeitig eine neue Arbeitskraft zu finanzieren, hat mit der Wirtschaftskrise zu tun, aber auch damit, dass die soziale Verantwortung in russischen Unternehmen spürbar abnimmt. Ein Drittel der Mütter in Sankt Petersburg ist nicht verheiratet, viele sind alleinerziehend. Das Elterngeld sichere für solche Frauen die Existenz, so Pleschko. Und EGIDA setze sich vor Gericht dafür ein, dass es auch ausbezahlt werde. Im letzten Jahr gab es 16 Rechtsfälle, 13 davon hat die Organisation gewonnen. Irina Rumanzowa ist eine der Mütter, die zu ihrem Recht gekommen sind, auf EGIDA ist sie durch eine Fernsehreportage gestoßen. Sie war eine von 21 Frauen einer
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Junge Mütter fordern ihr gutes Recht
Juni 2011: EGIDA-Aktivistinnen demonstrieren für mehr Kindergeld.
Nähfabrik, die von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt wurden, ohne Gespräch, ohne Alternativen, ohne Abfindung. Ihr Kind Marina war damals gerade einmal zehn Monate alt. „Bis heute hat das Unternehmen nichts an seiner Vorgehensweise geändert“,
sagt Rumanzowa, „sie quetschen Frauen aus und werfen sie dann einfach weg.“ Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, dass es in Russland Firmen gibt, die den gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschutz so grob missachten, zog sie mithilfe
von EGIDA vor Gericht. Sie klagte um 40 000 Rubel, umgerechnet 1000 Euro, und gründete nach Beendigung des Prozesses einen Verein – um auf Frauen in ihrer Situation aufmerksam zu machen und auf ein weiteres Problem: die Vorfinanzierung des Elterngeldes durch den Arbeitgeber. Denn in der Regel zahlt ein Sozialfonds den Arbeitgebern ihre Ausgaben für den Mutterschutz zurück, aber nur unter großem bürokratischen Aufwand. Diese Prozedur verstärkt die Tendenz bei Unternehmen, Frauen während oder nach der Schwangerschaft zu kündigen. „Wir müssen das Verfahren erleichtern, und wir müssen dagegen ankämpfen, dass Geschäftsleute glauben, sie könnten alles mit uns machen. Wir wollen zeigen, dass wir im Recht sind und Anspruch auf diese Zahlungen haben“, sagt Irina Rumanzowa. Ihre Stimme wirkt entschlossen und selbstbewusst. Pauline Tilmann arbeitet als freie Journalistin in Sankt Petersburg.
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Wirtschaft
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aktuell
Märkte Der russische Einzelhandel wächst rasant − allen voran die Spielzeugbranche sende Segment des russischen Einzelhandels“, sagt PMR-Analystin Katarzyna Twardzik. „Hier kann Russland bereits mit den führenden Staaten Westeuropas konkurrieren.“ Die politische Stabilität des letzten Jahrzehnts lässt die Russen optimistisch in die Zukunft blicken, weshalb sich immer mehr junge Paare entschließen, Familien zu gründen. Im Schnitt bekam jede russische Frau 2011 1,42 Kinder (Deutschland: 1,41), und Warenhausketten wie Detskij Mir (Kinderwelt) profitierten von dem Kindersegen. Allein die Spielzeugbranche ist in den letzten fünf Jahren laut PMR um 76 Prozent gewachsen.
Mehr Kleidung und Schuhe
itar-tass
Kindershopping in Russlalnd: Barbie-Puppen sind bei russischen Mädchen sehr beliebt.
Neues Spielzeug braucht das Kind Die Geburtenrate steigt, schon wird in Russland mehr Spielzeug verkauft als in Deutschland. Bis 2018 ist das Land in vielen Branchen der größte Einzelhandelsmarkt Europas. ben aris
für russland heute
Wirtschaftskalender
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Im Konsumrausch
Laut dem Marktforschungsunternehmen Euromonitor ist die Russische Föderation bereits heute der elftgrößte Verbrauchermarkt der Welt und der zweit- oder drittgrößte Europas. „Russland hat an Kaufkraft gewonnen“, erklärt Kingsmill Bond, Chefstratege der Citigroup Russland. „Mit dem wachsenden Wohlstand im letzten Jahrzehnt ist das Land zum ersten Mal in seiner Geschichte als mittelständischer Staat zu bezeichnen.“ Die Russische Föderation nähert sich mit großen Schritten Deutschland, dem zurzeit größten Einzelhandelsmarkt Europas. Der monatliche Umsatz im Einzelhandel liegt bei etwa 50 Milliarden USDollar, der Gesamtumsatz betrug laut der staatlichen Statistikagentur Rosstat 2009 470,3 Milliarden US-Dollar, stieg im Jahr 2010 auf 543,5 Milliarden und legte in der
Konferenz 5. Deutsch-russische Rohstoffkonferenz
ersten Hälfte 2011 um weitere 5,4 Prozent zu. In Deutschland ist der Gesamtumsatz des Einzelhandels höher, stieg in den Jahren 2010 und 2011 jedoch nur um etwas mehr als ein Prozent. Mit steigenden Einkommen bewegen sich russische Verbraucher an der Warenkette empor. Bessere Lebensmittel sind der erste Punkt auf allen Einkaufslisten, und die Konsumenten klettern bereits die Sprossen zu anderen anspruchsvollen Produkten hinauf. „Der Lebensmittelmarkt ist das größte und am schnellsten wach-
Ben Aris ist Chefredakteur des englischsprachigen Magazins Business New Europe.
Sie sind girlie, süß und sexy
Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer (AHK) hat einen neuen Präsidenten: Im März wählten die Mitglieder der Kammer Rainer Seele, den Vorstandsvorsitzenden der BASFTochter Wintershall, zum Nachfolger von Reinhard Weiss. Seele kündigte an, er wolle sich in seinem neuen Amt verstärkt für verbesserte Rahmenbedingungen im deutsch-russischen Wirtschaftsaustausch einsetzen.
Eau de Cologne für den Zaren
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Der Dufthersteller Maurer & Wirtz führt in Russland die Marke 4711 ein. Schon die Zaren hätten den Duft des „Echt Kölnisch Wasser“ geschätzt, so Geschäftsführer Fabian Krone, „viele Geschichten ranken sich um das Produkt.“ Russland solle beim Umsatz nach Deutschland in den nächsten Jahren das wichtigste Land werden.
Faber-Castell kommt an Der Schreibwarenhersteller Faber-Castell hat eine Niederlassung in Moskau eröffnet – zusammen mit dem türkischen Partner Anadolu Group. Am 12. März gab der Vorstandsvorsitzende Anton Wolfgang Graf von Faber-Castell mit seinen türkischen Kollegen den Startschuss für die russische Vertriebsgesellschaft. Der Konzern hofft auf Absatz in den Ballungszentren des Landes, insbesondere für seine Premiumprodukte.
Mit ihren 19 Jahren ist sie der Shootingstar der internationalen Modeszene: Kira Plastinina ist bereits mit 15 ins Geschäft eingestiegen. Ihre Mode ist schrill-poppig und zielt auf die junge weibliche Klientel ab. „Mein Stil ist art-glamour-sportive-casual für die 15- bis 25-Jährigen“, erklärte sie in einem Interview, „für Mädchen, die mir ähnlich sind. Sie sind girlie, sie sind süß, und sie sind sexy.“ Durch die Produktion in China bleiben die glamourösen Kleidungsstückchen auch für die jüngsten Kundinnen erschwinglich, die dem Konzern zu hohen Umsätzen verhelfen: Innerhalb von fünf Jahren hat Kira Plastinina russlandweit
120 Boutiquen unter eigenem Namen eröffnet. Das Geheimnis ihres Erfolgs sind aber nicht nur Marketing und Preispolitik allein. Gestartet ist sie mit Unterstützung von ihrem Papa Sergej Plastinin vom Lebensmittelkonzern WimmBill-Dann Foods.
Börse Karrierebörse Russland
Forum Global Russia Business Meeting
Information Deutsch-russischer Unternehmer-Workshop
22.-23. April, Stadt Luxemburg
26. april, Würzburg, BFP Bruno Fraas & Partner
Russland grün
© ria novosti
Viel wurde geschrieben über die dahinschwindende Bevölkerung, doch seit Mitte 2009 steigt die Geburtenrate wieder, in den Großstädten wimmelt es von Babys. Ihre Eltern greifen tief in die Tasche, wenn es um hübsche Kinderkleidung geht, die sie selbst als in der Sowjetunion Geborene nie besaßen. Und so wundert es nicht, dass Russland 2011 zum größten europäischen Markt für Kinderartikel wurde. Der Verbrauchermarkt Russlands entwickelt sich rasch. Bereits 2004 wurde das Land zum größten Absatzmarkt für Mobiltelefondienstleistungen, im Jahr 2011 setzte es sich an die Spitze der europäischen Milchmärkte. Bis 2018 dürfte alljährlich ein weiterer Marktrekord fallen, denn bis dahin wird Russland Konsummarktführer in Europa sein. Mit seinen 15 Millionen Einwohnern konzentriert sich der überwiegende Teil der Verbraucherausgaben auf Moskau und Umgebung. Aber während sich die Wirtschaft von der Krise erholt,
erfasst der aufkeimende Wohlstand allmählich auch die elf russischen Millionenstädte. Russlands Pro-Kopf-Einkommen mag nur halb so hoch sein wie das westeuropäischer Staaten, doch da die Russen keine nennenswerten Schulden und keine ausgeprägte Sparkultur haben, verfügen sie über die gleiche Finanzkraft wie Westeuropäer – und lieben es einzukaufen.
Wladimir Jewtuschenkow, Besitzer von Detskij Mir, zeigte sich jüngst optimistisch, dass der Umsatz seiner Kette im laufenden Jahr auf über eine Milliarde USDollar steigen wird. Seine Filialen in 73 Städten will er um weitere 25 aufstocken. Letztes Jahr gab es in Russland 22 Millionen Kinder unter 14 Jahren, und Moskau deckte ein Viertel des Gesamtbedarfs an Spielzeug ab, erläutert Katarzyna Twardzik. Laut RBC Market Research repräsentiert dies einen Markt im Wert von 11,3 Milliarden US-Dollar. In Deutschland lag der Umsatz im Jahr 2009 bei 10,5 Milliarden. Der Kleidungs-, Schuhwerk- und Zubehörmarkt ist ebenfalls der am schnellsten wachsende Europas und hatte bereits im Jahr 2010 ein Volumen von 56,8 Milliarden US-Dollar. Wenn die Branche ihr Wachstum von derzeit jährlich zehn Prozent aufrechterhält, wird sie Deutschland überholen und in den kommenden zwei Jahren auch in diesem Bereich über den größten Markt verfügen.
Rainer Seele neuer AHK-Präsident
Die Modernisierung des russischen Energiesektors birgt viele Chancen für deutsche Unternehmen. Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung soll bis 2020 auf 4,5 Prozent steigen. Firmen der Branche finden dazu praxisnahe Infos in einem neuen Exporthandbuch der Deutschen Energie-Agentur. Bestellung unter www.exportinitiative.de
11.-13. April, Nürnberg, Messegelände
17. April, München, bundesAgentur für Arbeit
Internationale Rohstoffpolitik und Ressourceneffizienz – auf der hochkarätig besetzten Konferenz werden unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Umweltministers Klaus Töpfer Möglichkeiten zur weiteren Kooperation in diesen Bereichen ausgelotet.
Hier erhalten junge russlandkompetente Nachwuchskräfte die Möglichkeit, mit Unternehmen, die in Russland und Deutschland aktiv sind, in direkten Kontakt zu treten. Die Börse richtet sich an Studenten, Absolventen und Berufseinsteiger.
Auf dem Gipfeltreffen für Wirtschaft und Politik tauschen sich über 400 namhafte Unternehmer aus ganz Russland mit ihren europäischen Kollegen unter dem Motto „Globalizing Russian Firms“ über Russlands WTO-Beitritt und seine Folgen aus.
Interessierte mainfränkische Unternehmen bekommen hier diverse Geschäftsfelder in Russland aufgezeigt. Der Workshop wird durch topaktuelle Impulsvorträge über die wirtschaftliche Situation begleitet.
›› rohstoff-forum.org
›› deutsch-russisches-forum.de
›› horasis.org
›› bf-p.de
Wirtschaft
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INTERVIEW OLGA SLUZKER
AKTUELL
Mit edlen Muckibuden an die Spitze der Bewegung
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WORLD CLASS ÜBER DAS WEIBLICHE IN DER BRANCHE Sie waren eine erfolgreiche Sportlerin und wurden plötzlich Geschäftsfrau. Warum? Anfang der Neunzigerjahre begann für Russland ein neues Leben, auch ich wollte etwas Neues machen. Davor hatte ich nie daran gedacht, Unternehmerin zu werden. Das geschah zufällig, wie es in Russland so üblich ist.
Wo hatten Sie das Geld her, und wie viel haben Sie investiert? Mein Mann gab mir das Geld. Am Anfang haben wir wenig investiert, gerade einmal 400 000 USDollar. Kam Ihre Geschäftsidee an? Die Medien haben uns zunächst gemobbt. Bei der ersten Pressekonferenz fielen die Reporter über mich her: Sie wollten wissen, wie
BIOGRAFIE GEBURTSORT: ST. PETERSBURG
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Warum gerade Fitnessclubs? Als Profisportlerin trainierte ich mein ganzes Leben in unbeheizten, stickigen und ausrangierten Turnhallen. Wir hatten nie gedacht, dass es anders geht. Dann war ich mit meinem damaligen Mann in Spanien im Urlaub und besuchte im Hotel-Fitnesscenter einen Step-Aerobic-Kurs. Die dortige Sportkultur brachte mein ganzes Weltbild durcheinander: Statt disziplinierter körperlicher Züchtigung, wie zu Sowjetzeiten üblich, sah ich Leute, die in einer sauberen Turnhalle den Spaß am Sport lebten und parallel Musik hörten. So was gab es in Russland nicht. Also dachte ich mir, warum sollte ich es nicht selbst einmal versuchen?
ALTER: 46 PROFIL: FITNESSPIONIERIN
ich dazu komme, körperliche Ertüchtigung zu verkaufen. Es war eben etwas völlig Neues. Wie haben Sie da überhaupt Kunden finden können? Vor der Eröffnung des ersten Clubs habe ich versucht, so viele Stars und Sternchen wie möglich kennenzulernen. Ich habe ihnen eine Mitgliedschaft angeboten. Wo die Celebrities sind, die schön aussehen möchten, sind auch die Reichen und Schönen. Später kamen alle anderen dazu – Oligarch Roman Abramowitsch zum Beispiel, aber auch Filmstars, Neureiche, Verleger und Journalisten, Regisseure, auch viele Politiker. Fitness war ein völlig neuer Trend: Die Leute wussten nicht, was Fitness eigentlich bedeutet, und wir
Mit elf begann Olga Sluzker mit dem Fechten, Anfang der 1990er zog sie sich mit dem Meistertitel aus dem Sport zurück. 1993 eröffnete sie World Class, den ersten Fitnessclub Russlands. Heute sind es 37 Filialen. Erst später studierte sie Management an der Staatlichen Verwaltungsschule der Staatsakademie. Achtmal tauchte World Class sogar unter den 25 besten Fitnessclubs der Welt auf.
mussten diesen Begriff zunächst mit Leben füllen. Wie viel kostete die Jahresmitgliedschaft in Ihrem Club? Etwa 2500 US-Dollar. Ich weiß, das ist auch jetzt noch viel Geld, aber damals war es sogar eine horrende Summe.
Wie lange haben Sie bei diesen Preisen bis zum Break-even gebraucht? Damals, anno 1993, war in Russland noch alles anders. Das ging sehr schnell. Nach weniger als einem Jahr hatten wir alle Kosten wieder reingeholt. Irgendwann mussten wir uns dann entscheiden: Wollten wir in der LuxuryNische bleiben oder expandieren? Heute betreiben wir Fitnessclubs in 15 russischen Städten, einschließlich Chabarowsk und Wladiwostok – und sogar in Astana und Almaty in Kasachstan. Wir können wohl sagen, dass die russische Fitnessindustrie von Frauen gegründet wurde. Sie waren die erste, später kamen weitere Fitnessketten dazu, ebenfalls von Frauen gemanagt. Wie erklären Sie diesen Trend? Vielleicht sind unsere Männer einfach nicht bereit, ihre Zeit zu verschwenden, um etwas von Null an aufzubauen? Dieses Geschäft erfordert sehr harte Arbeit. Damals wurden viele Industriebetriebe privatisiert, und die Männer konnten ein Ölfeld erwerben oder eine Gießerei kaufen. Sie sind den einfacheren Weg gegangen. Mögen es die Frauen denn in diesem Fall komplizierter? Die russische Fitnessindustrie ist eigentlich ein Frauennetzwerk, das aus World Class heraus entstanden ist. Wir arbeiteten hart, lebten nicht über unsere Verhältnisse, was für die Frauen recht typisch ist. Wir verzetteln uns nie und beanspruchen keine staatlichen Zuschüsse oder Kredite. Ja, wir Frauen haben die Fitnesskultur nach Russland gebracht. Das Gespräch führte Wladimir Ruwinski. ANZEIGE
Beratung Wie eine Expolitikerin Männern das Sprechen beibringt
Frau sucht Wirtschaft ohne Politik Als Oppositionelle wollte sie Präsidentin Russlands werden. Als Geschäftsfrau gründete sie eine eigene Modekollektion. Heute berät Irina Chakamada männliche Wirtschaftsbosse. WLADIMIR RUWINSKI
Zugegeben, um ihre Person ist es heute ruhiger geworden: Irina Chakamada hat sich größtenteils vom öffentlichen Leben zurückgezogen und sich als Beraterin wiedergefunden. In ihren Kommunikationsworkshops geht es um Geschäftspsychologie – und die Kunst des Vermittelns. „80 Prozent des Erfolgs macht die Kommunikation aus, und gerade bei den Verhandlungen scheitern viele russische Unternehmer“, erklärt Chakamada. Nicht, dass sie ineffizient seien: „Sie sind einfach nur
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unfähig zu kommunizieren.“ Sie muss es wissen: Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin wurde 1997 Chefin des Staatskomitees zur Förderung kleiner Unternehmen. Chakamada räumt ein, dass Erfolg geschlechtsunabhängig sei,
beharrt aber darauf, dass er stark vom Verhandlungsgeschick abhänge, und da seien Frauen die besseren Unterhändler. „Sie sind nicht so ehrgeizig und kompromissbereiter. Und können sich schneller in ihr Gegenüber versetzen und sich durchsetzen.“ Chakamada glaubt, dass ihre unternehmerische Erfahrung ihre politische Laufbahn eher behindert hat. „Man sagte mir häufig, dass die Politiker mich nicht verstehen, weil ich mich wie eine Geschäftsfrau verhalte.“ In der Wirtschaft arbeite man gleich nach dem Handschlag los, ohne lange auf die Verträge zu warten. „In der Politik ist das spiegelverkehrt,“ erklärt Chakamada. „Es ist nicht klar, wo genau da die Interessen liegen. Jemand nickt ein, und drei Stunden später kippt er den Deal.“
Bis zu 84 Meter tief ist die Moskauer Metro – so weit unter der Erde verbringen Millionen von Hauptstädtern jeden Tag über eine Stunde ihrer Lebenszeit. Um diese Zeit etwas zu verkürzen, gibt es seit Ende März in 180 Waggons der Ringlinie kostenloses WLAN. Die 1,5 Mbit pro Sekunde schnelle Internetverbindung wird über Router im Waggon per 3G-Technologie aufgebaut. Der Nutzer kann sich ohne Passwort einloggen. Sollte der Feldversuch nach einer mehrmonatigen Testphase Erfolg zeigen, werden 3G-Router in sämtlichen Metrowaggons auf allen Linien des 305 Kilometer langen Streckennetzes installiert.
Standort Kaluga: mehr Transparenz – mehr Investoren © ILIJA PITALIOW_RIA NOVOSTI
DIE GRÜNDERIN DER GRÖSSTEN RUSSISCHEN FITNESSKETTE
Reiner Wucher. Stimmt. Es war zwar ein Wucherpreis, aber es gab ja nichts anderes; wir hatten keine Konkurrenz. Irgendwie waren die Leute dazu bereit, für einen schönen Fitnessclub im Zentrum Moskaus tief in die Tasche zu greifen.
VW-Werk in Kaluga
Um neue Investoren und ein besseres Investitionsklima am Wirtschaftsstandort Kaluga ging es auf der European Investment Conference Russia 2012 am 22. März. Die 200 Kilometer südlich von Moskau liegende Region hatte vor wenigen Jahren mehrere Industrieparks ins Leben gerufen und internationale Konzerne wie Volkswagen ins Boot geholt. Wie, erklärte Vizegouverneur Maxim Akimow: „Wir bekämpfen hier die gefürchtete russische Korruption mit allen Mitteln. Denn wichtiger als Zahlen ist uns die positive Mundpropaganda der Investoren. Sie sorgt für wahre Transparenz.“
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Das Thema
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Walentina Matwijenko, Exgouverneurin St. Petersburgs, eröffnet das Marinemuseum.
FRAUEN UND FEMINISMUS RUSSINNEN SIND ERFOLGREICH IN POLITIK, KULTUR UND WIRTSCHAFT – DEM FEMINISMUS STEHT DIE GESELLSCHAFT TROTZDEM SKEPTISCH GEGENÜBER
DIE BUSINESSMENKA, DAS UNHEIMLICHE WESEN ALEXANDER TSCHERNYCH KOMMERSANT
Anfang 2012 erstellten mehrere russische Medien eine Rangliste der einflussreichsten Frauen Russlands. Laut Expertengremium – aus 22 Männern und nur zwei Frauen bestehend – nominierte man dafür Frauen, „die in Führungspositionen realen Einfluss auf politische oder wirtschaftliche Entscheidungen haben, sowie in ihrer Geisteshaltung Trends setzen und als Vorbilder agieren.“ Über die Hälfte aller Frauen, 53 von 100, kommen aus Politik und Verwaltung. Ganz oben: die ExGouverneurin Sankt Petersburgs Walentina Matwijenko, die seit 2011 den Vorsitz des Föderationsrates innehat und deren Beamtenlaufbahn noch zu Sowjetzeiten ihren Anfang nahm. 28 Frauen kommen aus Kultur und Sport, die schillerndste Vertreterin ist die Schlagersängerin Alla Pugatschjowa (Platz 2). Auch sie hatte sich in der UdSSR nach oben gesungen. Der Wirtschaftssektor ist gerade noch mit 16 Unternehmerinnen vertreten, die allerdings nur wenig Einfluss haben – mit Ausnahme von Olga Pleschakowa (Platz 46), Generaldirektorin von Transaero und weltweit die einzige Frau an der Spitze einer Fluggesellschaft. Die Ergebnisse des Ratings belegen die Genderunterschiede im
Land. Russen finden es nicht ungewöhnlich, wenn eine Frau eine Beamtenlaufbahn einschlägt oder in der Verwaltung arbeitet. Die Grundlage für diese Wahrnehmung wird bereits in der Kindheit gefestigt: Die meisten Lehrer und Schulleiter sind weiblich.
Sport für die Frauen, Wirtschaft für die Männer
Gleiches gilt für die Erwartungshaltung im Sport: Die Siege der Turnerinnen und Eisschnellläuferinnen werden als selbstverständlich gewertet, während die permanenten Pleiten russischer Fußballer gelassen-wohlwollende Reaktionen auslösen. Die Wirtschaft hingegen ist in den Augen der Russen nach wie vor ausschließlich Männersache. Zum einen mag das mit der Korruption und der erhöhten Wirtschaftskriminalität zusammenhängen –
unternehmerische Tätigkeit ist in Russland nach wie vor risikobehaftet. Primär ist aber eine solche Haltung gegenüber den Geschäftsfrauen der Wirkung verschiedener Stereotypen geschuldet: Frauen seien nicht intelligent, nicht diplomatisch und gleichzeitig nicht durchsetzungsfähig, außerdem mangele es dem schwachen Geschlecht an Härte, um unternehmerisch erfolgreich zu sein, lauten die beliebtesten Vorurteile. Viele Männer nehmen eine Geschäftsfrau als eine Art unnatürliches Wesen wahr, das sich von seinen familiären Pflichten losgerissen hat und sich nun Dingen widmet, die ihrem Geschlecht eigentlich nicht „gebühren“. Natürlich ist es paradox, dass eine Gesellschaft, die Frauen Ministerposten einräumt, Frauen am Steuer nach wie vor mit großer Skepsis betrachtet.
Die einflussreichsten Frauen – Branchen
Dieses Paradoxon ist die Folge eines schwach ausgeprägten Feminismus. Der gilt noch immer als etwas Exotisches. Viele verstehen seine Grundlagen nicht und halten seine Argumente für etwas Überflüssiges, eine westliche Modeerscheinung, die für russische Verhältnisse unpassend ist. Eine solche Auffassung wird auch von den Medien befördert, die Nachrichten à la „Französische Feministinnen erzwingen Verbot der Anrede ‚Mademoiselle‘“ als alberne Kuriosität abtun. Negativ eingestellt sind auch die traditionstreuen Konfessionen. Viele Amtsträger der Russisch-Orthodoxen Kirche wenden sich ganz direkt gegen den Feminismus. Die Gesellschaft als auch die Blogosphäre steht dem rein feministischen Diskurs relativ gleichgültig gegenüber. Vor diesem Hintergrund präsentieren die Ak-
Protest mit nackten Brüsten
So agiert auch die Künstlergruppe Pussy Riot. Sie ist ein bizarrer Gegenspieler zu der ukrainischen Bewegung FEMEN, deren Teilnehmerinnen ihre Brüste enthüllen, um auf eine ganze Reihe von Problemen hinzuweisen – von Demokratie über Prostitution bis zum ukrainisch-russischen Gaskrieg. Die Pussy-Riot-Aktivistinnen hingegen organisieren illegale Punkkonzerte in der Metro, in Bussen und Luxusgeschäften und werfen in ihren Songtexten Fragen der sozialen Gerechtigkeit, darunter auch Frauenrechte, auf. Sie verbergen sich hinter bunten Strickmasken, um ein Zeichen gegen die Ausbeutung der weiblichen Sexualität in der Gesellschaft zu setzen. Die Theoretiker des Feminismus werfen den jungen Frauen ein vulgäres Verständ-
Befreit für die Doppelbelastung „Nieder mit der Küchensklaverei, auf zur neuen Ordnung!“, verkündet das Plakat von 1931 – die Sowjetunion versprach die Gleichstellung der Frau. Frauen gingen nun studieren und arbeiteten als Ingenieur und Busfahrer. Der Staat baute Kindergärten, aber Haushalt und Erziehung blieben doch an der Frau hängen – und verantwortungsvolle Posten unerreichbar. Das Politbüro etwa war ein reiner Männerverein: In seiner Geschichte gab es dort nur eine einzige Frau.
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Mit provokativen Auftritten hat die Punkband Pussy Riot den Feminismus auf die Tagesordnung gesetzt. Ansonsten glauben die Russen an eine traditionelle Arbeitsteilung.
tivisten Fragen der Gendergleichheit in Kombination mit anderen sozialen Themen wie den Rechten von LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Trans) und HIV-Positiven oder zum Beispiel mit dem Thema Umweltschutz.
Das Thema
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Interview irina kosterina
„Seit 2011 treten in Russland wieder konservative Tendenzen auf“ Die Koordinatorin des Projekts „Geschlechterdemokratie“ der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau über Feminismus und Antifeminismus in Russland.
Dieser Text erschien zuerst im Dossier „Gender“ des GoetheInstituts.
geburtsort: uljanowsk alter: 34
Wie groß ist das Interesse am Thema „Geschlechtergleichheit“ und Feminismus in der russischen Gesellschaft? Das Interesse an diesem Thema ist sehr groß. Man spürt, dass es die Menschen bewegt. Gender ist ein ständiger Begleiter, mit dem wir jeden Tag konfrontiert werden. Für den Feminismus trifft diese Aussage zweifelsohne so nicht zu. In Russland sind zwei Themen noch immer mit einem Stigma behaftet: Das sind die LGBT-Rechte [Lesbian, Gay, Bisexual und Trans] und der Feminismus. Sie sind mit den allerschlimmsten Vorurteilen belegt.
2011 promovierte Irina Kosterina zum Thema „Maskulinität“ und koordiniert seit 2009 bei der Heinrich-Böll-Stiftung das Programm „Geschlechterdemokratie“, in dessen Rahmen Informationsveranstaltungen wie GenderSchulungen für junge Aktivisten stattfinden sowie Konferenzen über gesellschaftliche Gleichstellung. Kooperationspartner sind die Internetportale polit.ru und chaskor.ru.
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profil: gendersoziologin
Tendenzen zeigen sich auch darin, dass in Sankt Petersburg vor Kurzem in zweiter Lesung ein Gesetz gegen homosexuelle Propaganda verabschiedet wurde.
für das Emotionale seien die Frauen zuständig. Welche Entwicklung macht die russische Gesellschaft zurzeit durch? Erwähnenswert scheint mir, dass in Russland seit 2011 konservative Tendenzen deutlicher zutage treten. Das fand vor allem Ausdruck in einem Gesetzesentwurf zur Einschränkung der Abtreibungsrechte der Frauen. Die Staatsduma hat diese Änderungspläne in Form zweier Gesetzesentwürfe im Bereich Reproduktionsmedizin und Gesundheit massiv unterstützt. Die russischorthodoxe Kirche war an der Ausarbeitung dieser Gesetzesentwürfe unmittelbar beteiligt und fungierte als wichtigster Berater. In Reaktion auf diese Pläne kam es in Moskau und Sankt Petersburg sowie anderen Städten Russlands zu öffentlichen Protestaktionen, die zum Teil erfolgreich waren. Die gravierendsten der geplanten Änderungen konnten zum Glück verhindert werden. Beispielsweise die Zustimmungspflicht des Ehemanns zur Abtreibung, was realitätsfremd ist angesichts der Situation, dass viele geschlossene Ehen nur auf dem Papier existieren. Die neuen konservativen
Liegt das an einer fehlenden Auseinandersetzung mit den Zielen der Feministen? Wenn man allgemein von den weltweiten Trends ausgeht, dann stehen Männer- und Frauenbewegungen im Einklang miteinander. Weil ihr Wesen nicht darin besteht, dass der Feminismus für Frauen ist und gegen Männer und die Männerbewegungen etwa für Männer und gegen Frauen. Der Feminismus tritt für Geschlechtergleichheit ein, und diese Gleichheit schließt die Männer mit ein. Was ist zum Thema „Vaterschaft“ in der russischen Gesellschaft zu sagen? Viele Männer haben die Vorstellung, dass der Vater derjenige ist, der das Geld verdient, seine Familie versorgt und derjenige, der nur im Ausnahmefall die Rolle des Erziehers übernimmt, indem er sagt: „Warum hast du dich mit Petja geprügelt? Das macht man nicht!“ Aber zu hinterfragen, was in der Innenwelt des Kindes vor sich geht, was es beschäftigt – dazu sind längst nicht alle Männer bereit. Man ist der Auffassung,
Spielt hier die demografische Entwicklung eine Rolle? Die demografische Entwicklung ist unser Dauerproblem, die staatlichen Strukturen und die Kirche sind sehr besorgt und bemüht, die Geburtenrate anzuheben. Aber unsere Politiker vernachlässigen hierbei die Erkenntnisse der Experten und begreifen nicht, dass ohne Migranten eine demografische Wende nicht mehr herbeizuführen ist. Die Zeit der Großfamilien mit vielen Kindern ist vorbei. Die Menschen können nicht
auf alles verzichten: Arbeit, soziale Kontakte, Reisen. Was halten Sie von Ausdrucksformen des Feminismus wie der Band Pussy Riot? Das hat seine Logik, so etwas musste kommen. Weltweit sind feministische Bands aktiv. Auf den russischen Demos gibt es jetzt auch immer einen oder mehrere feministische Blöcke. Seine Anhänger und die Vertreter der LGBT-Community gehen zusammen. Das finde ich super. Mit der Zeit wird das zu mehr Toleranz führen, einfach als Folge der Präsenz dieser Menschen. Das Gespräch führte Andreas Fertig, Goethe-Institut Moskau.
Das Goethe-Institut über Gender-Fragen Sind die Geschlechterrollen in Deutschland und Russland unterschiedlich? Warum sind Gender, Feminismus und LGBT aus dem demokratischen Vokabular nicht wegzudenken? Bloggt die „Mädchenmannschaft“ anders? Hängen
reuters/vostock-photo
Seit 2008 demonstriert die Gruppe Femen (links) in der Ukraine oben ohne, und zwar gegen Prostitution und für Demokratie. Die russische Frauenband Pussy Riot (rechts) setzt dagegen auf Verhüllung: Um anonym zu bleiben, treten sie in Häkelmasken auf. Im März wurden drei ihrer Mitglieder verhaftet.
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nis der Frauenrechte vor und zitieren Textzeilen wie „Russland braucht die feministische Peitsche“. Gleichzeitig erkennen sie aber an, dass die Gruppe in der Gesellschaft das Interesse an der Frauenproblematik erst geweckt hat. Am 21. Februar spielten sie in der Moskauer Christ-ErlöserKathedrale, dem bedeutendsten russischen Gotteshaus, den Punksong „Mutter Gottes, verjage Putin“ – als Protest gegen den Patriarchen Kyrill I., der den Präsidentschaftskandidaten Wladimir Putin öffentlich unterstützte. Unmittelbar nach dem Kurzauftritt konnten sie fliehen, im März wurden jedoch drei der Aktivistinnen festgenommen. Gegen sie wurde Anklage wegen Rowdytums erhoben, ihnen drohen bis zu sieben Jahre Freiheitsentzug. Die übrigen Aktivistinnen sind in den Untergrund abgetaucht. Auf Twitter beschreiben sie nun ihr Leben auf der Flucht: „Männer massieren uns die Füße.“
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Geschlecht, Berufswahl und Karrierechancen zusammen? Das neue Dossier des Goethe-Instituts über Gender im alltäglichen Leben, in Beruf, Ausbildung und Kunst diskutiert diese Fragen. ›› goethe.de/russland/gender
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Zeitgeschichte
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Mythos Am 15. April vor 100 Jahren sank die „RMS Titanic“ – ihr Wrack ist heute das Ziel russischer Tiefseeforscher
Ein Märchen namens „Titanic“
1. In 3803 Metern Tiefe ortete 1984 der US-Amerikaner Robert Ballard die Überreste der „Titanic“. 2. Jewgenij Tschernjajew tauchte Mitte der 1990er über 30 Mal zum Wrack. 3. Aufnahme vom Stromzähler der „Titanic“ 4. Der gewaltige Propeller
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zu 18 Stunden verbrachte die Crew unter Wasser, allein fünf Stunden dauerten Ab- und Aufstieg. Immer wieder verlangte der Regisseur, die aufwendigen Kamerafahrten ein zweites und ein drittes Mal zu wiederholen. Jeder Tauchgang wurde vorher an Deck der „Keldysch“ in einem dunklen Zelt an einem Modell millimetergenau geprobt. Zur Simulation des trüben Wassers wurde Rauch ins Zelt gelassen.
Aufnahmen vom Wrack 3
Diana laarz
für russland heute
Jewgenij Tschernjajew tritt auf, wie es sich für einen ausgezeichneten „Helden Russlands“ gehört. Ein Mann mit versteinerten Gesichtszügen, aufrechter Haltung, grauen Strähnen im Schnurrbart, auf seinem Jackenärmel prangt groß die russische Flagge. Doch alles ändert sich, wenn Tschernjajew in Gedanken abtaucht. In eine Welt unter Wasser. Dann wird aus Jewgenij Schenja. Mit diesem Kosenamen rufen ihn seine Mitarbeiter. Das Gesicht des 57-Jährigen bekommt etwas Lausbubenhaftes, und die Sätze finden kein Ende mehr. Jewgenij Tschernjajew erzählt von Bronzeleuchtern, die nach Jahrzehnten unter Wasser immer noch glänzen, Flaschen, auf denen noch immer Korken stecken und Holzsäulen mit fabelhaften Schnitzereien. Tschernjajew hat das nicht irgendwo gesehen. Er spricht von dem Schiff, das wie kein zweites Begeisterung und Fantasie der Menschen beflügelt hat: die „Titanic“. Am 15. April vor 100 Jahren ist sie gesunken. Und wohl niemand kennt das Wrack, das in einer Tiefe von fast 3800 Metern am Grund des Atlantischen Ozeans ruht, so gut wie Jewgenij Tschernjajew.
Achtmal „Titanic“
Als Pilot des russischen Forschungs-U-Boots Mir-2 hat er acht Expeditionsfahrten zur „Titanic“ unternommen, insgesamt kommt er auf etwa 1000 Stunden Tauch-
gang rund um das sagenumwobene Wrack. Er habe von dieser Rolle in der Geschichte der „Titanic“ nie geträumt, sagt er, nicht einmal daran zu denken gewagt. Es sei ihm irgendwie passiert. Genauer müsste man sagen: Die Perestrojka kam für Tschernjajew gerade zur rechten Zeit. Der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West war noch nicht lange gefallen, da befanden sich Russen und Amerikaner schon gemein-
„James Cameron will die beste Technik, das beste Team, die besten U-Boote. Er ist wie ein Ingenieur, versteht alles.“ sam auf Tauchfahrt zur „Titanic“. Der amerikanische Unterwasserarchäologe Robert Ballard hatte das Wrack im Herbst 1985 entdeckt, zwei Jahre später lieferte die finnische Firma Rauma-Repola die am Moskauer SchirschowInstitut für Ozeanologie entwickelten Forschungs-U-Boote Mir-1 und Mir-2 an Russland aus. Da traf es sich gut, dass die kanadische Filmfirma IMAX gerade auf der Suche nach einem geeigneten Gefährt war, um den Dokumentarfilm „Titanica“ zu drehen. Es hätte andere U-Boote anderer Staaten gegeben, die ebenso tief hätten tauchen können. Aber keines erfüllte die Anforderungen der Filmemacher so gut wie die Mir. Sie bot Platz genug für Kamera und Taucher, und sie hatte ein extragroßes Bullauge, durch das sich ungestört filmen ließ. Als Regisseur Stephen Low Jewgenij Tschernjajew fragte, wie viel Energie und Licht das kleine U-Boot liefern könne, fiel die Antwort kurz und prägnant aus: „Du be-
kommst von mir so viel Licht, wie du brauchst.“ Am 10. Mai 1991 stach das russische Forschungsschiff „Akademik Mstislaw Keldysch“ von Kaliningrad aus in See. An Bord: die beiden Mir-Boote und eine internationale Crew, darunter Jewgenij Tschernjajew, der seinem Glück immer noch nicht ganz trauen wollte.
Tauchgang in große Tiefe
Denn eigentlich standen die Dinge in Russland und am SchirschowInstitut 1991 nicht gerade zum Besten. Das Land war in Aufruhr, die Wirtschaft zusammengebrochen. Die Tiefseeforscher bangten um ihre Existenz, an eine Zukunft wagten sie gar nicht zu denken. Die Mir-Piloten hatten noch fast keine Erfahrungen mit Tauchgängen in dieser Tiefe, und das Wetter über dem Atlantik spielte zunächst nicht mit. Doch alle Stürme waren vergessen, als die beiden Mir-Boote tatsächlich das erste Mal das Wrack der „Titanic“ erreichten. Tschernjajew teilte sich den engen Platz mit der IMAX-Kamera und zwei Kameraleuten, das Steuer erreichte er nur mit äußersten Verrenkungen. Tschernjajew hat davor und danach noch viele andere Wracks gesehen, das der „Bismarck“ zum Beispiel, und er ist bis auf den Boden unter dem Nordpol getaucht. Die Erinnerung daran, wie das Skelett der „Titanic“ plötzlich aus dem Dunkeln auftauchte, stoppt noch über 20 Jahre nach dem Tauchgang seinen Redefluss. So viele Gedanken sind auf den U-Boot-Piloten eingestürzt, dass er sie kaum in Worte fassen kann. Er habe daran denken müssen, wie dieses imposante Schiff über den Ozean geflogen sei, was für mutige Männer und
Frauen dort gearbeitet hätten und welche Tragödie der Untergang gewesen sei. Tschernjajew erkannte rostige Relingsstangen, Silbermünzen, unbeschädigtes Geschirr. „Das Wasser ist mein Element, und jeder Tauchgang ein Märchen“, sagt er. Die „Titanic“ ist sein Lieblingsmärchen. Dass der amerikanische Regisseur James Cameron nur ein paar Jahre später gemeinsam mit den beiden Mir-Crews aufbrach, um seinen Spielfilmklassiker „Titanic“ zu drehen, kann man fast als Happy End dieses Märchens bezeichnen. Auch wenn die Arbeit mit dem Perfektionisten Cameron manchmal zu einer Tortur wurde. Bis
Diana Laarz schreibt für die Agentur Zeitenspiegel Reportagen.
Das Schicksal der „Mstislaw Keldysch“
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Seit einem Jahrhundert schlummern die rostigen Gebeine des sagenumwobenen Luxusdampfers am Meeresgrund. Wie es heute da unten aussieht, wissen wir dank russischer Technik.
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„Cameron will die beste Technik, das beste Team, die besten U-Boote“, sagt Jewgenij Tschernjajew, und in seiner Stimme klingt Bewunderung mit. Dass der technisch versierte Cameron schon lange von der Unterwasserwelt fasziniert war, half bei der Zusammenarbeit. „Er ist wie ein Ingenieur, versteht alles.“ Cameron ist später der russischen Tiefseewelt treu geblieben. 2010 tauchte er mit der Mir-1 auf den Grund des Baikalsees. Seine letzte Expedition vor wenigen Tagen führte ihn zum tiefsten Meerespunkt, dem Marianengraben – 50 Jahre, nachdem der Schweizer Forscher Jacques Piccard zuletzt dort war. Die Russlandpremiere von Camerons „Titanic“ fand schließlich in Kaliningrad statt, dem Heimathafen der „Akademik Mstislaw Keldysch“. Jewgenij Tschernjajew hat der Film durchaus gefallen. Am allerbesten natürlich die Szenen, die Originalaufnahmen vom Wrack zeigen. Wenn man aufmerksam hinschaut, kann man es erkennen, das Märchen des Schenja Tschernjajew.
1997 rückte James Cameron mit seinem Film „Titanic“ den tragischen Untergang der „RMS Titanic“ wieder ins öffentliche Bewusstsein. Am 5. April läuft der Film in überarbeiteter 3DFassung in den deutschen Kinos an. Für die Dreharbeiten unter Wasser hatte der Regisseur das russische Forschungsschiff „Akademik Mstislaw Keldysch“ ausgesucht. „Ohne die ‚Keldysch‘-Leute und ihr Mir-U-Boot hätten wir den Film niemals drehen können“, soll Cameron bei der Russ-
landpremiere in Kaliningrad gesagt haben – dort, wo das Schiff vor Anker liegt. Das war vor 15 Jahren. Heute sieht es düsterer aus um die „Keldysch“: „1500 Euro pro Tag an Hafengebühren, diese Summe konnten wir uns auf Dauer nicht leisten“, sagt Robert Nigmatullin, Direktor des Schirschow-Instituts für Ozeanforschung. Das Forschungsschiff wurde deshalb für kommerzielle Fahrten freigegeben. „Es ist ein Jammer“, stellte Mir-Pilot Tschernjajew mit Bedauern fest.
Wissen
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Wissenschaft Russische Polarforscher stoßen zum unterirdischen Wostoksee vor
Neue Welten unter der Antarktis
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Es ist eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres in der Naturwissenschaft: Russische Forscher haben den See Wostok angebohrt, der 15 Millionen Jahre isoliert war. KINES KISIITOW
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In den 50er-Jahren entdeckte der Geograf Andrej Kapiza am Südpol einen bis zu 1200 Meter tiefen und Hunderte Kilometer langen See. 3500 Meter unter dem ewigen Eis liegen 6000 Kubikkilometer Wasser, seit 15 Millionen Jahren völlig isoliert von der Außenwelt. Vor über 60 Jahren konnte man natürlich nur davon träumen, jemals mit einer Bohrung zu dem See vorzustoßen. Vor wenigen Wochen war es jedoch so weit: „Am 5. Februar um 20.25 Moskauer Zeit drang das Bohrgerät in einer Tiefe von 3769,3 Metern in das Wasser des unter dem Gletscher befindlichen Sees ein“, meldete eine Presseerklärung des Staatlichen Instiuts für Arktis- und Antarktisforschung Sankt Petersburg. Erste Wasserproben sollen bereits im Mai nach Sankt Petersburg geliefert werden. Die russischen Wissenschaftler jubeln und vergleichen die Bedeutung dieses Durchbruchs mit dem ersten Flug ins Weltall oder der Landung auf dem Mond. Sergej Jakuzeni, Vorsitzender des Gesellschaftsrates der Föderalen Agentur für Nutzung der Bodenschätze, urteilt: „In Hunderttausenden von Jahren und in völliger Dunkelheit hat sich dort das Leben unter ganz anderen Bedingungen als auf der Erdoberfläche entwickelt, sodass man diesen See als ‚Avatar der Wissenschaft‘ bezeichnen könnte.“ Wissenschaftler konnten bisher über Art und Größe der dort lebenden Organismen nur spekulieren. Jakuzeni schließt nicht
aus, dass den konnten sie See Urzeitfiwieder aufSüdpol sche oder an genommen Dinosaurier werden. erinnernde Die PolarWostoksee a rchaische forscher L eb e we s e n haben Russbewohnen land HEUTE könnten. Doch erzählt, wie sie auch wenn die sich in Schnee Forscher nur Mikund Eis zurechtgeroorganismen nachweifunden haben. Das sen, ist die wissenschaftliTerritorium ist in einen 100 che Leistung enorm. Die gewon- Meter voneinander entfernten ne ne n Dat e n we r de n ne ue Wohn- und Arbeitsbereich unterErkenntnisse über die Klimaver- teilt. Das Bohrhaus ist rund 70 änderungen der letzten Jahrmil- Quadratmeter groß und wird von lionen bringen. einem Dieselgenerator beheizt. Darin befinden sich der Bohrturm, die Seilwinde, eine Werkstatt, ein Ein 20-jähriges Experiment Jakuzeni erinnert auch an die ex- Thermo-Lagerraum, die wissentremen klimatischen Bedingun- schaftlichen Instrumente und Lagen, unter denen die Polarforscher boratorien. Hier wird rund um die die Bohrungen durchführten: Im Uhr in drei achtstündigen Schichantarktischen Sommer wird es bis ten gearbeitet. „Ein Minimum an Alltagsgegenständen und Komfort, eine schlanke Personalstruktur und sehr viel 15 Millionen Jahre war Arbeit“, so skizziert Sergej Jakuder Wostoksee isoliert zeni den Alltag der Wissenschaft– Experten nennen ler. Doch diese erinnern sich gerne ihn einen „Avatar der an ihre Zeit auf der Forschungsstation zurück. Wissenschaft“. zu minus 35 Grad „warm“, im Winter sind es minus 60, manchmal minus 70 Grad. „Das Metall zerfällt teilweise aufgrund der extrem niedrigen Betriebstemperaturen“, sagt Jakuzeni. Dabei stand die Zukunft des Unternehmens vor einigen Jahren noch in den Sternen. Trotz der über zwanzigjährigen Bohrerfahrung der russischen Crew stoppte das Wissenschaftliche Komitee für Arktisforschung im Jahr 1998 das Projekt. Grund waren ökologische Bedenken gegenüber der von den Forschern verwendeten Technologie. Acht Jahre lang waren die Bohrungen lahmgelegt, erst 2006
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Das Geheimnis der Anpassung
„Die Temperatur im Haus ist angenehm, auch wenn sie bei starkem Wind auf 13 bis 15 Grad abfallen kann“, so Wiktor Bojarskij, einer der Pioniere des Projekts. Die extrem niedrigen Außentemperaturen sind das kleinere Problem. Mehr zu schaffen macht der geringe Sauerstoffgehalt der Luft, denn die Station liegt 3483 Meter über dem Meeresspiegel. Körperliche Arbeit wird dadurch massiv eingeschränkt. Deshalb müssen alle Forscher ein medizinisches Check-up durchlaufen, bevor sie in die Antarktis geschickt werden. „Es ist sehr wichtig, eventuelle verborgene Er-
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krankungen im Voraus zu erkennen. Herz und Blutdruck müssen zu 100 Prozent in Ordnung sein, die Zähne sollten in einem optimalen Zustand sein, und idealerweise ist der Blinddarm entfernt“, berichtet Bojarskij weiter. Der erfahrene Polarforscher Bojarskij, der schon vor 25 Jahren auf der Station lebte, kennt das Geheimnis zur erfolgreichen Anpassung an die extremen Bedingungen: „Einmal bin ich im Hundeschlitten und auf Skiern zur Wostok-Station gefahren. Die Reise dauerte lange, fast ein halbes Jahr, aber dadurch wurde letztendlich die bestmögliche Akklimatisierung erreicht. Als wir endlich angekommen waren, rannten wir quicklebendig wie kleine Kinder auf der Station herum, während die anderen ihrer Arbeit nur mit großer Mühe nachgehen konnten.“
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Meter unter der Erdoberfläche stießen die russischen Polarforscher am 5. Februar dieses Jahres auf das Wasser des Wostoksees.
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Kilometer lang und 50 Kilometer breit ist der Wostoksee, das entspricht etwa 25 Mal der Fläche des Bodensees.
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Grad Celsius unter Null war die niedrigste Temeratur auf der Erde, 1983 gemessen auf der russischen Polarstation über dem Wostoksee.
Zwanzig Jahre bis zum Wostoksee In den 50er-Jahren errechnete der sowjetische Geograf Andrej Kapiza anhand seismologischer Messungen, dass sich etwa vier Kilometer unter dem antarktischen Eis ein riesiger See befinden müsse. Jedoch erst 1996 konnte ein internationales Team seine Existenz unter anderem durch luftgestützte Radarmessungen zweifelsfrei beweisen. Sowjetische Forscher begannen in den 1970er-Jahren mit Bohrungen in Richtung Wostoksee. In den 1990erJahren gab es bereits vier Bohrlöcher, von denen jedoch keines die angestrebte Tiefe von 3800 Metern erreichte. Zudem bremste die Gefahr einer möglichen Kontamination des Wassers beim Eindringen des Bohrkopfes das Projekt. Erst die fünfte Bohrung brachte am 5. Februar 2012 den gewünschten Erfolg.
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Meinung
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meine TJoscha und ich Moritz Gathmann
journalist
dmitry divin
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ber die „Tjoscha“, wie die Mutter der Ehefrau in Russland heißt, gibt es eine Unmenge von Anekdoten. Die eine, die ich mir merken kann und die sich pars pro toto geradezu anbietet, geht so: Die Tjoscha kommt zum Schwiegersohn zu Besuch. Schwiegersohn: Oh, die Mama ist gekommen. Bleiben Sie lange? Tjoscha: Na ja, so lange, bis ihr mich satt habt. Schwiegersohn: Also nicht mal einen Tee wollen Sie? Ergo: Das Verhältnis Schwiegersohn/Schwiegermutter ist zentral im russischen Familienkosmos. Und gilt als höchst kompliziert, denn die Schwiegermutter will ihm die Mutter ersetzen. Idealerweise – und auch weit verbreitet – wird die Tjoscha dementsprechend nach einer kurzen Eingewöhnungsphase vom Schwiegersohn als „Mama“ angesprochen. In Deutschland gilt das als ausgesprochen antiquiert. Überhaupt spielt der Familienzusammenhalt in Russland eine weitaus wichtigere Rolle als in Deutschland. Er wurde noch wichtiger in den 90er-Jahren, als das Land auseinanderfiel und als einzige funktionierende Institution die Familie übrig blieb. In Russland gilt „Blut ist dicker“, und mögen sich die Familienmitglieder auch noch so unterscheiden – äußerlich, innerlich, politisch oder sonstwie. Wer also eine Russin oder einen Russen heiratet, muss
Russinnen geben gerne einen Teil ihrer Selbstständigkeit auf, damit Mann sich als Kavalier fühlen kann. darauf gefasst sein, felsenfest in ihre Familie integriert zu werden. Die Deutschen mögen das als beengend empfinden, aber keine Panik: Als Lohn dafür gibt es – so man das Placet der Tjoscha erhält – grenzenlose Zuneigung, Borschtsch und Buletten auf Lebenszeit. Denn die Liebe der Tjoscha geht durch den Magen. Zwar gibt es auch die eine oder andere Deutsche, die sich einen russischen Mann sucht. Aber meist ist es doch andersherum: Deut-
sche Männer stehen auf russische Frauen. 2010 lag Russland zusammen mit der Ukraine und Weißrussland als Brautexporteur für Deutsche auf dem ersten Platz. Russische Frauen werden von den meisten deutschen Männern als „weiblicher“ empfunden. Gegen Emanzipation haben Russinnen im Prinzip nichts, aber dass sie auch ihr Äußeres betreffen soll, wird nicht akzeptiert. Sie schminken sich mehr, tänzeln auf atemberaubend hohen Stöckelschuhen durchs Leben und genießen es, wenn ein Mann ihnen in den Mantel hilft, die Tür öffnet oder einen Strauß Rosen schenkt. Russische Frauen geben mit Vergnügen einen Teil ihrer Selbstständigkeit auf, damit Mann sich als Kavalier der alten Schule fühlen kann: Oft haben sie keinen Führerschein, empfinden es aber als äußerst an-
wie völkerverständigung in der praxis funktioniert Martin Hoffmann
deutsch-russisches Forum
Ü
ber Völkerverständigung kann man viel sagen. Staaten schließen darüber Verträge ab wie die Russische Föderation und die Bundesrepublik Deutschland über die Kriegsgräberfürsorge. Der Vertrag sei, so steht es darin, „der konkrete Ausdruck der Verständigung und der Versöhnung zwischen den Völkern Russlands und dem deutschen Volk.“ Solche Dokumente freilich bleiben Papier, wenn es nicht Menschen gibt, die sie mit Leben erfüllen. In diesem Fall sind es Reinhard Führer, Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge und Nikolaj Owtscharow, Bürgermeister der Stadt
Kursk. Die beiden erhielten soeben in Berlin den Dr. Friedrich Joseph Haass-Preis des DeutschRussischen Forums – eine Auszeichnung, die vor ihnen schon viele andere bekommen haben, die sich im deutsch-russischen Austausch für Menschenrechte, Völkerverständigung und Friedenswillen eingesetzt haben. Reinhard Führer und seine Organisation arbeiten mittlerweile in 45 Staaten für würdige Kriegsgräber, es ist eine Versöhnung über den Gräbern und damit eine Arbeit für den Frieden. Das war auch dem Kursker Bürgermeister Nikolaj Owtscharow klar, als er 2004 von den Bemühungen des Volksbundes erfuhr, im Kursker Gebiet für die dort gefallenen Soldaten einen Sammelfriedhof zu errichten. Owtscharow war damals Vizegouverneur der Region,
Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de
Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redaktion dar.
und er verstand, um was es ging: Es ging darum, die Gebeine von 33 000 Wehrmachtssoldaten, die im Laufe einer der gewaltigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs – der Kursker Panzer-
Solche Menschen zeigen, dass nichts geschieht, wenn es keinen gibt, der etwas tut und Verantwortung übernimmt. schlacht – gefallen waren, würdig zu bestatten. 2009 konnte dieser Friedhof eingeweiht werden, gemeinsam mit 300 Angehörigen der gefallenen deutschen Soldaten, die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben.
genehm, wenn Mann sie chauffiert. Allerdings habe ich deutsche Bekannte, die solche „Spielchen“ in den Wahnsinn treiben. „Thomas, ich hab meinen Schirm vergessen, holst du ihn mir?“, sagt sie auf der Straße. „Hol ihn dir doch selber“, sollte man wohl bäffen, aber nein – das ist ja das Spiel. Ähnliches gilt fürs Rucksack-, Koffer- und Taschentragen. Aber Vorsicht! Der Schock kann groß sein, erlebt man jene Grazien in den eigenen vier Wänden. Denn Teil des „Spiels“ ist auch der Unterschied zwischen dem „Draußen“ und „Drinnen“: Nach dem Übertreten der Türschwelle werfen sie Pelze, Stöckelschuhe, manche gar Perücken von sich, und stürzen sich mit Trainingsanzügen, Schürzen und Schlappen in die Hausarbeit. Womit wir beim wohl wichtigsten Unterschied wären. Der Rollenverteilung: Ja, sie ist in Russland ziemlich traditionell. Die Frau kocht, putzt und kümmert sich um die Kinder, der Mann ist fürs Grobe zuständig: Autokauf und -reparatur, Wohnung renovieren, arbeiten, Kriege führen. Zwar gibt es in den Großstädten junge Leute, die das anders handhaben – aber besonders den Männern fällt es schwer, sich von der Rolle zu trennen, die sie von der eigenen Mutter anerzogen bekommen haben. Und sollte er sich mal in der Rollenverteilung derart verheddern, dass er einfach nicht mehr weiterweiß, dann geht er eben zur Tjoscha. Kaum über der Türschwelle wird er dort hören: „Setz dich, hier hast du einen Borschtsch und Buletten.“
Geschichten wie diese sind es, die die menschliche Seite des Dialogs zwischen Deutschland und Russland stark machen. Menschen wie Reinhard Führer und Nikolaj Owtscharow beweisen, dass nichts geschieht, wenn es niemanden gibt, der es macht. Solche Menschen wird man auch für andere Themen brauchen, etwa für den Dialog über Menschenrechte, der mit Russland noch der Ausprägung bedarf. Die Qualität von Menschenrechten findet ihre Erprobung im Wahlrecht, im Mediensystem, in der Meinungsfreiheit, in der Ordnungs- und Sozialpolitik, in einem fairen Justizwesen und auch darin, dass nicht einige wenige die vielen ausbeuten. Diese Gespräche sind notwendig. Dass sie auch möglich sind, ist Gradmesser für die Qualität von Zivilgesellschaften und politischer Führung, die (auch in der Bundesrepublik) immer selbstkritisch bleiben müssen. Martin Hoffmann ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums.
Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114
reflektiert
Der Bock stößt zurück Der Ulenspiegel
I
Zeitzeuge
m März diskutierte die Duma über die Einhaltung der Menschenrechte in der EU. Ernsthaft? Das heißt doch, den Bock zum Gärtner machen! Wie kann ein Land, das hierbei erhebliche Defizite hat, andere belehren? Gegenfrage: Warum kann Europa Russland, China und anderen in Sachen Menschenrechte Nachhilfe geben? Weil in den westlichen Ländern alles bestens ist? Das würde selbst der überzeugteste Verfechter westlich-liberaler Werte nicht behaupten. Aber dafür gibt es ja die Menschenrechtsorganisationen, die Mängel in Ost und West gleichermaßen anprangern. So hoch das Ansehen der NGOs im Westen ist, so unbeliebt sind sie in Russland. Man sieht sie nicht als neutrale Wächter heiliger Prinzipien, sondern als Propagandainstrumente. Ganz unschuldig ist der Westen nicht. In den USA erhält etwa „Freedom House“ Mittel aus Regierungsetats. Das ist gefundenes Fressen für Kritiker. Wenn die Anwälte der Freiheit auch noch selektiv vorgehen und Menschenrechtsverletzungen bei den Freunden des Westens weniger eifrig anklagen als in „Schurkenstaaten“, dann sehen sich die Russen schnell als Opfer westlicher Intrigen. Der Westen macht es seinen Kritikern leicht, können Regierungen doch berechtigte Kritik als feindseliges Manöver abbügeln. Sollte es der Westen umgekehrt genauso halten? Die russische Kritik als getrost zu ignorierende Retourkutsche abtun? Will der Westen zeigen, dass Menschenrechte mehr sind als ein Kampfbegriff missionarischer Diplomatie, sind unsere Politiker gut beraten, den Anstößen aus Russland Beachtung zu schenken. Man muss ja nicht alles zum Nennwert nehmen, aber die Berichte sollten nicht ungelesen im Papierkorb landen. Vielleicht wird ja wirklich auch in der EU der eine oder andere Bock geschossen, und es kann für alle nützlich sein, sich damit ernsthaft zu befassen. In Russland sind viele Menschen, nicht nur Anhänger der Regierung, davon überzeugt, dass ihr Land ganz anders ist. Westliche Maßstäbe würden einfach nicht auf das Riesenreich passen. Damit auch Russen Bock auf Menschenrechte haben, muss der Westen für seine Werte auf eine glaubwürdige und nicht überhebliche Weise eintreten. Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.
Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion
Feuilleton
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU
LESENSWERT
Kunst Die Peredwischniki-Maler erstmals in Deutschland zu sehen
Russische Realisten auf Wanderschaft MATTHIAS ZWARG
FÜR RUSSLAND HEUTE
Die Ausstellung „Die Peredwischniki – Maler des russischen Realismus“ in den Kunstsammlungen Chemnitz hätte gewiss den Intentionen der Peredwischniki entsprochen, steht der Name doch für die „Gesellschaft zur Veranstaltung von künstlerischen Wanderausstellungen“. 1870 gegründet, wollte diese Sezessionsbewegung dem strengen, zensierten akademischen Kunstbetrieb im zaristischen Russland entfliehen und ihre Werke auch außerhalb der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg zeigen, was den „schläfrigen Garnisonsstädtchen“, so ein Zeitgenosse, „die frische Luft der freien Kunst“ bescherte. Zu einer Zeit, als das akademische Kunststudium in Russland unter Polizeiaufsicht stand, ein mutiger und erfolgreicher Akt der Emanzipation. Auf ihrer Wanderschaft machen 87 Gemälde von 41 Peredwischniki nach Stockholm nun in Chemnitz Station. Die Gemälde von Ilja Repin, Isaak Lewitan und Archip Kuindschi, um nur die Bekanntesten zu nennen, stammen aus der Tretjakow-Galerie Moskau und dem Staatlichen Russischen Museum Sankt Petersburg. „Ich glaube fest, dass die allgemeine Aufklärung bei uns niemandem schaden kann“, schrieb
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Fjodor Dostojewski 1873, bemerkte aber: „Das Volk ist für uns alle noch immer Theorie und ein Rätsel.“ Ein Land begann, sich zu entdecken. Entdeckungen, die man in der Ausstellung nachvollziehen kann und die ihr Licht auch auf das heutige Russland werfen. Nicht nur die Landschaft, vor allem das Volk wurde Gegenstand der Malerei – vom aufgeklärten Bürger über selbstbewusste Studenten bis zu den gerade von der Leibeigenschaft befreiten Bauern.
„Aufklärung kann nicht schaden, denn das Volk ist noch immer Theorie und ein Rätsel.“ Fjodor Dostojewski 1873 Mit ihrer Nähe zum Volk trugen die Peredwischniki dazu bei, dass sich ein Land, das aus dem Feudalismus ins bürgerliche Zeitalter strebte, seiner selbst bewusst wurde. „Unerwartet“ von Ilja Repin aus den Jahren 1884/1888 erzählt in einer einzigen Szene die Tragik jener Jahre: das Bild des von Anarchisten ermordeten Zaren Alexander II. an der Wand, das ungläubige Staunen der Familie ob des plötzlichen Heimkehrers, der wohl politischer Häftling war und als gebrochener Mensch zurückkommt. Nur ein kleiner Junge freut sich. Viele Bilder erzählen solche Geschichten, die nicht immer eindeutig und oftmals vielleicht „klüger“ als ihre Schöpfer sind. Selbst politisch inspirierte Gemälde wie
THEATER „DER SPIELER“ 13. UND 21. APRIL, BERLIN, VOLKSBÜHNE
Wladimir Makowskis „Abendgesellschaft“, das die Zusammenkunft einer Gruppe von Geheimbündlern darstellt, lassen sich nicht auf Sozialkritik reduzieren – ebenso wenig wie das berühmteste Bild der Ausstellung, „Die Wolgatreidler“ von Ilja Repin, dem es um Menschenwürde und Wahrhaftigkeit ging. Die Ausstellung zeigt berührend die Kraft realistischer Malerei, wenn sie von politischer Instrumentalisierung frei und der Wahrheit verpflichtet ist. Dann behält sie ihren Zauber und ihre aufklärerische Kraft und spiegelt wie in einem prophetischen Bilderbogen auch das heutige Drama Russlands: die schöne, schiere Unendlichkeit des Landes, in dem es Jahre dauern kann, ehe politische, soziale, wirtschaftliche Veränderungen im letzten Winkel angekommen sind; das wilde Selbstbewusstsein wie in Repins „Die Saporoscher Kosaken schreiben einen Brief …“; die bestürzende Ungleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückständigkeit in den „Wolgatreidlern“, in deren Hintergrund ein Dampfschiff zeigt, dass die unmenschliche Arbeit längst überflüssig wäre; die tiefe Spaltung in Aristokratie, aufgeklärtes Bürgertum und mysteriöses „Volk“. Dem Leid und der Hoffnung dieses Volkes haben sich die Peredwischniki angenommen.
Vom 5. April bis 9. Juli ist im Berliner Martin-Gropius-Bau die Ausstellung „Baumeister der Revolution“ zu sehen. Sie lenkt den Blick auf einen Bereich der frühen sowjetischen Avantgarde, der bis heute auch in Russland relativ unbekannt ist: die Architektur. Die Bauwerke im Sowjetrussland der 1920er-Jahre waren geprägt von radikaler Erneuerung und kaum zu bändigender Gestaltungskraft. Die Architekten der neuen Generation ließen sich vor allem von der kühnen Abstraktionssprache rein geometrischer Formen inspirieren. In Ablehnung des zaristischen Baustils gossen sie die Ideale einer sozialistischen Epoche in Stahl und Beton und schufen höchst innovative Entwürfe für Bauwerke, die der neuen Bestimmung des Staates, den sozialistischen Vorstellungen von Wohnen, Arbeit und Erholung sowie Programmen für Wirtschaft und Industrie dienen sollten. Architekten wie Nikolai Ladowski und Wladimir Krinski entwarfen beispielsweise erste Pläne für „sozialistische Städte“ und Häuser, die als Kommune dienen sollten. Die zahlreichen historischen Fotografien im Ausstellungsband zeigen, dass diese Bauten eine neue Zeit verkörperten: Sie überragten die gewachsenen urba-
Der Autor ist Mitarbeiter der Freien Presse Chemnitz. „Die Peredwischniki – Maler des russischen Realismus“ bis 28. Mai in den Kunstsammlungen Chemnitz
nen Strukturen und waren ein Signal für den radikalen Umbau des alten Russlands. Die Fotografien des britischen Architekturfotografen Richard Pare wiederum führen den Leser in die Gegenwart. Die dabei dokumentierten Spuren des Verfalls belegen, dass sich die postsowjetische Gesellschaft nicht zu diesem außergewöhnlichen Erbe bekennt. Der erste wichtige Bau in Moskau nach der Revolution war der Schabolowka-Funkturm von Wladimir Schuchow. Seine elegante und filigrane Struktur setzte einen bewussten Kontrapunkt gegen den gewichtigen Klassizismus der Zarenära. Von ihm wurden die Radiosendungen der Kommunistischen Internationalen ins Land getragen. Als sich Mitte der 1930er-Jahre das politische Klima in der Sowjetunion gravierend änderte und Stalin einen monumentalen, sich am Klassizismus orientierenden Baustil förderte, endete dieses Kapitel der Avantgarde. Der Ausstellungskatalog holt deren wichtigsten Vertreter aus der Vergessenheit zurück. Die Lektüre des Bandes ist damit unverzichtbar für jeden, der an der sowjetischen Architektur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert ist. Baumeister der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 1915-1935. Mehring Verlag, Berlin 2011. (Paperback 25,00 Euro, gebundene Ausgabe 39,90 Euro) Matthias Uhl Russland HEUTE verlost 10 x 2 Eintrittskarten zur Ausstellung „Baumeister der Revolution“. Mehr unter www.russland-heute.de
PRESSEBILD (2)
Maler wie Ilja Repin machten sich Ende des 19. Jahrhunderts daran, ihr eigenes Land zu erforschen. Die Ausstellungen der Peredwischniki provozierten das restriktive Zarenregime.
Die vergessenen Baumeister der Russischen Revolution
ANDRE KOCH
Gemälde der Wandermaler in den Kunstsammlungen Chemnitz
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Sowjetavantgarde: Wendeltreppe, Melnikow-Haus (1929) in Moskau
FILM 12. FESTIVAL DES MITTEL- UND OSTEUROPÄISCHEN FILMS
KLASSIK ANNA NETREBKO UND ERWIN SCHROTT
18.-24. APRIL, WIESBADEN/FRANKFURT
29. APRIL, BADEN-BADEN, FESTSPIELHAUS
In seinem Roman „Der Spieler“ verarbeitete der Schriftsteller Fjodor Dostojewski 1866 seine eigene Spielsucht, die ihn am Ende in den Ruin trieb. Der Volksbühne-Regisseur Frank Castorf setzt mit der Inszenierung die Serie seiner eigenwilligen DostojewskiInterpretationen fort.
Für Liebhaber des osteuropäischen Films: Hier gibt es all jene Filme zu sehen, die es leider viel zu selten ins Kino schaffen. Unter anderem zu sehen Alexej Balabanows Film Noir „Der Heizer“ (Kochegar) und „Sibirien – Monamour“ von Slawa Ross.
Zusammen mit dem uruguayischen Bassbariton Erwin Schrott und begleitet von der Baden-Badener Philharmonie trägt die gefeierte Sopranistin Anna Netrebko an diesem Abend anspruchsvolle Arien von Mozart bis Gershwin vor.
› volksbuehne-berlin.de
› filmfestival-goeast.de
› festspielhaus.de
empfiehlt
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Porträt
www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau
Opposition Vom Regionalpolitiker zum Beinahe-Vizepremier – dann zum außerparlamentarischen Oppositionellen
Der Historiker mit einem guten Händchen für Verhandlungen Alexander Braterskij für russland heute
„Neutral und ungefährlich“. So wird der Politiker und Oppositionelle Wladimir Ryschkow von seinem Konkurrenten Boris Nemzow beschrieben. In dieser kränkenden Charakterisierung mag ein Körnchen Wahrheit stecken. Doch die Neutralität Ryschkows, der eher einem jungen Professor als einem Volkstribun gleicht, trägt Früchte. Dank der in Aussicht gestellten politischen Reform wird seine 2007 aufgelöste Republikanische Partei demnächst wieder registriert. Ryschkow könnte bald in die parlamentarische Politik zurückkehren. Auf einer der jüngsten Protestaktionen sah Ryschkow allerdings überhaupt nicht nach Duma aus: In Joppe und Ohrenklappenmütze auf der Tribüne stehend, hat er die Kundgebung geleitet – fast wie die Demokraten der Perestroika. Derartige Großveranstaltungen sind für ihn nichts Ungewöhnliches, gern erzählt er von den ersten demokratischen Meetings, die er in der Altai-Region organisierte. Von dort, aus Ostsibirien, stammt Ryschkow. Die gesetzte Redeweise und seine politische Erfahrung hat der studierte Historiker auf dem Weg vom Straßendemokraten der Perestroika zum Abgeordneten der Staatsduma und stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der JelzinPartei Unser Haus Russland erworben. Im Dezember 1993, mit 27 Jahren, zog Ryschkow in die Duma ein, 1997 wurde er stellvertretender Parlamentssprecher, 1998 ernannte Jelzin den jungen Politiker zum Vizepremier für soziale Fragen. Doch Ryschkow weigerte sich, den Posten anzunehmen, es fehle ihm an Erfahrung. Seine politischen Gegner machen ihm bis heute die damalige Kooperation mit der Regierung Jelzin und später Putin zum Vorwurf. Aber er wehrt ab: „Ja, wir haben eine Menge Fehler gemacht, dabei aber nach mehr Markt und Demokratie gestrebt. Das Parlament war zu meiner Zeit ein Ort für Diskussionen!“ Ryschkow betont, sofort nach der Verhaftung des Medienmoguls Wladimir Gussin-
ski und einer Wiederverstaatlichung der Medien auf Oppositionskurs zu dem im Jahr 2000 gewählten Putin gegangen zu sein. Er nennt sich selbst den „ältesten Oppositionellen“: Wesentlich früher als die beiden anderen Oppositionsführer Nemzow und Michail Kasjanow begann er, Putin zu kritisieren. Als dieser begonnen habe, die direkt gewählten Gouverneure aus dem Amt zu jagen, sei ihm klar geworden, dass „dieser Mann die letzten Keime der Demokratie vernichtet hat“.
Ich weiß, dass meine Kritiker mich als unentschlossen bezeichnen. Aber man muss vorsichtig sein, manchmal sogar unentschlossen, um keinen Flurschaden anzurichten. Bis 2007 blieb Ryschkow Dumamitglied, dann wurde seine Republikanische Partei aufgelöst. Seitdem gehört er zur außerparlamentarischen Opposition, lehrt an der Moskauer Hochschule für Ökonomie, moderiert eine Sendung auf Echo Moskaus, schreibt Artikel für Zeitungen. Ryschkow spricht am liebsten von Alexander II., jenem Zaren, der die Leibeigenschaft abschaffte: „Er hat eine fantastische Bildungsreform initiiert, das Gymnasium eingeführt und eine moderne Armee. Zugleich entwickelte sich die Wirtschaft stürmisch. Jetzt braucht Russland eine solche Führungspersönlichkeit wie auch seine Mannschaft.“
Russland? Kanada mal sieben
Putin sieht er nicht in der Rolle Alexanders: „Er hat das Land zehn Jahre am Gängelband geführt. Jetzt geht es darum, politische Institutionen zu schaffen. Russland kann eines der reichsten Länder der Welt werden: Kanada, multipliziert mit sieben.“ Mit Putin hat Ryschkow ohnehin ein persönliches Hühnchen zu rupfen: Bei einem Fernsehauftritt im Dezember 2010 hatte jener die Politiker Nemzow, Wladimir Milow und Ryschkow beschuldigt, zusammen mit dem flüchtigen Oligarchen Boris Beresowski „in den 90ern herumgeräubert“ und „Milliarden beiseitegeschafft“ zu haben. Diese Vorwürfe entlocken
Alexander Jermilov_Rolling Stone
Wladimir Ryschkow ist mit 45 Jahren einer der dienstältesten Oppositionellen. Seine größte Schwäche ist die Vorsicht – aber sie könnte ihm nun wieder die Tür in die Politik öffnen.
biografie Beruf: Historiker Berufung: Politiker Alter: 45
Wladimir Ryschkow wird 1966 in der Stadt Rubzowsk im Altai geboren. Nach Armeedienst und Geschichtsstudium avanciert er in seiner Region zu einem der bekanntesten Politiker. 1991 ist er Vizegouverneur des Altai, 1993 lässt er sich zum ersten Mal als jüngster Parlamentarier in die Staatsduma wählen. Über vier Legislaturperioden soll er Mitglied des Parlaments blei-
Ryschkow ein spöttisches Lachen: „Was für Milliarden hätte ich als Abgeordneter beiseiteschaffen können? Wenn man bedenkt, wer wie ‚herumgeräubert‘ hat, fällt der Vergleich nicht zu seinen Gunsten aus. Putin war Vizebürgermeister von Petersburg, damals bekannt als Banditenstadt. Die Petersburger wissen, wie er herumgeräubert hat.“
Verhandlungen mit Schurken
Ryschkow ist heute 45, wirkt aber jungenhaft. Seine größte Schwäche ist die ihm nachgesagte Unentschlossenheit. Als einer der Organisatoren der Demonstrationen
ben. Ryschkow setzt sich hier vor allem für die Regionalpolitik ein. In den 90er-Jahren ist er führendes Mitglied der Partei Unser Haus Russland, die Präsident Boris Jelzin stützt. Bald nach Jelzins Rücktritt wird Ryschkow parteilos, 2003 lässt er sich von seinem Wahlkreis im Altai als unabhängiger Kandidat aufstellen. 2007 scheidet Ryschkow aus der parlamentarischen Politik aus und gehört seitdem verschiedenen oppositionellen Bündnissen an. Zuletzt war er einer der Organisatoren der Demonstrationen „Für ehrliche Wahlen“.
wurde er nach Putins Wiederwahl und den abebbenden Protesten gefragt: „Hätte mehr Risiko zu mehr Erfolg geführt?“ „Putin und Medwedjew wurden unter dem Druck der Politiker und Bürger zu Zugeständnissen gezwungen“, antwortet Ryschkow. Beispiele dafür seien die Gesetze über die Liberalisierung des politischen Systems, die im Mai verabschiedet werden sollen. Sie sehen vor, die Gründung neuer Parteien zu vereinfachen und die Gouverneure wieder vom Volk wählen zu lassen. „Ich weiß, dass ich als unentschlossen gelte. Aber man muss vorsichtig sein, manch-
mal sogar unentschlossen, um keinen Flurschaden anzurichten“, sagt er seinen Kritikern. „Wäre ich ein entschlossener Politiker, hätte ich zum Sturm auf den Kreml aufgerufen.“ Ryschkow verspricht, auch an den kommenden Protesten teilzunehmen, egal wie wenige kommen. Aber als verantwortungsbewusster Politiker glaube er, dass nur ein Dialog zu Veränderungen führt: „Ich setze mich an den Verhandlungstisch – auch wenn ich vor mir Schurken haben werde.“ Trotz seiner harschen Worte gegenüber dem Kreml ruft Ryschkow bei Putin weniger Argwohn hervor als Nemzow und Kasjanow. Das mag auch mit Ryschkows klar ablehnender Haltung gegenüber den Nationalisten zu tun haben, die ebenfalls auf den jüngsten Demonstrationen aufgetreten waren. Mit linken Politikern arbeitet er dagegen zusammen, wenn auch unter Kopfschmerzen: Mit Sergej Udalzow, dem Führer der Linken Front, sitzt er in einer Arbeitsgruppe zur Reform des politischen Systems, die der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Wjatscheslaw Wolodin, leitet. Alexander Braterskij schreibt für den Rolling Stone und die Moscow Times.
Thema des Monats – Der russische Humor Wieso die Russen selten lächeln und worüber sie lauthals lachen
2. Mai 2012