Russland HEUTE

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JAN LIESKE

Liebt Geld

Sieht rot

Macht Spaß

Die IT-Managerin Natalja Kasperskaja im Interview

Ruth Wyneken kann nicht mehr lachen über Klischees, egal ob über’s “Russen-Hoch” oder “Chände choch!”

Der Moskauer-Stuttgarter Comedian Nikita

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Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 2. Mai 2012

Der Letzte lacht das Licht aus

POINTIERT

Ein Bombe für Sonneborn

Komik im Rampenlicht: „Comedy-Club“-Moderator Garik Martirossjan greift die Lachmuskeln der Russen an.

Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

W

PRESSEBILD

Frage: Ist der Kommunismus eine Wissenschaft? Antwort: Nein. Wäre er eine Wissenschaft, hätte man ihn zuerst an Tieren ausprobiert. Witze wie dieser geisterten zu Tausenden durch die Küchen und Kantinen der Sowjetunion, waren eine Form, sich mit der oft trost-

FELIX KAESTLE

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

losen Wirklichkeit zu arrangieren. Doch die Tabus, die jenen Witzen die Würze und das Niveau vorgaben, fielen mit der Perestroika plötzlich weg, ganz besonders die politischen (S. 6/7). Heute lachen die Russen über die Alleinunterhalter auf der Bühne, haben ihren eigenen Comedy Club

POLITIK

REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

Am 7. Mai kehrt Wladimir Putin in den Kreml zurück, Dmitri Medwedjew wird wohl Premierminister. Was bleibt von ihm nach vier Jahren? In den Beziehungen zur EU und zu den USA hat der Präsident am Ende mehr erreicht als im eigenen Land. Dabei fürchtete er am Anfang seiner Amtszeit, in eine Reihe mit Kim Jong-il oder Ahmadinedschad gestellt zu werden. SEITEN 2 UND 3

medy. Erklärt das, warum Russen auch über bitterernste Themen wie die eigenen Spione im Dritten Reich lachen können (S. 11)? Ja, sagt der russisch-deutsche Entertainer Nikita Gorbunov aus dem Schwabenland (S. 12). DAS THEMA: SEITEN 6,7, 11 UND 12

INHALT

Ruhestätte für Atommüll

Syrien Was Russland erreichen will

Hoch oben jenseits des Polarkreises beerdigen deutsche und russische Firmen einen Großteil der sowjetischen atomaren Nordflotte. Das strahlende Erbe des Kalten Krieges war in den 90er-Jahren vor sich hingerottet, bis Deutschland und Russland 2003 beschlossen, das Problem gemeinsam anzupacken. 100 Jahre wird es noch dauern, bis die Radioaktivität der Reaktorsektionen soweit abgeklungen ist, dass sie von Hand zerlegt werden können, bis dahin lagern sie auf einem U-Boot-Friedhof. 47 U-Boote sind auf diese Weise schon in riesige Container verpackt worden. Und die Arbeit zeigt erste Folgen: Möwen, Wildenten und Robben sind in ein Gebiet zurückgekehrt, das lange als verloren galt.

Im Westkaukasus, wenige Kilometer von der Olympiastadt Sotschi entfernt, lockt die Republik Adygeja Ökotouristen, die durch die Vielfalt der Natur angezogen werden. Ob Kastanienwälder oder Wisente, geschützte Blumen oder Steinadler. Für Abenteurer bietet der Wildwasserfluss Belaja Reka ein Rafting-Mekka, Sonnenanbeter wandern jenseits der Dreitausender zum Schwarzen Meer .

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PRESSEBILD

AMTSWECHSEL WAS DMITRI MEDWEDJEW BEWIRKT HAT

und mit „Nascha Russia“ eine Satireserie, in der sie sich über hungernde (weil ehrliche) Polizisten und die goldenen Klosetts der Superreichen amüsieren. „Auch heute zeichnet uns aus, dass wir das Leben mit Humor nehmen“, sagt Semjon Slepakow, führender Kreativkopf der russischen Co-

er in der Armee gedient hat, findet’s im Zirkus langweilig, lautet eine russische Armeeweisheit. Stimmt: Wer einmal erlebt hat, wie russische Soldaten vor ranghohem Besuch die Tomaten im Kasernengarten rot pinseln, dem kann eine Blödelcomedy wie „RTL Samstag Nacht“ nur noch ein müdes Lächeln abringen. Solch absurde Armeeweisheiten gibt es zu Hunderten, musste der russische Rekrut doch bis vor Kurzem noch zwei Jahre in der Kaserne verbringen, was seinen Sinn für Humor scharf wie ein Kalaschnikow-Bajonett werden ließ. Diesen kann er auch gut im Alltag nutzen (den Humor, nicht das Bajonett), ist das Leben in Russland doch so komisch, dass selbst ein Satiriker wie Martin Sonneborn wegen des Themenüberflusses überflüssig wäre. Würde dieser eine russische Filiale seiner PARTEI gründen, könnte sie an den Wahlen teilnehmen und sie mit Programmpunkten wie „ABM Tomatenlackieren“ sogar locker gewinnen. Diese Art selbstgeißelnden Humors mögen die um drei Ecken denkenden Russen sehr. Aber wie eine andere Armeeweisheit besagt, fällt die Bombe immer in den Bombentrichter: Eine Satirepartei würde in Russland nämlich Gefahr laufen, für eine echte gehalten zu werden.

Adrenalin am Weißen Fluss

POLITIK

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Sprache Russisch und deutsch lächeln WIRTSCHAFT

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Kultserie Der Spion im Führerbunker FEUILLETON

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Kino Joachim Król im fernen Sibirien FEUILLETON

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Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

MACHTWECHSEL IN RUSSLAND AM 7. MAI WIRD DMITRI MEDWEDJEW VON WLADIMIR PUTIN AUF DEM POSTEN DES PRÄSIDENTEN RUSSLANDS ABGELÖST. EINE BILANZ SEINER ARBEIT

2008 fürchtete Medwedjew noch, international isoliert zu werden. Doch erst half ihm Merkel, die Beziehungen zur EU zu normalisieren, dann Obama, in die WTO einzutreten. WLADIMIR SOLOWJOW KOMMERSANT-WLAST

„Die letzten drei Jahre des vergangenen Jahrzehnts waren wahrscheinlich die besten in den Beziehungen zwischen Russland und den USA“, gestand Dmitri Medwedjew Barack Obama während ihres letzten Treffens in Seoul am 26. März. Das Geständnis war aufrichtig, die Staatschefs gingen als Freunde auseinander. Obama übergab Medwedjew sogar einen Umschlag mit einer persönlichen Nachricht, wie sie scheidende USPräsidenten ihren Nachfolgern überreichen. Solche Schreiben enthalten gewöhnlich Ratschläge. Aber Obama übermittelte Medwedjew nichts dergleichen. In winziger Schrift dankte er seinem Freund Dmitri für das Vertrauen, das ihnen gestattet habe, gemeinsam zahlreiche Probleme zu lösen. Medwedjew war so gerührt, dass er die Notiz gleich mehreren Delegationsmitgliedern zeigte. Im Jahr 2008 hätte niemand geglaubt, dass es einmal zu einem Augenblick wie diesem kommen könnte. Denn Medwedjews Präsidentschaft begann außenpolitisch so dramatisch, dass sie genauso gut die übelste Zeit seit dem Kalten Krieg für die russischamerikanischen Beziehungen hätte werden können – wegen des russisch-georgischen Krieges im August 2008. Es heißt, dass Medwedjews Operation, Saakaschwili zum Frieden zu zwingen und die Unabhängigkeit Abchasiens sowie Südossetiens anzuerkennen, fast einmütig von den Mitgliedern der russischen Regierung und den

Mitarbeitern der Kremlverwaltung unterstützt wurde. Doch die Frage, ob Moskau im Falle einer Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens das übrige Georgien verlieren würde, war nicht das brennenste Thema in jenen heißen Augusttagen. Dem Kremlchef machte ein ganz anderes Problem zu schaffen: Die ganz reale Möglichkeit, sich in Gesellschaft „nicht verhandlungsfähiger“ Staatschefs wie Mahmud Ahmadinedschad oder Kim Jong-il wiederzufinden. „Medwedjew rechnete damit, isoliert zu werden. Moralisch war er darauf eingestellt, alle vier Jahre seiner Amtszeit das Echo des georgischen Krieges zu hören“, erinnert man sich im engen Kreis des scheidenden Präsidenten.

Medwedjews doppeltes Glück

Die Befürchtungen waren nicht unbegründet: Die EU wollte Moskau mit Sanktionen abstrafen. Die heftigste Kritik kam aus Polen und den baltischen Staaten. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Medwedjew am 15. August 2008 in Sotschi besuchte, brachte ihm in einem Gespräch schonungslos ihre Position bei: „Merkel sagte, dass dieser Konflikt die Beziehungen Russlands zur Europäischen Union verkomplizieren würde und dass die EU Russland dabei niemals unterstützen werde“, erinnert sich ein Teilnehmer jener Verhandlungen. Doch Medwedjew hatte doppeltes Glück. Zum einen hatte Frankreich den EU-Ratsvorsitz inne. Dessen energischer Präsident Nicolas Sarkozy nutzte die Gelegenheit und übernahm im russisch-georgischen Konflikt die Vermittlerrolle. Er bereitete rasch einen Friedensplan vor, den Medwedjew und Micheil Saakaschwili unterzeichneten. Zum anderen wurde der russisch-georgische

CORBIS/FOTO SA

ZUM GEBURTSTAG EIN KOCHBUCH FÜR ANGELA

Gutes Verhältnis: Präsident Medwedjew, Kanzlerin Merkel

ZAHLEN

69

Prozent der Russen unterstützten Medwedjew und seinen Kurs während des Georgienkonflikts 2008 – ein Umfragehoch. Im März 2012 waren es dann nur noch 23 Prozent.

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Jahre war Medwedjew im Amt. Aufgrund einer Verfassungsänderung im Jahr 2008 wird sein Nachfolger Wladimir Putin sechs Jahre Präsident bleiben.

Konflikt schnell von der weltweiten Finanzkrise überschattet – wirtschaftlicher Pragmatismus gewann in der EU die Oberhand. „Im Grunde sah sich Medwedjew mit zwei Problemen konfrontiert. Das eine hieß Georgien, das zweite war die Krise. Damit war seine außenpolitische Agenda klar vorgegeben“, sagt ein Funktionär aus dem Präsidentenstab. Bereits im Oktober 2008, auf der internati-

onalen Konferenz zur Reorganisation des Weltfinanzsystems im französischen Evian, sprach Medwedjew in erster Linie über Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzmärkte und nur beiläufig über den Augustkrieg. Einen Monat später stimmten Sarkozy und vor allem Angela Merkel auf dem Russland-EU-Gipfel in Nizza versöhnliche Töne an. „Deutschland blieb bei der EUPosition zum Georgien-Konflikt, aber es sorgte dafür, dass der Dialog mit Russland nicht einfror. Berlin und Paris waren einer Meinung und konnten ihre Vorstellungen in der EU durchsetzen“, so ein Vertreter des russischen Außenministeriums. Personen, die Medwedjew auf seinen Auslands-

Medwedjew hatte sich auf das Echo des georgischen Krieges eingestellt: Er rechnete damit, isoliert zu werden. reisen begleiteten, sehen einen Grund dafür in der politischen Freundschaft zwischen Merkel und Medwedjew. „Sie pflegen eine gute, sogar herzliche Beziehung. Das half, Positionen in Einklang zu bringen und sie auszuformulieren“, sagt ein Mitarbeiter der Kremlverwaltung. Medwedjew weiß solche Beziehungen zu schätzen. Zu Merkels Geburtstag suchte er persönlich ein Geschenk für sie aus: russische klassische Musik und ein Kochbuch. Reiste Medwedjew um die Welt, bemühte er sich stets um einen Zwischenstopp in Berlin, um sich mit der Kanzlerin kurz auszutauschen. Diese enge Verbindung löste zuweilen Irritationen bei Sarkozy aus, der daraufhin auf Dreiertreffen bestand wie im Oktober 2010. Auf dem Gipfel erklärte sich Med-

CORBIS/FOTO SA

wedjew einverstanden, einen Monat später in Lissabon eine Sitzung des Russland-NATO-Rates auf höchster Ebene einzuberufen, auf der er den USA vorschlug, gemeinsam mit Russland ein sektorales Raketenabwehrsystem in Europa zu errichten. Es war eine Sensation, und fast glaubte man, die beiden Seiten würden endlich ihr Hauptproblem der letzten Jahre bewältigen.

Ein Präsident als Unterhändler

Medwedjew und Obama waren einander durch die Arbeit an einem neuen Vertrag über die Reduktion strategischer Offensivwaffen (START) nahegekommen. „Zum einen ist Medwedjew weit weniger amerikakritisch als Wladimir Putin“, erklärt ein Kremlfunktionär. „Doch die Agenda wurde primär von Pragmatismus diktiert. Während der Ausarbeitung des START-Abkommens telefonierten Obama und Medwedjew manchmal mehrere Stunden lang.“ „Der Präsident war der Hauptunterhändler“, bestätigt Vizeverteidigungsminister Anatoli Antonow, der die russische Delegation bei den START-Verhandlungen anführte. „Insgesamt sprachen sie mehr als fünfzehn Mal miteinander. Und dabei kam die Rede nicht nur auf allgemeine politische Überlegungen, sondern auch auf kritische Verfahrensfragen.“ Antonow erinnert sich, wie Moskau und Washington über den Austausch telemetrischer Raketendaten debattierten. Die USA wollten im Vertragstext diesbezüglich eine verbindliche Verpflichtung jeder Seite, Russland hielt das nicht für nötig. „Medwedjew fand eine Lösung, welche die Amerikaner und uns gleichermaßen zufriedenstellte. Es handelte sich nicht um eine Konzession, sondern um eine diplomatische Beilegung des Problems“, erzählt Antonow. Demnach durften die Seiten selbst bestimmen, welche telemetrischen Daten man dem Partner überlässt und über welche Raketentests man


Politik

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Unter Kollegen: Nach Verhandlungen im August 2008 mit Sarkozy, auf dem Nuclear Security Summit in Seoul im März 2012 mit Obama

AFP/eastnews

Die Beziehung zu den USA genoss bei Medwedjew auch nach dem START-Vertrag im April 2010 Priorität. Sanktionen gegen den Iran verfügte. Darüber hinaus ging sie auch die Verpflichtung ein, die der iranischen Regierung bereits zugesicherten Luftabwehrraketensysteme vom Typ S-300 nicht auszuliefern. Im Kreml erklärt man das nicht nur mit dem Tauwetter zwischen Moskau und Washington. „In Bezug auf den Iran vertraten wir lange einen äußerst rigiden Standpunkt – aus Unwissenheit. Aber als uns die Dokumentationen über Geheimfabriken für Urananreicherung erreichten, ließ sich das Offensichtliche nicht mehr leugnen. Die Beweislast war erdrückend, und hätten wir an unserer Position festgehalten, hätten wir uns bei der Verteidigung eines Lügners als Idioten fühlen müssen“, sagt ein Kremlbeamter.

Die Regierungsentscheidung, sich beim Votum des UN-Sicherheitsrats über westliche Militäraktionen gegen Libyen der Stimme zu enthalten, hat dagegen einen anderen Hintergrund. „Warum wurde eine Enthaltung beschlossen und kein Veto gegen die Resolution? Weil es klar war, dass es aus ist mit Gaddafi und seinem System. Medwedjew sprach häufig mit ihm, und es gab keinen Zweifel an seiner Unfähigkeit, Lösungen zu finden“, erläutert ein

Den Chefredakteur ernennt der Präsident Kurz vor Amtsende unterschrieb Medwedjew einen Präsidentenerlass über die Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Kanals. Seine Unabhängigkeit wird von vielen angezweifelt. Moritz Gathmann russland heute

Die Idee eines öffentlich-rechtlichen Kanals hatte Dmitri Medwedjew schon im vergangenen Sommer unterstützt, aber nach den Großdemonstrationen im Dezember musste es schnell gehen: Bis zum 1. März sollte eine Regierungskommission Vorschläge zu Finanzierung und personeller Formierung erarbeiten. Medienexperten jeder Couleur berieten die Kommission, darunter Michail Fedotow, Vorsitzender des Menschenrechtsrats und Medienexperte, der schon seit Anfang der 90er-Jahre an der Einrichtung eines solchen Kanals arbeitet. Am 17. April, knapp drei Wochen vor Amtsende, veröffentlichte Medwedjew einen Präsidentenerlass (Ukas), der viele Experten ratlos zurückließ: Am 1. Januar 2013 soll der Kanal nun auf Basis des schon bestehenden Armeesenders Swesda auf Sendung gehen. Um

pressebild

Informationen herausgibt. Als weiteren persönlichen Erfolg Medwedjews wertet Antonow einen Zusatz in der START-Präambel. Darin werden strategische Offensiv- mit Defensivwaffen, das heißt mit der Raketenabwehr, verknüpft. Der Zusatz war ein wichtiger Punkt für Moskau, das sich gegen die Errichtung amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Europa aussprach. Die Beziehung zu den USA, die sich während der Arbeit am START-Vertrag deutlich entspannte, genoss bei Medwedjew auch nach Vertragsunterzeichnung im April 2010 Priorität. Plötzlich kam Moskau den Amerikanern in Themen entgegen, bei denen es den Amerikanern unter George W. Bush heftigen Widerstand geleistet hatte. Im Juni 2010 unterstützte die Russische Föderation die Resolution 1929 des UN-Sicherheitsrats, die neue

Mitglied der Libyenkommission. „Als auf dem Höhepunkt der Libyenkrise die Frage aufkam, ob es sich lohne, die Fortschritte in den Beziehungen zu den USA für Tripolis zu opfern, wurde der Beschluss gefasst, sich der Stimme zu enthalten.“ Die Tatsache, dass die Resolution dann auf nicht darin einbezogene Maßnahmen ausgedehnt wurde, sei aber einem Affront gleichgekommen. Wirtschaftlich haben die guten Beziehungen zu den USA ebenfalls Früchte getragen: Russland ist der WTO beigetreten. Auch das kann Medwedjew für sich verbuchen. „Der WTO-Beitritt war ein Geschenk des Westens, ein Geschenk Obamas an Medwedjew“, so der Politologe Nikolai Slobin. „Außerdem wäre es politisch unklug gewesen, Moskau wieder durchfallen zu lassen“, stimmt dem ein Kremlfunktionär zu. Die Präsidentenfreundschaft erstreckt sich indes nicht auf alle Sphären. Gegen Ende von Medwedjews Amtszeit wurde klar, dass das Problem des Raketenschirms in Europa nicht gelöst werden würde. Washington wies Medwedjews Lissabonner Initiative zurück. Auch Obamas Ankündigung im März in Seoul, nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen wieder größere Flexibilität zu zeigen, scheint wenig glaubwürdig. „Der US-Senat hat das Verbot zur Weitergabe sensibler Informationen über den Raketenschild in den Gesetzesstand erhoben“, sagt ein hoher russischer Diplomat. „Die USA werden solche Informationen nicht einmal mit der NATO teilen.“ Und wie geht es weiter im russisch-amerikanischen Alltag? Mit dem üblichen Argwohn. In Kürze wird Wladimir Putin vielleicht auf einen neuen Präsidenten treffen – und seine Beziehung zu Barack Obama kann man nicht als freundschaftlich bezeichnen.

seine Unabhängigkeit zu wahren, hatten viele die Einrichtung einer Stiftung gefordert. Laut Ukas soll der Kanal jedoch zumindest in der ersten Zeit vom Staat finanziert werden. Schwerer noch wiegt die Tatsache, dass den Generaldirektor, gleichzeitig Chefredakteur des Senders, der Präsident ernennt. Fedotow zeigte sich dementsprechend ernüchtert: „Die Ideen unseres Rats spiegelt der Ukas nicht wider. Es ist nicht die beste Variante, nur die praktischere.“

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meinung

Syrienkrise: Raus aus dem diplomatischen Abseits Fjodor Lukjanow

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Politologe

ie Syrienkrise schafft ein Dilemma zwischen Moral und Geopolitik, zwischen Prinzipien und Geostrategie. Syrien ist ein Lackmustest für alle Länder; die Geschichte wird sich daran erinnern, wer die Prüfung bestanden hat und wer nicht.“ Mit derart pathetischen Worten eröffnete der Tagungsleiter die Syrienkonferenz in Ankara. Zur Verwunderung der beiden russischen Vertreter konzentrierte sich die Debatte sehr schnell auf einen ganz konkreten Aspekt: die russische Haltung in der Syrienfrage – und wie Moskau zum Einlenken veranlasst werden könnte. Die Liste der Diskussionsbeiträge war lang. Anschuldigungen, Russlands Position sei zynisch, wechselten ab mit Zusagen, die russischen Interessen nach einem Machtwechsel zu berücksichtigen; auf den Vorwurf der Kurzsichtigkeit des Kremls folgte die Einschätzung, Moskau vertrete seine Sicht der Dinge höchst konsequent. Am Ende der Konferenz hatte sich ein Bild herauskristallisiert, über das man nur

Die Syrienfrage ist ein Konflikt, bei dem die diplomatische Meisterschaft auf dem Prüfstand steht. staunen konnte. Wurde doch tatsächlich behauptet, das einzige Hindernis auf dem Weg zu einer Beilegung des Konflikts sei Russland. Versuche der russischen Vertreter, die Aufmerksamkeit auf die anderen Probleme zu lenken, ohne deren Lösung eine Befriedung Syriens undenkbar sei, fanden keine Resonanz. Die während der letzten Zeit international immer stärker in den Fokus gerückte russische Linie in der Syrienfrage war offenbar erfolgreich. Nicht im Sinne der Krisenüberwindung, sondern im Hinblick auf das von Russland verfolgte Ziel. Ein egoistisches, aber gerechtfertigtes Ziel: den Partnern im Westen und in der arabischen Welt zu beweisen, dass sich ohne das Mittun Moskaus im Nahen Osten (und woanders) nichts lösen lässt. Die Ereignisse in Libyen im letzten Jahr haben den Eindruck erweckt, Russland gehe auf Abstand zu den Problemen im Nahen Osten und favorisiere eine Position des Sich-Heraushaltens. Dividenden hat das Moskau nicht eingebracht: Die siegreichen Aufständischen ignorierten die kommerziellen Interessen Russlands, und das Land manövrierte sich ins Abseits. Libyen ist ein wichtiger Grund für die heutige kompromisslose Haltung gegenüber der Syrienfrage, die Außenminister Sergej Lawrow im Januar verkündete: Wir können nicht verhindern, dass irgendjemand Lust auf eine Intervention in Syrien verspürt, aber wir lassen nicht zu, dass so

etwas über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimiert wird. Mit anderen Worten: Entweder die Irakvariante des Jahres 2003 oder Moskaus Bedingung wird akzeptiert. Diese Bedingung lautet: Die internationale Gemeinschaft kann und darf sich nicht in einen Bürgerkrieg einmischen, indem sie für eine Seite Partei ergreift und die andere beseitigt. Moskau war schon lange nicht mehr einer derart vernichtenden Kritik ausgesetzt wie im Syrienkonflikt. Sie reicht von Anschuldigungen, seiner Position lägen merkantile Motive zugrunde, bis hin zum Vorwurf, einer blutigen Tyrannei geistig nahezustehen. Doch das russische Außenministerium rüstete sich zur Verteidigung und hielt standhaft den Schlag aus. Nach nur wenigen Wochen Bedrängnis konnte es den Rückzug der Angreifer vermelden. Die Irakerfahrung ist noch frisch im Gedächtnis, wie sich zeigt, und ohne UN-Mandat wollen nicht einmal die kampfeslustigsten Hauptstädte handeln. Die Ernennung Kofi Annans zum UN-Sondergesandten sowie die Ausarbeitung eines Plans, der nichts enthält, was Moskau nicht akzeptieren könnte, sind insbesondere Ergebnis der russischen Politik. Das Wichtige, Eigentliche aber besteht in der Rückbesinnung der internationalen Gemeinschaft auf das reiche Arsenal diplomatischer Instrumente, die in derartigen Fällen üblicherweise zur Anwendung kommen. Moskau hat der Welt ins Gedächtnis gerufen, dass ohne Russland nichts geht, im Endeffekt sind sogar, nimmt man die Syrienkonferenz von Ankara als Indiz, übertriebene Vorstellungen von seiner Bedeutsamkeit geweckt worden. Wie geht es nun weiter? Für Russland gibt es zwei Wege. Entweder versucht Moskau, die Rolle eines vollwertigen Vermittlers zu übernehmen. Was bedeutet, einen Mechanismus für den gefahrlosen Abgang Baschar al-Assads zu entwickeln und in Damaskus durchzusetzen sowie unter Wahrung der Interessen der jetzigen herrschenden Minderheit eine neue politische Spitze zu installieren. Oder Moskau versucht, den diplomatischen Gewinn aus seiner oben beschriebenen Unnachgiebigkeit zu „kapitalisieren“. Dieser dürfte jetzt in der Nähe des möglichen Maximalwerts liegen, weiter könnte sich die Lage zuungunsten Russlands entwickeln. Der Tagungsleiter der Syrienkonferenz in Ankara hatte recht. Die Ereignisse in Syrien sind es wert, in die Lehrbücher der internationalen Beziehungen einzugehen – als Beispiel für eine Prüfung, bei der allerdings nicht moralische Reife, sondern diplomatische Meisterschaft auf dem Prüfstand steht. Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von Russia in Global Affairs und renommierter Politologe. In diesem Beitrag, der zuerst von der unabhängigen Internetzeitung Gazeta.ru veröffentlicht wurde, erklärt er russischen Lesern die Position der Russischen Föderation in der Syrienfrage.


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Wirtschaft

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aktuell

Interview natalja kasperskaja

Export – und was ihm im Wege steht

„Der Markt fragt nicht nach deinem Geschlecht“

In vielen Ländern der Welt kämpft der russische Export mit Einfuhrbeschränkungen: 72 solcher Beschränkungen zählte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung. Dazu gehört ein Antidumpingzoll der EU von 24,1 Prozent auf Stahlrohre aus Perwouralsk. Jährlich verlieren die Exporteure laut Ministerium dadurch etwa zwei Milliarden Euro. Der Eintritt Russlands in die WTO macht es den Produzenten nun möglich, derartige Zölle anzufechten.

Frau Kasperskaja, das Unternehmen Kaspersky Lab hat im letzten Jahr einen Erlös von 617 Millionen Dollar verbucht. Glauben Sie, die Firma stünde dort, wo sie heute steht, hätte es Natalja Kasperskaja nicht gegeben? Irgendetwas in der Art gäbe es bestimmt. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Zeitgleich mit Jewgenij und mir startete ein anderes russisches Softwareunternehmen, Dr. Web, der Gründer war Igor Daniloff. Theoretisch könnten die beiden Firmen etwa gleich dastehen. Aber der Erlös von Kaspersky Lab ist etwa 30-mal höher. Igor hat es allein versucht. Das war sein Problem.

Würden Sie sagen, Sie haben Kaspersky Lab gegründet? Ich würde sagen, mein Mann entwickelte eine Software, und ich habe die Firma registriert, die Papiere vorbereitet und ihm geholfen, das Produkt zu verkaufen. Ist es in der von Männern dominierten Softwarebranche eher von Vorteil oder von Nachteil, eine Frau zu sein? Ein Vorteil fällt mir sofort ein. Ich nehme ziemlich oft an Versammlungen teil. Dort sind immer wahnsinnig viele Männer, alle in dunkelblauen Anzügen, alle sehen irgendwie gleich aus. Ich kann mich an die meisten nicht erinnern. Aber sie erinnern sich immer an mich, weil ich die einzige Frau bin. Sie kommen auf mich zu und sagen: „Hallo Natalja, wir haben uns dann und dort getroffen.“ Ich sage: „Schön Sie zu sehen.“ Aber meistens habe ich keinen blassen Schimmer, wer das ist. Was bewundern Sie vor allem an Geschäftsmännern? Nicht nur eine Eigenschaft. Ein erfolgreicher Geschäftsmann vereinigt vier Fähigkeiten. Er baut Netzwerke auf, er hat Interesse am Geldverdienen, er ist risi-

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photoxpress

biografie geburtsort: moskau alter: 46 profil: it-managerin

pressebild

Das heißt, ihm fehlte eine Frau wie Sie an seiner Seite? Bei Jewgenij und mir passte es damals einfach perfekt zusammen. Es gab eine Person für das Technische: Jewgenij war absolut verrückt, wenn es um die Qualität der Software ging. Ich kümmerte mich um den kommerziellen Teil, um den Verkauf, das Marketing, die Promotion.

Weizen – mehr Ausfuhr denn je

kofreudig, also ein wenig abenteuerlustig, und er kann ein erfolgreiches Team formen. Und welche dieser Charaktereigenschaften haben Sie? Natürlich verspüre ich einen gewissen Hunger auf das Risiko, solange es abschätzbar ist. Ich fahre Abfahrtsski und Snowboard. Mit dem Snowboarden habe ich erst vor drei Jahren begonnen, die Skier waren keine Herausforderung mehr. Ich lerne gern neue Leute kennen, kommuniziere ausgiebig mit ihnen, und wir haben hier bei InfoWatch ein großartiges Team. Was war das Letzte? Ach ja, das Geld. Natürlich, ich liebe Geld. Treffen Sie Entscheidungen eher aus dem Bauch heraus oder nach gründlicher Analyse? Ich versuche immer, die Situation zu analysieren. Allerdings ist der Markt für Informationssicherheit sehr jung – es gibt fast keine Analysen für die Regionen, in denen wir arbeiten. Also sind Sie notgedrungen auf Ihr Bauchgefühl angewiesen? Nein. Man kann Entscheidungen aufgrund von Emotionen treffen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Gefühle spielen eine Rolle

Bildungsmesse Studyworld 2012 11.-12. Mai, Berlin, Haus der russischen Wissenschaft und Kultur

beim Design eines Buches. Solche Dinge mache ich übrigens sehr ungern. Es ist eine Frage des Geschmacks, und Geschmack sollte bei Entscheidungen keinen Einfluss haben. Bei allen anderen Dingen sollte man so gut wie möglich analysieren, diskutieren, Schritt für Schritt vorgehen. Führen Frauen ein Unternehmen anders als Männer? Da gibt es bestimmt ein paar Unterschiede. Frauen sind vielleicht weniger pragmatisch und emotionaler. Aber noch einmal: Auf der obersten Ebene zählen nur die Gesetze des Business. Das Geschlecht spielt dann keine Rolle mehr. Der Markt fragt nicht: Bist du ein Mann oder eine Frau? Es kommt darauf an, voranzugehen, schneller als alle anderen. Du musst stark sein, das ist alles. Das klingt nach einem Spiel. Das ist es natürlich. Gerade jetzt investiere ich in fünf verschiedene Unternehmen im IT-Bereich. Ich mag es, Märkte zu analysieren, neue Märkte zu erobern, das Geschäft zu führen. InfoWatch ist in Russland Marktführer. Wie geht es weiter? InfoWatch hat in Russland einen Marktanteil von 60 Prozent, wir

Frau muss wissen, wo ihre Talente liegen. Natalja Kasperskaja ist zwar studierte Maschinenbauerin und Mathematikerin, entdeckte allerdings früh ihr Händchen fürs Management. Gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann Jewgenij Kaspersky gründete sie Mitte der 90erJahre das Unternehmen Kaspersky Lab, heute eines der weltweit führenden Softwareunternehmen für Anti-Viren-Programme. Kasperskaja ist Vorsitzende des Verwaltungsrats und Generaldirektorin des Tochterunternehmens InfoWatch, das sich auf Datensicherheit in Unternehmen spezialisiert hat. Seit 15 Jahren mischt sie nun die männerdominierte Businesselite Russlands auf. Sie gehört zu den einflussreichsten und vermögendsten Frauen des Landes.

könnten 70 Prozent erreichen, aber die Investitionen würden sich nicht lohnen. Hier sind wir wie in einem kleinen Teich. Ich möchte raus in den Ozean. Wir hatten einen guten Einstieg in die arabischen Märkte, wir fangen in Indien an, in Deutschland haben wir eine Tochterfirma gegründet. Mit InfoWatch Marktführer in einem einzigen Land zu sein, das klingt für mich nicht mal ansatzweise nach einer Herausforderung. Das Gespräch führte Diana Laarz.

Zweieinhalb Monate vor Ende des Wirtschaftsjahres (30. Juni) hat der Export von Weizen schon den Rekord au s dem Ja h r 2009/2010 gebrochen: Das Moskauer Forschungsinstitut für Agarmarktkonjunktur (IKAR) errechnete, dass bis Mitte April 18,5 Millionen Tonnen Weizen exportiert wurden. Insgesamt wird Russland laut IKAR 25 bis 26 Millionen Tonnen Getreide ausführen, doppelt so viel wie 2005/2006.

Pair – soziales Netzwerk für zwei Verliebte pressebild

Drei Programmierer mit russischen Wurzeln haben in Kanada eine App entwickelt, die dem Facebook-Prinzip ein Schnippchen schlägt: „Pair“ ist ein Netzwerk für genau zwei Personen, etwa für zwei Verliebte. Auf dem Smartphone tauschen sie Botschaften, Bilder oder Videos. Der Gimmick: Drücken sie gleichzeitig auf eine bestimmte Stelle des Bildschirms, vibriert das Telefon. Derzeit verhandeln die Jungerfinder über eine Investition von 1,5 Millionen Dollar.

Forum Chancen für den Mittelstand in NordwestRussland

Symposium Wie geht es weiter mit dem Euro?

Kontakte Managerfortbildungs­ programm Russland

16. Mai, Hamburg, Handelskammer

25.-27. mai, Moskau, Higher School of Economics

22. Mai-16. Juni, Celle

Studenten und Nachwuchsforscher können hier aus erster Hand Informationen über ihre akademische Ausbildung an einer russischen Universität, Fördermöglichkeiten und Innovationspartnerschaften deutscher und russischer Institutionen erhalten.

Hochrangige politische Vertreter aus Kaliningrad und Sankt Petersburg informieren über den Einstieg in den russischen Markt und dessen Besonderheiten. Und deutsche Mittelständler berichten darüber, welche Russland-Erfahrungen sie gemacht haben.

Die Vereinigung russischer und deutscher Ökonomen (dialog e.V.) lädt Studenten und junge Berufstätige ein, mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik über die Zukunft des Euro und die Schuldenkrise zu diskutieren.

Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) fördert auf dieser Kooperationsbörse für Ausrüstungen und Technologie die gezielte Kontaktanbahnung deutscher Unternehmer zu 40 russischen Führungskräften.

›› studyworld2012.com

›› o-m-v.org

›› dialog-ev.org

›› ixpos.de


Wirtschaft

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Interkulturelle Kommunikation Wissenschaftler erklären Managern, warum wir so verschieden sind

marina borissowa deutsche welle

Der größte Unterschied bei der interkulturellen Kommunikation liegt in der Mimik, besonders in der Art zu lächeln. Russen wird oft nachgesagt, sie lächelten selten. „Weil dem russischen Lächeln schlicht und einfach eine wichtige Funktion fehlt, die es bei praktisch allen Völkern der Welt besitzt – die Funktion, Höflichkeit zu demonstrieren“, erklärt Iossif Sternin, Professor an der Universität Woronesch. Der Hauptzweck des Lächelns bestehe darin, dem Menschen, dem es gilt, persönliche Sympathie kundzutun. Ein russisches Lächeln kann nur aufrichtig sein.

Russland denkt weiblich

Sternin hat ein Modell zur Beschreibung von nationalem kommunikativen Verhalten entwickelt. Während in der deutschen Mentalität Komponenten wie Individualismus, Unabhängigkeits- und Dominanzbestrebungen überwiegen, ist die russische geprägt von persönlichen Beziehungen, dem Wunsch nach Kollektivität, Zusammenarbeit und Austausch, Attribute, die gemeinhin eher dem weiblichen Prinzip zugeordnet werden. Beispielsweise treten Russen im Gespräch dicht an den

Partner heran und scheuen auch vor einer Berührung nicht zurück: „Die russische Kultur ist eine Kontaktkultur, die deutsche hingegen setzt auf Distanz. Russen rücken bei einer Unterhaltung 30 bis 40 Zentimeter näher an ihr Gegenüber als Deutsche. Sie suchen bewusst die nonverbale Kommunikation und zögern nicht, den Gesprächspartner anzutippen oder ihm die Hand auf die Schulter zu legen“, so Sternin. „Für Russen ist diese Art des Austauschs ein sehr wichtiger Teil ihrer Kultur“, sagt Hellmut Eckert von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der gemeinsam mit Sternin die deutsche und russische Mentalität konfrontativ untersucht. Die Erkenntnisse der Sprachwissenschaftler basieren auf Beobachtungen, Umfragen und Fragebogen. Eckert demonstriert den Unterschied an einem Beispiel: Wird ein Russe eingeladen, hängt seine Bewertung der Gastfreundschaft unmittelbar davon ab, wie interessant und lebendig sich die Unterhaltung mit dem Gastgeber gestaltet. In Deutschland stehen Äußerlichkeiten wie die Einrichtung und die Qualität der Bewirtung an erster Stelle. Beide Wissenschaftler merken an, dass Russen und Deutsche sogar den eigentlichen kommunikativen Austausch unterschiedlich verstehen: Deutsche führen selbst eine freundschaftliche Unterhaltung weitgehend als Gesellschaftsgespräch und sparen Themen aus. Tabuthemen wie Krankheit, Ein-

Der eine lächelt, der andere nicht: Siemens-Transportation-Group-Präsident Hans Schabert und Chef der Russischen Eisenbahn Boris Jakunin unterzeichnen Abkommen.

Russen sehen keinen Sinn im Smalltalk und fragen lieber nach dem Gehalt – oder dem Sinn des Lebens. kommen oder Details aus der Privatsphäre gibt es für Russen nicht. Sie sehen keinen Sinn im Smalltalk und können ohne Weiteres bei der ersten Begegnung nach Gehalt, Privatleben oder gar dem Sinn des Lebens fragen.

Das Private ist geschäftlich

Im Arbeitsalltag trennen Deutsche säuberlich ihre Kontakte nach privat und geschäftlich. Russen halten Arbeit und Privatleben kaum auseinander. „Dort erweisen sich Privatbeziehungen im Geschäftsleben oft als besonders effizient“, erläutert Sternin. Ein weiterer Unterschied besteht in der Einstellung zu Rechtsprechung und Gesetz. Während Deut-

kolumne

Ein bilaterales Bündnis für den Mittelstand Eckhard Cordes

Ost-Ausschuss der deutschen wirtschaft

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b der beschlossene WTOBeitritt Russlands, die Annäherung an die OECD oder die sich seit den Duma- und Präsidentschaftswahlen stärker artikulierende soziale Mittelschicht – Russland hat gezeigt, dass die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen im Wandel begriffen sind. Die über 6000 deutschen Unternehmen haben in der Russischen Föderation in den letzten Jahren sehr gute Geschäfte gemacht. Heute sichert der Handel mit Russland rund 300 000 Arbeitsplätze in Deutschland. Russische Unternehmer haben auch in Deutschland investiert und damit Arbeitsplätze in deutschen Unternehmen geschaffen. Die bilaterale Handelsbilanz – zuletzt ca. 75 Milliarden – eilt von Rekord zu Rekord. Der WTO-Beitritt Russlands wird die Investitionen und den wirtschaftlichen Aus-

tausch noch einmal vorantreiben. Auch politisch hat ein Prozess hin zu mehr Pluralität und Demokratie begonnen. Der deutschen Wirtschaft wird mitunter Gleichgültigkeit gegenüber einer auch politischen Modernisierung in Russland unterstellt. Doch das Ge-

Unsere mittelständischen Unternehmen in Deutschland suchen händeringend Partner auf russischer Seite. genteil ist der Fall: Je pluraler eine Gesellschaft, desto eher sind gute und nachhaltige Lösungen zu erwarten. Das ist ganz im Sinne der Wirtschaft. So denke ich an die vielen jungen Bürger, an die Unternehmensgründer und den sich langsam entwickelnden Mittelstand. Sie sind es, die auf den Straßen Moskaus und anderer Städte an ihre Grundrechte erinnert

haben. Sie werden gebraucht, um die Modernisierung des Landes gegen eine schwerfällige und korruptionsanfällige Bürokratie durchzusetzen. Russland braucht ein Bündnis für den Mittelstand. Die neue Regierung sollte mit Vertretern der mittelständischen Wirtschaft und der jungen Unternehmer einen Plan zur Förderung des freien Unternehmertums entwickeln. Wir sehen bei dieser Initiative die deutsche Wirtschaft in der Pflicht: Einerseits gilt unser Mittelstand als vorbildlich. Andererseits suchen unsere Mittelständler händeringend Partner auf russischer Seite. Der Ost-Ausschuss wird Wladimir Putin und der neuen Regierung mit seiner Erfahrung zur Seite stehen und den deutschen Beitrag zu diesem Bündnis koordinieren. Die Chancen für eine weitere Intensivierung der deutsch-russischen Beziehungen stehen gut. Dr. Eckhard Cordes ist Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

schen das Gesetz über alles geht, ist den Russen eher der Chef das Maß aller Dinge, der jedwede Direktive nach seiner Manier „hinbiegen“ kann. Werden in einem deutschen Team selbst Mitarbeiter der mittleren Ebene in die Entscheidungsfindung einbezogen, orientieren sich Russen an den Vorgaben von oben. Deshalb vermissen deutsche Chefs bei ihren russischen Mitarbeitern Eigeninitiative, während Deutsche über das autoritäre Gehabe russischer Vorgesetzter klagen. „Den russischen Vorgesetzten wiederum befremdet es, wenn die Mitarbeiter nicht genug Respekt vor seiner Stellung zeigen und zu eigenständig sind“, verdeutlicht Sternin.

nächsten springen oder mehrere Dinge gleichzeitig erledigen. Andererseits kommen Russen häufig zu spät. Ihre Sprache bietet viele Möglichkeiten, genaue Zeitbestimmungen zu relativieren. „Die Russen besitzen eine ausgeprägte Kommunikationskultur, doch wir sollten ein wenig von der Alltagskultur der Deutschen lernen“, resümiert Sternin. Sein Kollege meint, die Deutschen täten gut daran, sich etwas abzuschauen von der Warmherzigkeit der Russen, ihrer Gastfreundschaft und Aufrichtigkeit. Den Russen rät er, die Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Zeit und dem Gesetz zu übernehmen. Das laufende Forschungsprojekt ist noch nicht veröffentlicht. Frühere Untersuchungen sind hier zu finden: H. Eckert; I. A. Sternin (Hrsg.): „Kontrastive Beschreibung der russischen und deutschen Sprache“. Halle, 1996. 138 S.

Sogar die Zeit vergeht anders

Bei den Deutschen ist die Zeit monochrom und linear ausgerichtet. Jede Sache hat ihren Ort und ihre Stunde. Russen nehmen die Zeit polychrom wahr, deshalb können sie leicht von einer Aufgabe zur

Einkommen Es reicht zum Abnehmen

Das Existenzexperiment Einen Monat lang ernährte sich der Beamte einer südrussischen Stadt vom Existenzminimum. Und verlor fünf Kilogramm. Moritz Gathmann Russland Heute

„30. Tag: Frühstück – geröstete Brotscheiben, Tee; Mittagessen – Nudeln, zwei Piroggen; Abendessen – Rührei, Brot, Tee. Gesamt: 53 Rubel.“ So liest sich der letzte Eintrag im Twitter-Tagebuch von Dmitri Schertowski. Der 28-jährige Leiter der Wirtschaftsabteilung eines Bezirks im Gebiet Krasnodar versuchte, einen Monat lang mit 6444 Rubeln (etwa 160 Euro) auszukommen – so hoch liegt das offizielle Existenzminimum in dem Gebiet. Mit dem Ergebnis: Vom 19. März bis zum 18. April nahm Schertowski auf diese Weise über fünf Kilo ab. Damit wollte der Beamte nicht nur beweisen, dass es unmöglich ist, vom Existenzminimum zu leben, sondern auch die örtlichen Unternehmer dazu bewegen, in ihren

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Wenn Russen und Deutsche verhandeln, sorgt etwa ein Drittel der Gesten für Missverständnisse. Das belegen neue Untersuchungen aus Woronesch und Halle.

kommersant

Du lächelst, ich suche nach dem Sinn des Lebens

Dmitri Schertowski aß da, wo es am billigsten war: in der Mensa.

Steuererklärungen die tatsächlichen Gehälter auszuweisen. In vielen kleineren Unternehmen ist es üblich, offiziell nur ein geringes Gehalt zu zahlen, um Steuern zu sparen. Der Rest wird in Umschlägen bar überreicht.


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Das Thema

www.russland-heute.de Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

Gesellschaft Humor An den Fernsehformaten verschiedener Epochen manifestiert sich russlands wechselnder humor

Über die Schmerzgrenze, unter die Gürtellinie Konstantin miltschin Russkij Reporter

In den 90er-Jahren war der Humor bis aufs Äußerste politisiert, als ob alles Lustige ausschließlich im politischen Leben passierte. Der Ton wurde durch das 1994 etabl ier te For mat „Ku k ly“ (Puppen) des Senders NTW bestimmt, einem Pendant zu „Hurra Deutschland“. Diese Politsatire trieb seine Possen mit populären Filmen und Büchern, historischen Ereignissen und von Puppen verkörperten Persönlichkeiten – denen die russischen Spitzenpolitiker als Vorbild dienten. Die Sendungen waren zeitnah und verarbeiteten das politische Tagesgeschehen. Die Einschaltquoten betrugen bis zu 22 Prozent, und in der Presse wurden fortan nicht nur echte Politiker diskutiert, sondern auch ihre Gummidoubles.

1999 begann eine neue Epoche. An die Stelle des urwüchsigen, tollpatschigen Jelzin trat ein Mann ohne Ecken und Kanten: Weder in Sprache noch in Aussehen und Verhalten ist Wladimir Putin charakteristisch. Maxim Galkin, der populäre Fernsehmoderator und Parodist, meint: „Der Abgang Jelzins war für viele Autoren ein Tiefschlag.“ Er selbst wurde dadurch berühmt, dass er diese Nische entdeckte: Im Herbst 1999 trat er mit starrem Blick ans Mikrofon, sprach gepresst, schüchtern, den Hals nervös streckend, die einzigen Worte, die mit Putin assoziiert werden: „Guten … ähm … Abend.“ Galkin wurde über Nacht zum Star.

Konsum statt Politik

„Zur Jahrtausendwende hatten alle von der Politik die Schnauze voll“, meint Maxim Kononenko, Erfinder der Webseite vladimirovich.ru, auf der er in spaßhafter Form Putins Alltag beschreibt. „Die Menschen waren mit Konsum beschäftigt – zum Glück gab es dafür ausreichend Möglichkeiten“, erinnert er sich.

Mit Kononenkos Webseite entstand ein neuer politischer Humor – nicht konkret politisch, sondern eher dem Alltag des Otto-NormalVerbrauchers entsprechend. Politik wurde zur Privatangelegenheit der einfachen Leute. Gegen Mitte des neuen Jahrzehnts trat das Privatleben endgültig an die Stelle der Politik.

Grobe Zoten

Mit dem Vordringen des Alltags verlor der Humor seine politische Schärfe und sank unter die Gürtellinie. Von Witzen über Genitalien kamen die Comedians zu Gags über Fäkalien. Kultursoziologisch war es ein Rückschritt, gesellschaftlich ein Fortschritt: Auf dem Bildschirm wurden nun früher verbotene Themen zugelassen. Dank dieser Grobheiten und Verstöße gegen überholte Tabus wurde die russische Fernsehshow „Comedy Club“, vergleichbar mit „RTL Samstag Nacht“, zum erfolgreichsten Fernsehprojekt des Jahrzehnts, das den allgemeinen Niederga ng des Massenge schmacks im Bereich des Humors als Emanzipation des Publikums

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In Russland ist das Lachen eine Möglichkeit, soziale Unsinnigkeiten an die Oberfläche zu bringen – und inzwischen hilft es sogar bei Integration und Individualisierungsprozessen.

betrachtete. Allerdings hatten die russischen Zuschauer diese Inflation der Frivolitäten bald satt. Anfang 2011 änderte der „Comedy Club“ sein Image: Die hemmungs-losen und zotigen Gags verschwanden – die Show wurde nun von Garik Martirosjan, dem manierlichsten aller Moderatoren, geführt. Doch seine Popularität hat der „Comedy Club“ bei Weitem nicht nur dem Fäkalhumor zu verdanken. Die Sendung setzte sich von den veralteten Teleshows der Neunziger dadurch ab, dass in einem kleinen Zuschauerraum

keine anonyme Masse saß, sondern russische Celebrities, die die Zielscheibe der recht schlüpfrigen und spöttischen Gags bildeten. Das Lachen der Spießbürger war nunmehr eine Methode, Reichtum und Glamour zu erwerben und es an ihren Alltag „anzupassen“: Anstelle der Neuen Russen der Neunzigerjahre trat die Selbstironie der Nullerjahre.

Integration durch Komik

Der zunehmende Wohlstand führte in russischen Großstädten zu einem Zustrom von Migranten. Das Lohnniveau dort stieg um ein

Interview Semjon Slepakow

Was ist russischer Humor? Wenn du bestimmte Dinge nicht ändern kannst und stattdessen dein Verhältnis zu ihnen änderst. Lachen ist die beste Art des Umgangs mit Zuständen, die schwer zu verkraften sind. Das war zu Sowjetzeiten so, und auch heute zeichnet uns aus, dass wir das Leben mit Humor nehmen. Das Ausland meint Russen eher als schwermütig zu kennen. Und bei allen möglichen Festivals werden Preise an russische Filme verliehen, die nicht im Geringsten komisch sind, aber ein Russland zeichnen, das trostlos und brutal ist. Die typische Handlung geht in etwa so: Eine einäugige Mutter verdingt sich als Prostituierte, um ihre querschnittsgelähmte Tochter zu ernähren. Banditen sind hinter ihr und dem Geld her, aber sie schafft es blutüber-

strömt gerade noch bis zur Apotheke und kauft die lebenswichtigen Medikamente. Das Publikum seufzt und sagt sich: Genau so haben wir uns Russland immer vorgestellt! Die Leute kennen Russland nicht genug? Absolut. Was sind das für Russen, über die im Ausland gelacht wird? Leute, die dort Immobilien kaufen oder die sich in Hotels betrinken, das Mobiliar kurz und klein schlagen, Handtücher mitgehen lassen. Solchen Idioten, die sich nicht benehmen können, widmen wir uns übrigens auch in „Nascha Russia“. Aber das sind natürlich nicht „die“ Russen. Es geht uns heute besser als noch vor einigen Jahren, aber die Lage im Lande bleibt dennoch schwierig: Armut, Alkoholismus, Bildungsdefizite – all das gibt es. Das

erklärt auch die Fülle an TV-Humor und die Nachfrage danach. Die vielen humoristischen Sendungen deuten auf einen großen Ablenkungsbedarf. Ja, wobei in Amerika oder England, wo der Standard wesentlich höher ist, nicht weniger Humor im Fernsehen läuft. Für solche Formate findet sich offenbar immer ein Sendeplatz, sofern sie gut gemacht sind. Humor ist einfach am leichtesten verdaulich. Wie beurteilen Sie die Qualität der russischen Comedy? Da hat sich in den letzten Jahren vieles getan. Wir haben von unseren Kollegen im Ausland gelernt und greifen auf, was auch anderswo im Trend liegt. Sitcoms werden in derselben Manier wie abendfüllende Spielfilme gedreht, mit aufwendiger Technik, hervor-

Worüber macht man in den Medien besser keine Späße? Auf diese Frage antworte ich immer: Wenn du geistreich bist, kannst du über alles Witze reißen. Natürlich sind politische Scherze mit scharfer Zunge nicht gern gesehen, oder besser: persönliche Angriffe gegen Politiker. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass uns etwas vorgeschrieben ist. Eher wollen die Sender auf Nummer sicher gehen. In „Nascha Russia“ wird ja auch die Politik aufs Korn genommen. Nur eben nicht auf breiter Front. Doch von Zensur zu sprechen und davon, dass politisch Unkorrektes aus der Sendung herausgeschnitten wird, ist Unsinn. Das Gesrpäch führte Tino Künzel

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Lachen ist die beste Art, mit dem Leben zurechtzukommen

ragenden Schauspielern, nicht in den üblichen Studiodekorationen, sondern an wechselnden Schauplätzen. Ich finde, dass man heute mit Ve r g nü gen russisches Fernsehen schauen kann.

biografie geburtsort: Pjatigorsk Alter: 32 profil: stand-up-comedian

Semjon Slepakow war Mannschaftskapitän des „KWN“-Teams von Pjatigorsk, bis er 2004 in die „KWN“-Landesliga aufstieg und die Fernsehshow „Nascha Russia“ mitproduzierte. Heute lebt der Barde und Drehbuchautor in Moskau.


Das Thema

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Hast du den Neuesten schon gehört? Im Witzeerzählen sind die Russen Weltmeister: Jahrzehntelang verspotteten sie so das Regime und kommunizierten Tabuthemen. Heute nimmt der Humor andere Formen an.

Die beiden tadschikischen Fremdarbeiter Rawschan und Dschamschut, Helden aus der Comedyserie „Nascha Russia“, treiben den russischen Bauleiter in jeder Folge aufs Neue in den Wahnsinn. In diesem Fall sollten sie ein goldenes Klosett in der Wohnung des Glamourgirls Ksenija Sobtschak installieren. Stattdessen aber haben sie einen Teil des Goldes eingeschmolzen – und Dschamschut daraus ein neues Gebiss gebastelt.

Allerdings lässt die Popularität von „Nascha Russia“ bereits nach, und nun sind es die Einzelkämpfer-Comedians, die angesagt sind. „Du wirst in Russland immer zur Teamarbeit erzogen“, sagt Niko-

Der Komiker Nikolaj Kulikow setzt auf Individualismus.

laj Kulikow. „Du kommst zum ‚KWN‘, wenn du 14 bis 15 Jahre alt bist, und dein Team beginnt, dich zu formen. Dir wird gesagt, welche Gags etwas taugen und welche nicht. Du kannst deine eigenen Gags nicht ausprobieren, weil deine Kameraden dir erklären: ,Wir kennen diese Halle, wir kennen das Publikum – glaub uns, das kommt hier nicht an!‘“ Kulikow gehört bereits zur neuen Generation der Comedians. Er tritt als Solist auf. Er scherzt über sein Privatleben – über das komplizierte Verhältnis zu seinem Vater, darüber, wie er Silvester zusammen mit seiner Freundin deren Asthmaanfall übersteht. Die Zuschauer lachen. Kulikows Stärke liegt in seiner Ehrlichkeit. Die russische Standup-Comedy der letzten Jahre stellt keinen Abklatsch westlicher Formate dar, sondern ist eine vollkommen neuartige Erscheinung. Sie ist weniger ein Genre, als ein Fertigungsrezept für Humor, den alle verstehen, der aber von einer konkreten Person stammt und nicht von einer Institution. Und dieser in den letzten Jahren in Russland aufgekommene und auf Autoren bezogene Ansatz ist ein positiver Trend. In allen Bereichen, nicht nur im Humor. Im Humor ist er einfach nur leichter zu spüren.

Kein Wunder: „Der mündliche Witz war die beste Form, Nachrichten zu vermitteln“, erklärt Jelena Schmeljowa, Witzeforscherin und Wissenschaftlerin am Institut für Russische Sprache der Akademie der Wissenschaften. Weil in der Sowjetunion sämtliche Nachrichten gefiltert und viele Themen tabuisiert waren, äußerte das Volk seine Haltungen in Form von politischen Witzen: „Kennst du den schon?“, war eine gängige Begrüßungsfloskel wie „Lange nicht gesehen“ – und zwar querbeet durch alle Klassen der eigentlich klassenlosen Gesellschaft. „Das Alleinstellungsmerkmal der russischen Anekdote ist ihr hoher Status unter den Intellektuellen“, erklärt Schmeljowa. Während in Europa der Witz ein seichter Lacher für zwischendurch war, nahm er in Russland Formen der hohen intellektuellen Unterhaltung an. Und es ging längst nicht mehr nur um Politik.

Lachen ist gesund: Dmitri Medwedjew in seiner Residenz mit „Comedy-Club“-Darstellern Igor Charlamow und Timur Batrutdinow

So wurde in den 60ern die Witzserie über Radio Jerewan populär, eine fiktive Radiostation aus Armenien, die naive Anfragen von Hörern grotesk beantwortete. Das Thema „Sex“ etwa gingen die Moderatoren von Radio Jerewan so an: „Seit Kurzem träume ich in einer unbekannten Fremdsprache, was soll ich tun? – Im Prinzip nichts, oder aber Sie könnten mit einer Dolmetscherin schlafen.“ In diesem Witz wird nicht nur die vermeintliche Überkompetenz von höheren Organen – in diesem Fall Radio Jerewan – persifliert, sondern das in der Sowjetunion aus der Öffentlichkeit verbannte Thema „Sexualität“.

Autor unbekannt

Wer sich die Witze ausgedacht hat, lässt sich nicht genau bestimmen: „Der Witz ist anonym“, sagt Schmeljowa. Im anspruchsvollen Witzereißen übte sich das ganze Land, Arbeiter und Bauern, Kabarettisten und Intellektuelle – die Dichterin Anna Achmatowa beispielsweise war eine leidenschaftliche Witzesammlerin. Der Wandel kam mit der Perestrojka, als viele Tabus wegfielen und unzählige neue Themen in die Öffentlichkeit rückten. Auf einmal witzelte man über Blondinen, Computernerds, Junkies, Sex und die „Neuen Russen“ – neureiche Gauner und ihre ge-

FAKTEN

„KWN“

ITAR-TASS

Russische Stand-up-Comedy

„Generalsekretär Brewschnew empfängt Margaret Thatcher auf Staatsbesuch. Er faltet seine Rede auseinander und setzt an: ‚Verehrte Indira Ghandi …‘ ‚Genosse Breschnew‘, zischt der Berater, ‚vor Ihnen steht Margaret Thatcher.‘ ‚Ich bin ja nicht blind‘, nuschelt der Generalsekretär zurück, ‚aber im Text steht Indira Ghandi.‘“ Das ist ein typischer Witz aus der Sowjetära, in dem der altersschwache Generalsekretär aufs Korn genommen wird. Der Witz – zu Russisch „Anekdot“, von griechisch anékdoton für „nicht publiziert“ abgeleitet – prägte wie der ewige Genosse Breschnew selbst jahrzehntelang die russische Alltagskultur. Scharfsinniges Blödeln, Persiflieren und zum Nachdenken bringen sind die Merkmale der Anekdote, die sich deutlich von ihrem deutschen Schmunzelpendant abhebt.

Die Nachricht als Witz

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Vielfaches im Vergleich zu den Einkommen der Bevölkerung im Kaukasus und in Mittelasien. Das spiegelte sich auch im Humor wider. Im Herbst 2006 ging die Fernsehshow „Nascha Russia“ (Unser Russland) an den Start. Helden und Idole der Show sind die zwei Figuren Rawschan und Dschamschut. Die beiden sind „Gastarbajter“, die vornehme Wohnungen der wohlhabenden Russen renovieren – ein selbstironischer Verweis auf den Renovierungshype Anfang der 90er-Jahre, als die Leute begannen, ihre Sowjetwohnungen auf westlichen Standard zu trimmen – ein Prozess, der bis heute anhält. Die Running Gags basieren auf ein und demselben Prinzip: Zwei nicht allzu gescheite Billigarbeiter haben ihre Probleme mit der russischen Realität, da sie die Sprache kaum beherrschen und nicht verstehen, was ihnen ihr russischer Bauleiter sagt. Sie packen ihre Frühstücksstullen auf einem teuren Flügel aus oder bemalen den LCD-Fernseher, als ihnen aufgetragen wird, das Zimmer zu streichen. Der kulturelle Kanon des grobschlächtigen russischen Bauleiters stößt auf den kulturellen Kanon zweier unbeholfener Migranten aus Mittelasien. Der Gegensatz produziert Lacher am laufenden Band. Dieses Lachen bringt jene den Russen näher, die still und unbemerkt auf ihren Baustellen arbeiten: „Nascha Russia“ ist die wichtigste Quelle, aus der die Bevölkerung ihre Vorstellung über das Leben der Fremdarbeiter schöpft, wobei Rawschan und Dschamschut absolut positive, sympathische und sogar rührende Figuren sind.

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ITAR-TASS

Goldener Pott für Glamourgirls

ILJA LOKTJUSCHIN

Der russische Humor erwächst aus dem Kollektiv – wie die Comedysendung „KWN“ zeigt: Der „Klub Wesjolych i Nachodtschiwych“ (Klub der Frohsinnigen und Findigen) ist ein Fernsehformat, bei dem Mannschaften aus acht bis zehn Personen auf der Bühne mit Gags, die sie sich spontan ausgedacht haben, gegeneinander antreten. Das Format wurde mit Aufkommen des Fernsehens Ende der 50er-Jahre entwickelt und erlangte gigantische Popularität. „KWN“ ist Kaderschmiede für Nachwuchs-Comedians. Qualifikationsturniere finden bis heute im ganzen Land statt.

schmacklose Welt der Statussymbole. „Plötzlich gab es viel zu viel zu lachen“, erklärt Schmeljowa. Nach der prüden Sowjetära mit ihrer Zensur und gähnender Langeweile durften vor allem Medien schrill, bunt und lustig werden. Humor wurde zur Arbeitsmethode der Journalisten – und überlagerte sich mit den Doppeldeutigkeiten der alten Sowjetwitze. Ein Grund, warum man als Deutscher die Russen kaum versteht?

Unübersetzbares Erbe

„Die gesellschaftlichen Codes, mit denen sich jeder Ausländer ohnehin schwertut, multiplizierten sich mit unübersetzbarem Sowjeterbe – damit haben selbst junge Russen zu kämpfen“, bestätigt Schmeljowa. Etwa im Journalismus. Heute bemühen sich russische Redakteure um möglichst peppige Schlagzeilen, und sogar Qualitätszeitungen wie der Kommersant lockern ihre Berichte mit Allegorien an Witzen, Komödien und Werbespots auf – laufen dabei aber häufig auf. „Der Thesaurus der Russen entwickelt sich rasend, die Interessen und Trends wechseln immer schneller“, erklärt Schmeljowa. Was ein 30-jähriger Redakteur zum Brüllen findet, kann der 25-jährige Leser häufig nicht einordnen, weil er die Realien von vor zehn Jahren nicht mehr kennt: „Um heute eine Nachricht zu erzählen, muss man sie nicht mehr in Witze umkodieren. Eine Nachricht ist einfach nur noch eine Nachricht.“ Mit anderen Worten: Qualitatives Witzeerzählen ist aus der Mode gekommen. Wer lachen will, schaltet auf Comedy im Fernsehen oder schaut sich im Internet PhotoshopParodien und Kurzvideos an. Witze werden weniger häufig mündlich vorgetragen, einen festen Platz haben sie dagegen in Boulevardgazetten oder auf Internetforen. Die „nicht publizierte“ Anekdote hat schriftliche Form angenommen – und ihre ursprüngliche Scharfsinnigkeit eingebüßt. „Irgendwann sinken unsere Witze auf das gleiche Niveau wie die europäischen“, sagt die Witzeforscherin. „Und ich finde das ein wenig schade.“


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Gesellschaft

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Umwelt Bei Murmansk entsteht ein Entsorgungszentrum für ausrangierte Schiffe der Nordmeerflotte

Letzte Ruhestätte für Atommüll

© WITALIJ ANKOW_RIA NOVOSTI

Das russische Bergungsboot „Transschelf“ bringt zwei ausrangierte Atom-U-Boote zur Abwrackung nach Murmansk (oben), ihre Reaktorsektionen werden im Lager in der Saida-Bucht (links) eingebettet.

ZAHLEN

3 500 000 000

Rubel, etwa 90 Millionen Euro, sind im russischen Budget bis zum Jahr 2020 alljährlich für die Entsorgung des nuklearen Erbes der Marine eingeplant.

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DIANA LAARZ

FÜR RUSSLAND HEUTE

Detlef Mietann kann sich noch sehr gut erinnern, wie das war, im warmen deutschen Herbst 2003. Da landete er zum ersten Mal in Murmansk, 250 Kilometer über dem Polarkreis. Schneesturm. Minus 15 Grad. Auf dem Weg in die Saida-Bucht sah er Hügel, Felsen, Ruinen von Baracken. Vor der Küste dümpelten um die 50 rostige U-Boote, von denen niemand zu sagen wagte, wie sehr sie radioaktiv strahlen. Es kostete selbst einen Experten wie Mietann viel Fantasie, sich vorzustellen, dass man diese trostlose Gegend umkrempeln könnte. Und trotzdem haben sie es getan.

Reaktoren in Containern

Die Kola-Halbinsel im Norden Russlands, Standort der Nordmeerflotte, ist weltweit die Region mit der höchsten Konzentration von Atomreaktoren. Viele von ihnen sind Altlasten, notdürftig gesichert, vergessen. Doch in der Saida-Bucht tut sich was. Gerade ist der Rohbau einer über 10 000 Quadratmeter großen Halle fertig geworden. Drinnen laufen schon die Kräne an Schienen an der Decke. Nebenan lagern 47 zylinderförmige Container, jeder groß wie ein Einfamilienhaus, auf einer dicken Betonplatte. Das bleibt übrig, wenn ein AtomU-Boot abgewrackt wird: ein Teil des Rumpfes, die Reaktorsektion, jede beinhaltet im Schnitt zwei Reaktorhüllen.

Es dauert noch Jahrzehnte, bis die Radioaktivität so weit abgeklungen ist, dass Menschen die Sektionen von Hand zerlegen können. Bis dahin liegen sie auf einem U-Boot-Friedhof, der mit deutschen Geldern finanziert wurde. Mietann leitet das Projekt auf deutscher Seite. Zuletzt hat er in der Saida-Bucht ermutigende Beobachtungen gemacht: Möwen, Wildenten und Robben. Die Natur erobert sich Erde zurück, die als verloren galt. 2003 schlossen das deutsche Wirtschafts- und das russische Atomenergieministerium ein Abkommen. Der Inhalt: Deutschland hilft Russland bei der Entsorgung der stillgelegten Nordmeerflotte. Russische und deutsche Firmen bauen das Lager für die Reaktorsektionen, einen Dockanleger, Straßen und Wachtürme, sie holen Schiffswracks aus der Saida-Bucht und rüsten die Nerpa-Werft technologisch auf. Kurz: Deutschland liefert die nötige Infrastruktur, Russland entsorgt die radioaktiven Abfälle. Projektmittel aus Berlin: 600 Millionen Euro. Das deutsch-russische Abkommen gehört zu einer Initiative der G8-Staaten, die 2002 beschlossen, 20 Milliarden Dollar bereitzustellen, um die atomaren Altlasten des Kalten Krieges zu beseitigen. Es ist ein Abrüstungsprojekt, das unter anderem verhindern soll, dass radioaktives Material in die Hände von Terroristen fällt oder in die Umwelt gerät. Diese Gefahr war in Russland besonders hoch: Über 200 AtomU-Boote soll die Sowjetmarine besessen haben. Als die Sowjetunion zusammenbrach, verfiel die Flotte, die U-Boote wurden zu tickenden Zeitbomben. Ein Transportschiff mit radioaktivem Ab-

fall sank mit voller Ladung, Serviceschiffe wurden mit Absicht versenkt, in den Häfen rosteten die U-Boote. Vor der Arktis-Insel Nowaja Semlja sollen 20 000 Container mit radioaktivem Abfall auf dem Meeresgrund liegen. Etwa 100 U-Boot-Sektionen sind noch für die Lagerung in der Saida-

Als die Sowjetunion zusammenbrach, verfiel auch die Flotte. Die U-Boote wurden zu tickenden Zeitbomben. Bucht vorgesehen. Sie liegen an den Piers der Saida-Bucht, in der nahen Nerpa-Werft oder in anderen Buchten der Kola-Halbinsel. Von den 600 Millionen Euro, die Deutschland einst versprochen hat, sind inzwischen rund 440 Millionen Euro ausgegeben. Auf deut-

Neues Entsorgungszentrum

Die Errichtung des Langzeitlagers für die Reaktorsektionen ist abgeschlossen. Nun beschäftigen sich Mietann und seine Kollegen vom Moskauer Kurtschatow-Institut für Kernforschung mit einer neuen Aufgabe. Bis Ende 2014 soll in der Bucht ein Entsorgungszentrum für radioaktive Abfälle entstehen. Alle strahlenden Materialien, die bei der Stilllegung der Flotte anfallen, können dann in unmittelbarer Nähe des Zwischenlagers zerschnitten, dekontaminiert und verpackt werden. Bis zur Fertigstellung der neuen Zerlegehalle ist die Nerpa-Werft der einzige Ort, an dem die Reaktorsektionen zur Lagerung vorbereitet werden können. Das ist einer der Schwachpunkte in der Entsorgungskette. Die Werft hat laut Mietann genügend Kapazität, um zwölf U-Boote im Jahr abzuwracken, in der Tat sind es aber nur sieben pro Jahr. Der Umbau eines einzelnen U-Bootes kostet viel Geld, etwa vier bis fünf Millionen Euro. Der russische

Staat gibt pro Jahr über die Atomagentur Rosatom 3,5 Milliarden Rubel (90 Millionen Euro) für die Entsorgung des nuklearen Erbes der Marine aus – nach Meinung der westlichen Partner viel zu wenig: Ab und an finanzieren deshalb auch Länder wie Norwegen und Italien ein Projekt. Die Agentur habe den Entsorgungsauftrag angenommen, erklärt ein Rosatom-Sprecher, weil diese Arbeit, für die ursprünglich das Verteidigungsministerium zuständig war, nur träge voranging. „Außerdem ist dieser Müll ein gemeinsames Erbe des Kalten Krieges, es müssen alle mit anpacken – Russen wie Europäer.“ Deutschland hat bislang die Konservierung von 20 Reaktorsektionen bezahlt. „Die Technologie ist inzwischen bekannt, das ist Arbeit vom Fließband“, sagt Mietann, „da soll Russland sich jetzt mal strecken.“ Detlef Mietann ist 58 Jahre alt. Er selbst sagt, er sei im Kernkraftwerk Lubmin groß geworden. Vor 30 Jahren, als er zum ersten Mal in unmmittelbarer Nähe eines Kernreaktors stand, hatte er noch großen Respekt vor der Strahlung. Diese Furcht ist dem Wissen gewichen. Und dem Vertrauen in die eingehaltenen Grenzwerte. In der Saida-Bucht sind sie schon seit mehreren Jahren unterschritten. Neulich hat Detlef Mietann den Robben beim Tauchen zugesehen. 2003, in jenem kalten russischen Herbst, wäre das noch undenkbar gewesen.

Eine Flotte für den Nordatlantik

© MOCHAI FOMISCHOW_RIA NOVOSTI

Mit deutscher Technologie und Geld aus Berlin wird auf der Kola-Halbinsel bei Murmansk die atomare Nordmeerflotte beerdigt. 2014 soll das Projekt abgeschlossen werden.

U-Boot-Sektionen sind noch für die Lagerung in der Saida-Bucht bei Murmansk vorgesehen.

scher Seite leiten die Energiewerke Nord (EWN) das Projekt: EWN sammelte bei der Stilllegung der Kernkraftwerke Greifswald-Lubmin und Rheinsberg Erfahrungen. Für den Auftrag in Russland dienten die Projekte als Blaupause, mussten jedoch angepasst werden. In der Saida-Bucht herrscht sechs Monate im Jahr Winter mit Temperaturen bis zu minus 40 Grad.

Die russische Nordflotte (auch Rotbanner-Nordflotte genannt) wurde im Jahr 1933 aufgestellt und kam erstmals im Winterkrieg gegen Finnland (1939/40) zum Einsatz. Im Kalten Krieg wurde sie zur wichtigsten und größten russischen Flotte ausgebaut: Ihre Schiffe sollten im Kriegsfall die US Navy im Nordatlantik bekämpfen. Ab Ende der 50er-Jahre baute die Sowjetunion hier ihre Atom-U-BootFlotte auf. Trotz der Abrüstung nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Nordflotte auch heute der stärkste Verband der russischen Marine. Hauptstützpunkt ist die Stadt Seweromorsk, daneben verfügt sie über sechs weitere Basen und Werften.


Reisen

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Abenteuer Die Republik Adygeja bietet den bedrohten Bergwisenten Zuflucht – und Wanderern faszinierende Natur

Westkaukasus: auf der Suche nach Adlern und Adrenalin Nein, der Kaukasus ist nicht nur Krisenregion: Im Westen herrscht Frieden, und die vielfältige Natur der kleinen Republik Adygeja lädt dazu ein, entdeckt zu werden. JEWGENIJ PROLYGIN RUSSLAND HEUTE

Wanderer in den Bergen Adygejas erleben ein Wechselbad der Vegetationszonen: Gletscher, kantige Gipfel und Geröllfelder ganz oben, dicht bewachsene subalpine Wiesen mit Dutzenden verschiedenen Blumenarten, dann dichte Nordmanntannen- und Kastanienwälder – und auf der anderen Seite der Berge das Schwarze Meer mit seinem subtropischen Klima. Der Westkaukasus ist vielfältig. Und man kann es einen großen Glücksfall nennen, dass die UNESCO im Jahr 1999 ein 300000 Hek ta r g roßes G ebiet z u m UNESCO-Weltnaturerbe erklärt hat. Der Grund dafür sind zum einen die über 4000 Pflanzenarten, die sich hier finden lassen. Ein anderer ist die faszinierende Tierwelt. Zum Symbol ist ein bis zu drei Meter langer und eine Tonne schwerer Koloss mit braunem, zotteligen Fell geworden: das kaukasische Bergwisent. Dass dieses schützenswert ist, erkannte 1888 schon Zar Alexander III.: Die gerade erst entdeckten und doch vom Aussterben bedrohten Bergwisente hatten es ihm angetan, und zu ihrem Schutz berief er sogar einen österreichischen Förster in den Kaukasus. In den Wirren von Revolution und Bürgerkrieg landete das letzte Wisent jedoch 1927 im Kochtopf, aber zum großen Glück europäischer Zoologen hatte auf der fernen Boitzenburg bei Berlin der Stier „Kaukasus“ überlebt. Nikolaus II. hatte ihn 1908 dem Naturforscher Carl Hagenbeck überlassen. Bis zu seinem Ableben zeugte jener „Kaukasus“ sieben Kälber, die 1940 in ihre Heimat zurückgebracht wurden. Mitte der 80er-Jahre grasten im Schatten des Gebirges wieder 1500 Exemplare, doch Gorbatschows Perestroika ließ den Hunger der Wilderer wachsen: Um das Jahr 2000 waren nur noch 135 Tiere am Leben. Inzwischen ist

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Radio

Stimme Russlands Die Frequenzen finden Sie auf

www.german.ruvr.ru

INFO

Über Moskau mit dem Flugzeug nach Krasnodar, von dort mit dem Taxi nach Majkop, Adygejas Hauptstadt, oder direkt in den Naturpark. Reiseveranstalter bieten üblicherweise einen Transfer ab Krasnodar an. Wer über die Berge zum Schwarzen Meer wandert, kann vom Flughafen Sotschi/ Adler zurückfliegen (z.B. mit den Austrian Airlines nach Wien).

Schulz Aktiv Reisen (www.schulz-aktivreisen.de) bietet im Juli Trekking-Touren zum Fischt/Oschten (und weiter zum Schwarzen Meer) sowie zum Großen Tchatsch an.

Unterkunft

Fahrten ab drei Kilometer an, der Canyon des steinigen Gebirgsflusses kann aber auf 17 Kilometern befahren werden – und bietet mehrere Stellen mit der höchsten Schwierigkeitsstufe. Wer es gern etwas trockener und gemütlicher hat, sollte mit dem Mountainbike in Richtung der bis zu 3200 Meter hohen Berge aufbrechen oder einfach seine Wanderschuhe schnüren. Zwar gibt es auch eintägige Touren, etwa auf dem Plateau „Lagonaki“, doch um wirklich unberührte Natur zu finden, muss man schon mehrere Tage einplanen. Besonders reizvoll ist eine Wanderung durch den Naturpark „Bolschoi Tchatsch“ oder die berühmte 30er-Tour vorbei an den gewaltigen Bergen Fischt und Oschten zum Schwarzen Meer. Teilweise muss man sich mit den Pfaden der Wildtiere und Berghüter begnügen, weshalb es empfehlenswert ist, einen örtlichen Bergführer mitzunehmen. Für Lauffaule gibt es eine Alternative der besonderen Art zu Wanderschuh und schwerem Rucksack: das Pferd. In mehreren Tagen geht es über Bergkämme nach Dagomys am Schwarzen Meer oder Krasnaja Poljana – wo 2014 die Olympischen Spiele stattfinden.

Auf dem Weg zum LagonakiPlateau bietet das „Gornoje Nastrojenie“ eine großartige Aussichtsplattform. Eine Übersicht der Unterkünfte in der Gegend findet sich auf www.lagonaki.ru. Die Hotels sind meist einfach, aber sauber. Im Naturschutzgebiet selbst übernachtet man in Holzhütten. Wunderschön gelegen ist die Schutzhütte „Fischt“ am Fuße des gleichnamigen Berges.

Essen & Trinken

Action für Aktivurlauber: In Adygeja kann man Mountainbiken, Wildwasserfahren oder in freier Natur seltene Vogelarten beobachten.

die Zahl wieder auf 550 angewachsen. Damit jene Wisente, aber auch Braunbären, Steinadler und Steinböcke, nicht erneut Wilderern zum Opfer fallen, unterstützt der deutsche Naturschutzbund (NABU)

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hört…

Anreise

Ne

ter t e l ws

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den Nationalpark bei der Entwicklung des Ökotourismus. Wer Nervenkitzel sucht, kann auf dem Belaja Reka raften gehen. Der Weiße Fluss wurde erstmals in den 60er-Jahren mit einem Holz-

Buntes Russland: Das Bild des Tages auf Facebook

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Der Kaukasus ist bekannt für seine ausgezeichnete Küche: Besonders gut genießen lassen sich Schaschlik, Dolma, frische Tomaten, Kräuter und ein Gläschen Wodka an der frischen Luft. Ein äußerst idyllischer Ort ist ein Restaurant an der Straße von Maikop zum Plateau Lagonaki: Hier sitzt man in kleinen, hölzernen Hütten, rundherum die ersten Zweitausender des Kaukasus.

floß und untergeschnallten Autoschläuchen „bezwungen“. In den letzten Jahren hat sich Adygeja zu einem der wichtigsten Raftinggebiete Russlands entwickelt: Veranstalter bieten für Anfänger

Unter www.nabu.de/downloads/international/Adygea_ITB.pdf kann man einen Prospekt der NABU zu Adygeja herunterladen.

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Meinung

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

RUSSISCH LIGHT MIT EINEM SCHUSS ALTES FEINDBILD Ruth Wyneken

THEATEREXPERTIN

ürzlich erzählte mir ein Berliner Taxifahrer von einem US-Amerikaner, der darauf beharrte, auf der ganzen Welt in seinem leichten, bequemen Sportdress joggen zu gehen. So auch in Sibirien, bei minus 40 Grad, ohne Kopfbedeckung. Er kam mit erfrorenen Ohren zurück, die amputiert werden mussten. Schuld war natürlich das „Russen-Hoch“, was denn sonst. Oh, Fernsehmoderator Jörg Thadeusz hätte dem zugestimmt, bekannte er sich doch anlässlich der klirrenden Kälte, die Berlin im Januar heimsuchte, in einer Zeitungskolumne zu seinen Vorurteilen: „Die Kälte erklärt doch dieses Land. Literaten, die sich mit Aussicht auf kahle Birken in depressive Senken bibberten. Überall unerfüllte Liebe …“ Und so weiter. Die Russen seien jedenfalls auf ewig vor Herrn Thadeusz sicher. Ironie? Nicht ganz gelungen. Stereotypen können ja durchaus eine kommunikative Brücke bilden, um andere Kulturen etwas näherzubringen oder die eigene herauszustellen, doch sollte man sie sehr behutsam einsetzen, sonst bleibt ein unguter Nachgeschmack. Der Korrespondent Boris Tumanow klagte jüngst in dieser Zeitung über seine Kollegen: „Der Westen sieht Russland durch die Klischeebrille, ob wohlwollend, negativ oder neutral, aber eben klischeehaft. Hauptsache, es erfordert keine größeren kognitiven Anstrengungen.“ Werfen wir einen Blick auf die jeweilige Kulturszene. Es gibt deutsche Theater, da geht es nicht um Kaviar, Balalajka oder so ausgefallene Phänomene wie das „Russen-Hoch“: Wodka saufende und „druuuschba“ (Freundschaft) stammelnde Sentimentale, die auf Teufel komm raus alle abküssen wollen, reichen aus, um Russen zu charakterisieren. Noch viel populärer aber sind böse Buben, die im Film und bei PC-Spielen Konjunktur haben, mit hartem Akzent „Dawaj, dawaj“ herausquetschen und eine Knarre in der Hand halten. Ach – mit Wehmut denkt man da an die Tschechow-Inszenierungen der frühen Berliner Schaubühne, deren Sorgfalt sich nicht nur in der Aussprache der Namen, sondern noch am feinsten Gesang zeigte – und ohne Klischees, aber voll Poesie, eine „russische Welt“ auf die Bühne zauberten. Doch wie werden Deutsche auf russischen Bühnen dargestellt? Keinen Deut besser! Wie oft bin ich erschrocken zusammenge-

NIKOLAI DICHTJARJENKO

K

Humor 2.0: Im Kreativwettbewerb gestaltete der Blogger partizan74 die Karte eines Rollenspiels um. Seine Bärenkavalerie nimmt die typischen Russlandstereotypen im Westen aufs Korn

Der Thriller „Russisch Roulette“, ein Zweiteiler, den die ARD im Januar ausstrahlte, strotzt vor dämlichen Klischees.

Ausgerechnet der populärsten russischen Nachkriegsserie von 1973 verdanken wir ein differenzierteres Bild. zuckt, wenn Deutsche durch selbstzufriedene Fettwänste oder kleinliche, geizige Bürger verkörpert wurden, die in hartem, kratzigen Tonfall knarzten. Und im Kino? Jedes russische Kind kennt die Wendungen „Chände choch“ oder „Gitler kaput“. Sie stammen aus Nachkriegsfi lmen und wurden von deutschen Faschisten mit dickem Akzent verbreitet. Ausgerechnet aber der populärsten russischen Nachkriegsserie „17 Augenblicke des Frühlings“ von 1973 verdanken wir ein differenzierteres Bild: Der Held, SS-Standartenführer Max Otto von Stierlitz ist ein sowjetischer Spion, der einen gebildeten deutschen Adligen in hohen Nazikreisen mimt. Ansonsten existierten in russischen Köpfen deutsche Faschisten einerseits und deutsche Kultur andererseits sorgfältig getrennt voneinander. Heinrich Böll erst schlug mit seiner Literatur

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eine versöhnende Brücke nach Russland, über die Wunden des Zweiten Weltkriegs hinweg – dem kollektiven Trauma unserer beider Nationen. Kürzlich aber las ich zwei neue russische Drehbücher und war tief berührt. Da steht die unmögliche Liebe zwischen einem deutschen Soldaten und einer russischen Frau während der Wehrmachtsoffensive bei Kursk im Mittelpunkt. Im anderen Buch werden Schicksale traumatisierter deutscher Soldaten mit denen ihrer russischen Vorgänger in Afghanistan verknüpft – eine neue Art von Gemeinschaft, die aus ungewohnter Perspektive gezeichnet wird. Das macht Hoffnung. Im deutschen Fernsehen aber wurden unlängst wieder Zerrbilder aufgetischt, dass sich die Balken bogen. Der zweiteilige ARD-Thriller „Russisch Roulette“ strotzt vor Unwahrheiten. Ganz zu schweigen von den dämlichen Klischees, mit denen die Polizei gezeigt wird oder der allmächtige und sexbesessene Oligarch, der immerhin so überzeichnet ist, dass man ihn als Parodie versteht. Kann sich die ARD denn keine Fachberatung leisten? Aber es kommt ja nicht auf Wahrhaftigkeit an. Wie hätte man es denn gerne? Russisch light mit einem Schuss altes Feindbild zum besseren Konsumieren? Was bewirkt man mit solchen Zerrbildern, die alte Vorurteile zementieren und neue schaffen? Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski sagte einmal treffend: „Der bessere Mensch ist der Ursprung allen Übels.“ Leider trifft man immer wieder

Deutsche, die – das Gefühl der eigenen Überlegenheit fein unter dem Mantel des Gutmenschen verborgen – sehr genau zu wissen meinen, was Russland eigentlich braucht, sich aber weder mit russischer Geschichte noch der ganz anderen Sozialisation auseinandersetzen; Besserwisser, die hier und da in dicke Fettnäpfchen tapsen und es dann nicht einmal merken! Da lob ich mir die neue Verfilmung vom „Faust“. Regisseur Alexander Sokurow hat darin so ganz nebenbei in der mittelalterlichen deutschen Enge ein paar gegenseitige Klischees auf die Schippe genommen: Eine Kutsche fährt durch den Wald, sie ist auf dem Weg nach Paris, dem traditionellen Mekka der Russen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Faust steigt mit Mephisto ein – und hält sich prustend die Nase zu: Im Wagen sitzt ein ungewaschener Russe. Mephisto wiederum äußert sich en passant zur deutschen Sprache, sie sei ja wirklich fast eine Zumutung. Russlands Dichtergenie Alexander Puschkin reflektierte einst, dass Russlands Steppen und Sümpfe den Mongolensturm an der Schwelle Europas zum Stehen gebracht und damit die europäische Aufklärung gerettet hätten, „aber“, schrieb er, „Europa war, was Russland betrifft, ebenso ignorant wie undankbar.“ Wie wär’s, wenn wir diese Ignoranz mal fallen ließen und etwas genauer hinschauten? Ruth Wyneken schreibt über Literatur und Theater. Sie lebte viele Jahre in Sankt Petersburg.

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Makar Butkow; Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114

REFLEKTIERT

Gedenken ohne Hass Der Ulenspiegel

D

ZEITZEUGE

ie meisten Deutschen kennen das, im Ausland als Nazis angesprochen zu werden. Bei mir passierte es in Frankreich, Anfang der Siebziger. In England gehört German Bashing zur Folklore, selbst Schweizer und Italiener schwingen bisweilen die Nazikeule. Wie die große Mehrheit der Deutschen lehne ich den Nazionalsozialismus ab und verurteile den Zweiten Weltkrieg. Aber bei allen Bekenntnissen, dieses Kapitel niemals zu vergessen: Manchmal wünsche ich mir schon, ich würde etwas seltener daran erinnert. Vor allem aus dem Ausland. Viele Deutsche blicken in diesen Tagen mit Erstaunen auf Russland. „Die können es auch nicht lassen, berauschen sich an Siegesparaden.“ So oder ähnlich knurrt manch deutscher Beobachter, wenn er die Bilder von den Feiern zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai sieht. Aber wer glaubt, die Erinnerung sei nur von oben verordnet, der irrt. Und eines schwingt bestimmt nicht mit bei der Festtagsfreude: Hass gegen die Deutschen. Wer sich länger in Russland aufhält, wird zwei Dinge bemerken: Das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und seine Opfer ist noch sehr lebendig, und zwar nicht nur auf staatlicher Ebene, auch in den Familien. Und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird nicht dazu missbraucht, die Bundesrepublik anzufeinden. Im Gegenteil, man versichert Deutschen stets: „Du kannst nichts dafür ...“ In Deutschland jedoch ist wenig Verständnis für den ehemaligen Kriegsgegner zu spüren. Man erinnert an Vergewaltigungen durch Rotarmisten, die deutsche Teilung und feiert lieber die Amerikaner als die „einzigen wahren Sieger“. In Russland erzählt man die Geschichte dieser Tragödie anders als im Westen. Es geht mir nicht darum, ob diese Sichtweise richtiger ist als die uns vertraute. Was uns nicht schaden könnte, wären mehr Wissen und Einfühlungsvermögen. Was trug die Sowjetunion zum Sieg über Hitlerdeutschland bei? Was mussten Russen und andere Sowjetvölker ertragen? Warum ist ihnen das Gedenken so wichtig? Sich damit auseinanderzusetzen, ist ergiebiger, als sich die x-te Hollywood-Kriegsklamotte reinzuziehen – mit vielen doofen deutschen Knallchargen. Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.

Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

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Kultserie Ein russischer Geheimagent spielt Nazischergen gegeneinander aus

Der Spion, der sie linkte

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KINO

Allein auf weiter Flur

der Sowjetunion zurücklassen musste, leistet er sich noch nicht einmal eine Geliebte. Die Serie setzt auf Anspruch statt Action: Es gibt keine wilden Verfolgungsjagden, Schießereien oder Explosionen, wie sie in westlichen Agentenfilmen zum Pflichtprogramm gehören würden, stattdessen immer wieder lange Besprechungen in den Dienstzimmern des Spionagechefs Walter Schellenberg oder des Chefs der Sicherheitspolizei Ernst Kaltenbrunner, in denen die Nazibonzen – hinter schweren Fenstervorhängen – die Zeit nach dem Untergang planen.

Geschickt kommuniziert

© RIA NOVOSTI

„Und Sie, Stierlitz, bitte ich noch zu bleiben.“: Noch immer stockt russischen Zuschauern der Atem, wenn Gestapochef Müller (Leonid Bronewoj) Verdacht gegen Stierlitz (Wjatscheslaw Tichonow) schöpft.

Jedes Jahr, wenn ganz Russland am 9. Mai den „Tag des Sieges“ feiert, steht das Fernsehprogramm schon lange fest: die nächste Wiederholung von „17 Augenblicke des Frühlings“. KARSTEN PACKEISER FÜR RUSSLAND HEUTE

Keine andere sowjetische Fernsehserie ist selbst vier Jahrzehnte nach der Erstausstrahlung auch nur annähernd so populär wie der Zwölfteiler, der die Abenteuer eines russischen Agenten im Frühjahr 1945 erzählt. „Ein echter Arier. Nordischer, entschlossener Charakter“, heißt es in der makellosen Kaderakte des SS-Standartenführers Max Otto von Stierlitz. Dass Stierlitz in Wirklichkeit Maxim Issajew heißt und im Dienst des Kremls steht, ahnen die Nazis zunächst noch nicht.

SS-Mann im Dienst des Kremls

Die Handlung der Serie basiert teils auf historischen Ereignissen. Ein Roman von Julian Semjonow diente als Vorlage: Als das Dritte Reich im Frühjahr 1945 in den letzten Zügen liegt und in Berlin bereits der Artilleriedonner von den Kämpfen an der Oder zu hören ist, erfüllt Issajew alias Stierlitz eine heikle Aufgabe. Er soll herausfinden, wer in Hitlers Umfeld Geheimverhandlungen mit den Westalliierten begonnen hat, und verhindern, dass das Dritte Reich sich mit Briten und Amerikanern auf einen Separatfrieden einigt.

KULTURKALENDER

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Der SS-Mann im Dienste des Kremls spielt dazu verschiedene Nazigrößen geschickt gegeneinander aus. In den 70er-Jahren war „17 Augenblicke des Frühlings“ eine der wenigen ausländischen Filmproduktionen, die über den Krieg erzählen, die Deutschen aber nicht als anonyme Feinde und die Naziführer nicht als eindimensionale, brutale Monster darstellen. Regisseurin Tatjana Liosnowa zeichnete ein genaues Bild jedes einzelnen Charakters mit all seinen seelischen Abgründen. Auch die deutschen Hitler-Gegner werden in der Serie gewürdigt, und zwar keineswegs – wie bei einer Produktion aus der UdSSR zu vermuten wäre – nur in Gestalt von

Kommunisten. Als Vorzeigewiderstandskämpfer steht dem sowjetischen Agenten ausgerechnet ein mutiger Pastor zur Seite.

Kein russischer James Bond

Schon bei der Erstaufführung 1973 waren die Straßen Moskaus wie leergefegt. Egal, ob das schwarz-weiße Original oder eine umstrittene, nachträglich entstandene Farbversion der Serie gezeigt wird: Bis heute schalten Millionen Menschen ein. Vom DDR-Fernsehen der Vorwendezeit abgesehen, ist die Serie dennoch nie in Deutschland gezeigt worden. Das mag daran liegen, dass Stierlitz eben kein russischer James Bond ist. Obwohl Oberst Issajew seine Frau vor Jahren in

Ein Standartenführer als Witzfigur Der Volksmund hat Hunderte von Witzen über Agent Stierlitz erdacht, obwohl die Serie an sich alles andere als komisch ist. Typisch für viele Stierlitz-Witze sind unübersetzbare Wortspiele. Andere machen sich sowohl darüber lustig, dass die Nazis Stierlitz nicht enttarnen können, als auch darüber, dass der Meisteragent der Sowjets sich wenig konspirativ verhält: „Die Lage in Berlin war so schlimm geworden, dass sich selbst in der Reichskanzlei lange Schlangen bildeten, wenn dort Wurst verkauft wurde“, heißt es in einem ty-

pischen Witz. „Alle warteten geduldig, allein Stierlitz drängelte sich jedes Mal grob an der Schlange vorbei, was die Gestapoleute unheimlich aufregte. Sie konnten noch nicht wissen, dass Helden der Sowjetunion immer außer der Reihe bedient werden.“ Auch die kühle, geniale Kombinationsgabe des Geheimagenten wird von den Russen gerne ins Groteske gesteigert, zum Beispiel so: Gestapochef Müller schaute aus dem Fenster und sah, wie Stierlitz eilig aus der Geheimpolizeizentrale fortlief. „Wohin geht er bloß?“, dachte Müller. „Das

FEST MUSEUMSFEST

KONFERENZ DER LANGE ABSCHIED VOM TOTALITÄREN ERBE

8. MAI, BERLIN-KARLSHORST, DEUTSCH-RUSSISCHES MUSEUM

11.-12. MAI, EICHSTÄTT, KATHOLISCHE UNIVERSITÄT EICHSTÄTT-INGOLSTADT

Mehrfach steht Stierlitz kurz vor der Enttarnung, aber immer im letzten Augenblick kann sich der sowjetische Meisteragent mit geschickten Ausreden retten. Auch die vielen minutenlangen Nahaufnahmen des schweigenden Helden, in denen lediglich die Stimme von Hintergrunderzähler Efim Kopeljan zu hören ist, mindern die Spannung nicht. Auch heute noch stockt den Russen jedes Mal der Atem an jener Stelle, als Gestapochef Müller Verdacht geschöpft hat, dass sein Vertrauter ein falsches Spiel spielen könnte, und dem sowjetischen Agenten die legendären Worte nachruft: „Und Sie, Stierlitz, bitte ich, noch zu bleiben.“ Kremlchef Wladimir Putin, einst selbst für den KGB an der unsichtbaren Front tätig, überreichte dem Hauptdarsteller Wjatscheslaw Tichonow zum 75. Geburtstag den Verdienstorden um das Vaterland. Die noch größere Auszeichnung für Tichonow, der 2009 im Alter von 81 Jahren starb, ist aber vielleicht, dass Stierlitz durch unzählige Anekdoten und geflügelte Worte zur Legende geworden ist. geht dich einen feuchten Dreck an“, dachte Stierlitz zurück. Allerdings müssen die Russen auch über die historischen Fehler in der echten Serie schmunzeln. Und von denen gibt es eine ganze Reihe. So stammen nicht nur die sanitären Anlagen und die Wanduhren in der Gestapozentrale sowie die Motorräder der Nazis erkennbar aus sowjetischer Produktion. Auch hört der Hauptdarsteller im Autoradio ausgerechnet den lange nach Kriegsende aufgenommenen Edith-Piaf-Chanson „Milord“. Für die echten Fans machen derlei kleinere Missgeschicke die „17 Augenblicke des Frühlings“ allerdings eher noch sympathischer.

AUSSTELLUNG BAUMEISTER DER REVOLUTION – SOWJETISCHE KUNST UND ARCHITEKTUR 1915-1935 BIS 9. JULI, BERLIN, MARTIN-GROPIUS-BAU

Vor 67 Jahren wurde in BerlinKarlshorst die Kapitulation unterzeichnet. Wie jedes Jahr lädt das Museum am 8. Mai zu Gedenken, Lesung und zum Feiern. Abends spielen Trio Scho und die Bolschewistische Kurkapelle Rot-Schwarz auf.

Die deutsche Vergangenheitsbewältigung nach 1945 gilt trotz aller Mängel als vorbildhaft. Warum Polen und Russen „ihr“ totalitäres Erbe ganz anders aufarbeiten, darüber diskutieren Historiker auf dieser Tagung.

In den 20ern blühte in der Sowjetunion die avantgardistische Architektur – und geriet dann in Vergessenheit. Illustriert wird die Schau mit Bildern von Richard Pare, der seit 1993 die Überreste dieser Zeit dokumentiert.

› museum-karlshorst.de

› ku.de/forschungseinr/zimos/tagung/

› berlinerfestspiele.de

Mit Joachim Król, der in „Wir können auch anders“ und in „Zugvögel ... Einmal nach Inari“ schon wunderbar skurrile Typen mit lakonischem Humor spielte, hat sich Minu Barati, Drehbuchautorin und Produzentin von „Ausgerechnet Sibirien“, genau den Richtigen ausgewählt, um die Rolle des pedantischen Matthias Bleuel, Logistiker eines Modeversandhandels aus Leverkusen, zu verkörpern. Der Film ist eine anrührende, zauberhaft poetische Erzählung, die auf Michael Ebmeyers Roman „Der Neuling“ basiert und vorwiegend mit russischen Schauspielern besetzt ist. Koproduzenten sind Skady Lis („Alles auf Zucker“) und der vielfach ausgezeichnete russische Filmunternehmer Sergey Selyanov („Der Mongole“). Król, alias Bleuel, reist mit Daunenmantel, Desinfektionsmittel und Pfefferspray gerüstet nach Kemerowo in Südsibirien, um die dortige Firmenfiliale computermäßig auf Vordermann zu bringen. Doch ohne jede Sprachkenntnis bleibt er schon in Nowosibirsk stecken. Sein Weiterflug wird gestrichen. Wie ein Deus ex machina erscheint sein ehemaliger Schulfreund (Armin Rohde) und hilft ihm aus der Patsche. Was als Geschäftsreise begann, wird zum Abenteuer. Denn im fernen Sibirien, dessen Schönheit in großformatigem CinemaScope erst zur Wirkung kommt, verfällt unser Handlungsreisender dem betörenden Gesang Sajanas (Yulya Men), die den linkischen Fremden durch ihre Warmherzigkeit in einen begeisterungsfähigen Menschen verwandelt, der in diesem Land eine neue Heimat findet. Angelika Kettelhack

Regie: Ralf Huettner. Ab dem 10. Mai im Kino

empfiehlt


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Porträt

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Kabarett Ein russisch-deutscher Poetry-Slammer macht Integrationskabarett für jugendliche Migranten

In Moskau geboren, in Freiburg und Stuttgart aufgewachsen, glänzt der Urenkel des Dissidenten Lew Kopelew heute auf Kleinkunstbühnen mit russisch-deutscher Realsatire. MICHAEL C. HERMANN FÜR RUSSLAND HEUTE

Die Gitarre hängt lässig über der Schulter, die Lippen sind ganz nah am Mikro, die Finger sausen rasend schnell über das Minimischpult, aus einem Büchlein rezitiert er handschriftlich geschriebene Texte – ein paar Akkorde, zugespielte Audioclips, zwischendrin der Rücktritt von Wulff im Originalton. Alles muss passen. Alles ist auf den Bruchteil einer Sekunde abgestimmt. „Der einzige nichttrinkende Russe der Welt ist zwar in Moskau geboren, aber er ist die größte Kartoffel, die du dir vorstellen kannst. Sauber, politisch korrekt, engagiert und an Fernreisen interessiert“, so stellt Nikita Gorbunov sich im Internet vor. Das, was der 28-Jährige auf der Bühne macht, ist schwer zu beschreiben. Er ist ein russischdeutscher Tontechnik-HörspielHipHop-Rapper-Poetry-SlamLiedermacher aus Stuttgart und aus Moskau. Seine Themen: Alles, was junge Leute und ihn beschäftigt. In seinen Stücken fügt er zusammen, was definitiv nicht zusammengehört. An nicht wenigen Stellen seiner Show würde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein

diskreter Piepton bei 800 Hertz zu hören sein. Provokationen des Publikums sind ein Markenzeichen des Moskowiters: „Ich bin doch nur unflätig. Ich habe Spaß an Schimpfwörtern. Manchmal rutscht mir so ein Wort wie … raus.“ Wieder ein Piepton bei 800 Hertz. „Aber ich finde nicht, dass ich Grenzen überschreite.“ Gelacht wird bei Gorbunovs Auftritten viel. Mancher Zuschauer schweigt aber bis zuletzt, ist irritiert, versucht zu verstehen, was da auf der Bühne eigentlich vor sich geht, was das eigentlich ist, was Gorbunov macht. Ob man Russe sein muss, um den auf Deutsch vorgetragenen Humor des Künstlers zu verstehen? Da ist zum Beispiel die Geschichte von Frau Pfeifer. Sie wohnt am Stuttgarter Feuersee, ist schon ziemlich alt, schrullig, ohne Familie und Freunde. Der demografische Wandel lässt grüßen, der Pflegenotstand auch. In Gorbunovs Geschichte beschäftigt Frau Pfeifer einen Pflegeroboter. „Sie sitzen nun schon anderthalb Stunden in Ihrem Rollstuhl, Frau Pfeifer“, sagt der Pflegeroboter mit blecherner vorproduzierter Computerstimme. „Sie müssen einen Spaziergang machen, Frau Pfeifer.“ Die Geschichte ist surreal und mit einer großen Portion schwarzem Humor gespickt. Auch als die alte Dame schließlich tot aus dem Haus getragen wird, wiederholt der Roboter hartnäckig sein Kommando: „Sie haben sich

FELIX KAESTLE (2)

„Ich bin die größte Kartoffel, die man sich vorstellen kann“

Nikitas Auftritte

BIOGRAFIE BERUF: KÜNSTLER ALTER: 28 GEBOREN IN: MOSKAU

Nikita Gorbunov, Urenkel des Regimekritikers Lew Kopelew, wird in Moskau geboren und 1990 über Köln, Freiburg, Aachen, Sindelfingen und Esslingen nach Stuttgart gespült. Nach Abitur und Zivildienst Studium zum Tontechniker. Seine ersten Zeilen

nun schon 83,5 Stunden nicht bewegt. Sie müssen einen Spaziergang machen, Frau Pfeifer.“ Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

„Weil alle gegangen sind“

Nikita Olegowitsch Gorbunov: geboren 1983 in Moskau, Urenkel des aus der Sowjetunion ausgebürgerten und 1997 in Köln verstorbenen Regimekritikers Lew Kopelew, Nachfahre des Malers Igor Grabar, im Alter von sieben Jahren nach Deutschland ausge-

INTERVIEW

Wenn deutsche Russen sich herauswulffen

Wodurch unterscheidet sich der russische Humor vom deutschen? Bei zwei Völkern von 80 und 140 Millionen Menschen von „einem“ Humor zu sprechen, ist schon an sich unfreiwillig komisch. Die wichtigsten Unterschiede sind natürlich die Referenzen, die vielen

kleinen Codes und Wahrheiten, auf die sich Scherze beziehen. Es ist ziemlich schwer, einem Russen auf der Gefühlsebene zu vermitteln, was es heißt, sich aus einer unangenehmen Situation „herauszuwulffen“. Und dann gibt es da einfach sprachliche Unterschiede. Ich kann das russische Wort „Oblom“ nicht gut übersetzen. Können Sie das? Nur beschreiben: eine sehr emotional erlebte Enttäuschung. Worüber können Russen und Deutsche überhaupt nicht lachen, und worüber würden sie gemeinsam losprusten? Ich glaube, Russen würden keine Pointen darüber verstehen, dass es in den 90ern besser war als jetzt. Die Zeit von 1998 bis heute empfinden viele Deutsche als unglaubliche Reihe von Beleidigungen und „notwendigen“ Zumutun-

Die Termine der süddeutschen Minitournee von Nikita Gorbunov:

gen (Hartz IV, Afghanistan, Bankenrettung), während viele Russen unsere „unbesorgten“ 90er als düstere Horrorvergangenheit vor Augen haben (Chaos, Tschetschenien-Krieg, Staatspleite). Im Gegenzug würden viele Deutsche in einigen russischen Frauen- und Schwulenwitzen nur kindische Albernheiten sehen. Da gibt es in Russland vereinzelt noch komische Ansichten. Herzlich lachen können beide wohl über Facebook und über Amerikaner. Wenn Sie den Humor nach Ländern ordnen könnten, was wären Ihre TOP 3? 1. Japan. Die humorseitig weit unterschätzte Heimat des Absurden und der naiven Blödelei. 2. Schweiz. Wer es da aushält, muss Humor haben. 3. Bronze für Russland und Deutschland.

bringt er als Rapper aufs Papier, bis ihn die Poetry-Slam-Szene in ihren Bann zieht. Der Vater einer dreijährigen Tochter macht im Verein „Ausdrucksreich“ Jugendarbeit und spielt in den Ensembles der Esslinger Show „Höhen & Tiefen“ und auf der Tübinger Lesebühne Kopfgeburt. Gorbunov war für das Goethe-Institut in Weißrussland und in der Ukraine auf Poetry-Slams, zuletzt 2011 auf einer Tour entlang der Wolga.

wandert. Warum? „Weil alle gegangen sind.“ Noch am Flughafen dachte der kleine Nikita, es gehe in den Urlaub. Das Urlaubsziel wurde zur neuen Heimat, Aachen, Freiburg und Stuttgart zu Stationen seiner Familie. Brüche in der Biografie gehören auch dazu. „Meine Leute waren nicht gerade systemkonform“, sagt Gorbunov: „Aber ich glaube nicht, dass sich so etwas vererbt.“ Deutsch spricht er absolut akzentfrei, Russisch auch nicht schlechter. Manchmal fällt ihm ein russisches Wort nicht ein, im Russischen gibt es ja sehr viel mehr Wörter als im Deutschen. Was wäre, wenn er seine Show auf Russisch machen würde? „Ich denke, Humor ist universell. Vergleiche zwischen deutschem, englischem und russischem Humor sind unpassende Gedankenschablonen“, sagt der gelernte Tontechniker. Auch mit dem Begriff der Mentalität, der gerade in Russland so oft bemüht wird, kann er nur wenig anfangen, mit Fragen nach seiner Ethnie oder Identität schon gar nicht. Cogito ergo sum Gorbunov.

Zu Hause humorlos

„Zu Hause bin ich übrigens ziemlich humorlos“, sagt der Vater einer dreijährigen Tochter, der seine Brötchen hauptsächlich in der Poetry-Slam-Szene und Jugendkulturarbeit verdient. Er kämpft um Gelder aus öffentlichen Programmen, zum Beispiel für seine Projekte mit jungen Migranten an

TÜBINGEN 2. Mai, 20.00 Uhr, Café Haag – Lesebühne Kopfgeburt, Am Haagtor 1 STUTTGART 10. Mai, 20.00 Uhr, Club Theater (ehemaliges Renitenztheater), Hospitalstraße 10 12. Juni, 20.00 Uhr, Vorpremiere von Nikitas Show „Gorbunov & Kienzler“, Club Zwölfzehn, Paulinenstraße 45

Stuttgarter Schulen. „Wie die Programme alle heißen“, lacht er, „das ist eh schon Kabarett: ‚Literatur 2.0‘, ‚Les.bar‘, ‚Bleib-am-Ball‘. Ich bin ein Freier-Träger-Apparatschik“, neudeutsch: Fundraiser. Zur Frage nach seinen Hobbys, nach seinen Leidenschaften jenseits seiner Minihörspiel-PoetrySlam-Nummer: „Ich mach sonst nichts. Es tut mir leid, dass ich so lebe“, antwortet er lachend. Und mal wieder ist sein Humor für den Deutschen ohne russisches Genom nicht so ganz begreiflich. Echt wolle er sein, nicht so wie manch andere Kabarettisten: „Die müssen zum Teil ein zu großes Publikum bedienen. Da machen die nur seichten Humor und spielen eine Kunstfigur. Ich will authentisch sein.“ Auch oder gerade besonders, wenn er nur vor ein paar Dutzend Menschen spielt. Die ganz große Publicity, das große Geld, das ist nicht das, was Gorbunov antreibt. Die erste CD spielt er gerade erst ein, auf Facebook hat er noch keine Fanseite und ans Telefon geht kein Manager, sondern er selbst. Etwa zehn Auftritte pro Monat macht er, eine kleine Fangemeinde reist ihm hinterher. Und einen guten Namen in der Szene hat er sowieso. Die Größe der Bühne spielt keine Rolle. „Ich mach es auch gerne auf der Couch“, sagt er. Und lacht. Prof. Dr. Michael C. Hermann ist Journalist und Medienwissenschaftler. Er lebt in Stuttgart.

Thema des Monats – Fußball-EM 2012 Was die russische National-Elf in der Ukraine zeigen will

6. Juni 2012


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