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Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES
Keine Ahnung
Kein Grau
Oskar Hartmann ist ein Star des E-Commerce.
Die Wahrnehmung der russischen Literatur im Westen ist zu sehr politisch dominiert, meint der Autor Zakhar Prilepin.
Künstlerpaar kreiert und schlägt Brücken.
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Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.
Mittwoch, 10. Oktober 2012
Wer hat Angst vor iTolstoi?
Lesen Sie nicht, wenn Sie es nicht müssen CHEFREDAKTEUR
eo Tolstoi bekommt Besuch von einem jungen Autor, der sich die Meinung des großen Schriftstellers über sein Manuskript einholen will. So beginnt eine russische Literaturfabel. „Wozu wollen Sie denn meine Meinung wissen, mein Lieber? Was, wenn ich das Manuskript lese und Ihnen sage: ‚Schreiben Sie nicht‘?“, fragt Graf Tolstoi grimmig stirnrunzelnd. – „Nun, wenn Sie das sagen, dann schreibe ich auch nicht mehr“, stottert das Nachwuchstalent zurück. „Schreiben Sie nicht, wenn Sie es nicht müssen“, sagt Tolstoi und geht. Ob diese Geschichte wahr ist, sei dahingestellt. Schließlich ist sie nur eine unter russischen Schreibern weitverbreitete Anekdote. In ihrem Kern verbirgt sich jedoch eine tiefe Wahrheit: Schreiben ist ein Drang, der aus der Seele kommt, schreiben soll man nur, wenn man Bedeutendes mitzuteilen hat, und dann ohne Rücksicht auf die Meinung anderer. Auf den modernen Leser übertragen, der seine Zeitungslektüre, seine Termine und seine Kontaktpflege über das iPad abfertigt, möchte man fast sagen: „Lesen Sie nicht, wenn Sie es nicht müssen.“ Wenn Sie es aber wollen – dann bitte Gutes. Zum Beispiel „Anna Karenina“ oder „Krieg und Frieden“ auf dem iPad. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe über das Gute an der modernen russischen Literatur.
L
Wenn Leo Tolstoi das erlebt hätte: Seine Werke können heute bequem in digitaler Form gelesen werden.
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POINTIERT
Alexej Knelz
PRESSEBILD
Was kann uns Oblomow heute erzählen, jener Nichtsnutz-Archetyp des 19. Jahrhunderts aus der Feder von Iwan Gontscharow? Sehr viel, schreibt Vera Bischitzky, deren Übersetzung – die achte in deutscher Sprache – in diesem Jahr erschienen ist. Wie aktuell mute es angesichts des grassierenden Burn-out-Syndroms an, wenn Oblomow verwundert über den Aktionismus im Hamsterrad des Gelderwerbs immer wieder fragt: „Wo bleibt da der Mensch? In wie viele Stücke will er sich zerreißen und zerfallen?“ Wenn die Frankfurter Buchmesse am 10. Oktober ihre Tore öffnet, wird es dort auch einige Neuigkeiten aus Russland zu lesen geben. Dabei scheint die Wahrnehmung der russischen Literatur auf den ersten Blick seltsam rückwärtsgewandt: Neben „Oblomow“ wird dem deutschen Leser in diesem Jahr eine Tolstoi-Biografie und eine Neuübersetzung des „Roman mit Kokain“ von M. Agejew vorgelegt. Zeitgenössische Schriftsteller hingegen messen Verleger und Agenten an Tolstoi, Dostojewski oder doch wenigstens Pasternak. Gegen alle Widerstände findet aber auch eine neue, durchaus ungemütliche Literatur wie Zakhar Prilepins Roman „Sankja“ den Weg nach Westen. „Der westliche Leser hat die russische Literatur wegen ihrer idealistischen Grundhaltung, wegen ihrer festen Vorstellung von Gut und Böse ins Herz geschlossen“, schreibt Prilepin in einem Gastbeitrag für Russland HEUTE. Und wundert sich, warum deutsche Leser Büchern über Russen mehr trauen als Büchern von Russen. Mehr zur russischen Literatur – im Thema des Monats.
BETTINA SANGERHAUSEN
PRESSEBILD
Kein Öl
POLITIK
PRESSEBILD
Kreativ für mehr Licht
PRESSEBILD
Wer darf im Namen der russischen Opposition reden? Knapp ein Jahr nach den ersten Großdemonstrationen wollen die Akteure Klarheit schaffen: Basisdemokratisch soll ein „Koordinationsrat“ aus 45 Mitgliedern gewählt werden. Wie viel Rückhalt sie auf dem flachen Land haben, erfahren derzeit die Teilnehmer der Oppositionsrallye „Weißer Strom“. SEITEN 2 und 3
Klimawandel Erste Spuren in der Tundra
Der Konzern Norilsk Nickel hat sich für den Polarkreis eine eigene Flotte aus Containerschiffen aufgebaut. Die Schiffe der Arktis-Klasse aus Norwegen und Deutschland schaffen den schwierigen Weg nach Norilsk ohne die Begleitung von Eisbrechern.
Ende September erstrahlte das Zentrum Moskaus für fünf Tage in internationalem Glanz: Schon WIRTSCHAFT zum zweiten Mal projizierten Lichtkünstler aus aller Welt auf dem Festival „Krug Sweta“ (Ring des Lichts) ihre Installationen auf historische Kulissen wie die Kremlmauer oder Objekte im Gorki-Park. Das Festival brachte LITERATUR zu Beginn der dunklen Jahreszeit viel Licht in die russische Metropole – und zog eine Million Touristen sowie 30 Millionen Fernsehzuschauer an.
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Eisbrechend OPPOSITION VON DER DEMONSTRATION ZUR DEMOKRATIE
INHALT
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Laudatio Günter Grass zum 85. SEITE 11
Baikal Die schönste Bahnstrecke im Land
REISEN
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Politik
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Wahlen Die russische Opposition wählt im Oktober einen Koordinationsrat – aber nicht alle verstehen den Sinn PRESSEBILD
Ein Mosaik aus Gesichtern: Auf dem offiziellen Plakat, das zur Wahl des Koordinationsrats der Opposition aufruft, sind alle 200 Kandidaten abgebildet.
Von der Demo zur Demokratie Die Opposition will mit der Wahl eines Koordinationsrats endlich klären, wer in ihrem Namen sprechen darf. Das Projekt könnte am mangelnden Interesse der Wähler scheitern. VIKTOR DJATLIKOWITSCH FÜR RUSSLAND HEUTE
„Die Organisatoren von Protesten müssen wissen, dass sie keine Usurpatoren sind, sondern Verantwortung gegenüber den Bürgern tragen, die sie gewählt haben“, erklärt Boris Nemzow den Kern des Plans zur Wahl eines „Oppositionsparlaments“. Nemzow gehört zu denen, die man in den letzten Jahren gewöhnlich als Anführer der russischen Opposition eingestuft hat. Doch im Dezember des vergangenen Jahres, als in Moskau und anderen Städten Massenproteste gegen die Fälschungen bei den Parlamentswahlen begannen, stand plötzlich die Hierarchie der russischen Opposition in Frage. Der überwiegende Teil der spontan auf die Straße gegangenen Menschen hatte kein Vertrauen zu den Oppositionsführern. Sie verstanden nicht, warum ein Liberaler wie Boris Nemzow oder ein Linksradikaler wie Sergej Udalzow für sich beanspruchen konnten, im Namen aller Versammelten zu sprechen. Nun, nach fast einem Jahr, wollen die Vertreter der verschiedenen Lager endlich herausfinden, wer von ihnen ein Usurpator ist und wer nicht. Dazu läuft derzeit eine echte Wahlkampagne.
Die Opposition ist gespalten Das Procedere: In den Koordinationsrat werden 45 Personen gewählt – 30 politisch neutrale nach einer allgemeinen Bürgerliste und jeweils fünf Nationalisten, Liberale und Linke. Wer sich aufstellen lassen will, muss 10 000 Rubel (etwa 250 Euro) einzahlen und eine neu gegründete Wahlkommission davon überzeugen, dass man die allgemeinen Werte der Protestbewegung teilt. Um seine Stimme abgeben zu können, muss man sich als Wähler registrieren. Am 20. und 21. Oktober wird dann abgestimmt, und zwar auf einer extra eingerichteten Website sowie in
mehreren Dutzend Wahllokalen in großen russischen Städten. Die Idee ist ebenso interessant wie widersprüchlich und hat sofort eine Spaltung der Opposition bewirkt. Die außerparlamentarische Wahl kritisierten sowohl liberale Politiker wie Michail Kasjanow und Wladimir Ryschkow wie auch der exzentrische ewige Revolutionär Eduard Limonow. „All das ist lächerlich. Anführer werden nicht gewählt“, umreißt Limonow seinen Standpunkt. „Das Prinzip der Wahlen haben sich Dummköpfe ausgedacht, die meinten, dass sie, wenn man sie jetzt wählt, lange Jahre an der Spitze der Opposition stehen werden. In Wirklichkeit wird es nach dieser Wahl ein ‚Parlament‘ aus 45 Impotenten geben, die man in drei Monaten vergessen hat. Wir haben es mit einer künstlichen Hierarchie zu tun, die bei den ersten ernsthafteren Unruhen umgestürzt wird.“
200 Kandidaten auf 45 Plätze Aber das Experiment läuft, und auf die 45 Plätze im Koordinationsrat gibt es mehr als 200 Anwärter. Gewiss, das Nominierungsverfahren verlief nicht ohne Skandale. Bei der Entscheidung der Wahlkommission, wen sie registriert, verschwimmen die Kriterien, am wichtigsten ist der Nachweis, dass man gegen Putin und für die Demokratie ist. So wurde der Kämpfer der ultrarechten Bewegung Maxim Marzinkewitsch (Spitzname „Handbeil“) nicht registriert. Gleichzeitig erhielt der zu lebenslanger Haft verurteilte Nationalist Nikolai Koroljow zunächst das Placet der Kommission. Koroljow zündete im Jahr 2006 eine Bombe auf einem der Moskauer Märkte, wo Einwanderer Handel treiben. Vierzehn Menschen, darunter zwei Kinder, starben. Im Gefängnis gründete Koroljow nach eigener Aussage den Rudolf-Hess-Verein und schloss sich der „paneuropäischen Anders-Berhing-BreivikVereinigung rechter Strafgefangener“ an. Zur Bestätigung legte er sogar einen Brief des norwegischen Terroristen vor. Koroljows Registrierung wurde rasch zurückgezogen, was die Peinlichkeit
Umfrage: Einstellung zu Oppositionellen
Sinn und Zweck des Koordinationsrats Der Koordinationsrat der Opposition ist ein beratendes und koordinierendes Organ mit dem Ziel, die Strategie und Taktik für ein gemeinsames Vorgehen festzulegen. Dazu gehört, die Protestaktionen aller oppositionellen Kräfte aufeinander abzustimmen, während der Vorbereitung der Aktionen mit den Behörden zu verhandeln und die politischen Forderungen der Kundgebungen in Einklang zu bringen. Die Entscheidung über die Gründung des Koordinationsrats wurde auf dem „Marsch der Millionen“ am 12. Juni 2012 getroffen. Mehr Info auf www.cvk2012.org
des ganzen Verfahrens nicht minderte. Unter den Kandidaten befinden sich auch religiöse Schwärmer wie Stanislaw Schatow, der sich als „Krieger des Lichts“ und Führer der Bewegung „Helle Kräfte“ bezeichnet. „Diese Wahl hat kein höheres demokratisches Niveau als jene, die
Menschen registriert – kümmerlich wenig für ein Projekt, das den Ehrgeiz hat, die Oppositionsführer für ein ganzes Land zu bestimmen. Doch Boris Nemzow gibt sich optimistisch. Er möchte mit Debatten der Kandidaten auf dem Fernsehkanal „Doschd“ (Regen) und im Hörfunksender „Echo Moskwy“ (Echo Moskaus) noch mehr Wähler motivieren. Auch die Uneinheitlichkeit des Koordinationsrats bereitet ihm kein Kopfzerbrechen.
Nach fast einem Jahr, wollen die Vertreter der verschiedenen Lager endlich herausfinden, wer ein Usurpator ist.
Die Proteste sind abgeflaut
Tschurow [der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Russlands, Anm. d. Red.] organisiert“, sagt der Politologe Boris Kagarlizki. „Am lächerlichsten ist, dass sich die Kommission die Aufgabe stellt, eine legitime Oppositionsführung zu wählen. Und dann soll diese Führung das Sagen über Leute haben, die mit der Wahl nie einverstanden waren.“ Tatsächlich ist nicht klar, wie der Koordinationsrat beabsichtigt, die Opposition als Ganzes zu führen. Ein Teilboykott der Wahl bedeutet, dass nicht alle oppositionellen Kräfte den Entscheidungen des Rats folgen werden. Ein weiteres Argument der Wahlgegner ist die Anzahl der Wähler. Bisher sind auf der Website 33 000
„Mir scheint, dass es im Koordinationsrat keine ernsten Konflikte geben wird. Es handelt sich in gewissem Sinne um ein Wetsche [altrussische Versammlung]. In diesem Parlament werden sich nicht alle sympathisch sein, und viele werden diametral entgegengesetzte Ansichten vertreten. Aber da das ganze Volk sprechen soll, muss man zusammenarbeiten. Das Konfliktpotenzial wächst, wenn sich die Frage stellt: ‚Was haben Sie hier überhaupt zu suchen?‘ Wenn die Antwort jedoch auf der Hand liegt, sinkt die Wahrscheinlichkeit von Auseinandersetzungen.“ Das Hauptproblem der russischen Opposition besteht derzeit ohnehin nicht darin, welche Gegensätze es im Koordinationsrat geben
wird. Fasziniert von der Klärung dessen, wer der wirkliche Führer und wer nur Usurpator ist, könnten die Vertreter der Opposition aus den Augen verlieren, dass es bald niemanden mehr gibt, den sie führen können: Denn die Intensität der Straßenproteste geht kontinuierlich zurück. Während die Kundgebungen der Opposition auf dem Höhepunkt der Proteste in Moskau jeweils 100 000 Menschen anzogen, erschienen auf dem letzten Marsch der Millionen nicht mehr als 30 000.
IM BLICKPUNKT
Die Wahlfälschungen im vergangenen Dezember sorgten bei vielen Russen für Empörung. Zu Tausenden gingen sie auf die Straße und demonstrierten für faire Wahlen und gegen die Machtelite. Die Protestierenden formten eine völlig neue Oppositionsbewegung – das erste Anzeichen einer Zivilgesellschaft. Lesen Sie die Beiträge auf www.russland-heute.de
Politik
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Opposition Moskau und St. Petersburg demonstrieren, die Provinz schläft. Ein Lagebericht aus Kaluga
Politkonvoi durch die Provinzen Mit einer Autokarawane durch 50 russische Städte wollen sich die Oppositionsführer im Land bekannt machen. In Kaluga hat ihr Auftritt vor allem eines hinterlassen: Enttäuschung. ANDREJ GUSSEW
Ein Großereignis für die Stadt Doch nach den Moskauer Großdemos im Dezember des vergangenen Jahres wurden auch die Einwohner von Kaluga etwas lebhafter. Ihre Lebhaftigkeit beschränkte sich zwar auf eine einzige Versammlung vor dem Zentralkino mit 300 Teilnehmern. Aber es gab Hoffnung, dass das schläfrige Kaluga aufwachen würde. Der Besuch einer mehr als durchschnittlichen Mediengröße, ob Künstler oder Politiker, ist in Kaluga stets ein Ereignis. Die oppositionelle Rallye „Weißer Strom“, die am 14. September in der Stadt eintreffen sollte, wurde deshalb ungeduldig erwartet. Die ganze Blüte der russischen Opposition war angekündigt: der Blogger und Korruptionsbekämpfer Alexej Nawalny, die Berufsoppositionellen Ilja Ponomarjow und Sergej Udalzow, der gerade aus der Duma herausgeworfene Gennadij Gudkow und der legendäre Dissident Wladimir Bykowski. All jene Mediengestalten würde man nun erstmals zu Gesicht bekommen.
Kaluga, Winter 2012: Von den 300 000 Einwohnern gehen rund 300 auf die Straße, um für faire Wahlen zu demonstrieren.
vor allem für die Fernsehkameras interessierten.“ Wenig später sahen die Bürger Kalugas auf YouTube einen Videoclip mit dem Gespräch im Café, bei dem Michail Schnejder freimütig erklärte, dass am „Weißen Strom“ nur ein einziges Auto teilnehme, an dessen Lenkrad gewöhnlich Ilja Ponomarjow sitze. Der Hohn der offiziellen Zeitung über die lauwarme Protestbereitschaft war wenig überraschend, doch plötzlich war eine ähnliche Stimmung sogar bei den örtlichen Oppositionellen zu spüren.
© PAVEL LISITDYN_RIA NOVOSTI
Die Unzufriedenheit wächst PRESSEBILD
In Kaluga, 180 Kilometer südwestlich von Moskau, war es mit Schauspielen jeglicher Art immer schlecht bestellt, ebenso mit Zuschauern. Zu Sowjetzeiten holte man hauptstädtische Künstler und veranstaltete Festspiele, doch die Zuschauer mussten aus der gesamten Umgebung der 300 000-Einwohnerstadt mit Bussen hergebracht werden. Auch die politischen Ereignisse der letzten 20 Jahre fanden keinen besonderen Anklang bei den Einheimischen. Der Augustputsch von 1991, die Beschießung des Weißen Hauses 1993 – all das spielte sich weit weg in Moskau ab, berührte die Kaluschanje nicht direkt. Überhaupt ließen sich die Geschehnisse bequem am Fernsehapparat verfolgen. Im Wahlkampf reisten die Parteiführer selten nach Kaluga. Die einzige Ausnahme bildete der Nationalist Wladimir Schirinowski, der Wodka und CDs mit von ihm selbst vorgetragenen Liedern an die Wählerschaft verteilte. Solange die Kommunisten an der Macht waren, gehörte das Gebiet Kaluga zum „roten Gürtel“. Um ihre Positionen nicht zu verlieren, schwenkten die Vertreter der regionalen Elite einmütig auf die Kreml-Partei Einiges Russland um. Gouverneur Anatoli Artamonow sitzt seit zwölf Jahren fest im Sattel und ernennt ihm genehme Bürgermeister in den Dörfern und in der Hauptstadt Kaluga. Dabei erfährt Einiges Russland keine einmütige Zustimmung in der Bevölkerung. Nur ein Viertel aller Wähler nahmen an der letzten Stadtratswahl teil. Auf der Kandidatenliste fehlte die Opposition fast völlig. Die steht nun außerhalb des Systems.
KIRILL SALNIKOV/KALUGAFOTO.NET
FÜR RUSSLAND HEUTE
„Weißer Strom“: Oppositionelle Sergej Udalzow und Ilja Ponomarjow
Der Organisator der Versammlung, der regionale Oppositionelle Wjatscheslaw Gorbatin, stellte bei den Behörden einen Antrag auf eine Kundgebung mit 300 Menschen. Für Kaluga ist das eine beträchtliche Menge, und es gab Befürchtungen, dass man nicht alle Interessenten auf dem Friedensplatz würde unterbringen können. Über die sozialen Netzwerke meldeten sich sofort Freiwillige, die versprachen, Agitationsmaterial anzufertigen und die Bürger über die Begegnung mit den hauptstädtischen Oppositionellen zu informieren.
Kein Marsch der Millionen Bald stellte sich heraus, dass nicht alle kommen würden: Nawalny durfte wegen laufender Ermittlungen die Hauptstadt nicht verlassen. Am Tag der Ankunft des „Weißen Stroms“ wurde zudem bekannt, dass auch Sergej Udalzow nicht dabei sein würde, weil er an diesem Tag im Moskauer Rathaus über Zeit und Ort des nächsten „Marsch der Millionen“ verhandelte. Kurz vor dem Treffen teilte Gorbatin den Journalisten dann telefonisch mit, dass
Weißer-Strom-Abzeichen
Ein weißer Strom durch 50 Städte Am 27. August startete im sibirischen Krasnojarsk der „Weiße Strom“ – eine Rallye durch 50 russische Städte, angeführt vom russischen Oppositionellen Ilja Ponomarjow. Bis Mitte September hatten die Aktivisten nach eigenen Angaben bereits 16 Städte besucht und dabei 14 000 Kilometer
zurückgelegt. Ziel der Aktion ist laut Ponomarjow, „das Gespräch mit den Menschen in den Regionen“ zu suchen. In mehreren Städten wurden die Treffen mit den Oppositionellen allerdings von Provokateuren gestört. Ponomarjow wurde mehrere Male mit Eiern beworfen.
überhaupt nur zwei Oppositionelle kommen würden: der Liberale Michail Schnejder und der Nationalist Wladimir Tor, beide höchstens zweitrangige Vertreter der Opposition. Schnell sprach sich die Neuigkeit herum, und auf den Friedensplatz kamen nur ein paar Dutzend Menschen, die Hälfte davon Polizisten und unauffällig gekleidete Geheimdienstler. Die gesamte Protestaktion lief darauf hinaus, dass sich Schnejder und Tor zu zweit in ein Café setzten und dann weiterfuhren. Immerhin waren die beiden vorher noch kurz vor die Versammelten getreten, teilten den Bewohnern Kalugas allerdings
wenig Neues mit. Es gab die üblichen Losungen: „Einiges Russland – die Partei der Diebe und Gauner“, „Die Wahlen wurden gefälscht“ (Schnejder) und „Es reicht, den Kaukasus zu füttern“ (Tor). Eine Entschuldigung für das Fernbleiben der angekündigten Teilnehmer gab es nicht.
Hohn für die Organisatoren Die offizielle Gebietszeitung West schrieb später süffisant: „Um sich die Reden der Regierungsgegner anzuhören, kamen ein Dutzend Lokaljournalisten, anderthalb Dutzend Polizisten, ein Dutzend Bürger und eine Gruppe angetrunkener Jugendlicher, die sich
„Einerseits herrscht Enttäuschung, andererseits Schadenfreude darüber, dass es ‚keine Opposition gibt‘“, sinnierte der bekannte Blogger Michail Obuchow. Frustriert zeigte sich einer der Organisatoren der gescheiterten Rallye, der Oppositionelle Alexander Wassiljew. Im Internet entschuldigte er sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Moskauer Regimegegner. Möglicherweise ist Kaluga als Stadt mit schwach ausgeprägten Neigungen zum Protest in der Tat nicht interessant für die hauptstädtische Opposition. Aber mit jedem Tag steigt andererseits die Zahl der Bürger, die unzufrieden sind. Sie ärgern sich über die zu dichte Bebauung, die schlechten Straßen, die Verkehrsstaus, darüber, dass die mit dem Erscheinen ausländischer Investoren verbundenen Erwartungen sich nicht erfüllt haben, den nicht regulierten Zustrom von Einwanderern aus den zentralasiatischen Republiken und das Missverhältnis in der Entwicklung städtischer und dörflicher Gegenden. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis wir von ihnen selbst vorgebrachte Forderungen hören. Der Autor ist Chefredakteur der Regionalzeitung Kaluschski Perekrjostok.
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Wirtschaft
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E-Commerce Oskar Hartmann und Michail Ukolow gehören zu den Stars des Onlinehandels
AKTUELL
Keine Lust aufs Ölgeschäft
Wirtschaftsgipfel Sotschi – Russland will weg vom Öl
Mit der rasanten Entwicklung des russischen Internets wächst eine Generation von erfolgreichen Jungunternehmern heran, deren Karriere nicht der Geruch von Öl und Gas anhaftet.
Am 23. September endete in der künftigen Olympiastadt Sotschi das 11. Investitionsforum. „Die Regierung wird den Staatshaushalt vom Erdölpreis entkoppeln“, versprach Ministerpräsident Dmitri Medwedjew bei seiner Abschlussrede. Dies sei notwendig, um die wirtschaftliche Stabilität des Landes zu gewährleisten. Der bei hohen Erdölpreisen eventuell anfallende Überschuss werde in die Staatsreserven fließen. 2012 besteht der Haushalt Russlands zu 47,3 Prozent aus Öl- und Gaseinkünften. Wie viel Geld das schwarze Gold am Ende wirklich in das Staatssäckel spült, müssen die Experten jedes Mal orakeln: Dem Etatentwurf liegen immer mehrere Prognosen zugrunde. Von dieser Praxis will sich Medwedjew nun verabschieden. 2013 soll das Budget nur noch zu 44 Prozent aus Öl- und Gaserlösen stammen. Der „Ölentzug“ werde wohl durch eine Kürzung der Staatsausgaben erfolgen, analysiert Darja Pitschugina von der Consulting Agentur Investcafé. „Für das Jahr 2013 rechnet das Finanzministerium mit einem Defizit von 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und bereits 2015 soll der Staatshaushalt gänzlich ohne Neuverschuldung auskommen.“ Dabei gehe man von einer Kürzung der Staatsausgaben in Höhe von drei Prozent aus.
BOJAN KRSTULOVIC FÜR RUSSLAND HEUTE
PRESSEBILD
KOMMERSANT
Oskar Hartmann gilt als „Star des russischen Internets“. Der Russlanddeutsche machte sich 2008 im Alter von 26 Jahren selbstständig und gründete in Moskau den Online-Shopping-Club „KupiVIP“. Auf seiner Seite verscherbeln Markenhersteller ihre Restware, vergleichbar mit den Schlussverkäufen in der „Offline-Welt“. Über die Mitgliedschaft entsteht im Netz ein geschlossener Bereich, der für Suchmaschinen nicht zugänglich ist. So versuchen die Hersteller trotz Rabatten von bis zu 90 Prozent einem Imageverlust ihrer Marke vorzubeugen. Er habe von Anfang an eine „riesengroße Firma“ mit 100 Millionen Dollar Umsatz im Blick gehabt, sagt Hartmann. Auf den russischen Markt müsse man überfallartig, mit viel Elan und Kraft kommen – das war und ist noch heute seine Devise. „Im Ölgeschäft habe ich mit meinen fünf Euro keine Chance, deshalb fangen 99 Prozent der Jungunternehmer im Internet an“, sagt Hartmann. Er nahm ein im Ausland erprobtes Geschäftsmodell und übertrug es auf die russischen Verhältnisse. Geschäftsideen müssten nicht unbedingt innovativ sein, es komme auf Zeitpunkt und Umsetzung an. Den Zeitpunkt hat er gut getroffen: In den letzten Jahren ist der russische Internethandel explodiert. Zwar ist sein Gesamtvolumen, das laut dem Marktforschungsunternehmen Data Insight bei etwa zehn Milliarden Dollar liegt, für das Land mit den inzwischen meisten Internetnutzern in Europa nicht spektakulär – in Deutschland wurden 2010 knapp 40 Milliarden Euro umgesetzt. Aber noch vor einigen Jahren war dieser Markt praktisch nicht existent.
Handeln online: Oskar Hartmann eröffnete einen Luxusladen, Michail Ukolow einen für Elektronik.
tum eingesetzt, vor allem in den Ausbau der logistischen Infrastruktur. „In Deutschland würde man nie auf die Idee kommen, die Ware selbst zu lagern, zu verpacken und auszuliefern“, sagt Hartmann. In Russland sei das notwendig, um einen guten Service und Preis anbieten zu können. In den zwei vergangenen Jahren hat „KupiVIP“ 75 Millionen Dollar Risikokapital erhalten – nur der Spitzenreiter des russischen E-Commerce, der Online-Buchhändler Ozon, hat mit 100 Millionen Dollar mehr Geld von Investoren eingeworben. „Riesengroß“ will Hartmann weiterhin werden, nur dass er jetzt schon an einen Milliardenumsatz denkt.
Michail Ukolow musste seinen Technikhandel weitgehend ohne die Hilfe von Investoren aufbauen. Seine Geschäftsidee bestand in einer neuartigen, „intelligenten“ Produktsuche. Ukolow hatte schon während seines Informatikstudiums im Auftrag OnlineLäden programmiert und Seiten für Suchmaschinen optimiert. Er war darin so gut, dass er sich entschied, einen eigenen Laden zu starten: Utinet.ru. Der heute 30-Jährige will mit seiner innovativen Suchmaske den Verkäufer im Fachhandel simulieren und ersetzen. „Im Geschäft äußert der Kunde Wünsche, der
Verkäufer versteht diese und führt ihn zum Regal mit dem passenden Produkt. Das Gleiche macht die Internetseite“, erläutert Ukolow. Die Suche funktioniere wie bei Google, nur dass sie nicht allein Text erfasse, sondern Produkte mit ihren individuellen Eigenschaften. Der Umsatz von Utinet wird in diesem Jahr voraussichtlich 100 Millionen Dollar übersteigen. Ukolow will seine Bruttomarge bis Ende des Jahres von zehn auf zwölf Prozent steigern. Er will über Technologien wachsen und nicht durch millionenschwere Investitionen. „Unsere Kompetenz ist Software. Also bieten wir eine bequeme Plattform für die Produktauswahl und den besten Preis, den Rest erledigen unsere Partner.“ Wer sich wie etwa Ozon für eine eigene Logistik entscheide und aus den eigenen Warenhäusern verkaufe, habe nur 50 Modelle im Angebot und nicht 1500 wie Utinet. Ukolows E-Commerce-Rezept: Man müsse im Internethandel eine große Auswahl anbieten, dieses Angebot schmackhaft machen und schließlich bei der Abwicklung des Kaufs einen guten Service leisten, so dass der Kunde wiederkomme. Bald will er seine intelligente Suchmaschine auch in englischer, spanischer und deutscher Sprache umsetzen.
KONFERENZ MITGLIEDERTREFFEN DES DEUTSCH-RUSSISCHEN FORUMS
FACHKONFERENZ INVESTITIONSKONFERENZ „RECHT IN RUSSLAND“
TAGUNG DEUTSCH-RUSSISCHE GESPRÄCHE
10. OKTOBER, MOSKAU
11. OKTOBER, BERLIN, HOTEL DE ROME
8. BIS 14. OKTOBER, BADEN-BADEN
30. OKTOBER BIS 2. NOVEMBER, NOWOSIBIRSK, EXPO CENTRE
LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF
Das Mitgliedertreffen findet in Kooperation mit der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer statt. Im Anschluss gibt es einen Vortrag zum Thema „Energiewirtschaft im 21. Jahrhundert – Fortschritt und Verantwortung für die Gesellschaft“.
Vertreter des russischen Wirtschaftsministeriums und 30 Experten von in Russland tätigen Beratungsunternehmen wie Ernst & Young, PWC und Salans informieren über die aktuellen Rahmenbedingungen des Russlandgeschäfts.
Jedes Jahr im Oktober tauschen sich junge Führungskräfte aus Deutschland und Russland über aktuelle Wirtschaftsthemen und gesellschaftliche Fragestellungen aus. In diesem Jahr soll es um das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Bürgern gehen.
Neben vielen anderen internationalen Teilnehmern beteiligen sich auch 24 deutsche Firmen an der wichtigsten Landwirtschaftsmesse in Sibirien. Insbesondere für die Hersteller von Landtechnik bietet der russische Osten große Chancen.
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› deutsch-russisches-forum.de
› wegweiser.de
› deutsch-russische-gespraeche.com
› ifw-expo.de
Beliebt bei Investoren Heute beschäftigt Hartmann 1500 Mitarbeiter, der Shopping-Club soll zehn Millionen Mitglieder haben. Brancheninsider schätzen seinen Umsatz auf 160 Millionen Dollar, doppelt so viel wie im vergangenen Jahr – eine Zahl, der Hartmann nicht widerspricht. Erst seit einem Jahr allerdings sei „KupiVIP“ operativ im schwarzen Bereich, räumt er ein. Alle Gewinne würden für weiteres Wachs-
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ZAHLEN
10 Milliarden Dollar wird der Umsatz im russischen Internet in diesem Jahr voraussichtlich betragen.
53 Millionen Internetnutzer gab es Ende 2011 in Russland. Damit hat das Land die Bundesrepublik (51 Millionen) überholt und ist europaweit Spitzenreiter.
Das Geschäft im russischen Internet Im März stellte das Forbes-Magazin die TOP 30 des russischen Internets vor. Auf Rang eins landete das Suchportal Yandex mit 3500 Mitarbeitern und einem Umsatz von 690 Millionen US-Dollar. Das Schlusslicht bildete Avito.ru, ein Internetflohmarkt. Mit einem Gewinn von zehn Millionen US-Dollar wurden hier Waren im Wert von über elf Milliarden Euro an den Mann gebracht.
Intelligente Produktsuche
© EKATERINA SHTUKINA_RIA NOVOSTI
Stopp für Genmais Die russische Verbraucherschutzbehörde hat den Import von Genmais der Sorte NK 603 vorübergehend gestoppt. Grund dafür ist eine Studie der französischen Universität Caen, die an Ratten ein erhöhtes Krebsrisiko nach dem Konsum des Genmaises nachgewiesen hat.
MESSE AGRO EXPO SIBERIA
Wirtschaft
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Logistik Warum der russische Buntmetallproduzent Norilsk Nickel für den hohen Norden eine eigene Flotte benötigt
Norilsk Nickel hat für die Arktis unter anderem mit deutschen Schiffen eine eigene Containerschiffflotte aufgebaut. Damit spart der Konzern die Hälfte der Transportkosten. DMITRIJ LITOWKIN FÜR RUSSLAND HEUTE
Alle zwei Tage verlässt ein mächtiges Dieselelektroschiff das hinter dem Polarkreis gelegene Murmansk in Richtung JenisseiMündung, des größten Flusses Sibiriens. Fünf Tage fährt es durch das bis zu anderthalb Meter dicke arktische Eis, um dann im Hafen von Dudinka anzulegen. An Bord befinden sich bis zu 8000 Tonnen Lebensmittel und Haushaltsgüter, ohne die die riesige Region wohl nicht überleben könnte. Über den Landweg kommt man praktisch nicht nach Norilsk, der Regionshauptstadt, wo sich gigantische Lagerstätten des für die Weltraum- und Rüstungsindustrie wichtigen Nickels befinden: Die Stadt ist durch die undurchdringliche Tundra vom Kernland abgeschnitten und lediglich per Flugzeug oder über das Meer zu erreichen.
Hochseekapitän Michail Chomenko, der seit 13 Jahren auf Eisbrechern fährt, kann seinen Stolz nicht verbergen, als er die Brücke der „Talnach“, seines Dieselelektroschiffs der Arktis-Klasse, präsentiert. „Solche Schiffe gab es bisher weder in der russischen noch in irgendeiner anderen Flotte“, sagt er. „Eine unserer ersten Fahrten führte uns nach Hamburg. An Bord gingen gleich zwei Gruppen Zöllner – es war gerade Schichtwechsel, und sowohl die vorhergehende, als auch die neue Schicht kamen aufs Schiff. Die deutschen Zöllner gaben ehrlich zu, dass sie sich einfach nur für unser Frachtschiff interessierten und baten uns, sie an Bord herumzuführen und ihnen alles zu zeigen.“ Chomenkos Stolz ist nicht unbegründet. Das Schiff der Serie Arctic Express ist das erste Containerfrachtschiff der Klasse Arc7. Frachtschiffe dieser Kategorie können ohne Unterstützung eines Eisbrechers bis zu anderthalb Meter dicke Eisschichten durchpflügen. Außerdem ist es das erste Schiff in Russland, das mit einem Azipod-Antriebssystem ausgestat-
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Mit Nickel und Nahrung durchs arktische Eis
„Kleiner“ Eisbrecher: die „Talnach“ im Hafen von Murmansk, Kapitän Michail Chomenko auf der Brücke
tet ist. Das Aggregat ist außerhalb des Rumpfs angebracht und kann um 360 Grad gedreht werden, was die Manövrierfähigkeit und die Geschwindigkeit des Schiffs vergrößert. Wenn die „Talnach“ ins Eis stößt, kann sie ihr Heck nach vorne drehen und mit ihm die Eisdecke zertrümmern. Darüber hinaus ist dank Azipod der Maschinenraum verkleinert, und es kann mehr zusätzliche Fracht an Bord genommen werden. Das erste Schiff der Arktis-Klasse gab Norilsk Nickel beim norwegischen Unternehmen Aker
Yards in Auftrag, fünf weitere baute die deutsche Werft Nordic Yards, die für diese extra ein neues Antriebssystem für Fahrten im Polarmeer entwickelte. Nachdem das neue Frachtschiff alle Tests in der Arktis absolviert hatte, wurden fünf weitere Dieselelektroschiffe mit einem Ladegewicht von 14 500 Tonnen geordert. Der Wert eines Frachtschiffs beträgt nahezu 82 Millionen Euro. Die Arctic-Express-Frachtschiffe verkehren zwischen Dudinka, Murmansk, Archangelsk, Rotterdam und Hamburg. Norilsk Ni-
ckel kann so seine Transporte ohne den Einsatz von Eisbrechern realisieren und die Transportkosten um 50 Prozent senken. „Unsere Flotte bewältigt alle Logistikaufgaben selbst“, sagt Oleg Fedin, der Direktor des Murmansker Transportunternehmens von Norilsk Nickel: „Die aus fünf Dieselelektroschiffen bestehende Flotte beliefert das ganze Jahr über die Industrieregion Norilsk mit unterschiedlicher Fracht. Von dort werden dann die fertigen Produkte auf den Binnen- und Außenmarkt verschifft.“
stieren, und diese Kosten anschließend durch Stromlieferungen nach der Inbetriebnahme zu begleichen. Selbstverständlich ist der Bau von AKWs auf bulgarischem Boden die Sache von Sofia. Doch darf nicht unberücksichtigt bleiben,
eignissen in Fukushima ihre nationalen Atomprogramme auf Eis gelegt. Dieser Prozess ist nicht schmerzfrei verlaufen. Die Frage, ob neue AKWs in Europa gebaut werden sollen, wird immer wieder gestellt. Denn eine richtige Alternative zu den Atommeilern existiert vorerst nicht. Das Erhöhen der Anteile aus alternativen Energiequellen an der Gesamtenergieerzeugung bleibt nach wie vor ein Traum der Fachleute. Ein Umstieg auf die Energiegewinnung aus Kohle oder Erdgas würde die globalen Anstren-
Rumänien erhielt von der EU grünes Licht für den Bau von Block 3 und 4 des AKW Cernavoda bis 2017.
In Bulgarien haben über 700 000 Menschen eine Petition für ein Referendum für die Kernkraft unterzeichnet.
dass mit der Abkehr von diesem Projekt ein wichtiges Element im System der ökologischen Sicherheit verschwindet, das nicht nur die EU, sondern die ganze Welt betrifft. Bis 2020 will man in der EU den Treibgasausstoß um 20 Prozent senken. Kernkraftwerke sind als Energieerzeuger dieser Aufgabe gewachsen, denn einen CO2-Ausstoß gibt es bei einem AKW nicht. Dennoch haben die meisten EU-Staaten nach den Er-
g u ngen gegen den globalen Klimawandel ad absurdum führen. Dessen katastrophalen Auswirkungen in Form eines anormalen Temperaturanstiegs und Dürren ist in vielen Ländern der Erde bereits heute zu beobachten. Und solange es keine neue hocheffiziente Energiequellen gibt, wird man von der Atomenergie als ökologisch saubere Energie kaum loskommen. Das dürfte auch in Bulgarien klar geworden sein.
Völlig unerwartet stellte sich ExMinisterpräsident Simeon II. auf die Seite der Atomkraftbefürworter, und diesem Mann kann man wirklich keine Russland-Sympathien nachsagen. Seiner Meinung nach sei es unvernünftig, das Belene-Projekt abzuwickeln, da sich der Kreis der Nachbarländer, die neue Ker nblöcke er r ichten, schließt: Rumänien baute die ersten beiden Blöcke des AKW Cernavoda fertig und erhielt von der EU grünes Licht für den Bau von Block 3 und 4, die 2017 in Betrieb gehen sollen. Die Türkei baut ebenso einen Atommeiler mit vier Blöcken, der unter anderem auch Elektroenergie für den Export in die Nachbarstaaten produzieren soll. Ferner würden durch eine Entscheidung dagegen viele Arbeitsplätze wegfallen. Deshalb haben in Bulgarien bereits mehr als 700 000 Menschen eine Petition zum Referendum unterzeichnet, auf dem über den Bau des AKW Belene demokratisch abgestimmt werden könnte. Wird dagegen gestimmt, wird Bulgarien, nach dem das einzige Kernkraftwerk Kosloduj vom Netz geht, möglicherweise in einen Energiedefizit geraten. Die Atomkraftgegner in der EU hätten dafür wieder Gesprächsstoff.
MEINUNG
Atomenergie und Kernkraft Fluch oder Segen? Andrej Resnitschenko ENERGIEEXPERTE
N
ach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima fragen sich viele Staaten unter dem Druck der besorgten Öffentlichkeit: Soll die Atomkraft noch weiterentwickelt werden? Die Antwort fällt in den einzelnen Ländern unterschiedlich aus. Die Bundesrepublik will bis 2022 den Atomausstieg vollziehen. Die britische Regierung hingegen antwortete positiv – schließlich gebe es gegenwärtig keine richtige Alternative zur Atomkraft. In den vergangenen Monaten kam es in vielen Ländern erneut zu einer Kernenergie-Debatte. Eines der jüngsten Ereignisse auf diesem Gebiet, das die öffentliche Stimmung mitprägt, ist die Streitfrage zwischen Russland und Bulgarien um den Bau des Atomkraftwerks Belene. Der Bau des Atommeilers auf bulgarischem Boden hatte schon begonnen, als die bulgarische Re-
gierung beschloss, von dem Projekt abzurücken. Nun will die russische Atomagentur Rosatom von Sofia eine Milliarde Euro für die bereits gelieferte Ausrüstung vor Gericht einfordern. Die Bulgaren legen eines der modernsten AKW-Pojekte auf Eis, das den EUR-Zertifikat des Europäischen Lenkungsausschusses für Kernkraftwerkbetreiber erhielt. Das AKW sollte über passive und ein aktive Sicherheitssysteme verfügen sowie mit einer „Kernschmelz-Falle“ ausgestattet werden. Außerdem wurden nach der Fukushima-Katastrophe für das bulgarische AKW Stresstests entsprechend den Normen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) ausgearbeitet, die der Meiler erfolgreich absolvierte. Das wichtigste Gegenargumen der bulgarischen Regierung war die inanzielle Knappheit im Staatshaushalt. Doch diese Begründung erscheint nicht sehr überzeugend, da Rosatom bereit war, eigenes Kapital in Höhe von 70 bis 100 Prozent in das Projekt zu inver-
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Der Autor ist Ressortleiter Umwelt und Energie bei der Presseagentur RIA Novosti.
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Thema des Monats
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LITERATUR RUSSLAND LIEST DER ABSATZ VON ELEKTRONISCHEN LESEGERÄTEN NIMMT STARK ZU. GLEICHZEITIG ENTSTEHEN VÖLLIG NEUE FORMATE, DIE DEM KLASSISCHEN BUCH DEN RANG ABLAUFEN KÖNNTEN
LESEN: BUCH ODER BILDSCHIRM? Wird das gedruckte Buch schon bald der Vergangenheit angehören? Neue Technologien generieren ein anderes Leseverhalten – und verändern auch die Buchformate.
Mehrwert generieren? Die eine spezifische Technologie nutzen, um neue Inhalt in neuer Form wiederzugeben?
HENRIKE SCHMIDT
Der russische Verlag mit dem sprechenden Namen HokusPokus zum Beispiel bietet aufwendig gestaltete literarische Werke exklusiv für iPads und iPhones an. Die Texte sind reich illustriert und typografisch raffiniert gestaltet. HokusPokus konzentriert sich dabei auf mittlere Prosaformate, insbesondere Erzählungen, die – so die These – zwischen Roman und SMS-Kurznachricht in der aktuellen Gattungsnomenklatur einen schweren Stand hätten. Als eines der ersten iPad-Bücher erschien die Erzählung „Liebe“ von Sachar Prilepin. Neben dem Text tauchen den Bildschirm füllende Illustrationen der Künstlerin Warwara Poljakowa auf.
Im Jahr 2001 schuf der russische Netzliterat und Medienkünstler Aleksroma ein Lesekunstwerk auf der Grundlage von Dostojewskis Klassiker „Der Idiot“. Aleksandr Romadanow, so der vollständige Name des Künstlers, präsentierte den gesamten Roman in Form eines Tickers, einer durchlaufenden elektronischen Zeile, wie man sie beim Annoncieren von aktuellen Nachrichten im Fernsehprogramm oder von Sonderangeboten im Supermarkt kennt. Rund 24 Stunden dauerte es, sich den gesamten Text im buchstäblichen Sinn vor Augen zu führen. Der „tickende Idiot“ sei dabei nur der Anfang eines größer angelegten Projekts, so Aleksroma: Im Weiteren könne man etwa den berühmten Reiseroman des Literaten Alexander Radischtschew „Reise von Petersburg nach Moskau“ (1790) auf die Werbetafeln entlang der Autobahn zwischen den beiden Metropolen drucken und so zu einer Lektüre des Werks während der Fahrt anregen.
Tolstoi in der digitalen Ära Die Intention des Künstlers ist eine doppelte: Zum einen stellt Aleksroma in provokativ-ironischer Weise die Frage, wie die Lektüre klassischer Literatur in der digitalen Ära aussehen kann. Zum anderen geht es ihm um eine kritische Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Potenzial von Medienkunst, die die verschiedenen Medienträger in ihrer Besonderheit oftmals nicht nutze und die Inhalte banal von einem medialen Träger auf den anderen übertrage. Mit kulturpessimistischen Äußerungen über die virtuelle Zerstreuung der Leserschaft hat unlängst eine empirisch basierte buchwissenschaftliche Studie der Uni Mainz aufgeräumt. Die Befragten äußerten zwar, dass sie beim Lesen eines gedruckten Buchs einen höheren Genuss empfänden. Was Schnelligkeit und Genauigkeit der Informationsaufnahme anging, standen sich Printformat, spezialisiertes Lesegerät, Tablet-PC und Smartphone jedoch in nichts nach. Die Lektüre am mobilen Lesegerät führt also keineswegs schnurgerade in die digitale Demenz. Ist das E-Book, das mit elektronischer Tinte und seitengenauer Paginierung das „echte“ Buch eins zu eins imitiert, aber nun lediglich ein neuer medialer Kanal für die Verbreitung literarischer Inhalte? Oder gibt es schon Formate, die nicht einfach das traditionel le Erschei nu ngsbi ld des gedruckten Buchs simulieren, sondern die einen ästhetischen
Der russische Verlag HokusPokus bietet aufwendig gestaltete literarische Werke für iPads und iPhones an. In der ästhetisch herausfordernden multimedialen Gestaltung der Texte liegt die offensichtliche Chance der auf dem Tablet präsentierten Literatur. So gab der Verlag des bekannten russischen Webdesigners Artjemi Lebedejew ein eigens für das Apple-Gerät produziertes Katzencomic von Oleg Tischtschenkow heraus, mit dem passenden Titel „iCat“ (russisch „iKot“). Für die frühen Hypertext-Propheten wäre die hier praktizierte Form der Interaktivität allerdings vermutlich lediglich ein konsumistischer Trick. Denn eigene Kreativität lässt sich in die hübsch illustrierten und animierten iPad-Werke nicht einbringen. Der Markt für Tablet-PCs in Russland wächst. Laut der Tageszeitung Wedomosti wurden im ersten Halbjahr 2012 rund 800 000 Geräte verkauft, das entspricht einem Zuwachs von über 300 Prozent. Apple bleibt mit seinem iPad Marktführer, allerdings holt die heimische Konkurrenz und jene aus Asien auf. Ausschlaggebend sind nicht zuletzt deren wesentlich günstigere Preise. Ökonomisch ist angesichts der Marginalität des sich noch entwickelnden Segments besondere Kreativität gefragt, um die neuen Buchformate auch unter die Leser zu bringen. Es ist eben doch mehr als Zauberei, Bücher zu verkaufen, wie auch HokusPokus feststellen musste. Das Businessmodell der illustrierten iPad-Prosa er wies sich als ökonomisch schwierig. Initiator Maksim Kotin tat sich jüngst mit dem Internetportal Slon.ru zusammen, um seine digitale Buchproduktion voranzutreiben.
ZAHL
800 000 PHOTOXPRESS
FÜR RUSSLAND HEUTE
Mehr Genuss mit gedruckten Büchern
Tablet-PCs wurden im ersten Halbjahr 2012 in Russland abgesetzt. Das entspricht einem Zuwachs von 300 Prozent. Marktführer ist Apple.
Hier wird noch klassisch gelesen: im großen Lesesaal der Staatlichen Lenin-Bibliothek in Moskau ...
Das entstandene Projekt trägt den programmatischen Namen „Fastbook“. Es greift über den Bereich der Belletristik hinaus und prä-
Es ist eben doch mehr als Zauberei, E-Books zu verkaufen, wie der Verlag HokusPokus feststellen musste. sentiert Essays und politische Reportagen von aktueller Brisanz. Die schnellen Bücher setzen bewusst auf Mittelmaß, allerdings nicht im qualitativen, sondern im quantitativen Sinn. „‚Fastbooks‘ ähneln Erzählungen oder Novellen, aber ihre Helden sind von heute und die Geschichten sind echt.“ So wird die neue Buchgat-
tung auf der Website beschrieben. Eines der ersten schnellen Bücher ist denn auch der Lebensroman über die prominente Fernsehmoderatorin Olga Romanowa, verfasst von der Journalistin Swetlana Reiter. Unter dem Untertitel „Wie die populäre Fernsehmoderatorin zur Schatzmeisterin der Opposition wurde“ zeichnet die Autorin den Weg ihrer Protagonistin von der Glamourgesellschaft zur Protestkultur nach. „Fastbook“ ist die russifizierte Variante des von Amazon bereits vor einigen Jahren erfundenen Genres des Kindle Singles, des selbstständig publizierten Buchs von mittlerer Länge. Doch Kotin will das amerikanische Modell rundum verbessern und insbesondere auf die ästhetische Gestaltung Wert legen.
DIE AUTORIN
Henrike Schmidt Die Slawistin Henrike Schmidt ist am Berliner Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft tätig. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der russischen und bulgarischen Literatur, der avantgardistischen Lyrik, dem Themenkomplex Kultur und Macht und der digitalen Kultur im Internet. Zu ihren Publikationen gehört die Monografie „Russische Literatur im Internet. Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda“ (Transcript 2011).
Thema des Monats
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Digitale Medien Die digitale Lesekultur erfordert neue Vermarktungsstrategien
Der Mythos vom Lesevolk im digitalen Zeitalter
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... und hier modern: Eine junge Moskauerin genießt ihre Lektüre im elektronischen Format auf dem iPad.
Einst galt Russland als das lesefreundlichste Land der Welt. Die neuen digitalen Buchformate erfordern nun ein Umdenken: für Leser – und Autoren. HENRIKE SCHMIDT FÜR RUSSLAND HEUTE
Ein Passagier in der Moskauer Metro, vertieft in die Lektüre eines dicken Buchs: Das ist die perfekte Bebilderung des Mythos von Russland als dem (einst) „lese-
freundlichsten Land der Welt“. Nun treten an die Stelle des gedruckten Buchs auch in Russland elektronische Lesegeräte. Für die einen macht das die rollende Lektürestunde im buchstäblichen Sinn leichter. Die anderen fürchten den Niedergang der Lesekultur, ihr Aufgehen in den Bildschirmwelten von Fernsehen und Computer. Nach einer Analyse der Mediengruppe RBC vom Juli 2012 hat sich der Umsatz von elektro-
nischen Büchern in Russland seit 2008 um mehr als das Tausendfache gesteigert. Die Entwicklung vollzieht sich allerdings auf einem niedrigen Niveau: Vergleichbare Steigerungsraten vorausgesetzt, würde die digital zugängliche Literatur im Jahr 2015 gerade einmal fünf Prozent des Markts ausmachen. Zudem würde nur jedes zehnte elektronische Buch käuflich erworben – der Rest illegal heruntergeladen.
Auf dem legalen Markt für E-Books sind verschiedene Akteure wie www.litres.ru oder www.imobilco.ru aktiv. Der Onlinebuchhändler litres.ru ist mit rund 280 000 Titeln und einem Marktanteil von über 50 Prozent nach eigenen Angaben der größte Anbieter und hat sich programmatisch dem Kampf gegen die digitale Piraterie verschrieben. Die kommerziellen Anbieter von elektronischen Inhalten beklagen mithin eine schlechte Kaufmentalität. Die russischen Nutzer seien an die Gratiskultur des Internets gewöhnt und nur ungern bereit, für E-Books zu bezahlen. Dass es auch vermittelnde Positionen gibt, zeigt das Beispiel des russischen Erfolgsautors Dmitry Glukhovsky, der mit seinem dystopischen Science-Fiction-Thriller „Metro 2033“ einen Bestseller gelandet hat. Der Autor verdankt seinen literarischen Aufstieg dem Internet, wo er seine ersten Bücher im Selbstverlag veröffentlichte. Glukhovsky vertritt bis heute eine ungewöhnliche Publikationspolitik: Sämtliche seiner Werke stehen im Web frei zur Verfügung. Sein Argument: So könnten sich die Leser von der Qualität seiner Bücher überzeugen und dann ent-
scheiden, ob sie diese auch käuflich erwerben wollen. Das radikale Modell von Glukhovsky mag nicht für alle Autoren oder Literaturgattungen Vorbild sein. Es zeigt jedoch, dass die schwarz-weiß-malerische Gegenüberstellung von gedrucktem und digitalem Buch, von guten Käufern und skrupellosen Downloadern nicht so statisch sein muss und die Entwicklung innovativer kommerzieller Modelle und Vermarktungsstrategien gefragt ist. Die russische Metro bleibt in jedem Fall ein guter Ort für die Literatur – als Thema und als Ort der Lektüre.
GAIA RUSSO
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IM GESPRÄCH
„Doktor Schiwago“, „Doktor Schiwago“ und nichts anderes Literaturagenten, Lektoren und Übersetzer über das Verständnis der russischen Literatur in Deutschland und den idealen russischen Roman, den auch ein Deutscher verstehen würde.
Welche russischen Autoren werden im Westen übersetzt? JULIA GUMEN MITGESELLSCHAFTERIN DER RUSSISCHEN LITERATURAGENTUR GUMEN & SMIRNOWA
Von der russischen Literatur erwartet man Wodka, Bären und Matroschkas im literarischen Sinn, zum Beispiel den brutalen Alltag. Die Verleger erklären sehr offen: „Wir wollen, dass im Roman jemand ermordet wird, dass alles knallhart und grausam ist.“ Es ist klar, dass die Russen selbst zu diesem Klischee beitragen. Die Verleger im Westen wollen ständig irgendwelchen Anti-Putin-Stoff. Man braucht lediglich die Augen zu verdrehen und konspirativ zu zwinkern: „Schaut euch diesen Roman nur an! Da geht es um die Strippenzieher. Ihr versteht schon, das steht natürlich zwischen den Zeilen.“ Und die Verleger reiben sich die Hände und sagen: „Ja, ja! Das wollen wir haben!“ Abgesehen davon sind aber auch Michail Schischkin, Marina Stepnowa und Anja Starobinez sehr erfolgreich. Schischkin geht einfach fantastisch! Meine Kollegin hat „Das Venushaar“ in dreißig Sprachen verkauft, auch in Färöisch. Der Buchmarkt ist klar strukturiert – der Verlag, der Kriminalromane herausbringt, hat sein Regal in der Buchhandlung und kann dort keine Liebesromane verkaufen. Und mit dem Angebot aus Russland ist es auch so eine Sache, weil dort eine Tradition des Gattungsromans nicht existiert. Die Autoren mögen es nicht oder sind einfach nicht in der Lage, klare Kriterien einzuhalten, so wie es die westlichen Verleger und Leser erwarten. Unterm Strich wissen die Verleger, dass sie aus Russland undurchsichtige, gattungsmäßig schwer einzuordnende Romane bekommen – mit einer Unzahl Helden, deren Namen sich niemand merken kann.
THOMAS WIEDLING MITBEGRÜNDER DER DEUTSCHEN LITERATURAGENTUR NIBBE & WIEDLING
Unsere Politik ist es, Autoren vorzustellen, die über die Gegenwart schreiben. Sentschin, der recht pessimistisch auf die Situation in der Provinz schaut, Prilepin, von
Hollywood-Verfilmungen von Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ oder Tolstois „Krieg und Frieden“ prägten das Russlandbild.
dem man überraschende politische Aussagen erwartet. Eigentlich wollte anfangs Prilepin keiner so richtig verlegen, weil ihn alle für einen Extremisten hielten, und es kostete uns große Mühe, das Projekt durchzusetzen. Und Eduard Limonow, zum Beispiel, gilt vielen eher als Politiker, denn als Schriftsteller. Niemand mag so recht seinen jüngsten Roman „W Syrach“ (Alles in Käse) über die Beziehung zu seiner Ehefrau übersetzen. Dabei ist es Limonow wert, übersetzt zu werden – er schreibt besser als viele andere, aber sein politisches Schicksal überschattet sein literarisches. Unterm Strich werden nahezu 90 Prozent aller Übersetzungen, die in Deutschland veröffentlicht werden, aus dem Englischen angefertigt. Die übrigen zehn Prozent teilen sich auf alle anderen Sprachen der Welt auf. Auf das Russische entfällt in etwa ein Prozent. Das ist gar nicht einmal so wenig – der Anteil der Übersetzungen aus dem Französischen ist ungefähr genauso hoch.
MARLIES JUHNKE VERLAGSLEKTORIN FÜR RUSSISCHE UND ENGLISCHE LITERATUR IM BERLINER AUFBAU VERLAG
Wir bemühen uns, nur das zu veröffentlichen, worauf die deutschen Journalisten reagieren – ohne Unterstützung der Medien können wir die Auflage nicht absetzen. Aber die Journalisten äußern sich im Wesentlichen nur zu politisch brisanten Büchern, zum Beispiel zu dem Roman von Oleg Kaschin „Es geht voran“. Na, und der Leser hört zuerst Radio oder schaut fern, und wenn er in den Nachrichten etwas über Russland mitbekommt, denkt er sich: Darüber sollte ich vielleicht einmal etwas lesen.
Non-Fiction-Literatur und Sachbuch – was wird übersetzt?
NATASCHA PEROWA CHEFLEKTORIN DES VERLAGS GLAS, DER RUSSISCHE LITERATUR AUF ENGLISCH INTERNATIONAL VERMARKTET
Thomas Wiedling
Leider wird ein amerikanischer Journalist, der ein Buch über Russland schreibt, eher veröffentlicht, als ein russischer. Er muss nicht einmal ein Fachmann auf diesem Gebiet sein, aber das Vertrauen zu seinem Wissen und der Weise, wie er dieses darlegt, wird in jedem Falle größer sein. Zumal der amerikanische Stil der nonchalanten, oberflächlichen Bearbeitung eines Themas beliebtеr ist als der etwas tiefgründige und komplizierte russische Stil.
GABRIELE LEUPOLD ÜBERSETZERIN, U.A. DER WERKE VON WARLAM SCHALAMOW UND ANDREJ BELYJ
Russische Autoren schreiben anders, als es die Deutschen gewohnt sind, deshalb sind 60 Prozent der in Deutschland erschienenen Sachbücher über Russland Übersetzungen aus dem Englischen. So veröffentlichten zum Beispiel der deutsche Journalist Gerd Ruge sein „Sibirisches Tagebuch“ und der Pole Mariusz Wilk seine Dokumentation über das Leben auf der Strafgefangeneninsel Solowki („Wilczy notes“). Es gibt eine ganze Reihe sehr populärer Bücher über Russland von deutschen Journalisten, die eine Zeit lang in Moskau gelebt haben. Erinnern Sie sich noch an dieses Buch über die Einsiedlerin in der Taiga? Vor Kurzem hat sich der deutsche Journalist Jens Mühling mit jener Agafja Lykowa getroffen und auch über sie geschrieben. Das entspricht wahrscheinlich den Stereotypen von Russland: Taiga, Wald, Einöde, Wildnis. In westlichen Ländern denken die Menschen, dass es im Osten barbarischer zugeht als bei uns.
Es gab einmal in Europa eine Phase, da waren Bücher über China von Exilchinesen sehr beliebt. Das Gleiche ist mit Russland passiert. Nach der Perestroika begriffen die Verleger, dass es viel besser ist, Bücher herauszubringen, die nicht von, sondern über Russen geschrieben sind. Eine auf solche Art angepasste russische Wirklichkeit ist für den Leser bequemer und lässt sich besser verkaufen. Welche Bücher waren beliebt und welche sind wieder aus der Mode gekommen? Julia Gumen
Der Trend auf dem Buchmarkt ändert sich jedes halbe Jahr. Es gab mal eine Zeit, da wollten alle einen Tschetschenen-Roman haben: „So was wie Turgenjew, aber in Tschetschenien.“ Damals kam „Asan“ (Benzinkönig) von Makanin heraus – man hatte den Eindruck, dass er das Buch mit Blick auf die Leser im Westen geschrieben hat. Natascha Perowa
Zu Sowjetzeiten wurde die russische Literatur in großen Auflagen im Westen herausgegeben. Noch Anfang der 90er-Jahre fragten uns die Verleger: „Und wer wird der neue Tolstoi oder Dostojewski?“ Als sie dann unbekannte Namen hörten, zeigte sich, dass alle nur prominente Autoren haben wollten und ihrer eigenen Meinung nicht vertrauten. Die Textqualität spielt absolut keine Rolle.
Wie sieht für Sie das ideale Buch eines russischen Schriftstellers aus? Julia Gumen
Ein Roman, der auf einem hohen künstlerischen Niveau geschrieben ist, eine interessante Story hat und dessen Handlung im zeitgenössischen Russland angesiedelt ist – so etwas verkaufe ich ohne Probleme. Familiensagas sind auf dem Literaturmarkt immer angesagt: 20. Jahrhundert, drei Generationen, ein klassischer Sprachstil … Wir können uns an „Lasars Frauen“, Marina Stepnowas neustem Roman, gar nicht genug erfreuen. Er erfüllt alle Erwartungen und verkauft sich sehr gut. Unlängst wurde ich einmal gefragt, ob ich denn nicht mit einem qualitativ hochwertigen Frauenliebesroman aufwarten könne. Ich war etwas konsterniert, weil es in Russland so etwas nicht gibt. Über die Gesellschaft, über Politik – kein Problem. Aber über die Liebe ... Kommerziellen Trash gibt es in Europa schon zur Genüge – so etwas zu übersetzen, wäre unwirtschaftlich. Thomas Wiedling
Der ideale russische Roman ist „Doktor Schiwago“ in einer zeitgenössischen Ausführung. Pasternak wird bis heute verlegt, in Italien und Deutschland sind vor Kurzem neue Übersetzungen erschienen. Das ist ein Roman über die menschlichen Grundwerte, und deshalb wird er wohl ewig populär sein. Haben Sie bemerkt, wie sich alle Welt auf die schwedischen Romane gestürzt hat, als Stieg Larsson aufkam? Wenn es uns Agenten gelänge, einen neuen „Doktor Schiwago“ zu finden, wäre das das Zugpferd, das die gesamte russische Literatur hinter sich herziehen würde. Die Interviews führte Jelena Ratschewa für das Internetportal openspace.ru
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Kinderliteratur Kinderbuchautor Grigorij Oster ist in seiner Heimat legendär, in Deutschland kennt ihn kaum einer
Kinderbuchautor Grigorij Oster schreibt mit viel Witz und Scharfsinn, nimmt seine jungen Leser dennoch bitterernst. Mit seinen Büchern wurde eine ganze Generation groß. FRIEDEMANN KOHLER FÜR RUSSLAND HEUTE
Es war bei der Moskauer Internationalen Buchmesse 1989 auf dem Höhepunkt der Glasnost. Dem kleinen englischen Verlag, dem ich als Übersetzer aushalf, wurde ein humorvolles Kinderbuch angeboten, kurze Gedichte mit bizarren Illustrationen. „Schädliche Ratschläge“ sollte das Buch heißen und im Untertitel „Ein Buch für ungezogene Kinder und ihre Eltern“. Die Philosophie: Weil Kinder immer das Gegenteil von dem tun, was man ihnen sagt, muss man das Falsche anordnen, damit sie das Richtige tun. Der Autor Grigori Oster reimte groteske Anleitungen zum Bösesein: „Wenn in deiner Hosentasche sich kein einz’ger Rubel findt, greif dem Nachbarn in die Tasche, denn da liegt das Geld bestimmt.“ Ins Programm des Verlags passte das Buch nicht, dennoch gab ich das außergewöhnliche Manuskript nur ungern aus der Hand. Aber nicht nur für London, auch für Moskau waren die „Schädlichen Ratschläge“ ihrer Zeit voraus. Ein Buch namens „Vrednye Sovety“, was sich auch als „Schäd l iche „Sow jet s“ lesen ließ, k o n nt e in der Sow-
jetunion nicht gedruckt werden. Erst 1993 erschien Osters Buch in Russland und wurde zu einem Klassiker der Kinderliteratur. Zwar deutete der ein oder andere ironieresistente Bürger Zeilen wie „Zerschlagt Glühbirnen in den Treppenhäusern, man wird es euch danken!“ tatsächlich als Anstiftung zum Hooliganismus. Aber die meisten hatten ihren Spaß an dem Buch, das nicht autoritär daherkam, sondern frech war und Kinder als Kinder ernst nahm. Grigorij Benzionowitsch Oster, Jahrgang 1947, hatte bis dahin schon eine Karriere als Drehbuchautor von 70 Zeichentrickfilmen und Kindertheaterstücken hinter sich. Auf die „Schädlichen Ratschläge“ folgten die Bände zwei und drei. Dazu erfand der Schriftsteller neue Wissenschaften für Kinder wie die „Papaundmamalogie“, „Lügeratur“ oder „Engzösisch“. Mit seinen Parodien auf Mathe- oder Physiklehrbücher ließ es sich gut lernen. Die Aufgaben waren skurril, aber immer korrekt. „12 Tassen und 9 Unt e r t a s se n hatten wir zu Hause. Dann haben d ie Kinder die Hälfte der Tassen und 7 Untertassen ze rdeppe r t. Wie viele Tassen haben jetzt keine Untertasse mehr?“ Eine
VERLAG „MALISCH“
Humor aus Russland? Dass ich nicht lache!
„Impfung gegen die Dummheit“ nannte er seine Bücher, als ich ihn 2002 interviewte. Das ostersche Buchimperium wuchs unaufhörlich. Seine Werke wurden in allen möglichen Zusammenstellungen veröffentlicht (was
und in andere Sprachen übersetzt worden, aber kaum ins Deutsche. Woran liegt das? Die Frage beschäftigt nicht nur mich, sondern auch andere Fans. Auf der Frankfurter Buchmesse 2003 gehörte Oster zur „litera-
Humor ist ein Naturschatz Russlands – nur verlangt sein Import größere gedankliche Vorarbeit als bei Gas und Öl.
Antiautoritäre Bücher seien in Deutschland altmodisch. Aber was ist altmodisch an einem guten Kinderbuch?
ihnen nicht immer gut tat), bis sie im Moskauer „Dom Knigi“, Russlands größtem Buchladen, ein ganzes Regal einnahmen. Für den Kreml schuf Oster eine Website, die Kindern die Grundzüge politischer Bildung nahebrachte. Wie immer Wladimir Putin sich selbst einschätzen mochte, für die Familie stellte Oster klar: Bei Kindern hat Mama mehr zu sagen als der Präsident. Ich habe es immer bedauert, dass deutschen Kindern der Spaß an Osters Büchern vorenthalten wird. Er ist ins Englische, Französische, Finnische, Japanische
rischen Nationalmannschaft“ von 100 Autoren, die offiziell das Gastland Russland vertraten. Ich bin mit ihm einige Kinderbuchverlage abgelaufen, um zu sehen, ob Interesse besteht. Vielleicht war ich als Laienliteraturagent ungeeignet, jedenfalls gab es nur Ablehnungen. Eine Begründung lautete: Antiautoritäre Bücher seien in Deutschland mittlerweile altmodisch. Schade. Aber was ist altmodisch an einem guten Kinderbuch? Liegt es vielleicht an der mangelnden politischen Korrektheit? In Osters Büchern dürfen Kin-
Auszug aus Osters „Papaundmamalogie“ Lektion 2 – Die Mama § 1 Von außen Von außen ähneln die Mamas den Mädchen. Sie sind nur viel größer. Ihre schlanken festen Beine enden in Schuhen mit hohen Absätzen oder in Latschen.
Mamas sind nett anzusehen. Sie haben einen schönen Gang und eine schöne Stimme. Außerdem sind sie im Haushalt sehr nützlich. Mamas sind gut an das Leben im Haus angepasst. Nur manchmal verlassen sie ihre gewohnte Umgebung, um für die ganze Familie Essen zu ergattern.
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Das Kind im Manne: Grigorij Oster schreibt Kinderbücher und trägt gern Nashörner spazieren.
§ 5 Staub und Dreck Wissenschaftler sind schon lange zu dem Schluss gekommen, dass Mamas von allen Lebewesen die sonderbarste
Einstellung zu Sauberkeit und Ordnung haben. Als könnten sie keinen Tag ohne Dreck leben, hasten sie auf der Suche danach durch die Wohnung. Wenn eine Mama Dreck findet, holt sie ihn mit einem langen Besen geschickt unter dem Sofa oder dem Schrank hervor und tut ihn liebevoll in einen besonderen Eimer. Außerdem wischen Mamas Staub. Dazu haben sie stets kleine feuchte Lappen zur Hand. Was die Mama dann mit dem Dreck und Staub macht, hat die Wissenschaft bislang nicht geklärt. Aber fast alle Wissenschaftler sind sich einig, dass die Mama den Dreck nicht isst. So viel steht fest. Übersetzt von Friedemann Kohler.
der mit Waffen spielen. Und Eltern züchtigen ihre Kinder noch mit dem Riemen – obwohl das Schreckbild des Vaters genauso maßlose ironische Übertreibung ist wie die Aufforderung zum Glühbirnenzerschlagen. Oder ist die russische Lebenswirklichkeit deutschen Kindern zu fremd? Das kann nicht sein. Kinder- und Jugendbücher auf dem deutschen Markt spielen in Schweden, den Niederlanden, in den USA, in Asien oder Afrika – warum also nicht auch in Russland? In jüngster Zeit hat verdienstvollerweise der Wiener Verlag Edition Liaunigg begonnen, Oster auf Deutsch herauszubringen. Zunächst erschien 2010 das Mathematiklehrbuch „Zadatschnik“ als „101 Lustige Matheaufgaben“ in zwei Bänden, 2011 „Petka die Mikrobe“. Die Übersetzungen sind korrekt und für Kinder gut lesbar. Und trotzdem bleibt der Eindruck, dass Osters Stil auf Russisch bei aller Simplizität noch eleganter ist, noch mehr schwingt und funkelt. Es wäre bestimmt noch mehr davon ins Deutsche übertragbar, aber es müsste sich die erste Garde der Übersetzer der Sache annehmen. An Osters Humor kann das Desinteresse der deutschen Kinderbuchverlage eigentlich nicht liegen. Schräger Humor, absurd, makaber, albern, läuft doch eigentlich immer. Oder wird er nur geschätzt, wenn er aus dem Angelsächsischen kommt?
Humor aus dem Osten Nun kommt dieser Humor aus dem Osten, und von dort erwarten wir ihn vielleicht nicht. Dabei zählt Humor zu den unerschöpflichen Naturschätzen Russlands – nur bedarf sein Import größerer gedanklicher Vorarbeit als der von Gas und Öl. Für den deutschen Leser muss es scheinen, als habe nach Anton Tschechow, nach Ilf/Petrow und Michail Soschtschenko kaum ein Russe mehr etwas Komisches geschrieben. Dabei ist es nur nicht übersetzt worden.
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Romanfigur Gontscharows Oblomow zeigt uns auch heute noch, wie schön Müßiggang sein kann
Mit Oblomow ins 21. Jahrhundert
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Die Romanfigur Oblomow prägte das russische Selbstbild: Schauspieler Oleg Tabakow in dieser Rolle
Wenn das Iwan Gontscharow wüsste: Sein „unsterbliches Buch“, wie Rezensenten über „Oblomow“ schrieben, liegt nun in einer achten deutschen Übersetzung vor. VERA BISCHITZKY FÜR RUSSLAND HEUTE
Wäre der Autor alt geworden wie Methusalem (im Juni 2012 haben wir seinen 200. Geburtstag gefeiert), er hätte die neue wie auch alle früheren Übersetzungen des Buchs möglicherweise verhindert, wie wir aus einem Brief wissen, den er 1868 schrieb: „Gestern wies mich Stasjuslewitsch im Schau-
fenster eines Buchladens auf die Übersetzung des ‚Oblomow‘ hin, die gerade erschienen ist. Ich kann es nicht ertragen, mich übersetzt zu sehen: Ich schreibe für russische Leser, die Aufmerksamkeit der Ausländer schmeichelt mir keineswegs.“ Warum nahm er eine so ablehnende Haltung ein? Auch darüber gibt er Auskunft. Er war der Ansicht, Lesern eines anderen Kulturkreises würden seine Bücher fremd bleiben, deren Protagonisten, Sitten oder Kolorit eng mit der russischen Lebenswirklichkeit verknüpft seien. „Jeder Autor … verliert in der Übersetzung in
eine fremde Sprache“, schreibt er, „je volkstümlicher, nationaler er ist, desto dürftiger wird er in der Übersetzung.“ Ob er mir wohl verzeiht, dass ich mich auf das Wagnis einer weiteren Übersetzung eingelassen habe? Vielleicht hätte es ihn zumindest erfreut, dass der neuen deutschen Ausgabe ein umfangreicher Anhang beigegeben ist, der nicht nur versucht, die Realien der Zeit zu beleuchten, sondern auch zahlreiche biografische Parallelen zwischen Leben und Werk aufzuzeigen. Auf diese Fährte hat er mich übrigens durch eine autobiografische Äußerung in seinem Essay
„Lieber spät als nie“ selbst gesetzt: „Ich … beschrieb nur das“, heißt es dort, „was ich erlebte und dachte, was ich fühlte, liebte, was ich aus der Nähe gesehen und erfahren habe.“ Für die Reise mit Ilja Iljitsch Oblomow über Sprachbarrieren, Zeit- und Ländergrenzen hinweg war ein ganz besonderer Kraftakt vonnöten. Oblomow ist ja von jeher dafür bekannt, sich um keinen Preis vom Fleck zu bewegen – erst recht nicht in die Fremde! Als sein Arzt ihm vorschlägt, ins Ausland zu reisen, ist er entsetzt: „Ich bitte Sie, Doktor, ins Ausland! Wie soll das gehen?“ – Wieso sollte unser Held also ausgerechnet mir nach Berlin folgen wollen? Dennoch habe ich mich tollkühn dazu entschlossen, Ilja Iljitsch noch einmal zu einer Grenzüberquerung gen Westen zu überreden. Die im Roman dargestellten Probleme sind ja keineswegs auf Russland beschränkt. Es ist ein universales Werk, das schildert, wie ein Mensch an sich selbst scheitert, die Diagnose lautet „Oblomowerei“. Lange vor Freud analysiert Gontscharow die Ursachen dieses Scheiterns: Oblomow liegt auf dem Diwan und träumt … von einer friedlichen, idyllischen Welt, in der alle Menschen Brüder sind … Man kann ihn belächeln, aber es ist ein Lächeln unter Tränen. „Oblomow“ ist aber auch ein Buch über die Gleichgültigkeit der Welt, ihre Eitelkeit und das leere Getriebe des Gelderwerbs. Und zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, die sich dem Irrsinn ihrer
Zeit zu entziehen versuchen und der Heuchelei, der Bosheit, dem Streben nach Erfolg um jeden Preis eine Abfuhr erteilen. Wer dächte vor dem Hintergrund der Bankenkrise und kollabierender Kapitalmärkte unserer Tage nicht an den Dialog zwischen Oblomow und seinem Freund Andrej: „Irgendwann wirst du aufhören zu arbeiten.“ – „Ich werde nie aufhören. Warum auch?“ – „Wenn du dein Kapital verdoppelt hast“, sagte Oblomow. „Selbst wenn ich es vervierfache, höre ich nicht auf.“ Sind es nicht die Andrejs dieser Welt, die die Gesellschaft in den Abgrund reißen? Und wie aktuell mutet es angesichts des Burn-outSyndroms an, wenn Oblomow verwundert über den Aktionismus im Hamsterrad des Gelderwerbs wieder und wieder fragt: „Wo bleibt da der Mensch? In wie viele Stücke will er sich zerreißen und zerfallen?“ Man muss ja nicht gleich zum Oblomow werden, um sich ein wenig mehr in der Kunst der Gelassenheit zu üben. Vera Bischitzky ist Publizistin, Lektorin und literarische Übersetzerin. Für die Neuübersetzung von Gogols „Tote Seelen“ erhielt sie 2010 den Helmut-M.-Braem-Preis.
BUCH Iwan Gontscharow: „Oblomow“. Roman in vier Teilen. Herausgegeben und aus dem Russischen neu übersetzt von Vera Bischitzky. Carl Hanser Verlag 2012. 840 Seiten, 34,90 Euro
Literaturmythos Wer war M. Agejew? Der „Roman mit Kokain“ bot lange Anlass zu wilden Spekulationen
Liebesgeschichte mit Koko 1933 war die Literaturszene am Kochen: Ein bis dato völlig unbekannter Autor verfasste einen Roman à la Nabokov. Fast 80 Jahre später erscheint er in neuer Übersetzung auf Deutsch. FÜR RUSSLAND HEUTE
Dem Kokain verfallen Die Bekenntnisse eines Jünglings von äußerst ambivalentem Charakter, der dem Kokain verfällt, erschienen 1936 bei einem russischen Exilverlag in Paris. Die zeitgenössische Kritik war begeistert; der Autor, bekannt geworden unter dem vom Verleger erdachten Pseudonym M. Agejew blieb indes eine geheimnisvolle Figur. Die historischen Ereignisse, die
AUS DEM PERSÖNLICHEN ARCHIV
Das Päckchen mit dem Manuskript war 1933 den weiten Weg von Istanbul nach Paris gekommen. Vom Absender, einem gewissen Mark Levi, war zunächst nur bekannt, dass er der Autor des im Päckchen reisenden „Roman mit Kokain“ war. Dieser Roman erscheint nun, erstmals aus dem Russischen übersetzt, im Manesse Verlag.
LEGION MEDIA
NORMA CASSAU
die Welt kurz darauf erfassten, wirbelten den Autor und sein Buch in die Vergessenheit. Erst 1984 entdeckte Lydia Chweitzer, Französin russischer Herkunft, den Roman in Paris zufällig wieder und übertrug ihn ins Französische. Die Wiederentdeckung wurde nicht nur in Frankreich ein großer Erfolg, alsbald erschienen Übersetzungen in ganz Europa, 1986 auch in Deutschland, allerdings übersetzt aus dem Französischen. Der neuerliche Erfolg des Buchs bot abermals Anlass zu Spekulationen über den Autor. Unter Literaturwissenschaftlern hielt sich aufgrund stilistischer Ähnlichkeiten hartnäckig die These, der Roman stamme aus der Feder von Vladimir Nabokov, der dafür bekannt war, falsche Fährten zu legen. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung der Archive konnten russische Wissenschaftler belegen, dass hinter M. Agejew niemand anderes steckte als Mark Levi: 1898 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und dessen deutscher Frau geboren, soll er nach der Revolution als Dolmetscher in Behörden ge-
Seinen Lebensabend verbrachte Mark Levi/M.Agejew in Armenien.
arbeitet haben, die zum Teil dem Geheimdienst nahestanden (woher die Gerüchte rühren, Levi sei ein sowjetischer Agent gewesen). Levi emigrierte um 1925 nach Deutschland und nach einigen Jahren nach Istanbul. 1942 kehrte er in die UdSSR zurück, nach Armenien. Um einreisen zu dürfen, musste er sich von seinem dort nie veröffentlichten Buch distanzieren, das erst 1991 erschien. Als Dozent für
Als Kokain noch gesellschaftsfähig war: historisches Plakat
Deutsch an der Universität baute er sich eine beschauliche Existenz auf. Levi verstarb 1973, ohne sich je wieder zur Autorschaft seines Romans zu bekennen. Wadim Maslennikow, der finstere Held des Romans, schämt sich seiner niederen Herkunft, er verleugnet seine Mutter, die ihm dennoch ein Leben in seinem Sinn ermöglicht. Sie opfert sich für ihn auf, während er Frauen ausführt. Vor seinen Kameraden des elitären Gymnasiums mimt er den skrupellosen Frauenhelden. Die junge Sinotschka steckt er mit einer Geschlechtskrankheit an. Erst mit Sonja ahnt er, was Liebe sein könnte. Er überhöht seine Beziehung mit ihr derart, dass es ihm
unmöglich wird, die Liebe körperlich auszuleben. Erster Weltkrieg und Revolution sind nur Hintergrundmalereien, sie berühren Wadim weniger als das Furunkel auf seiner Nase. Seit Sonja seine Tage nicht mehr erhellt, lässt er sich gehen. Als Kommilitonen ihn zu einer Runde Kokain einladen, sagt er erfreut zu. Kokain wird seine neue Geliebte, aber aus dem Teufelskreis von Euphorie und Melancholie findet er nicht mehr heraus. Er verwahrlost, halluziniert, bricht zusammen. Für so einen ist in den Heilanstalten des neuen Russlands kein Platz. Die Liebesgeschichte mit Koko besiegelt sein Ende. Der „Roman mit Kokain“ ist ein wertvoller Solitär für den reiselustigen Leser, um mit Robert Musil zu sprechen, „eine kleine Station an der Strecke, welche nach Russland führt.“ Norma Cassau übersetzte „Roman mit Kokain“ ins Deutsche.
BUCH Michail Agejew: „Roman mit Kokain“. Aus dem Russischen von Valerie Engler und Norma Cassau. Manesse Verlag Oktober 2012. 256 Seiten
Thema des Monats
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Gratulation Boris Chlebnikow, der Günter Grass’ Werk ins Russische übersetzte, möchte dem Schriftsteller danken
Der Roman „Die Blechtrommel“, der dem jungen Schriftsteller Günter Grass Weltruhm eintrug, erschien auf Russisch erst 40 Jahre nach seiner Veröffentlichung in Deutschland. BORIS CHLEBNIKOW FÜR RUSSLAND HEUTE
Erst 1997 fand die „Blechtrommel“ mit den anderen Teilen der „Danziger Trilogie“ ihren Weg zu den russischen Lesern. Die 1961 entstandene Novelle „Katz und Maus“ bildete den Ausgangspunkt für die Probleme, die Günter Grass mit sowjetischen Veröffentlichungen hatte. Die populäre Monatszeitschrift Inostrannaja literatura (Ausländische Literatur) druckte den Text in der Maiausgabe des Jahres 1968. Grass konnte insofern von Glück reden, als bereits kurze Zeit später überhaupt keine Veröffentlichung mehr möglich gewesen wäre, da seine Werke in der Sowjetunion verboten wurden. Insbesondere deshalb, weil Grass die Besetzung der Tschechoslowakei durch sowjetische Truppen scharf verurteilte. Und die Episode, an der auch die deutschen Kritiker den größten Anstoß genommen hatten, verschwand in der russischen Übersetzung ganz einfach, darüber hinaus gab es Dutzende punktueller Kürzungen. Grass zeigte sich unzufrieden und erhob öffentlich Protest gegen die Eingriffe der Zensur, womit er den
sowjetischen Herausgebern für lange Zeit die Lust nahm, gegebenenfalls einen internationalen Skandal zu riskieren. Der Schriftsteller besuchte die Sowjetunion erstmals im Sommer 1970 im Zuge eines Treffens von Kulturschaffenden und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus der BRD, der DDR und aus Polen. Die sowjetischen Initiatoren wollten partout Grass und den Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein nicht einladen, doch die deutsche Seite stellte faktisch ein Ultimatum: Entweder Grass und
Günter Grass besuchte die Sowjetunion 1970. Die russischen Initiatoren wollten ihn und Augstein partout nicht einladen. Augstein kommen nach Moskau, oder die Konferenz findet überhaupt nicht statt. Die Befürchtungen der sowjetischen Offiziellen waren nicht unbegründet. Grass erwies sich als extrem unnachgiebiger Opponent und scharfzüngiger Polemiker. Augstein gab später gern und sehr unterhaltsam seine Erinnerungen an den Grass jener Moskauer und Leningrader Tage zum Besten. In der Zeit nach der Perestroika verschwanden die Probleme für Günter Grass in Russland nicht sofort. Einerseits funktionierte die
tene Einmütigkeit an den Tag: 95 Prozent sprachen sich zugunsten des Schriftstellers aus. Das Gesagte gilt nicht nur für die beiden Metropolen Moskau und St. Petersburg. Ich hatte Gelegenheit, im sibirischen Krasnojarsk eine Grass-Ausstellung zu eröffnen. Bereits zur Vernissage versammelte sich eine unerwartet große Besucherschar. Wir Aussteller sind uns erst mit Verspätung bewusst geworden, welchen Einfluss Günter Grass auf die Schriftsteller und Leser in anderen Ländern ausübt. Aber immerhin, wie lautet doch das russische Sprichwort? Besser spät als nie. Boris Chlebnikow, Germanist, Vizepräsident der Europäischen Akademie für Zivilgesellschaft, übersetzte Günter Grass, Heinrich Böll und Siegried Lenz ins Russische und machte sie in Russland bekannt.
IM BLICKPUNKT © ALEKSEJ KUDENKO_RIA NOVOSTI
Beim Häuten der Zeit: Grass zum 85.
Selbstzensur in gewohnter Weise weiter: In sämtlichen sechs russischen Ausgaben des „Tagebuchs einer Schnecke“ hieß es statt „Freislerfinger an Leninshand“: „Zeigefi nger der Leninshand“. Offenbar empfand man es als deplatziert, dass die Gestik des kommunistischen Führers mit dem blutrünstigen Vorsitzenden des Volksgerichtshofs Roland Freisler in Verbindung gebracht wurde. Die jüngsten Bücher des Autors, etwa die Novelle „Im Krebsgang“ oder die autobiografischen Erinnerungen „Beim Häuten der Zwiebel“ sind in einigen Fällen fast zeitgleich mit den deutschen Ausgaben erschienen. Die Unmittelbarkeit und Frische der Rezeption rückte seine Werke ins Zentrum des öffentlichen Interesses. „Im Krebsgang“ löste eine geradezu unglaubliche Welle von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln aus, vor allem aber unzählige Diskussionen in Blogs und Internetforen, die bis heute anhalten. Interessiert verfolgten die russischen Leser auch die Kontroversen in Deutschland. Der Hörfunksender Echo Moskaus übertrug – simultan gedolmetscht – das Gespräch zwischen Grass und Ulrich Wickert in der ARD. Anschließend trat die Redaktion in einen Dialog mit den Hörern und startete eine Telefonabstimmung, bei der die Hörer gefragt wurden, ob Grass’ Eingeständnis seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS für sie das gesamte literarische Schaffen des Autors entwerte. Die Beteiligung war enorm, und die zahlreichen Anrufer legten sel-
Was lesen Russen heute? Welche Autoren sind besonders beliebt? Wie ist es mit dem Kriminalroman und der russischen Science-Fiction bestellt? Die Antwort auf diese und viele andere Fragen finden Sie online auf der Website von Russland HEUTE. Lesen Sie die Beiträge auf www.russland-heute.de
Briefroman Ein fiktiver Briefwechsel enthüllt den Kosmos zweier Leben
Liebe zwischen Raum und Zeit
BALTHASAR VON WEYMARN FÜR RUSSLAND HEUTE
Eine Frau, ein Mann, eine Sommerliebe. Sascha und Wolodja werden durch einen Krieg getrennt und können sich nur Briefe schreiben. Sie erzählen einander darin von allem und jedem: von Kindheit, Familie, Alltag, von Freud und Leid. Ein normaler Briefwechsel zweier Liebender – bis sich beim Leser Zweifel regen und klar wird, dass die Zeit der beiden verrückt ist, dass sie durch Raum und die Zeit getrennt sind. Sie lebt in der Gegenwart, er kämpft im Boxeraufstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen chinesische Rebellen ... Ein Briefsteller ist weder ein Autor, der nur Briefe schreibt, noch ist es die Kurzform für Briefzusteller. Der russische Originaltitel des Buchs, „Pismownik“, bezieht sich auf eine „Anleitung zum Abfassen von Privat- und Handelsbriefen“. 1906 erschienen, war dieses Buch den Lesern so-
wohl in beruflichen wie privaten Fragen Nachschlagewerk und Hilfe: für den besten Kondolenzbrief im Trauerfall oder für die richtige Liebeserklärung. Michail Schischkin zeigt in seinem Roman seine zwei Hauptfiguren nie zusammen. Wir erleben ihre gemeinsame Zeit nur in den Briefen, die sie einander schreiben, und nachdem der Leser diesem Wechsel der
Am Ende schält sich ein Gedanke heraus: Ob es stimme, dass die Liebe im Liebenden wohnt, und nicht im Geliebten? Briefe einige Male gefolgt ist, wird er den Titel verstehen. Briefe wie diese legt man nicht weg und vergisst sie – sie sind so lebendig und intensiv geschrieben, dass in ihnen immer beide Bilder ergänzt werden: das des Charakters der Schreiberin und das des Empfängers (oder umgekehrt). Und gerade wenn man beginnt, sich auf ihr Wiedersehen zu freuen, das ja den eigenen Erwartungen nach kommen muss, vergrößert sich die Geschichte. Die Zeichen häufen sich, dass die beiden in einer un-
terschiedlichen Zeit leben. Das hält sie aber nicht davon ab, sich zu schreiben, anderweitig zu heiraten und ein Kind zu bekommen. Selbst der Tod hält den Briefwechsel nicht auf. „Briefsteller“ ist kein handlungsgesteuertes Buch, in dem es auf die Lösung eines Problems ankommt. Der Sinn des Buchs erschließt sich mit der Zeit. Dennoch liest es sich verführerisch leicht. Seine Sprache ist jene der Liebenden. Wir erleben die Sehnsucht von Wladimir und Alexandra, die von ihrer „Sommerliebe“ mit allen Kosenamen angeredet wird, die die russische Sprache bietet. Wir lesen von Familiengeschichten, den Erinnerungen aneinander und an die eigene Kindheit und von täglichen Erlebnissen, die sie über die große Kluft der Trennung miteinander teilen wollen. Nichts wird ausgespart, auch physische und psychische Grausamkeiten beichten sie einander. Auf dem Weg zu einem bittersüßen Ende schält sich ein Gedanke heraus, den Sascha ihrem Wolodja schreibt: Ob es stimme, wie Platon sagt, dass die Liebe im Liebenden wohnt, und nicht im Geliebten? Folgt man Schischkins Überlegung, dass die Intensität
BUCH Michail Schischkin: „Briefsteller“. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. DVA 2012.
der Liebe eigentlich nicht davon abhängt, wo in Raum und Zeit der geliebte Mensch sich aufhält, ist es leicht, diesem Gedanken zuzustimmen. Und staunend entdeckt man irgendwo im eigenen Herzen ein kleines Stück Liebe für die Charaktere, das auch noch bleibt, wenn „der Schreiber sein Buch geschlossen“ hat, w ie e s a m Ende des B u c h s heißt. GE TTY IMA GE S/F OT OB AN K
Michail Schischkin hält in seinem Roman „Briefsteller“ zwei Verliebte in zwei verschiedenen Epochen gefangen. Wie ist es möglich, dass sie sich dennoch lieben?
Erfand den Liebesbrief neu: Michail Schischkin
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Reisen
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Eisenbahn Russlands schönstes Schienenstück entlang des Baikalsees ist noch ein echter Geheimtipp
Nah am Wasser gebaut Anreise Aeroflot oder S7 bieten von verschiedenen deutschen Flughäfen Flüge über Moskau nach Irkutsk an. Der „Baikalexpress“ fährt gegenwärtig zweimal wöchentlich ab Irkutsk bis Port Baikal.
Unterkunft Im Luxuszug „Golden Eagle“ (ab Moskau oder Wladiwostok) ist die Unterkunft inklusive. Die Übernachtung in Ferienhäusern an der Baikalbahn kostet ab 15 Euro.
Essen & Trinken Bei Voranmeldung können für die erste Klasse des „Baikalexpress“ Mahlzeiten zugebucht werden. Ansonsten herrscht Selbstverpflegung. Entlang der Strecke gibt es kaum Läden oder Gaststätten.
Jules Verne war nie in Irkutsk, er hat nur den Kurier des Zaren dorthin geschickt, wo später die Baikalbahn gebaut wurde. Jenseits der Haupttrassen führt sie durch atemberaubende Natur. TINO KÜNZEL FÜR RUSSLAND HEUTE
Das Teilstück der Transsib entlang des Baikals bietet pittoreske Landschaften und einen Lebensrhythmus wie aus dem letzten Jahrhundert.
Die stolzen Ur-Anwohner der Baikalbahn Grigorij Skaller ist 65 und nicht unterzukriegen: Der passionierte Bergsteiger stand 2005 auf dem Mount Everest und war mit seinen damals 58 Jahren der älteste Mensch, der den Aufstieg je ohne Sauerstoffmaske bewältigte – zumindest die letzten 300 Meter, wie er einräumt. Skaller wohnt in der Siedlung Angasolka kurz hinter Sljudjanka und unterhält dort eine Alpinistenstation sowie ein Kinderferienlager. Neben seinem Haus hat er eine orthodoxe Kapelle zu Ehren des heiligen Nikolaus gebaut, des Schutzpatrons aller Reisenden.
PRESSEBILD (2)
Die Transsibirische Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok ist die heimliche Sehnsucht vieler Menschen, die zu oft auf die Uhr schauen. Sechs Tage unterwegs zu sein, ohne anzukommen – ein schier unfassbarer Luxus. So viel Zeit, so viel Muße! 9000 Kilometer, die sich wie 9000 Kilometer anfühlen. Dabei ist die Transsib nicht mehr das ist, was sie einmal war. Und zwar bereits seit 1949. Damals wurde ihr technisch anspruchsvollstes und landschaftlich reizvollstes Teilstück am Baikalsee von der Hauptstrecke abgetrennt. Der Fortschritt hatte dafür gesorgt, dass eine kürzere und pflegeleichtere Trasse von und nach Irkutsk über das sogenannte Olchaplateau verlegt werden konnte. Die Baikalbahn verkümmerte, wurde 1956 teilweise demontiert und geflutet. Heute ist sie eine Sackgasse und nur noch einspurig. Der Zugverkehr auf den verbliebenen 89 Kilometern am Südwestufer des Baikal ist, gelinde gesagt, überschaubar.
Zug ahoi Wladimir Konkin drückt aufs Signalhorn. Man ist spät dran, im Sprechfunk hat sich bereits die Leitzentrale aus Irkutsk gemeldet: „Wo bleibt ihr denn?“ Konkin ist Lokführer bei der Russischen Bahn, sein Zug steht auf freier Strecke, weiter vorn wartet der Gegenverkehr. Aber die Touristen, die Konkin heute in den Waggons kutschiert, haben gerade in einer Feriensiedlung an der Strecke gefrühstückt und – sich Zeit gelassen. Die Fahrt geht von Port Baikal, der Endstation, nach Sljudjanka, wo die Baikalbahn auf die Trans-
sibirische Eisenbahn stößt. Es ist ein beliebter Tagesausflug für die Irkutsker, aber auch für Ortsfremde. Der „Baikalexpress“ verkehrt ganzjährig zwei- bis fünfmal pro Woche, je nach Saison. Auch ein aufwendig ausgestatteter „Zarenzug“ mit Schlafabteilen war einige Jahre im Wochenendeinsatz, wurde aber 2012 aus dem Programm gestrichen. Und dann ist da noch der Luxuszug „Golden Eagle“, der einmal im Monat zu einer 15-tägigen Tour von Moskau nach Wladiwostok aufbricht und als Einziger auch in die Baikalroute einbiegt.
Konkin freut sich, wenn er Dienst im Ausflugszug schieben darf. „Man erholt sich sogar selbst ein bisschen. Der Baikal nimmt dir deine negativen Energien.“ Seine dieselbetriebene Lokomotive ist für Geschwindigkeiten von bis zu 100 Kilometer pro Stunde ausgelegt, aber erlaubt sind höchstens 30. Die Bahnlinie wurde buchstäblich in den Fels gehauen, jenseits des Gleisbetts geht es zum Teil 400 Meter in die Höhe. In der Vergangenheit sind immer wieder Steinlawinen über der Strecke niedergegangen, die sich unüber-
sichtlich am Ufer des Sees entlangschlängelt. „Man weiß nie, was einen hinter der nächsten Kurve erwartet, deshalb ist Vorsicht geboten“, sagt Konkin. Die Baikalbahn wurde 1905 eröffnet und komplettierte die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn, die bereits seit 1901 in Betrieb war – aber von beiden Seiten auf ein massives Hindernis stieß: den Baikal. Zunächst brachten zwei in England gebaute Fährschiffe die Passagiere zum jeweils anderen Ufer. Im Winter wurden sogar Gleise auf dem Eis verlegt und die Waggons einzeln von Pferdegespannen über den zugefrorenen See gezogen.
Teuerstes Teilstück der Transsibirischen Eisenbahn Die neue Bahnstrecke schloss diese Lücke. Sie war das teuerste Teilstück der Transsib. Pro Kilometer wurde allein ein Waggon Dynamit für Sprengungen gebraucht. 600 italienische Spezialisten überwachten den Bau von 39 Tunneln, die dafür sorgen, dass die Linie nie weiter als 200 Meter vom Ufer abweicht. Als Russland ab 1904 Krieg gegen Japan führte, wurden die Arbeiten zwecks militärischer Nutzung der Bahnanlagen forciert. Teilweise waren 13 500 Menschen gleichzeitig im Einsatz. Was sie vollbrachten, ist eine Meisterleistung, die immer wieder einmal
als UNESCO-Weltkulturerbe ins Gespräch gebracht wurde. Von der früheren Bedeutung ist heute allerdings längst nichts mehr zu spüren. Das hat seine Vorteile. Die Ruhe und die wildromantische Natur am größten Süßwassersee der Erde locken Naturfreunde an. Das eine oder andere Ferienhaus säumt die Bahnstrecke. Andererseits zuckelt der Zug an Dörfern vorbei, die kaum noch Einwohner haben – die Jüngeren sind auf ihrer Suche nach Arbeit längst in die Großstädte abgewandert. Neue Arbeitsplätze könnte vor allem der Tourismus schaffen. „Doch dafür ist bisher weder das Bewusstsein noch Geld vorhanden“, sagt Fremdenführerin Ljubow Wlassenko, die den Touristenzug begleitet und vom Baikal schwärmt, der „zu jeder Jahreszeit anders“ sei. Ein Gefühl für die Baikalbahn und die Einheimischen bekommt auch, wer den regulären Bummelzug nimmt, der viermal die Woche fährt und aus zwei Personensowie einem Güterwagen besteht. Er hält unterwegs planmäßig 20 Mal und außerplanmäßig so oft, wie jemand aus- oder einsteigen will. Für die 89 Kilometer lässt sich das Vorortbähnle sechs Stunden Zeit. Da kommen selbst rastlose Städter zur Ruhe. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Mehr Entschleunigung geht nicht.
Die Stadt
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Kunst Ein Lichtfestival bringt die Hauptstadt zum Leuchten
Mit dem Festival „Ring des Lichts“ wurde Moskau Anfang Oktober zum zweiten Mal in unerwartete Farben getaucht. Über drei Millionen Menschen verfolgten das Spektakel live. DIANA LAARZ FÜR RUSSLAND HEUTE
Den Russen im Allgemeinen und dem Moskauer im Besonderen wird ab und an ein gewisser Größenwahn unterstellt. Da liegt der Verdacht nahe, dass auch den Organisatoren des diesjährigen Festivals „Krug Sweta“ (Ring des Lichts) bei ihren Zahlenspielchen ein wenig die Verhältnismäßigkeit abhanden gekommen ist. Drei Millionen Besucher wurden in Moskaus Innenstadt vom 28. September bis 2. Oktober erwartet, sagt Mitorganisator Wladimir Jakowlew – und er klingt dabei sehr überzeugt. Die Besucherzahl hätte sich innerhalb eines Jahres verzehnfacht. Das Festival mit Lichtinstallationen und Lasershows fand in Moskau bereits zum zweiten Mal statt. Zur ersten Auflage im vergangenen Jahr kamen etwa 300 000 Besucher. „Ganz ohne Werbung“, sagt Jakowlew. Schon damals verwandelten sich die Gebäude am Roten Platz in Pro-
jektionsflächen für die Fantasien internationaler Lichtkünstler. Der deutsche Lasershow-Designer Jerry Appelt, einer der Besten seines Fachs, projizierte Rosen auf die Kremlmauer und ließ die Kuppeln der Basilius-Kathedrale im Takt vom Glockenklang aufscheinen. Appelt war dieses Jahr nicht dabei, dafür hatten 100 andere Künstler, unter anderem aus Italien, der Türkei, der Ukraine, Irland und Portugal an vier Mos-
Ein Künstlerteam aus Deutschland tauchte das große Eingangstor des Gorki-Parks in neues Licht. kauer Touristenmeilen die Lichter flackern lassen. Die Multimediashow auf dem Roten Platz wurde etwa vom französischen Künstlerkollektiv ECA2.4. entwickelt. Verpassen konnte sie kaum jemand, immerhin wurde sie jeden Abend zweimal pro Stunde gezeigt. Ein Team aus Deutschland tauchte das große Tor des Gorki-Parks in strahlendes Licht. Der Brunnen im Park lieferte das Wasser für einen 30 Meter langen Wasservorhang,
auf den Bilder aus Licht projiziert wurden, alles unter dem diesjährigen Festivalmotto: „Energie des Lebens“. Außer der Eröffnungsveranstaltung auf dem Roten Platz und der Abschiedszeremonie im GorkiPark waren alle Veranstaltungen kostenlos. Wer eine der angekündigten 850 Shows besuchen wollte, wurde an den Festivaltagen im Ausstellungszentrum „Manege“ entlang der Krimskaja Nabereschnaja, am Hotel „Moskwa“ auf dem Roten Platz und im GorkiPark fündig. Initiatoren des Festivals waren nicht etwa enthusiastische Künstler, die Idee stammte vielmehr aus den Beamtenstuben im Moskauer Amt für Medien und Werbung. Mit dem „Ring des Lichts“ verfolgten sie eine doppelte Strategie. Zunächst einmal sollten die fünf Festivaltage viel Licht in die beginnende dunkle Jahreszeit bringen. Zweitens wollten sie damit den Eventtourismus in der russischen Hauptstadt stärken. Wenn es nach den Wünschen des Amtsleiters geht, wird der „Ring des Lichtes“ demnächst ein Moskauer Markenzeichen. „Wir hatten die talentiertesten Künstler versammelt, und wir zeigten unsere Stadt in neuer Schönheit“, sagt
PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO(3)
Spot an, Moskau erstrahlt im Licht
Der Auftakt zur Show „Energie des Lebens“ auf dem Roten Platz
Wladimir Tschernikow. Fast wortgleich argumentiert Mitorganisator Wladimir Jakowlew. Das Festival hätte gezeigt, wie mithilfe von Licht die Infrastruktur der Millionenstadt verändert werden könne, sagt er. Vor allem aber ist das Festival ein Fest der Superlative. Da ist die Rekordmarke von drei Millionen Besuchern. Tatsächlich wurden es
Erstrahlen in internationalem Glanz Vom 28. September bis 2. Oktober fand in Moskau zum zweiten Mal das Festival „Krug Sweta“ statt, zu Deutsch „Ring des Lichts“. Das Festival ist gleichzeitig ein Wettbewerb: Die besten Lichtkünstler wurden am Ende von einer internationalen Jury ausgezeichnet. Jeden Tag nach Ein-
bruch der Dunkelheit (also ab 19 Uhr) gab es bis spät in die Nacht Lichtspektakel zu sehen, der Eintritt war bis auf die Auftaktveranstaltung und das Finale frei. Veranstaltungsorte waren der Gorki-Park, die KrymskajaUferstraße, das Hotel „Moskwa“ und der Rote Platz.
nicht ganz so viele, „knapp eine Million war da“, sagt Jakowlew. Weitere 30 Millionen Russen verfolgten das Spektakel live im Fernsehen und über das Internet. Wie viele es weltweit waren, kann nicht einmal er abschätzen: „Das chinesische Staatsfernsehen hat unsere Bilder in seinen Nachrichtensendungen ausgestrahlt.“ Nächstes Jahr will er auf jeden Fall die Dreimillionenmarke knacken, wenn das Lichtfestival ganze elf Tage dauert, und das an acht Schauplätzen. Auch eine andere Zahl ist schon bekannt – und die ist ebenfalls gewaltig. Um beim vergangenen Festival alle Lichter zum Brennen zu bringen, wurden 2,5 Megawatt Strom benötigt – die Leistung einer größeren Windkraftanlage. Nähere Informationen auf Russisch und Englisch unter www.lightfest.ru
SERGEJ KUKSIN_RG
Das Finale: Akrobatik und Lichtkunst im Moskauer Gorki-Park ...
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Sollte der Film „Die Unschuld der Muslime“ in Russland verboten werden? Sagen Sie uns die Meinung. facebook.com/ RusslandHeute
... dessen Eingangstor von deutschen Lichtkünstlern beleuchtet wurde. Zum Abschied gab’s Einstein.
hört…
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Meinung
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Sachar Prilepin SCHRIFTSTELLER
G
anz allgemein gesagt: Die russische Gegenwartsliteratur als Erbin der klassischen russischen Literaturtradition ist in Europa und Übersee gar nicht existent. Vor Kurzem veröffentlichte Die Zeit eine Liste. Sie enthält die in den Nachkriegsjahrzehnten entstandenen Texte, die zusammengenommen den „europäischen Literaturkanon“ bilden. Zu diesem Kanon zählt Gott weiß wer, Russland ist allerdings mit ganzen zwei Texten vertreten: Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ und „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak. Zwei Werke, die, gelinde gesagt, nicht neu und zudem, wie ich meine, in keiner Weise tonangebend für die russische Literatur der jüngsten Vergangenheit sind. Russische Gegenwartsautoren interessieren ausländische Leser nur am Rande. Wie überhaupt ganz Russland als langweilige, nur eben sehr große Peripherie wahrgenommen wird. Da hat es irgendwann einmal die schreckliche Sowjetunion gegeben. Dann kam der gute Gorbatschow (den, wie anzumerken ist, in Russland 99 Prozent der Bevölkerung hassen), danach der ewig betrunkene, aber nicht schlechte Jelzin (den neun von zehn Bürgern Russlands ebenfalls verachten). Jetzt gibt es dort Putin, der Deutsch sprechen kann und so tut, als sei er sehr grimmig (was in Wirklichkeit natürlich nicht stimmt). Jedenfalls steht Russland, was das Interesse für seine Kultur anbelangt, heute auf einer Stufe mit irgendeinem unbekannten afrikanischen Land. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das Phänomen des Schriftstellers Nicolai Lilin. Die aus Lilins Feder stammenden Werke sind zwar nach der Menge der darin enthaltenen Dummheiten und Lügen kaum zu toppen, wurden jedoch im Westen begeistert aufgenommen und avancierten zu Bestsellern. Ohne jemals in Tschetschenien oder der sibirischen Verbannung gewesen zu sein, fabuliert Lilin wie Baron Münchhausen drauflos – und alle oder fast alle glauben seine Flunkereien. Hollywood will das Ganze gar verfilmen! Ja habt ihr denn völlig den Verstand verloren dort drüben? Auch von Russland aus schaut man hingerissen auf Lilins Aufstieg. Immerhin entspricht er russischen „Literaturtraditionen“. In Gogols „Revisor“ treibt ein Chlestakow als falscher Revisor sein Unwe-
sen, und in den Romanen von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow agiert ein gerissener Ostap Bender. Beides Emporkömmlinge, die den einfältigen russischen Staatsdienern und den sowjetischen Bürokraten Bären aufbinden. Nur dass jetzt gutgläubige westliche Leser die Rolle der Gelackmeierten übernehmen. Russland mag ein unzivilisiertes Land sein, aber – mein Ehrenwort! – es ist undenkbar, dass dort ein Roman erscheint, in dem ein deutscher Gegenwartsautor beschreibt, wie sich ein Trupp greiser SS-Leute samt Kindern und Enkeln in den Wäldern rund um Berlin versteckt hält und – zu Wagner-Musik, Blechtrommelgetöse sowie der Rezitation von Ernst-Jünger-Texten – vorbeifahrende Züge ausraubt – und sämtliche russische Leser würden glauben, das sei wahr. Die Verleger schrieben im Klappentext: „Das sind die Kinder des Steppenwolfs, das Werk ist eindrucksvoller als Goethes ‚Faust‘.“ Alle würden den Bluff durchschauen. Aber in Europa geht auch so etwas durch. Die größte Popularität erlangen oft aufgebauschte Spintisierereien, die in Russland kein Mensch liest. Die Beobachtung der westlichen Buchindustrie und der Präsenz der russischen Literatur im Westen hat mir eine gewisse Vorstellung vermittelt, wie man der breiten Masse einen Schriftsteller aus Russland schmackhaft machen muss. Ganz gleich welches Thema – auf dem Einband sollte unbedingt stehen: „Hier schreibt ein Sohn Aljoscha Karamasows.“ Oder: „Wir haben es mit einem Bruder der Pussy-Riot-Musikerinnen zu tun.“ Oder: „Anna Politkowskaja hat dieses Werk geliebt.“ Der Erfolg des Buchs ist damit nicht garantiert, doch der Blick von Hunderten Lesern bleibt todsicher am Umschlag hängen, und Sie werden blättern auf der Suche danach, wo denn nun etwas über Pussy Riot steht oder beschrieben wird, wie Putin Politkowskaja umgebracht hat. Selbst auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen, muss ich einiges klarstellen. Politkowskaja war eine geniale Frau, wir haben bei derselben Zeitung gearbeitet, uns jedoch nicht besonders gut gekannt. Ihren Tod habe ich als persönliche Tragödie empfunden. Politkowskaja fehlt Russland sehr. Sie hat die Messlatte von Redlichkeit und Kompromisslosigkeit fast unerreichbar hoch gelegt. Aber die Bedeutung, die der Westen ihr beimisst, entspricht nicht ihrer Wahrnehmung in Russland. Für die meisten Bürger sind ihr Name
Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de
Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
NATALIA MIKHAYLENKO
ALJOSCHA KARAMASOW UND DIE BAND PUSSY RIOT
Russland steht, was das Interesse für seine Kultur anbelangt, heute auf einer Stufe mit einem afrikanischen Land.
Die Verleger schrieben im Klappentext: „Das sind die Kinder des Steppenwolfs.“ In Europa geht so etwas durch. und ihre Rolle nicht maßgeblich. Noch trauriger ist der Fall Pussy Riot. Was ich dazu zu sagen habe, wird Sie noch mehr enttäuschen. Die Mehrheit der Bürger Russlands ist sich der Unverhältnismäßigkeit zwischen Tat und Strafe bewusst, betrachtet die Handlung der drei Frauen aber als ethisch und ästhetisch schlicht ungeheuerlich. Für uns in Russland ist klar, dass Aljoscha Karamasow und Pussy Riot zwei völlig verschiedene Pole der Weltwahrnehmung darstel-
len. Bei Dostojewski figuriert ein Protagonist namens Smerdjakow, ein illegitimer Bruder der Karamasows. Sollten Sie das Sujet des Romans noch nicht vergessen haben, denken Sie ein wenig über diese Gestalt nach. Vielleicht verdeutlicht Ihnen das etliches an der heutigen Lage in Russland. Die russische Literatur wird heute von apokalyptischen Vorahnungen heimgesucht, gleichzeitig befindet sie sich auf der Suche nach der fast verlorenen Tradition. Sowohl der russische Leser als auch der russische Schriftsteller sind die unaufhörlichen, jahrelangen Verunglimpfungen und Schmähungen, die niederträchtige Narretei und fortwährende Spöttelei leid. Die öffentliche Vorführung der nationalen Eiterbeulen dreht einem das Innerste um. Die Blumen des Bösen erfreuen niemanden mehr, ihr Geruch ist allen zuwider. Die Ästhetik der Zersetzung hat ihre Faszination verloren. Aber war sie denn für Alexander Puschkin, Lew Tolstoi oder Anton Tschechow jemals faszinierend? Der westliche Leser hat die russische Literatur ins Herz geschlossen wegen ihrer ebenso unerklärlichen wie unerschütterlichen Empfänglichkeit für die Präsenz
Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-Mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteur: Alexej MosKO; Redaktionsleitung: Jekaterina Iwanowa; Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114
des Göttlichen in der Welt, wegen ihrer idealistischen Grundhaltung, frei von Dogmatik und Belehrung, wegen ihrer festen Vorstellungen von Gut und Böse. Jeder große russische Schriftsteller ist konservativ, neigt oft nicht zu übermäßiger Toleranz, gebärdet sich schroff. Aber das gilt nicht allein für uns Russen. Gerade habe ich in einem Brief meines Lieblingsautors Thomas Mann die Worte gelesen, es liege etwas Klägliches in der Selbstgeißelung und der Verneinung der deutschen Größe. Dies möchte ich auf das heutige Russland übertragen wissen. Nun lässt sich wahrscheinlich nicht mehr vermeiden, einige konkrete Namen anzuführen, damit mir niemand vorwirft, ich bleibe in unserem Gespräch über die Literatur zu allgemein. Es gibt etliche Autoren, die von der großen russischen Sprache und Literatur beflügelt sind. Es gibt hervorragende Arbeiten einer ganzen Autorenplejade aus der Generation der Vierzigjährigen. Michail Tarkowski mit seinen sibirischen Novellen. Alexander Terechow, von dem der bedeutende Roman „Kamenny most“ (Die steinerne Brücke) stammt. Alexej Iwanow mit seinem nicht minder bedeutenden Werk „Bluda i MUDO“. Dmitri Bykow, der die epochalen Romane „Oprawdanije“ (Die Rechtfertigung) und „Ostromow“ vorlegte, oder Alexander Kusnezow-Tuljanin mit seiner unbestritten klassischen Saga „Jasytschnik“ (Der Heide). Meister des Wortes aus der älteren Generation wie etwa Andrej Bitow, Valentin Rasputin oder Eduard Limonow könnten den Literaturnobelpreis für sich beanspruchen. Doch wie heißt es so schön in Russland: „Klar würde er was essen, aber wer gibt ihm schon was.“ Es hat sich historisch ergeben, dass die russische Literatur in Gemeinschaft mit der großen und finsteren russischen Staatlichkeit nach Europa gelangt ist. Zuerst die Kosaken in Paris, die Teilungen Polens, des „Gendarms Europas“, darauf folgten Dostojewski und Turgenjew. Danach die Russen im Kosmos, der Gulag, sowjetische Panzer in Ungarn, danach wieder Bulgakow und Scholochow. Ich würde mir wünschen, dass wir endlich ohne Panzer und Kosaken auskommen. Dass wir einander einfach deshalb lesen, weil wir gute Beziehungen zueinander pflegen und keine schlechten Bücher schreiben. Sachar Prilepins neues Buch „Sankya“ erschien bei Matthes & Seitz.
Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 Friedrichshafen Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion
Feuilleton
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU
Kunst Künstlerinnen prägten einst die russisch-sowjetische Avantgarde
REFLEKTIERT
Die vergessenen Schwestern
Der lustigste Dissident
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die russisch-sowjetische Kunst ein weibliches Gesicht. Daran erinnert ab dem 20. Oktober das Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum.
Der Ulenspiegel ZEITZEUGE
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MATTHIAS ZWARG
PRESSEBILD
FÜR RUSSLAND HEUTE
In Zusammenarbeit mit der Staatlichen Tretjakow-Galerie Moskau und privaten Leihgebern zeigt das Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen unter dem Titel „Schwestern der Revolution“ mehr als 100 Werke von zwölf Künstlerinnen aus den Jahren 1907 bis 1934. Das Museum, das dank seines Stifters Wilhelm Hack selbst über eine ausgezeichnete Sammlung russischer Avantgardekunst verfügt, verweist damit auf eine Generation von Künstlerinnen, die für einen kurzen Moment der Geschichte der Kunst ebenso starke Impulse gaben wie ihre männlichen und meist viel bekannteren Kollegen El Lissitzky, Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin oder Alexander Rodtschenko. In den Arbeiten von Natalja Gontscharowa, Alexandra Exter, Ljubow Popowa, Warwara Stepanowa, Nadeschda Udalzowa, Anna Kagan, Elena Liessner-Blomberg, Olga Rosanowa, Antonina Sofronow, Anna Leporskaja, Sofia Dymschiz-Tolstaja und Maria Ender spiegeln sich nicht nur alle avantgardistischen und emanzipatorischen Tendenzen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie griffen darüber hinaus Kubismus, Konstruktivismus, Futurismus, Primitivismus auf, um ihn sich selbst anzuver wandeln, sich von ihren männlichen oder auch westlichen Kollegen abzugrenzen und ihrer Kunst eine spezifisch russische Farbe zu geben.
Alexandra Exters Bühnenbildentwurf „Tod der Julia“ für eine Inszenierung von „Romeo und Julia“ (1921)
nach der anderen wurde eröffnet, von den Gemälden der ‚Welt der Kunst‘, des ‚Goldenen Vlieses‘, des ‚Karo-Buben‘, des ‚Eselsschwanzes‘, der ‚Himmelblauen Rose‘“, erinnert sich Boris Pasternak in einer biografischen Skizze.
Schon in den Zeiten der liberaleren zaristischen Herrschaft hatten sich Frauen nicht nur in der Kunst zu Wort gemeldet.
heben sollten, als Beitrag zu einer gerechteren, klassenlosen Gesellschaft. Mit dem Verdikt zum sozialistischen Realismus in den 1930erJahren endete diese kurze Periode der künstlerischen Avantgarde in der Sowjetunion. Nadeschda Udalzowas Mann, der Maler Alexander Drewin, wurde 1938 erschossen, sie selbst zeigte ihre Arbeiten fast nur noch in privatem Rahmen. Und auch die anderen Künstlerinnen gerieten – bis auf gelegentliche Ausstellungen – immer mehr in Vergessenheit.
Der Diktatur weit voraus
Emanzipation in Russland In der Vielfalt der Arbeiten – von konstruktivistisch-suprematistischen Gemälden über zum Teil noch heute bekannte Bühnenbilder, Textilien und Bekleidung bis zu Plakaten und Fotomontagen – erinnert die Ausstellung an eine kurze Zeit der Weltoffenheit, Aufgeschlossenheit, Experimentierfreude, der künstlerischen und insbesondere der weiblichen Emanzipation in Russland und der Sowjetunion im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Schon in den Zeiten der liberaleren zaristischen Herrschaft hatten sich Frauen nicht nur in der Kunst zu Wort gemeldet. „Ungefähr seit 1907 begannen Verlage wie Pilze aus dem Boden zu schießen, oft wurden Konzerte neuer Musik gegeben, eine Ausstellung
Mit dem Verdikt zum sozialistischen Realismus endete die künstlerische Avantgarde in der Sowjetunion. Eine erste Zäsur war die Oktoberrevolution: Einige der Künstlerinnen wie Natalja Gontscharowa und Alexandra Exter emigrierten. Andere schlossen sich dem Proletkult an und arbeiteten ganz im Sinne des später von Stalin geprägten Begriffs vom Künstler als „Ingenieur der menschlichen Seele“, wie Warwara Stepanowa, die gemeinsam mit Wladimir Tatlin einheitliche Uniformen entwarf, die den Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Kleidung auf-
AUSSTELLUNG RUSSEN UND DEUTSCHE. 1000 JAHRE KUNST, GESCHICHTE UND KULTUR
Insofern gebührt der Ausstellung das Verdienst, an eine Generation russisch-sowjetischer Künstlerinnen zu erinnern, die bis auf wenige Ausnahmen in der europäischen Kunstgeschichte noch nicht den ihnen gebührenden Platz gefunden haben und mit ihren Ideen einer befreiten Kunst und eines befreiten Menschen ihrer Zeit und vor allem den konkreten Lebensumständen in der sowjetischen Diktatur weit voraus waren. Allerdings klammert der umfangreiche und üppig bebilderte Katalog den politischen Kontext, in dem sich diese Kunst manifestierte, bis auf wenige karge Andeutungen weitgehend aus. Zwar wird gleich zu Beginn auf Ernst Bloch, den großen Sohn der Stadt Ludwigshafen, und seine Ansicht verwie-
sen, jedes Kunstwerk habe ein „utopisches Fenster, worin eine Landschaft liegt, die sich erst bildet“, doch nehmen die Texte in dem Katalog auf diese Hoffnung – und ihre vielleicht manchmal auch selbst provozierte Enttäuschung – kaum Bezug. Die „Schwestern der Revolution“ – ein Titel, mit dem sich die Ausstellung bewusst abgrenzt von den „Vätern“ und den „Kindern“ der Revolution – wurden bald zu ungeliebten Familienmitgliedern in einem von Männern dominierten und deformierten Land. Die russisch-sowjetische Avantgarde hatte nur eine kurze Zukunft – ein Schicksal, das sie allerdings mit anderen Avantgardebewegungen teilt.
Die Ausstellung „Schwestern der Revolution: Künstlerinnen der russischen Avantgarde“. Vom 20. Oktober 2012 bis 17. Februar 2013 im Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen. Die Avantgarde war weiblich! – So die Spezifik russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung ist Bestandteil des Deutsch-Russischen Kulturjahrs 2012/13. Weitere Informationen und das komplette Programm finden Sie unter www.wilhelmhack.museum.de
VIDEOKUNST AES+F. DIE TRILOGIE
MUSIK JAZZ IM HERBST
29. SEPTEMBER BIS 3. DEZEMBER, BERLIN, MARTIN-GROPIUS-BAU
25. OKTOBER BIS 3. NOVEMBER, MOSKAU, SCHULE FÜR DRAMATISCHE KUNST
ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF
Die Ausstellung ist einer der Höhepunkte des Russlandjahrs in Deutschland. Zum Teil noch nie gezeigte Exponate illustrieren Höhen und Tiefen aus 1000 Jahren gemeinsamer Geschichte.
Das Moskauer Kollektiv AES+F sorgte 2007 mit seinen Videoinstallationen auf der Biennale in Venedig für Aufsehen. 2011 schloss es seine Trilogie aus „The Last Riot“, „The Feast of Trimalchio“ und „Allegoria Sacra“ ab.
Das Grundgebot des Jazz lautet: Swingen muss es. Im Rahmen des Deutschlandjahrs in Russland präsentiert „Jazz im Herbst“ anspruchsvolle Jazzmusik aus Deutschland in Moskau. Mit dabei der Pianist Michael Wollny und das Berliner Trio Toumi.
RUSSLAND-HEUTE.DE
› smb.museum.de
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› germanyinrussia.ru
KULTURKALENDER
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6. OKTOBER BIS 13. JANUAR 2013, BERLIN, NEUES MUSEUM
er russische Satiriker Wladimir Woinowitsch, gerade 80 geworden, ist in Deutschland kaum bekannt. Schade, denn er ist nicht nur einer der bedeutendsten lebenden Schriftsteller seiner Heimat. Vielleicht ist er der beste Satiriker, in jedem Fall aber der kurzweiligste. Und er hat in Deutschland gelebt, während seines Exils in den 1980er-Jahren. Mit der Kenntnis der russischen Literatur ist es dort nicht so besonders weit her. Man weiß gerade noch: Tolstoi hat dicke Bücher geschrieben, in denen Leute mit schwierigen Namen vorkommen. Und man weiß auch, dass russische Bücher immer furchtbar deprimierend sind. Nicht so bei Woinowitsch. Der Nestbeschmutzer war ein Meister, die realen Absurditäten des sowjetischen Alltags ins Groteske zu übersteigern. Seine Geschichten sind wilde Fantasie, aber sie sind wahr. Da ist ein notorischer Antisemit, der sich seine Unterhose mit Bleifolie ausstopft, weil er glaubt, dass Juden ihre russischen Mitbürger mit Strahlen impotent machen. Ein Dorfaktivist brennt Schnaps aus Exkrementen. Eine Heldin der sozialistischen Arbeit treibt sich auf Parteiversammlungen herum und liegt ansonsten auf der faulen Haut. Auch wenn deutsche Leser nicht alle Details einordnen können, das Anliegen ist klar. Opportunismus, Bürokratie, ideologische Verbohrtheit – man muss nicht in der UdSSR aufgewachsen sein, um zu verstehen, was Woinowitsch da der Lächerlichkeit preisgibt. Sein „Iwan Tschonkin“, ein Schelmenroman aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, war meine erste Berührung mit der Sowjetunion, und ich habe daraus mehr gelernt als von manchen Ostexperten. Sein Werk „Moskau 2042“ wurde zwar in den 1980er-Jahren geschrieben, aber man kann darin Züge des heutigen Russlands erkennen: Die Kirche ist wiedererstarkt, um den Führer „Genialissimus“ wird ein Personenkult betrieben, das Land exportiert Gas, gewonnen aus Fäkalien. Wladimir Woinowitsch ist immer noch der witzigste Dissident. Und ein guter Einstieg in die russische Literatur. Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.
empfiehlt
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Porträt
WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU
Kunst Ein deutsch-russisches Künstlerehepaar hilft Kindern aus Kaliningrad und malt graue Betonbauten bunt
Wie die Malerin, so der Bildhauer angeschaut, sondern auch angefasst und verändert werden – durch Drehen oder neues Zusammensetzen. Ein Prinzip, mit dem sich Erwachsene oft schwertun, sagt Bouchon, Kinder hätten da keine Hemmungen. In ihrer Galerie Dreiklang in Hann. Münden sind regelmäßig Musiker und Künstler aus Russland zu Gast. „Wir leben hier im Paradies!“, sagt Bouchon lachend, und wer seinem Blick folgt, stimmt ihm zu: Das Wohnhaus, gemütlich mit viel Holz gebaut, und die Galerie mit der Werkstatt haben auf dem großen Grundstück Gesellschaft von vielen Skulpturen, die wie ein Begrüßungskomitee jeden Besucher zu empfangen scheinen. Dahinter der Wald, davor die denkmalgeschützten Backsteingebäude einer ehemaligen Kaserne. Der Dreiklang, den sie meinen, ergibt sich aus dem Zusammentreffen von Malerin, Bildhauer und Betrachter: Die Werke beeindrucken den Besucher, seine Gedanken dazu können aber auch wieder Einfluss auf das Schaffen der Künstler haben.
Sie ist medizinische Biochemikerin – er Bergbauingenieur. Gemeinsam fanden sie zur Kunst und schaffen seitdem Erstaunliches in der west-östlichen Welt. BETTINA SANGERHAUSEN FÜR RUSSLAND HEUTE
„Wenn Kinder anfangen zu arbeiten, werden sie Künstler“, sagt Nina Geling, und Ekkahart Bouchon ergänzt: „Bisher ist bei jedem Projekt etwas Tolles herausgekommen.“ Wie diesen Sommer in Kaliningrad, wo die Malerin und der Bildhauer zeigten, wie kreativ autistische Kinder sein können. Oder in Tschaikowski, wo viele Kinderhände halfen, den mythischen Finist-Falken an eine Fassade zu zaubern. Dessen Zwilling, ebenfalls als Schülerprojekt entstanden, ziert die Berufsschule im niedersächsischen Hann. Münden. Und damit haben sie es schon wieder getan: eine Verbindung geschaffen zwischen Deutschland und Russland.
Eine Deutsche von der Wolga, ein Franzose von der Weser
Nicht immer idyllisch BIOGRAFIEN
Ekkahart Bouchon GEBURTSORT: QUEDLINBURG ALTER: 76 PROFIL: BILDHAUENDER INGENIEUR
Malen und Bildhauen im Einklang: Nina Geling, Ekkahart Bouchon
Ekkahart Bouchon leitete das Technische Amt für Umweltschutz Hamburg und half nach der Wiedervereinigung beim Aufbau einer Umweltbehörde in Mecklenburg-Vorpommern. Er beschäftigt sich seit seinem zehnten Lebensjahr mit Kunst und organisierte Konzerte und Ausstellungen parallel zu seinem Brotberuf. Seine Bildhauerausbildung absolvierte er bei dem Künstler Egon Ossig.
Galerie Dreiklang zwischen Ost und West Zum Deutsch-Russischen Jahr planen Geling-Bouchon eine Retrospektive der Werke von 29 russischen Künstlern im historischen Rathaus von Hann. Münden (8. bis 22. Dezember). Ausstellungen mit Bildern und Skulpturen von Nina Geling und Ekkahart Bouchon sind in Swenigorod bei Moskau zu sehen und vom 14. bis 19. Oktober im Moskauer Zentralmuseum der Streitkräfte sowie auf dem Filmfestival Ozerov. 2013 wird ihre Ausstellung „Terra Incognita“ im Föderationsrat in Moskau gezeigt. Mehr Informationen unter www.galerie-dreiklang.de
Nina Geling GEBURTSORT: KASAN ALTER: 62 PROFIL: MALENDE BIOCHEMIKERIN
Nina Geling entwarf als Kind Spielsachen, weil Erwachsene keine Ahnung haben, was Kinder wirklich mögen. Sie malte gern, studierte dann aber in Moskau medizinische Biochemie und arbeitete als Forscherin an Instituten in Halle und Rostock. Später studierte sie an der Akademie für Modedesign in Hamburg. Nina Geling und Ekkahart Bouchon heirateten 1996 und eröffneten 2003 ihre Galerie Dreiklang in Hann. Münden.
BETTINA SANGERHAUSEN (2)
Gerade von den Projekten im Ural zurückgekehrt, sprudelt Nina Geling über vor frischen Eindrücken, und ihr netter Akzent verrät sofort, dass ihr deutsch klingender Name täuscht: Tatsächlich wurde die Frau mit dem roten Kurzhaarschopf vor 62 Jahren an der Wolga geboren. Deutsche wurde sie eher aus Versehen, als Anfang der 1990er-Jahre ihr russischer Pass abgelaufen war. Russland ganz zu verlassen, das sei nie ihr Plan gewesen, „ich habe praktisch gegen meinen Willen bekommen, wovon andere träumen“, sagt sie fröhlich und ihr Lächeln spiegelt sich im Gesicht ihres Mannes: „Ich habe sie einfach nicht mehr gehen lassen“, sagt Ekkahart Bouchon, 76, die Brille lässig ins weiße Haar geschoben, und grinst verschmitzt. Trotz seines französischen Familiennamens ist er wiederum als Deutscher geboren. Auf der Suche nach den gemeinsamen deutsch-russischen Wurzeln taucht das Künstlerpaar in Märchen und Sagen ein und befasst sich zurzeit mit der slawischen Mythologie. Vom FinistFalken, auf dem Weltenbaum das Symbol der Sonne, schlagen sie den Bogen zum Phoenix aus der Asche. Mit dem kreativen Ergebnis dieser mythischen Recherche gewannen sie im Ural den Wettbewerb der Fassadenentwürfe. „Dadurch war genug Geld für das Material da“, sagt Bouchon. Die Stadt Tschaikowski, vor gut 50 Jahren am Reißbrett entstanden, liege zwar in einer wunderschönen Landschaft, die Architektur sei aber eher trist, beschreiben es die beiden. Ganz viel Kunst an ganz vielen Häusern soll das ändern.
In Tschaikowski leiteten sie außerdem Fünf- bis Vierzehnjährige an, fantastische Figuren aus Sperrholz zu entwerfen. Ein anderes Kunstprojekt mit autistischen Kindern in Kaliningrad sei eine Herausforderung gewesen. Mit Kindern haben sie schon oft gearbeitet – mit jungen Kunstschülern und mit behinderten Kindern, mit Jugendlichen ohne Schulabschluss. Aber mit einer
Gruppe, zu der man so schwer Zugang finden kann? Doch am Ende siegte der spielerische Umgang mit dem Material. Gesponsert wurden diese Aktion und die Ausstellung übrigens vom Deutschritterorden.
Die Variable als Kunstprinzip Ein Prinzip in der Kunst von Nina und Ekkahart ist die Variable: Ihre Kunstwerke dürfen nicht nur
So idyllisch war es nicht immer im Leben dieser beiden Menschen. Auf der Suche nach medizinischer Hilfe für ihren ältesten Sohn war Nina Geling 1991 nach Deutschland gekommen. Für künstlerisches Schaffen hatte die promovierte medizinische Biochemikerin gar keine Zeit. Sie traf auf den Bergbauingenieur Bouchon vom Hamburger Umweltamt, der sich für Kunst interessierte und diese förderte. Bouchon kann der Frau aus Russland helfen, die beiden verlieben sich und werden erst gemeinsam zu dem Künstlerpaar, das sie heute sind. Vor zehn Jahren eröffneten sie ihre Galerie in jener Stadt, in der Werra und Fulda sich zur Weser vereinen. Das macht sie selbst ein bisschen zu dem Phoenix, mit dem sie sich gerade beschäftigen, denn auf ihre erste Werkstatt in einem Dorf bei Kassel war zuvor ein ausländerfeindlicher Brandanschlag verübt worden. Leider lasse das Interesse an der Kunst und kulturellen Veranstaltungen in Deutschland nach. Früher kamen so viele Menschen zu ihnen, dass die Plätze knapp wurden. Heute kommen weniger, „obwohl wir Spitzentalente hier präsentieren und der Eintritt immer frei ist.“ In Russland sei das anders. Da kämen ganze Familien zu ihren Ausstellungen, selbst wenn sie dafür Eintritt zahlen müssten. Entmutigen lässt sich das Duo Geling-Bouchon davon nicht und probiert immer wieder etwas Neues aus – als Nächstes eine Ausstellung mit Bildern von Zwei- bis Sechsjährigen, gemalt in der Frühförderung des Kunstmuseums in Tschaikowski.
Was in Russland Recht ist Die Gesetze, die Justiz und die Wirklichkeit
7. November