Russland HEUTE

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www.russland-heute.de

Für den Jazz

Außer Pussy Riot

Für die Sache

Aufstieg und Fall des Berliners Eddie Rosner

Russland sorgt für mehr Qualität und Transparenz in der Rechtsprechung, meint der deutsche Anwalt Florian Roloff.

Anastasija Udalzowa steht ihren Mann.

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Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 7. November 2012

Demokratieexperiment geglückt

Tauwetter im russischen Kino

Film jenseits des Mainstream und die Lust am Experiment“. Wer es nicht bis nach Cottbus schafft: In Berlin findet vom 28. November bis 5. Dezember die „Russische Filmwoche“ statt, die sich voll und ganz dem russischen Kino widmet.

And the winner is: Alexej Nawalny. Erwartungsgemäß hat sich der mit Antikorruptionsinitiativen bekannt gewordene Anwalt an die Spitze des „Koordinationsrats der russischen Opposition“ gesetzt. Immerhin bei den „ersten demokratischen Wahlen der russischen Geschichte“, wie der Schriftsteller Iwan Starikow schreibt. Über 80 000 Wähler stimmten größtenteils per Internet darüber ab, welche 45 Politiker die Interessen der außerparlamentarischen Opposition vertreten sollen. Dass die Opposition völlig unabhängig vom Staat Wahlen durchführen kann, ist an sich schon ein Erfolg. Aber diese Wahlen haben auch enttäuscht, etwa jene, die auf neue Gesichter gehofft hatten: „Kaum einer der Wähler hatte sich offenbar ernsthaft mit den Zielsetzungen der Kandidaten auseinandergesetzt“, schreibt die Journalistin Maria Eismont. Deshalb sei vor allem für bekannte Persönlichkeiten gestimmt worden. Gleichzeitig stellen Oppositionelle, die nicht zur Wahl gegangen sind, die Legitimitätsfrage: Was sind schon 80 000 Wähler? Diese Frage müssten sich allerdings auch die Organisatoren der „richtigen“ Wahlen stellen: Im Oktober wurden erstmals seit 2004 die Gouverneure wieder direkt gewählt. Das Ergebnis: ein Sieg von Einiges Russland auf ganzer Linie, aber bei einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent.

MEHR DAZU AUF SEITE 11

SEITEN 2 UND 9

PRESSEBILD. SZENE AUS DEM FILM „WINTER, GEH WEG“

„Winter, geh weg“, heißt der Film, aus dem dieses Bild stammt. Zehn junge Regisseure begleiteten im letzten Winter die monatelangen Proteste, deren Ausgangspunkt die nach Meinung der Demonstranten gefälschten Parlamentswahlen im Dezember waren. Zu sehen ist der Beitrag am 8. November auf dem „Festival des ost-

europäischen Films“ in Cottbus. Vom 6. bis 11. November wird es dort Filme aus ganz Osteuropa zu sehen geben, darunter auch das neue Werk des russischen Noir-Regisseurs Alexej Balabanow „Ich will auch“. Eine „Neue Welle“ russischer Filmkunst gebe es zu entdecken, schreibt unser Autor Balthasar

von Weymarn. Die große Krise nach dem Zusammenbruch der zu Sowjetzeiten staatlich finanzierten und gelenkten Filmindustrie sei überwunden. Regisseure wie Andrej Swjaginzew („Die Rückkehr“), Boris Chlebnikow („Verrückte Rettung“) oder Sergej Loznitsa („Im Nebel“) verbinde „die Bereitschaft zum

Tundraschwund © WLADIMIR WJATKIN_RIA NOVOSTI

Zweieinhalbmal Moskau Die russische Hauptstadt ist seit diesem Sommer um 148 000 Hektar größer – und hat seine Fläche damit mehr als verdoppelt. Der Ausbau des riesigen neuen Stadtgebiets in den kommenden Jahrzehnten ist ein Befreiungsschlag für das völlig überlastete Zentrum, aus welchem unter anderem die russische Regierung in die Peripherie umziehen könnte.

PHOTOXPRESS

BE.BRA VERLAG

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Sehr unterschiedliche Urbanisierungskonzepte liefern Stadtplaner und Architekten: Im September gab die Stadt die Sieger des Architekturwettbewerbs bekannt. Besonderes Augenmerk legte die Jury auf Lösungsvorschläge für das brennendste Problem Moskaus: die Verkehrsstaus. SEITE 4

THEMA DES MONATS KOMMERSANT

Monatelang leben die deutschen Studenten und Forscher mit ihren russischen Kollegen zwischen Mücken und Moltebeeren: Im hohen Nordosten Sibiriens erforscht das Alfred-Wegener-Institut die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Tundra. SEITE 3

VERLOSUNG R u s s l a nd H E U T E verlost zehn Kunstbücher zur Ausstellung „Schwestern der Revolution“ im Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum, wo Werke russischer Künstlerinnen der Avantgarde bis 17. Februar 2013 zu bestaunen sind. › russland-heute.de/verlosung

RECHT UND RECHTSPRECHUNG „EIN FAULER APFEL KANN DEN GANZEN KORB VERDERBEN“ Willkür, korrupte Richter, politisch motivierte Urteile ... Die russische Rechtsprechung hat im Ausland und auch bei den eigenen Bürgern kein gutes Ansehen. Henry Reznik, der bekannteste Anwalt des Landes, erklärt im Interview, wo die positiven Veränderungen zu finden sind – und wie man seinen Mandanten selbst bei „bestellten“ Urteilen retten kann. SEITEN 5, 6 UND 9


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Politik

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Wahlen Die Opposition unterliegt klar bei den wiedereingeführten Gouverneurswahlen

KOMMENTAR

Stell dir vor, es ist Wahl, und keiner geht hin

Die Urne zu Grabe tragen JOURNALIST

J

Bei den Regionalwahlen hat die Partei Einiges Russland ihre Machtposition klar behauptet – trotz erhöhter Konkurrenz. Hauptgrund ist die niedrige Wahlbeteiligung der Bürger. LOTHAR DEEG

KOMMERSANT

RUSSLAND AKTUELL

Betagte Wählerin vor dem Wappen der Stadt Moskau, das den heiligen Georg mit dem Drachen darstellt. Das Interesse der russischen Bürger an Wahlen nimmt in den meisten Regionen immer mehr ab.

Einiges Russland – ein Jahr später Region

Ergebnisse von Einiges Russland und ihrer Kandidaten bei den Wahlen am 14. Oktober 2012

ZAHLEN

17

Ergebnisse von Einiges Russland und ihrer Kandidaten bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011

Prozent erhielt die populäre Oppositionspolitikerin Jewgenija Tschirikowa bei der Bürgermeisterwahl im Moskauer Vorort Chimki.

Gouverneurswahlen Gebiet Amur

77,28 %

Achtungserfolg der Opposition

Gebiet Belgorod

77,64 %

43,5 % 51,2 %

Die im letzten Jahr erstarkte außerparlamentarische Opposition konnte bei den Wahlen kaum punkten, abgesehen von zwei Achtungserfolgen: Bei den Stadtratswahlen der Altai-Metropole Barnaul überwand die Oppositionspartei RPR-Parnas, angeführt von ihrem dort heimischen Vizevorsitzenden Wladimir Ryschkow, die Fünf-Prozent-Hürde. Und die Umweltaktivistin Jewgenija Tschirikowa kam bei den Bürgermeisterwahlen im Moskauer Vorort Chimki mit 17 Prozent auf Platz zwei. Ryschkow und Tschirikowa prangerten allerdings massive Wahlfälschungsmanöver an: In Chimki seien laut Tschirikowa die Wählerlisten manipuliert worden. Dabei hatten die Behörden gerade hier „kristallklare Wahlen“ angekündigt. Und Ryschkow will in Barnaul an die 100 Autos beobachtet haben, in denen je drei bis vier junge Leute von einem Wahllokal zum anderen fuhren, um mehrfach ihre Stimme abzugeben. Nikolai Lewitschew, Chef der Dumapartei Gerechtes Russland, erklärte, inzwischen würden die Wahlorganisatoren wegen der höheren Zahl oppositioneller Beobachter offene Fälschungen der Auszählungsergebnisse vermeiden und dann schon eher den Trick der massenhaften Mehrfachstimmenabgabe nutzen. „Sie sind zu allem bereit, um das Ergebnis zu

Gebiet Brjansk

65,22 %

50,1 %

Gebiet Nowgorod

75,95 %

35,3 %

Gebiet Rjasan

64,43 %

39,8 %

Region Krasnodar

69,47 %

56,3 %

Gebiet Penza

70,64 %

56,3 %

Gebiet Saratow

77,92 %

64,9 %

Wahlen in die Regionalparlamente

Gebiet Sachalin

50,18 %

41,9 %

Nordossetien

46,26 %

67,9 %

Udmurtien

53,19 %

45,01 %

beeinflussen und die Macht nicht in andere Hände geben“, so der Oppositionspolitiker. Allerdings macht das russische Wahlvolk es den Designern der Ergebnisse auch leicht, die gewünschten Zahlen zu produzieren: Die Wahlbeteiligung lag zum Teil erschütternd niedrig. Bei der Stadtratswahl in Wladiwostok, der quirligen Hafenstadt mit 600 000 Einwohnern, gingen nur 12,5 Prozent zur Urne. Wahlbeteiligungen unter oder um die 20 Prozent meldeten auch die Großstädte Kaliningrad, Barnaul, Petropawlowsk-Kamtschatski, Kursk, Twer und Jaroslawl. Die höchste Wahlbeteiligung gab es bei den Gouverneurswahlen in Belgorod mit knapp unter 60 Prozent, ansonsten lag sie zwischen 37 und 47 Prozent.

Katastrophale Wahlbeteiligung Mehrere von der Zeitung Kommersant befragte Politologen erklärten, dass die Staatsmacht diesmal mit einer „Strategie der

Stille“ bewusst dafür gesorgt habe, dass die Wahlbeteiligung niedrig ausfällt – umso mehr fielen da die verlässlichen Stammwähler und bei Bedarf auch die am Wahltag aus der polittechnologischen Trickkiste gezogenen Manipulationen ins Gewicht. Hinzu komme, dass die Proteststimmung in der Hauptstadt die Regionen kaum erreicht habe.

Spannung nur in Brjansk Bei den Gouverneurswahlen sorgte der neu eingeführte „kommunale Filter“ dafür, dass potenzielle Gegenkandidaten gar nicht erst zur Wahl antreten konnten: Ein Kandidat muss eine bestimmte Anzahl Unterschriften von Abgeordneten der Land- und Kreistage vorweisen, um sich aufstellen zu können. Geldmangel und fehlende politische Erfahrung bremsten die frisch gegründeten neuen Parteien aus. Mancher Oppositionskandidat strich vorzeitig die Segel, in mehreren Fällen nach Absprache mit den regionalen Eli-

QUELLE: ZENTRALE WAHLKOMMISSION

Erstmals seit einem knappen Jahrzehnt wurden im Oktober in Russland mehrere Gouverneure wieder direkt vom Volk gewählt. Diese während der Protestwelle im Winter vom Kreml spendierte „demokratische Neuerung“ brachte aber keine Überraschungen: In allen Regionen gewannen die Kandidaten der Kremlpartei Einiges Russland haushoch mit Ergebnissen zwischen 65 und 78 Prozent. Am gleichen Tag wurden in mehreren Regionen Land- und Kreistage sowie Bürgermeister gewählt. Auch hier gab es nur wenige Orte, in denen ein Konkurrent von Einiges Russland die Wahl für sich entscheiden konnte. Russland erwacht politisch? Vorerst Fehlanzeige. Die russische Bevölkerung scheint mit der allumfassenden Herrschaft der „Machtpartei“ vom Kreml abwärts bis in den kleinsten Dorfsowjet voll und ganz einverstanden zu sein. Parteichef Dmitri Medwedjew zeigte sich mit dem Ausgang der Wahl denn auch sehr zufrieden. Die Ergebnisse seien wesentlich besser als bei der Dumawahl, das „Fiasko“ ausgeblieben, erklärte er.

Tichon Dzjadko

12,5 Prozent betrug die Wahlbeteiligung bei den Stadtratswahlen von Wladiwostok. Im Schnitt lag die Wahlbeteiligung bei etwa 30 Prozent.

ten, wie sich erst nach der Wahl herausstellte. Abgesehen vom hochpolitisierten Chimki kam es so kaum zu echten Wahlkämpfen. Einzig im Gebiet Brjansk blieb es bis zuletzt spannend: Das Landesgericht hatte den amtierenden Gouverneur von Einiges Russland wegen Fälschung der Unterschriftenlisten zunächst von der Wahl ausgeschlossen. Das Urteil wurde allerdings kurz darauf vom Obersten Gerichtshof kassiert. Der Gouverneur konnte seine Wiederwahl am Ende mit 65 Prozent gegen seinen Konkurrenten von der Kommunistischen Partei (30 Prozent) sichern. „Aus der niedrigen Wahlbeteiligung spricht die Enttäuschung vieler Menschen. Sie glauben nicht mehr, dass ihre Stimme etwas bewirken kann. Das kommt einem Boykott gleich, ist Zeichen des fehlenden Vertrauens in das Wahlsystem“, so Sergej Obuchow, Chefanalyst im Vorstand der Kommunistischen Partei.

edem Vorhaben liegt ein wesentliches Erfolgskriterium zugrunde – das Interesse. Ist eine Idee an sich interessant, so hat deren Umsetzung eine größere Chance auf Erfolg. Dieser Logik zufolge waren die Regionalwahlen in Russland Mitte Oktober von Anfang an zum Scheitern verurteilt: Ein besonderes Interesse war weder bei den Kandidaten noch bei den Wählern zu spüren, die Wahlbeteiligung war äußerst gering. Der Regierung kam das nur zugute: Unter diesen Bedingungen spielt bei einer Wahl derjenige Teil der Bevölkerung die entscheidende Rolle, der von den Behörden und den staatlichen Medien beeinflusst ist. Er war es, der denn auch für das entsprechende Wahlergebnis sorgte. Die Opposition ihrerseits zeigte ebenfalls kein spürbares Interesse an den Regionalwahlen. Das heißt nicht, dass sie sich der Abstimmung radikal verweigerte, aber umgekehrt war sie nur wenig präsent. Bereits am Vorabend des Wahltags war klar, was passieren würde, trotz der positiven Änderungen des Wahlgesetzes wie der Wiedereinführung der Gouverneurswahlen und der Registrierung einer größeren Anzahl an Parteien. Der Opposition war es nicht gelungen, ihre Anhänger zu mobilisieren. Aber das Hauptproblem besteht darin, dass Wahlen im Verständnis der Regierungskreise auch weiterhin nur eine überflüssige Prozedur darstellen und nicht als ein übliches Verfahren in einem demokratischen Staat gelten. Der Urnengang war durch eine Vielzahl von Verstößen gekennzeichnet, doch selbst diese riefen nicht die gleichen Reaktionen wie nach den Duma- und Präsidentschaftswahlen hervor. Viele meldeten sich als Wahlbeobachter, waren sich aber bewusst, dass sie auf die Gesamtsituation keinerlei Einfluss haben werden. Das Interesse an den Wahlen lässt in Russland nach, die Menschen nehmen sie als etwas Nebensächliches wahr. So blickte man am Wahlabend nicht etwa auf die Hochrechnungen aus den Wahllokalen, sondern interessierte sich brennend dafür, ob der österreichische Fallschirmspringer Felix Baumgartner seinen Rekordsprung aus 39 Kilometer Höhe erfolgreich durchführen würde. Wird sich sein Fallschirm öffnen oder nicht? – diese Frage wurde eifriger diskutiert als der mögliche Sieg eines unabhängigen Kandidaten über den Favoriten der Regierungspartei. Denn allen ist vollkommen klar, dass dieser unabhängige Kandidat nach seinem Sieg den Beitritt in die Partei Einiges Russland bekannt geben wird und somit alles beim Alten bleibt. Dieser Artikel erschien auf dem Internetportal Snob.ru


Wissenschaft/Wirtschaft

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Expedition In Jakutien erforschen deutsche und russische Wissenschaftler die Folgen des Klimawandels

MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

Weiße, schlafraubende Nächte. Das Sammeln von vitaminreichen Moltebeeren und der vergebliche Kampf gegen Mücken prägten den Alltag der Forscher, 5300 Kilometer nordöstlich von Potsdam. Im russischen Norden waren bis in den September mehrere Teams des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) unterwegs.

Über Wochen in der Wildnis Gemeinsam mit russischen Kollegen von der Nordöstlichen Föderalen Universität in Jakutsk untersuchten sie seit Juli die Auswirkungen des Klimawandels auf die dortige Natur. Über Wochen lebten Professoren, Doktoranden und Studenten in der Tundra, nahmen Bodenproben, vermaßen Bäume und dokumentierten die Veränderungen. Ulrike Herzschuh, Juniorprofessorin für Paläoökologie und -klimatologie an der Uni Potsdam und Mitarbeiterin am AWI, bearbeitet derzeit die ersten Ergebnisse. Von besonderem Interesse ist für die Wissenschaftler aus beiden Ländern: Wie schnell verschiebt sich die Waldgrenze durch den

Klimawandel in Richtung Norden? Laut Herzschuh sei dies insbesondere an der Meeresküste Jakutiens sehr deutlich zu beobachten: Zwischen Küste und Waldgrenze gebe es nur noch einen schmalen Tundrastreifen. „In absehbarer Zeit wird die Tundra in dieser Zone ganz verschwunden sein“, so Herzschuh. Interessant für die Forscher sind jedoch auch die sogenannten Polygone, kleine Seen mit Erdwällen, die sich im Permafrost der Tundra aufgrund von Tauprozessen bilden und an Risse in ausgetrockneten Böden erinnern.

In der Tundra lebt das indigene Volk der Nenzen, deren Lebensraum von Klimawandel und Zivilisation bedroht ist.

Fernsehbericht über Jakutien

Deutsch-russische Zusammenarbeit mit Tradition In der arktischen Region ist der Klimawandel in besonderem Maß spürbar. Aus diesem Grund existieren Pläne, in dem ebenfalls in der arktischen Region gelegenen Kreis der Jamal-Nenzen im Laufe der nächsten Jahre ein internationales Zentrum für Arktisforschung zu gründen. Neben der Permafrostnatur sollen dort auch die Fördermöglichkeiten von Erdöl, Erdgas und anderen Bodenschätzen unter extremen klimatischen Bedingungen erforscht werden. Die deutsch-russische Zusammenarbeit in Jakutien hat eine jahrzehntelange Tradition: Schon zu DDR-Zeiten brachen Forscher beider Länder zu gemeinsamen Expeditionen gen Norden auf. Nach dem Zusammenbruch der

Eine Dokumentation über die Arbeit der deutschen und russischen Forscher wird im Dezember im RBB ausgestrahlt. Auf der Samoylow-Insel im Lenadelta nahe der Laptewsee war in diesem Sommer ein Fernsehteam des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) zu Gast und hat die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit begleitet. Herausgekommen sind eindrucksvolle Bilder vom ewigen Eis und über den Klimawandel. („Geheimnisse im Eis der Erde – Expedition in die sibirische Arktis“; 17. Dezember um 22.15 Uhr, RBB)

LORI/LEGION MEDIA

Wie wirkt sich der Klimawandel auf das sensible Ökosystem der Tundra aus? Deutsche Wissenschaftler suchen mit russischen Partnern im hohen Nordosten nach Antworten.

LORI/LEGION MEDIA

Auf der Suche nach der schwindenden Tundra

„Nenez“, von dem sich die Nenzen ableiten, bedeutet „der Mensch“.

Sowjetunion stemmte vor allem die deutsche Seite die Finanzierung, weil es in Russland an Geldern fehlte. Seit einigen Jahren teilt man sich die Kosten wieder. „Das hat den Projekten sehr gut getan“, sagt Herzschuh vom Alfred-Wegener-Institut.

Beide Seiten teilen sich auch die Auswertung der Proben: Die Bohrkerne aus dem Tundraboden werden nach Deutschland geschickt und untersucht. Die Bohrkerne aus den Bäumen, die Auskunft darüber geben, wann und wie schnell der Baum gewachsen ist, werden

in Jakutsk ausgewertet. Die Daten tauschen die beiden Partner später aus. Berichte von der Expedition gibt es unter dem „Expeditionsblog Tundrastorys“ auf der Seite des AWI www.awi.de

Rohstoffe In London trafen sich die international wichtigsten Metallproduzenten zur London Metal Exchange Week

Metallurgen rechnen mit Aufträgen aus China

ALEXANDER KILJAKOW FÜR RUSSLAND HEUTE

Die sinkende Nachfrage nach Metallen ist nur eine vorübergehende Erscheinu ng. Zu diesem Schluss ist der Großteil der Marktteilnehmer laut einer Auswertung der London Metal Exchange (LME) Week gekommen. Für Rohstoffinvestoren kam die Meldung nicht unerwartet. Mehr jedoch interessierte die Marktteilnehmer, ob die sinkende Nachfrage nach Metallen einem allgemeinen Rückgang der Industrieproduktion vorausgehen wird oder sie lediglich eine vorübergehende Erscheinung aufgrund saisonaler

und spekulativer Faktoren ist. Die Metallurgen behaupten, dass es keinen Anlass zur Beunruhigung gäbe. „Von einem Verbrauchsrückgang zu sprechen, ist gegenwärtig noch verfrüht, obwohl ein Rückgang des Nachfragewachstums für Metalle zu beobachten ist“, erklärt Anton Berlin, stellvertretender Generaldirektor von Normetimpex, einer Tochtergesellschaft des Konzerns Norilsk Nickel. „Unseren Prognosen zufolge wird der Verbrauch von Primärnickel 2012 um drei Prozent, der von raffiniertem Kupfer um zwei Prozent im Vergleich zu 2011 ansteigen. Gleichzeitig ist auf beiden Märkten eine gewisse Abkühlung des Verbrauchswachstums zu verzeichnen“, sagt der Experte. Das Tempo des Nachfragewachstums für Metalle sinke seit Frühjahr dieses Jahres, die letzten Mo-

nate des Jahres 2012 versprächen jedoch für die Rohstofflieferanten erfolgreich zu werden, ist sich der Generaldirektor der London Metal Exchange, Martin Ebbot, sicher. „Man kann davon ausgehen, dass die Kennzahlen für das laufende Jahr gut aussehen werden. Das letzte Quartal ist traditionsgemäß das dynamischste.“ Die wichtigsten Marktakteure trafen sich zwar in London, aber im Fokus stand der Osten. Zu den Hauptabnehmern von Metallen und mithin der treibenden Kraft für den Nachfrageanstieg werden sich China und Indien entwickeln. „Langfristig erwarten wir einen Verbrauchsanstieg für Nickel aufgrund des Produktionsanstiegs von Edelstahlen in China und Indien sowie des Verbrauchsanstiegs nickelhaltiger Legierungen in der Luft- und Raumfahrt, dem Energiewesen und der Automobilin-

Wer am meisten Rohstoffe verbraucht QUELLE: DIE DEUTSCHE ROHSTOFFAGENTUR (DERA), 2011

Die Nickelproduktion ist ein bedeutender Faktor für Russlands Wirtschaft. Ein weltweiter Nachfragerückgang sorgt deshalb für Unruhe. Allerdings sind die langfristigen Prognosen gut.

dustrie“, sagt Berlin. Auch der weltweite Kupferverbrauch werde langfristig steigen, vor allem aufgrund der gestiegenen Industrieund Bedarfsgüterproduktion in China. Mit dieser Einschätzung

stimmen auch die internationalen Analysten überein. Nach Angaben des Forschungsinstituts CRU wird bis zum Jahr 2015 allein der Anteil Chinas 45 Prozent des Kupferverbrauchs ausmachen.


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Wirtschaft

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Stadtentwicklung Moskau verdoppelt seine Fläche – und hofft auf neue Investitionen

AKTUELL

Urbaner Befreiungsschlag

Russland schafft Ölriesen

Anfang Oktober stellte Moskaus Stadtregierung auf der größten europäischen Messe für Gewerbeimmobilien, der Expo Real in München, das Projekt „Groß-Moskau“ vor. SOFJA IWANOWA FÜR RUSSLAND HEUTE

WIRTSCHAFTSKALENDER

Ost-Ausschuss feiert Jubiläum Ende Oktober feierte der OstAusschuss der Deutschen Wirtschaft in Berlin sein 60. Jubiläum. Er wurde 1952 gegründet, um die Interessen der deutschen Wirtschaft in Osteuropa zu vertreten. An der Festveranstaltung nahmen unter anderem Angela Merkel und der russische Vizepremier Igor Schuwalow teil.

NIJAZ KARIM/NIKOLAJ KOROLJOW

Seit dem 1. Juli 2012 ist das Territorium Moskaus auf das 2,5-Fache angewachsen, indem 148 000 Hektar des umliegenden Gebiets eingegliedert wurden. Auf einen Schlag gelangte Moskau damit vom elften auf den sechsten Platz unter den größten Städten der Welt. Was die Bevölkerung angeht, bleibt die Metropole allerdings auf Platz sieben, weil auf der angegliederten Fläche bislang nur 250 000 Menschen leben. Das soll sich jedoch ändern. Auf dem neuen Stadtgebiet sollen laut Sergej Tscherjomin, Leiter des Moskauer Departments für außenwirtschaftliche und internationale Beziehungen, Immobilien mit einer Fläche von bis zu 100 Millionen Quadratmetern entstehen. Für die Umsetzung ihrer Pläne hofft die Moskauer Stadtregierung auf private Investitionen. Die Anziehungskraft der russischen Hauptstadt auf ausländische Investoren wird durch die Statistik belegt. Alleine im ersten Halbjahr 2012 wurden 33 Milliarden Euro von ausländischen Unternehmen investiert. Laut einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young belegt Moskau den siebten Platz unter den europäischen Städten, die am attraktivsten für Investoren sind. Die wichtigsten Anleger stammen aus der Schweiz, Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich und Zypern. Deutschland liegt mit etwas über einer Milliarde USDollar auf dem sechsten Platz. Am begehrtesten sind der Groß- und Einzelhandel, die Telekommunikation, die Produktion von Hardund Software für den städtischen Bedarf sowie die Logistik. „Wenn die Rede vom Investitionsklima und von den wirtschaftlichen Aussichten in der Stadt ist, sehen wir mit ruhigem Gewissen in die Zukunft“, versichert Sergej Tscherjomin. „Moskau verfügt auch weiterhin über eine sehr gute Bonitätsbewertung. Die bekannten Ratingagenturen geben der wirtschaftlichen Entwicklung eine positive und stabile Prognose für die nahe Zukunft.“ „Vor ein paar Jahren habe ich den Zustand des europäischen Marktes analysiert und kam zu dem Schluss, dass Russland, und da in erster Linie Moskau, beste Vo-

Der mehrheitlich staatliche Ölkonzern Rosneft hat den Konkurrenten TNK-BP für 61 Milliarden Dollar (knapp 47 Milliarden Euro) gekauft und ist nun der größte börsennotierte Ölproduzent der Welt. 2011 förderten die Firmen zusammen täglich über vier Millionen Barrel Öl. Beobachter sehen in dem Kauf den Versuch, im Ölgeschäft ein ähnlich dominantes Unternehmen zu schaffen, wie es heute Gazprom für den Gasmarkt ist.

Die Vergrößerung Moskaus soll unter anderem die Transportprobleme der Hauptstadt lösen.

ZAHLEN

187

Quadratkilometer beträgt die Fläche, um die Moskau sich vergrößert hat. Damit ist die Stadt heute flächenmäßig die sechstgrößte der Welt.

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Milliarden Euro würde es kosten, den Vor schlag des französischen Architekturbüros Antoine de Grumbach et Associés über die nächsten 30 – 50 Jahre umzusetzen.

raussetzungen für Geschäfte bieten. In dieser Beziehung lässt sich nicht einmal China mit Russland vergleichen“, sagt auch Jürgen Worz, Vorstandsvorsitzender der German Management Group. „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich genug Interessenten finden werden, die in das ‚Neue Moskau‘ investieren wollen.“

Anfang 2012 rief die Moskauer Stadtregierung einen Wettbewerb für den Entwurf eines Entwicklungskonzeptes für das gegenwärtige und das zukünftige Moskau aus. Aus über 70 eingereichten Vorschlägen wählte eine internationale Expertenkommission neun Projekte aus. Diese wurden auch auf der Münchner Expo Real im Oktober vorgestellt. „Wir wollen, dass Moskau dem Wettbewerb mit anderen internationalen Hauptstädten standhält, damit das kreative Potenzial der Stadt erhalten bleibt“, sagt Darrell Stanford, Vorsitzender des

Urban Land Institute Russland, einer nichtkommerziellen Forschungseinrichtung, die sich mit Fragen einer verbesserten Grundstücksnutzungspolitik beschäftigt. „Doch dazu muss die Stadt nicht nur attraktiv für Investoren werden, sondern auch für seine Bewohner an Attraktivität gewinnen.“ Dieser Meinung ist auch Sergej Tscherjomin: „Für uns hat die Anwerbung international qualifizierter Fachkräfte nach Moskau große Bedeutung, und dafür nutzen wir alle Mittel. Unter anderem versuchen wir, das Investitionsklima zu verbessern und die Stadt zu einem bequemen und angenehmen Wohnort zu machen.“ In diesem Sinne legten die meisten der Wettbewerbsteilnehmer besonderen Wert auf die Lösung des Logistikproblems in der russischen Metropole und machten Vorschläge zur zukünftigen Entwicklung des Transportnetzes von Groß-Moskau. So sieht zum Beispiel das Architekturbüro Ricardo Bofill das größte Problem darin,

KONFERENZ OSTEUROPA WIRTSCHAFTSTAG

UNTERNEHMERREISE BIOENERGIE FÜR SÜDRUSSLAND

13. NOVEMBER, BERLIN, HAUS DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT

13.-16. NOVEMBER, DEUTSCHLAND

Harter Wettbewerb um die beste Lösung

dass „das momentane Planungssystem der heutigen Stadt an seine Grenzen gestoßen und die Ursache für den täglichen Verkehrskollaps ist. Dieses Modell gestattet es nicht, die notwendigen Bedingungen für ein hohes Wachstumstempo zu gewährleisten.“ Deshalb schlagen die Entwickler vor, das Transportsystem einer grundlegenden „Therapie“ zu unterziehen und erst danach das neue Stadtzentrum zu gestalten.

Finanzierungsfrage ungeklärt Urban Design Associates schlägt ein komplexes Eisenbahnexpresssystem unter gleichzeitiger Ausdehnung des U-Bahn-Netzes auf das Gebiet von Groß-Moskau vor. Alle Projekte sind auf 30 bis 50 Jahre ausgelegt, allerdings ist die Frage der Finanzierung noch nicht geklärt. Der preisgekrönte Entwurf des französischen Architekturbüros Antoine Grumbach et Associés etwa würde 187 Milliarden Euro in seiner Umsetzung kosten. Unklar ist auch, was aus dem ehrgeizigen Plan wird, die gesamte russische Regierung in das neue Gebiet umzusiedeln, um das traditionelle Moskauer Stadtzentrum zu entlasten. Der für den Städtebau zuständige stellvertretende Bürgermeister Marat Chusnullin erklärte dazu im September: „In jedem Fall wird das im Zuge des Wettbewerbs angehäufte Wissenskapital der Stadt von großem Nutzen sein.“

Mehr Investitionen aus Deutschland Deutsche Unternehmen treiben nicht nur Handel mit Russland, sie investieren auch immer mehr: Lagen die Direktinvestitionen 2007 noch bei 3,3 Milliarden Euro, betrugen sie 2011 nach Angaben der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer 8,2 Milliarden. Für 2012 wird ein neuer Rekord erwartet.

Doing Business wird leichter Im Doing-Business-Rating der Weltbank hat sich Russland innerhalb eines Jahres um acht Plätze verbessert – vom 120. auf den 112. Platz. Wladimir Putin fordert, bis 2018 müsse das Land mindestens Platz 20 erreichen. Das Rating bewertet die Bedingungen für Unternehmen.

Gas fließt jetzt durch zwei Röhren Ein knappes Jahr nach Fertigstellung der Nord Stream-Pipeline wurde Anfang Oktober die zweite Röhre des Projekts in Betrieb genommen. Die doppelte Pipeline kann nun bis zu 55 Millionen Kubikmeter Gas jährlich von Russland nach Deutschland pumpen.

SEMINAR STREITIGKEITEN MIT RUSSISCHEN PARTNERN – VERTRAGSGESTALTUNG

KONFERENZ 12. PETERSBURGER DIALOG 14.-17. NOVEMBER, MOSKAU

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

Alternative Energien spielen in Russland heute kaum eine Rolle. Aber die Attraktivität wächst, vor allem in der dezentralen Versorgung. Eine Gruppe russischer Unternehmer wird die Messe EuroTier in Hannover besuchen, deutsche Unternehmer können Unternehmensbesichtigungen anbieten.

14. NOVEMBER, HANNOVER, IHK

Der Ost- und Mitteleuropa-Verein kümmert sich vor allem um die Belange der mittleren Unternehmen. Auf den kompetent besetzten Panels des Wirtschaftstags geht es um Finanzierung, Ressourcenmanagement und Markterschließung.

Ein russlanderprobter Unternehmensberater beantwortet Fragen zu Vertragsabschlüssen mit russischen Partnern, Vermeidung von Verfahren vor russischen Gerichten und der Möglichkeit von Schiedsverfahren.

300 deutsche und russische Teilnehmer aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden sich in diesem Jahr erstmals in Moskau unter anderem mit den Herausforderungen des Informationszeitalters und der Zivilgesellschaft und Fragen der journalistischen Ethik beschäftigen.

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› osteuropa-wirtschaftstag.de

› exportinitiative.bmwi.de

› hannover.ihk.de

› petersburger-dialog.de



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Thema des Monats

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INTERVIEW HENRY REZNIK

UNSERE RICHTER SIND STAATSBEAMTE IN ROBEN HENRY REZNIK GILT ALS ANGESEHENSTER ANWALT RUSSLANDS. IM INTERVIEW ERZÄHLT ER, WARUM DIE GESETZE SO SCHLECHT UMGESETZT WERDEN – UND WIE AUCH „BESTELLTE“ PROZESSE NOCH GEDREHT WERDEN KÖNNEN Wie steht es um das Prestige juristischer Berufe in Russland? Traditionell haben bei uns das Gesetz und folglich auch die damit verbundenen Berufe kein hohes Ansehen. Es gilt der Mechanismus: Im Gedächtnis der Menschen bleiben in erster Linie negative Beispiele haften. Auf dieser Grundlage bildet sich dann die öffentliche Meinung. Da sind etliche Verfahren, bei denen die Schuldfrage nicht geklärt werden konnte, aber wo dennoch ein Schuldspruch gefällt wurde. Bei unseren Berufsrichtern findet die Unschuldsvermutung kaum Anwendung. Es gibt sehr viele politisch motivierte oder aber auch korrupte Verfahren. Und gerade diese Fälle werden landesweit bekannt. Man erinnert sich an sie,

sie bilden die Grundlage für das Bild, das man sich über unseren Berufsstand macht. Und wenn dann etwa der Fall Chodorkowski verhandelt wird und alle die eindeutige Ungerechtigkeit dieser Gerichtsfarce sehen, wird dieses Bild automatisch auf das gesamte Rechtssystem übertragen. Hier kann ein fauler Apfel den ganzen Korb verderben. Zeichnen sich unsere Gerichte immer noch durch ihren Hang zur Anklage aus? Ja, der repressive Ansatz ist immer noch vorhanden. Wenn ein Ankläger einen Prozessantrag stellt, wird dieser in über 90 Prozent der Fälle befürwortet. Die Richter sehen sich selbst nicht als Vertreter einer Judikative, als unab-

BIOGRAFIE

Henry Reznik wurde am 11. Mai 1938 in Leningrad geboren. In seiner Jugend feierte er als Volleyballer und Hochspringer Erfolge. Später studierte er Recht und arbeitete zunächst als Er-

mittlungsbeamter, später als Rechtswissenschaftler. Seit 1985 ist Reznik Anwalt in Moskau. Zu seinen Klienten gehören Prominente aus Politik und Wirtschaft ebenso wie Menschenrechtler. Seit 2002 ist er Präsident der Moskauer Anwaltskammer und heute nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM der angesehenste Anwalt des Landes.

hängige dritte Gewalt, so wie es in der Verfassung steht, sondern eher mit den operativen Polizeikräften, den Ermittlungsbehörden und der Staatsanwaltschaft als Teil einer Mannschaft, die die Interessen des Staates

vertritt. Eigentlich sind es Staatsbeamte in Roben. Damit sich in der Praxis etwas ändert, muss sich das Plenum des Obersten Gerichtshofs entsprechend positionieren. An ihm orientieren sich die Richter.

NATIONALITÄT: RUSSISCH ALTER: 74 BERUF: ANWALT

Wie im Falle des Geschäftsmannes Alexej Koslow gab der Oberste Gerichtshof das Verfahren zur Neuverhandlung an die untergeordnete Instanz zurück, was viele als direkten Hinweis auffassten, dass das ursprüngliche Urteil ungerecht gewesen sei. Dennoch revidierte die untergeordnete Instanz ihren ursprünglichen Beschluss nicht. Hier hat sich die Situation geändert, und zwar nicht zum Besseren. Zu Zeiten der Sowjetunion sahen die untergeordneten Instanzen die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs als maßgebend an. Doch für eine Reihe unserer heutigen Gerichte, zum Beispiel auch für das Moskauer Landesgericht, ist die Meinung von Geheimdienst, Innenministerium und Staatsanwaltschaft von größerer Bedeutung. Aber den konkreten Fall Koslow kann ich nicht kommentieren, da ich zu Verfahren, in die ich persönlich nicht involviert war, keine Stellung beziehe. Ausnahmen mache ich sehr selten, wie zum Beispiel beim Fall Pussy Riot. Die Behörden haben sich hier äußerst unklug benommen. Es ging nicht darum, etwas zu beweisen, sondern um die juristische Beurteilung einer Tat. Das ist ein beispielloses juristisches Know-how, das ich selbst in der Sowjetunion nicht erlebt habe. Ich habe einen Artikel verfasst: „Apotheose der Ungerechtigkeit“. Wegen solcher Fälle verlieren unsere Gerichte den letzten Rest ihrer Unabhängigkeit und unterwerfen sich entweder den Interessen der Regierung, wie im Falle von Pussy Riot, oder aber biedern sich der öffentlichen Meinung an, wie im Fall Mirsajew.


Thema des Monats

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14. November 2012, Berlin, Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung › Mehr Infos: drjv.org

© WALERIJ LEWITIN_RIA NOVOSTI

Im vergangenen Jahr wurde auf Initiative von Dmitrij Medwedjew die Strafgesetzordnung in einigen Punkten liberalisiert. Hat sich in der Praxis etwas geändert? Ja, in manchen Dingen hat sich etwas geändert. Zum Beispiel wurde die Untersuchungshaft bei Wirtschaftsdelikten abgeschafft. Das bedeutet, dass die Zahl der Inhaftierten während der Voruntersuchungsverfahren um 20 Prozent gesunken ist. Die Wirtschaftsdelikte hatten sich schließlich in richtiggehende Futternäpfe für unsere Strafverfolger entwickelt: Es wurde ein Verfahren eingeleitet, der Unternehmer verhaftet und sein Gefängnisaufenthalt dafür genutzt, ihm das Unternehmen wegzunehmen oder ein entsprechendes Lösegeld von ihm zu verlangen. Das Entscheidende ist, dass die Ermittler nun keine formelle Möglichkeit mehr haben, sich direkt an das Gericht zu wenden. Zum anderen wird der Freiheitsentzug als Sanktion nun auch seltener verhängt und immer häufiger durch einen Strafbefehl ersetzt. Beides ist ausgesprochen positiv zu bewerten.

ITAR-TASS

Wo sind heute die jungen russischen Anwälte? Die Anwaltschaft eines jeden Landes, das in Richtung Marktwirtschaft geht, durchläuft die gleiche Entwicklung: Es bildet sich eine Anwaltschaft für die Geschäftswelt heraus. Und viele junge und begabte Anwälte treffe ich im Schiedsgericht und nicht etwa in den Gerichten der Zivilgerichtsbarkeit. Denn hier wird erstens besser gezahlt und zweitens gibt es mehr Möglichkeiten, sich als Anwalt zu etablieren. Wenn es um die talentierten jungen Anwälte geht, muss man also in den Schiedsgerichten suchen.

Nehmen wir Pussy Riot. Was kann ein Anwalt tun, wenn das Verfahren „bestellt“ ist, wenn das Ende des Prozesses schon am Anfang allen klar ist? Da stellt sich die Frage, auf welcher Ebene, in welcher Instanz es „bestellt“ wurde. In der ersten Instanz weiß der Richter, was er zu tun hat, bleibt aber ansonsten einigermaßen fair. Ihm wird gesagt, dass es einen Schuldspruch geben soll – und er schwächt ihn ein wenig ab. Aber das Leben ist lang:

Die russische Justitia vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs in Moskau hält die Augen immer offen – im Unterschied zu ihren Kolleginnen aus dem Abendland.

Es kommt die Berufung, die Zeit vergeht, die Situation ändert sich. Und es gibt die Revision: im städtischen Gericht, im Landesgericht, dann im Obersten Gerichtshof. Sehr viele „bestellte“ Gerichtsverfahren habe ich über die Revision gewonnen. Die Situation hatte sich eben geändert. Und in den Revisionsverfahren, bei denen die Gerichte meist unabhängig sind, wurden Entscheidungen getroffen, die wirklich alle verwundert haben ...

Woher kommen eigentlich in Russland die Richter? In Russland unterscheidet sich die Situation grundlegend von dem, was in Europa üblich ist. In Europa werden die Richterkollegien im Wesentlichen aus Anwälten und Juristen aus privaten Anwaltskanzleien gebildet. Dort geht man davon aus, dass der Richterposten der Höhepunkt der beruflichen Laufbahn ist. In Russland entstammt weniger als ein Prozent der föderalen Richter der Anwaltschaft. Wesentlich mehr Richter kommen aus der Exekutive und aus der Staatsanwaltschaft. Das ist ein Desaster! Diese Leute muss man nicht erst anrufen, um ihnen irgendwelche Hinweise oder Anweisungen zu geben – selbst wenn sie sich ihre Robe überziehen, verwandeln sie sich nicht in einen Richter, sie bleiben immer Staatsanwalt. Sie sind von vorneherein auf einen Schuldspruch eingestellt. Dieses Interview erschien im Magazin Russki Reporter

© ANDREJ STENIN_RIA NOVOSTI

Auftritt in Deutschland behandelt worden? In Berlin diskutieren der Strafverteidiger der Gruppe Nikolai Polosow, russische Priester, Kirchenrechtler und deutsche Juristen.

Der Geschäftsmann Aleksej Koslow (auf dem Foto mit seiner Frau, der Journalistin Olga Romanowa) wurde 2008 wegen Verdachts auf Unterschlagung von 33,4 Prozent der Aktien seines Partners Wladimir Sluzker, damals Senator der Republik Tschuwaschien, festgenommen und 2009 zu acht Jahren Haft verurteilt. Der

Oberste Gerichtshof veranlasste eine Wiederaufnahme des Verfahrens. 2012 wurde Koslow erneut verurteilt – zu fünf Jahren Haft. Der Prozess erhielt große Resonanz, nachdem Romanowa im Internet das Gefängnistagebuch ihres Mannes veröffentlicht hatte. Sie ist überzeugt, dass das Verfahren von Sluzker gesteuert wurde.

Der Fall Mirsajew Im Sommer 2011 schlug Ruslan Mirsajew, ein aus Dagestan stammender Kampfsportweltmeister, im Zuge eines Streits vor einem Moskauer Club den neunzehnjährigen Studenten Iwan Agafonow nieder. Dieser starb drei Tage später. Ein halbes Jahr später verkündete ein Moskauer Gericht ein Urteil, das in der russischen Öffentlichkeit Wogen schlug: Mirsajew sollte gegen eine Kaution aus der U-Haft entlassen werden. Einen Tag später hob ein anderes Gericht das Urteil auf. Nach mehreren Expertisen zieht sich nun der Prozess in die Länge, Mirsajew ist weiter in Untersuchungshaft.

ITAR-TASS

Die Deutsch-Russische Juristenvereinigung (DRJV) lädt zu einer Diskussion über Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit aus deutscher und russischer Sicht. Was bedeutet der Straftatbestand „Rowdytum“, aufgrund dessen Pussy Riot verurteilt wurden? War das Verfahren objektiv und fair? Wie wäre der

Der Fall Koslow

Der Fall Pussy Riot

KOMMERSANT

Pussy Riot im deutschen Blickwinkel

DIE WICHTIGSTEN PROZESSE 2012

Am 21. Februar 2012 sangen Mitglieder der Punkband Pussy Riot in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale ein „Punkgebet“ und riefen dabei: „Heilige Muttergottes, vertreibe Putin!“ Wenig später erschien im Internet ein Musikclip mit ihrem Auftritt. Im März wurden drei Bandmitglieder verhaftet. Umfragen zufolge befür-

wortete der Großteil der russischen Bevölkerung eine Verurteilung der Künstlerinnen. Amnesty International erklärte die Frauen zu politischen Gefangenen. Im August wurden sie wegen religiös motivierten Rowdytums zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das Urteil gegen eine der Frauen wurde in eine Bewährungsstrafe umgewandelt.

Wie richtet die Justiz in Russland? Delikt QUELLE: STATISTIK DES OBERSTEN GERICHTSHOFS

Kann man Judikative und Exekutive nicht gesetzlich besser voneinander trennen? Im Strafrecht müssen Geschworenen- oder Schöffengerichte etabliert werden. Normale Gerichte sprechen etwa ein Prozent der Angeklagten frei, Geschworenengerichte dagegen 15 bis 16 Prozent. Außerdem müssen alternative Methoden der Streitschlichtung wie Mediationsverfahren und Schiedsgerichte weiterentwickelt werden. Die Gesetzgebung selbst ist bei uns gar nicht so schlecht, nur an der Umsetzung hapert es.

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Verurteilt im Jahr 2011*

Freigesprochen im Jahr 2011*

Totschlag ohne mildernde Umstände

81,51 %

1,04 %

Raub

74,46 %

0,04 %

Mutwillensdelikte

65,28 %

0,48 %

Banditismus

59,74 %

3,35 %

Bestechung

94,67 %

0,45 %

Bestechlichkeit

81,54 %

2,58 %

Wirtschaftskriminalität

79,21 %

0,94 %

Amtsdelikte

79,63 %

4,49 %

Straftaten gegen einen Amtsträger

83,13 %

0,19 %

*FEHLENDE PROZENTE ERGEBEN SICH AUS DEN PROZESSEN, BEI DENEN ES BIS ZUM JAHRESENDE ZU KEINEM URTEIL KAM.


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Gesellschaft

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Innovation Ein neues Internetportal will die alltägliche Korruption in Russland publik machen und ausmerzen

Eine App gegen die Bestechlichkeit Jeder dritte Autofahrer in Russland zahlt Schmiergelder an die Straßenpolizei.

ZITATE

Jewgenija Kujda

PRESSEBILD

GRÜNDERIN DES INTERNETPORTALS BRIBR.ORG

"

ITAR-TASS

Zu schnell gefahren, Schmiergeld bezahlt – weitergefahren, Bestechung gemeldet. Die Macher von Bribr.org wollen das Bewusstsein der Russen für die Alltagskorruption schärfen.

Wem und wie viel gezahlt wird

DARJA LUGANSKAJA MOSKOWSKIJE NOWOSTI

Bakschisch für den Professor Auf der Internetseite Bribr.org zeigt eine Statistik die bisher aufgedeckten Bakschischzahlungen: Seit dem 24. September wurden dreieinhalb Millionen Rubel, umgerechnet 85 000 Euro, an Schmiergeldern auf der Seite verewigt. Einen Großteil der Benutzeroberfläche nimmt eine Russlandkarte ein, auf der die entsprechenden „Übergabestellen“ verzeichnet sind. „Crowdmapping“ heißt der englische Fachausdruck. „Korruption ist eines der Hauptprobleme in Russland“, schildert Bribr-Gründerin Jewgenija Kujda ihre Motivation für das Internetportal. „Aber interessanterweise richtet sich die Wut der Leute nur

"

Derzeit ist das Projekt ehrenamtlich. Um ein wirksames Instrument daraus zu machen, das mehr ist als ein kurzlebiges Spielzeug, brauchen wir Geld, allerdings nicht sehr viel. Unser Enthusiasmus für dieses Projekt könnte irgendwann nachlassen. Optimal wäre dann eine Finanzierung über Crowdfunding."

QUELLE: BRIBR.ORG

Anfang Oktober 2012 gingen die Internetseite und die App von Bribr an den Start. Wer die App herunterlädt, kann in Echtzeit Fälle von Bestechung melden. Gleichzeitig unterstreichen die Entwickler den unpolitischen Charakter ihres Projekts: Ihr Ziel sei der Kampf gegen Alltagsbestechlichkeit und nicht die Enthüllung großer Fälle. Und so funktioniert Bribr: Der Nutzer lädt die App auf sein iPhone und berichtet anonym, dass er zum Beispiel durch Zahlung eines bestimmten Betrags um eine Strafe für überhöhte Geschwindigkeit herumgekommen ist. Er gibt die Höhe des Betrags an und kreuzt eine bestimmte Kategorie für seinen Fall an. In diesem Fall die Polizei. Auch der Ort der Schmiergeldzahlung kann genannt werden. Ansonsten bleibt alles anonym.

Ich will ehrlich sein: Als ich in Moskau gelebt habe, bin ich auch gelegentlich auf den Gedanken gekommen, irgendjemanden zu schmieren. Ich bin Autofahrerin, und natürlich gab es Momente, in denen ich 500 Rubel abdrücken musste. Mir war dann schon klar, dass es nicht in Ordnung ist, aber das Gefühl, etwas wirklich Unrechtes oder Verabscheuungswürdiges zu tun, kam nie auf. Meine Freunde haben die gleiche Einstellung. Ich habe die letzten beiden Jahre in London studiert. Für einen Engländer stellt sich diese Frage erst gar nicht, wie er einem Beamten eine bestimmte Geldsumme rüberschieben kann. Oder einem Polizisten. Das ist mindestens so anstößig, wie in einer vornehmen Bar die Hosen herunterzulassen."

Woher die Idee von bribr.org stammt Bribr ist nicht die einzige Seite im Web, die Fälle von Korruption im Alltag aufdeckt. Vzyatka.crowd-map.com (Wsjatka zu Deutsch: Bestechung) musste allerdings nach zwei Monaten wegen fehlender Resonanz aufgeben, gerade einmal 20 Fälle waren eingegangen. Die Seite rospil.info des oppositionellen Bloggers Alexej Nawalnij dokumentiert dagegen nur die Korruption bei staatlichen Aufträgen. Auch in anderen Ländern gibt es Antikorruptionsinitiativen im Netz. In Indien existiert die Crowdsourcing-Seite ipaidabribe.com schon seit dem Sommer 2010. Dort wurden bislang gut 21 000 Fälle und 537 791 296 Rupien (sieben Millionen Euro) registriert.

Statistisch ist das Projekt bislang wenig aussagekräftig: Nur Besitzer eines iPhones können daran teilnehmen.

gegen hohe Beamte: Sich selbst sparen sie aus.“ Dabei gehört Bestechlichkeit seit Jahr und Tag zum russischen Alltag. Ein Blick auf Bribr zeigt, dass nicht etwa Korruption im Amt – zum Beispiel beim Einwohnermeldeamt oder im Gericht – die Liste der häufigsten Fälle anführt: Fast ein Drittel der Bestechungsfälle werden aus Bildungseinrichtungen gemeldet, wo es meist darum geht, den Ausgang einer Prüfung positiv zu beeinflussen. Auf dem zweiten Platz des Rankings liegen „Spenden“, die großzügig veranlasst werden, um ein Kind im Hort unterzubringen. Doch wie bei allen Crowdmappings ist Vorsicht geboten. Denn die Meldungen sind statistisch wenig aussagekräftig. In seinem Manifest macht das Bribr-Team darauf aufmerksam, dass es die Authentizität der Meldungen nicht garantieren könne, aber mit dem Verantwortungsbewusstsein der Nutzer rechne. Alle eingehenden Berichte würden moderiert – absurde Meldungen herausgefiltert, Spams gesperrt. „Wir gehen nicht von hundertprozentiger Ehrlich-

keit aus. Wir wollen die Menschen informieren und auf spielerische Art erreichen, dass sie Verantwortung für ihr Tun übernehmen“, erklärt Kujda.

Nullrubelschein zum Download Die Macher von Bribr hegen die hehre Absicht, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Korruption etwas Negatives ist. Dafür haben sie etwa Banknoten mit einem Nominalwert von null Rubeln entworfen, die man herunterladen, ausschneiden und zur „Bestechung“ von Verkehrspolizisten einsetzen kann. Demnächst ist auch eine Version für Nokia- und Android-Mobiltelefone geplant. Für die Zukunft sucht das Team, das bislang ehrenamtlich arbeitet, die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Zentrum für Antikorruptionsforschung sowie Transparency International. Die Expertengemeinschaft und namhafte Antikorruptionsaktivisten schätzen die Zukunft von Bribr jedoch zurückhaltend ein. „Das Projekt ist zwar interessant, aber doch sehr spezifisch.

Und es richtet sich nur an einen ausgesuchten Kreis, der das teure iPhone besitzt“, sagt Iwan Begtin, Direktor der gemeinnützigen Organisation „Informazionnaja kultura“. „An Bribr habe ich vor allem zwei Fragen. Erstens: Wie werden Sie gefälschte Mitteilungen aufdecken und herausfiltern? Zweitens: Wann gibt es eine Version für Android?“

Kritik von der Konkurrenz Auch die Macher von RosPil, Antikorruptionsportal des Oppositionsführers Alexej Nawalny, sehen das Projekt kritisch: „Die Schöpfer lehnen es aus irgendeinem Grund ab, große Schmiergeldzahlungen zu berücksichtigen, von denen bereits eine einzige die Statistik mit einem Schlage verändern würde. Das verfälscht die Problematik. Großangelegte Wirtschaftskorruption kann sich hinter kleinen, alltäglichen Bestechereien verstecken“, ärgert sich RosPil-Jurist Andrej Mischenko. Der Text erschien in der Zeitung Moskowskije Nowosti


Meinung

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EIN RECHTSTAAT ZU 80 BIS 85 PROZENT Florian Roloff RECHTSANWALT

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SERGEJ JOLKIN

ie Diskussionen über den Pussy-Riot-Prozess haben tiefe Gräben aufgeworfen. In einem Forum deutscher und russischer Experten las ich neulich einen Kommentar zur „absoluten Verrottetheit des russischen Gerichtssystems“. Als Rechtsanwalt mit Blick auf das russische Rechtssystem teile ich eine solche pauschalisierte Aussage nicht. Es gibt durch nichts zu rechtfertigende Urteile, die durch politische Einflussnahme oder Korruption zustande kommen. Es gibt aber auch eine „Brot-und-ButterRechtsprechung“, die wie in allen Rechtssystemen der Welt mehr oder weniger gut funktioniert. Seit dem Zerfall der Sowjetunion drängen junge, gut ausgebildete und engagierte Juristen, oft mit Auslandserfahrung, in die Wirtschaft und die klassischen juristischen Berufe wie Richter, Rechtsanwalt, Firmenjurist. Sie prägen das Rechtssystem. Die Gesetzgebung stellt, gerade in dem für die Wirtschaft wichtigen Bereich des Zivil- und Wirtschaftsrechts, moderne Verfahrensordnungen zur Verfügung, die den Vergleich mit dem deutschen System nicht scheuen müssen. Beispiel: Trotz mehrerer Instanzen gelangt man in Russland in der Regel innerhalb eines Jahres zu qualitativ guten Urteilen und hat ein akzeptables Kostenrisiko. Wer

Viele russische Zivilgerichte veröffentlichen alle Urteile im Volltext frei zugänglich auf ihren Websites. einmal in Deutschland mehrere Jahre auf seine Berufungsentscheidung gewartet hat, weiß dies ebenso zu schätzen wie jener, der wegen der sehr hohen Kosten, beispielsweise im englischen Rechtssystem, von vornherein darauf verzichtet, sein Recht zu suchen. Das mangelnde Vertrauen der russischen Bevölkerung in das Rechtssystem dürfte vor allem auf

der Angst vor Korruption beruhen. Diese versucht der Staat in den letzten Jahren mit einer Reihe von Maßnahmen einzudämmen. Die Richtergehälter wurden in den letzten Jahren stark angehoben. Derzeit wird eine erneute Erhöhung um rund 30 Prozent diskutiert. Mit gewissen Abschlägen ist die Vergütung mit jener deutscher Richter vergleichbar. Das Internet sorgt für eine Transparenz, die in Deutschland undenkbar wäre: Viele Zivilgerichte, darunter alle Gerichte der Wirtschaftsgerichtsbarkeit, veröffentlichen frei zugänglich auf ihren Websites alle Urteile im Volltext – einschließlich der Namen der Parteien, der Ladungen, Verfügungen usw. Auf mancher

Gerichtswebsite kann man sich durch einen Klick über Einkommen, Autotyp, Haus und Wohnung jedes einzelnen Richters und seiner Familienangehörigen informieren. Auch wenn diese völlige Transparenz aus deutscher Sicht aus datenschutzrechtlichen Gründen bedenklich erscheinen mag, dürfte sie ein guter Schritt im Sinne der Korruptionsbekämpfung und besserer Qualität der Urteile sein: Richter, deren Entscheidungen grundsätzlich veröffentlicht werden, haben einen größeren Anreiz zu mehr Qualität. Und es wird sehr schwierig, Richter unbemerkt durch zwei oder drei Instanzen zu „schmieren“. Ein deutscher, in Moskau tätiger Kollege berichtete mir von einer informellen Umfrage unter in Russland tätigen deutschen und russischen Anwälten. Nach der – nicht repräsentativen – Umfrage wurde geschätzt, dass 15 bis 20 Prozent der Urteile in der ersten Instanz der Wirtschaftsgerichte „beeinflusst“ werden. Ob das viel oder wenig ist und man die gewagte Aussage treffen kann, dass Russland zu 80 bis 85 Prozent ein Rechtsstaat ist, mag jeder für sich beurteilen. Jedenfalls zeigt sich, dass das russische Rechtssystem jenseits politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme Fortschritte verzeichnet. Ich wünsche ihm, dass es sich ungeachtet der politischen Rahmenbedingungen weiter in die Richtung eines Rechtsstaates bewegt, der seinen Namen zu 100 Prozent verdient. Der Autor ist Anwalt in Hamburg und absolvierte sein Referendariat unter anderem am Obersten Gericht Russlands. Er betreut eine Vielzahl russischer Mandanten und ist Vorstandsmitglied der DeutschRussischen Juristenvereinigung.

NUN MÜSSEN TATEN FOLGEN Maria Eismont JOURNALISTIN

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er russische „Koordinationsrat der Opposition“ ist aufgestellt. Über 80 000 Menschen haben Ende Oktober im Internet abgestimmt, welche 45 Politiker die Interessen der außerparlamentarischen Opposition vertreten sollen. Auf Platz eins wurde der Blogger Alexej Nawalny gewählt, auf Platz zwei der Schriftsteller Dmitri Bykow, auf Platz drei der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow. Auch die meisten anderen Mitglieder des Koordinationsrats sind hinlänglich bekannt. In diesem Sinne war die Wahl eine Enttäuschung: Kaum einer der Wähler hatte sich offenbar ernsthaft mit den Kandidaten auseinandergesetzt, mit ihren Zielsetzun-

gen und politischen Ambitionen. Dabei gab es darunter viele neue und interessante Gesichter. Aber die Abstimmung war dennoch ein Erfolg: weil wir geübt haben, wie man ehrliche und transparente Wahlen durchführt. – Auch wenn man nicht so glücklich über das Ergebnis sein mag: Sie waren fair. So haben eben jene 80 000 abgestimmt, die sich auf der Seite der Wahlkommission angemeldet und ausgewiesen haben. Das größte Problem bestand wahrscheinlich darin, dass viele, die prinzipiell oppositionell gestimmt sind und an den Demonstrationen des letzten Jahres teilgenommen haben, nicht von der Wichtigkeit der Wahl überzeugt waren. Andere hatten Vorbehalte und waren misstrauisch. Es gibt bei uns Russen diesen Satz: „Besser nicht mitmachen – nachher wird es wieder gegen mich ausgelegt oder ist ein Reinfall.“

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Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redaktion dar.

Da ist auch ein Lerneffekt im Zuge dieses Wahlexperiments. Der Skandal um Zehntausende Mitglieder einer Finanzpyramide, die den Wahlausgang durch ihre Stimmen manipulieren wollten

Die Abstimmung war ein Erfolg: weil wir geübt haben, wie man ehrliche und transparente Wahlen durchführt. und dann von der Abstimmung ausgeschlossen wurden, hat gezeigt, dass es von vornherein klare Regeln geben muss, wer als Wähler zugelassen ist. Die „neuen“, politisch zum Teil unerfahrenen Kandidaten haben gelernt, dass sie sich stärker

exponieren müssen, um sich gegen prominente Oppositionelle durchzusetzen. Wichtigstes Ziel der Wahl war, einen legitimen Rat zu schaffen, der sich für die Belange der Opposition einsetzt. Seine Legitimation erlangte der Rat allerdings nicht allein durch die Abstimmung, nun geht es um die Umsetzung seiner Ziele: indem er die Interessen der Menschen im Land vertritt und sich etwa für die Oppositionellen einsetzt, die bei den Maiunruhen verhaftet wurden. Davon vor allem wird abhängen, wie viele Menschen im nächsten Jahr an den Wahlen teilnehmen und für wen sie ihre Stimmen abgeben werden. Maria Eismont ist Journalistin des Onlinejournals publicpost.ru und Kolumnistin der Tageszeitung Wedomosti.

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky; Gastredakteur: Moritz Gathmann Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114 Artdirector: Andrej Shimarskiy Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa

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REFLEKTIERT

Der Glaube ans Gesetz Der Ulenspiegel ZEITZEUGE

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as Heilige Römische Reich Deutscher Nationen, 1806 von Napoleon liquidiert, verfügte über wunderliche Institutionen. Eine davon war das Reichskammergericht. Jeder Untertan, der sich von seinem Landesherren übervorteilt fühlte, konnte sich an diese Instanz wenden. Auch wenn manche Prozesse sich über ein Jahrhundert hinzogen, die Urteile galten als fair. Historiker meinen, dass hier ein Grund für den Glauben der Deutschen an Recht und Gesetz liegt, aber auch für ihre Toleranz gegenüber der Bürokratie. Deutsche Bürokraten sind gefürchtet, russische Bürokraten ebenfalls – aus unterschiedlichen Gründen. Der deutsche Beamte nimmt das Gesetzbuch, schlägt es auf und pocht mit dem Zeigefinger auf den entsprechenden Paragraphen: „Da steht es geschrieben, so muss es gemacht werden, so und nicht anders!“ Sein russischer Kollege hält das Gesetzbuch fest und grinst den Bittsteller an: „In diesem Buch stehen viele sehr unangenehme Dinge. Es ist besser, wir beide einigen uns gütlich …“ Manchmal kann die russische Variante die angenehmere sein, ist man als Deutscher geneigt zu glauben, wenn man mal wieder vergeblich versucht hat, mit sturen Beamten zu diskutieren. Letztlich läuft es in beiden Fällen darauf hinaus, wie viel Geld jemand für den Schutz seiner Rechte aufbringen kann: in Russland in Form von Schmiergeldern und in Deutschland für Gebühren, Anwaltshonorare und Versicherungen. Die Juristen nehmen sich, was sie als das Ihre sehen, so oder so. Natürlich ist das eine relativierende Betrachtungsweise. Es macht einen Unterschied, ob die Gelder am Ende in der Staatskasse landen oder in den Taschen kleiner und großer Amtsträger. Und es macht auch einen Riesenunterschied, ob man in einem einigermaßen klaren rechtlichen Rahmen agieren kann oder in einem System, in dem noch vieles im Fluss ist. Wenn die Mehrheit der Bürger davon ausgeht, dass die Rechtspflege in erster Linie eine Quelle der persönlichen Bereicherung ist, bleibt am Ende nur der Appell an den Zaren. Darum hilft Putin vor laufender Kamera gerne Bürgern, die sich von Behörden schikaniert sehen. Das wiederum ist eine Tradition, die tief in der russischen Geschichte wurzelt. Der Autor ist Experte für russisch-deutsche Spiegelungen.

Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Karelsky. Zu erreichen über Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschinerstraße 8, 81677 München Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


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Feuilleton

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Jazz Eddie Rosner liebte den Swing. Und der Swing liebte ihn – und rettete ihm mehrfach das Leben © ALEKSANDR MAKAROW_RIA NOVOSTI

Nach seiner Haftentlassung 1954 gründete Eddie Rosner erneut eine Big Band, die bald zur profiliertesten des Landes wurde.

de s Ja z zorchsters. 1954 wurde Rosner aus der Haft entlassen. Das kulturelle Tauwetter nach Stalins Tod galt auch für Jazzmusiker. Wieder half der alte Förderer Ponomarenko, der inzwischen Kulturminister geworden war. Für wenige Jahre konnte Rosner noch einmal an seine früheren Erfolge anknüpfen. Doch vieles konnte nur unter schwierigen Verhandlungen mit der Bürokratie realisiert werden. Rosners Stern war am Sinken.

Der Berliner Eddie Rosner war ein Großer des Jazz. Vor den Nazis nach Osten geflohen, wurde der Trompeter in der Sowjetunion zum Star – und dann zum Gulaghäftling. MAXIMILIAN PREISLER FÜR RUSSLAND HEUTE

Diesen Schritt konnten die sowjetischen Behörden dem Ausnahmemusiker nicht verwehren: Und so wurde, mitten im Krieg, aus Adolf Rosner Eddie Rosner. Rosner war vor dem Namensvetter geflohen, und nur mit viel Glück gelang ihm und seiner Familie die weitere Flucht vor der heranrückenden Wehrmacht. Als Jude und Jazzmusiker, als doppelt Verfolgter also, legte Rosner keinen großen Wert mehr auf den Namen Adolf. Erst für die deutschen Beamten im Entschädigungsamt, denen er seinen Lebenslauf niederschrieb, das war 1973, benutzte er später noch einmal seinen ursprünglichen Vornamen.

Ein Wunderkind aus Berlin Im sogenannten Scheunenviertel, einem schlecht beleumundeten Berliner Stadtteil unweit vom Alexanderplatz, wuchs ein Wunderkind heran. Adolf Rosner war gerade einmal sechs Jahre alt, als er, neben der Schulausbildung, umfangreichen Geigenunterricht erhielt und in das Stern’sche Konservatorium aufgenommen wurde. Nach erfolgreichem Abschluss be-

Russland HEUTE online

gann er, um Geld zu verdienen, als Trompeter aufzutreten – dieses Instrument hatte er gleichzeitig gelernt. Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre gelang es ihm, ein Engagement bei der damals schon weithin bekannten Musikund Revueband Weintraubs Syncopators zu erhalten. Bei den Dreharbeiten zum „Blauen Engel“ ist der junge Rosner auf Standbildern zu sehen, er scheute

Sogar Stalin, für den Rosner ein privates Konzert gab, goutierte diesen musikalischen Westimport. sich auch nicht, der Hauptdarstellerin Marlene Dietrich den Hof zu machen. Die allerdings gab ihm einen Korb. Rosner und die Weintraubs blieben bis Ende 1933 in Berlin, dann mussten sie ihren Auftritt im Berliner Wintergarten abbrechen, die Judenverfolgung hatte auch die populäre Band eingeholt. Den europäischen Erfolg allerdings konnten ihnen die Nazis nicht nehmen. Von Paris nach Krakau, von Belgien nach Italien, von Dänemark bis in die Niederlande führten die Tourneen. In Frankreich und in Polen jubelte man ihnen zu, in Warschau wurde Rosner als der Zar des polnischen Jazz apostrophiert.

BE.BRA VERLAG

Eddie Rosner: Ein Leben für den Jazz in unruhigen Zeiten Jazzfans in der KP Diese Zeit fand ein abruptes Ende mit dem deutschen Einmarsch in Polen. Rosner, inzwischen verheiratet, blieb nur die Flucht nach Osten, nach Lemberg und Bialystok. Der Grundstein für Rosners ungeheure Popularität während des Krieges wurde hier gelegt. Unterstützt wurde er immer wieder von Pantelejmon Ponomarenko, dem Ersten Sekretär der weißrussischen KP, einem Jazzliebhaber, der Rosner den Auftrag gab, ein staatliches Jazzorchester zu organisieren. Rosners Orchester nahm Platten auf und fuhr mit einem Sonderwagen der Eisenbahn zu Auftritten überall in der Sowjetunion. Zusammen mit seiner Frau Ruth genoss Rosner privilegierte Lebensverhältnisse. Sogar Stalin, für den er ein privates Konzert in Sotschi gab, goutierte diesen musikalischen Westimport.

Ein Mythos an der Trompete

Ein Ende in Vergessenheit CD Die Doppel-CD „100 Years of Eddie Rosner. Meeting Song“ mit seiner Big Band kam 2010 bei dem ehemals sowjetischen Label „Melodija“ heraus.

BUCH Das Buch „Von Hitler vertrieben, von Stalin verfolgt: Der Jazzmusiker Eddie Rosner“ von Gertrud Pickhahn und Maximilian Preisler erschien 2010 im be.bra wissenschaft verlag. 169 Seiten

Von Sotschi nach Magadan

haft für Eddie Rosner, fünf Jahre Verbannung für seine Frau. Es war der Anfang von Rosners Odysee durch den Gulag. Von 1947 bis 1949 lebte er im Lager in Chabarowsk an der chinesischen Grenze, später in der Stadt Komsomolsk. Seine Musik verhalf Rosner auch im Gulag zu größeren Überlebenschancen: Hier wie dort gelang es ihm, ein kleines Jazzorchester aufzubauen. Anfang der 50er-Jahre kam er nach Magadan und wurde dort ebenfalls Leiter

Doch mit Kriegsende fand auch das Glück des Entertainers ein jähes Ende. Die spätstalinistische Sowjetunion verschloss sich gegenüber westlichen Einflüssen. Das bekam Rosner hautnah zu spüren, dessen Musik in Zeitungen als „abgeschmackt“ und „billig“ verunglimpft wurde. Er versuchte mit seiner Frau die Flucht über die Grenze nach Polen, wurde jedoch festgenommen. Es folgte ein grausames Urteil: zehn Jahre Lager-

Soll die Visapflicht zwischen Russland und EU abgeschafft werden?

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Radio © IGOR ZAREMBO_RIA NOVOSTI

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Rosner versuchte, die Sowjetunion zu verlassen. Aber erst im Umfeld der Russlandreise des amerikanischen Präsidenten Nixon im Jahre 1972 gelang es ihm, eine Einladung in die USA zu erhalten. Nur für kurze Zeit blieb Eddie Rosner in Amerika, dann kehrte er zurück in seine Heimatstadt Berlin. Das war 1973. Und es war eine Heimkehr in die Fremde. Sein sprichwörtliches Glück verließ ihn nun endgültig. Er musste viel Kraft und Energie in die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Behörden und Gerichten stecken, um als Verfolgter Anspruch auf Rente zu erhalten. Es war ein Kampf gegen Windmühlen. Einige Freunde waren nicht mehr am Leben, andere schwiegen, wieder andere waren bis ans andere Ende der Welt gegangen, im Falle der Weintraub Syncopators war es Australien. Man kannte Eddie Rosner nicht mehr, und seine Musik, seine Revuen waren in Zeiten des Bebop, Cool Jazz und Free Jazz nicht mehr gefragt. Seine Liebe galt dem Swing, doch hierfür gab es noch nicht einmal Auftrittsmöglichkeiten. Rosner starb im Alter von 66 Jahren völlig überraschend am 8. August 1976 an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt.

Stimme Russlands Die Frequenzen finden Sie auf

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Feuilleton

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Kino Zwei Festivals bringen im November Unbekanntes aus den Filmstudios Osteuropas

LESENSWERT

Neue Welle im russischen Kino

Von Öl und Rentieren

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Seit Andrej Swjaginzews „Die Rückkehr“ 2003 den „Goldenen Löwen“ holte, haben russische Filmemacher neues Selbstvertrauen. Aktuelle Filme gibt es in Berlin und Cottbus zu sehen. BALTHASAR VON WEYMARN FÜR RUSSLAND HEUTE

Verräter oder Held? Sergej Loznitsas „Im Nebel“ verfolgt das Schicksal eines Bahnarbeiters, der unter deutscher Besatzung 1942 zusammen mit einigen Kameraden der Sabotage verdächtigt wird. Als die Saboteure gehängt werden, er aber gehen darf, wird er bald darauf von einem Exekutionskommando der Partisanen aufgesucht. Für diese steht außer Frage, dass er ein Verräter ist und deshalb freigelassen wurde.

© RIA NOVOSTI

Ein Mann steht wartend an einer Hausecke in der Dämmerung und raucht eine Zigarette. Ihm entgegen kommen, ohne bedrohliche Absicht, vier Jugendliche. Einer ruft einen Gruß. Der Mann zieht blitzschnell eine Pistole und erschießt die vier. Das nächste Mal sehen wir ihn entspannt im Vorraum einer Sauna am Tisch bei gesalzenem Fisch und Bier, wie er einem Freund erzählt, er habe letzte Nacht ein paar Bastarde erschossen, dann sei er zur Beichte gegangen. Es ist die Anfangsszene aus Alexej Balabanows „Ich will auch“, dem Abschlussfilm des diesjährigen Cottbusser Filmfestivals. Im Programm finden sich dieses Jahr unter einer Auslese anderer osteuropäischer Filme mehrere Vertreter der russischen Neuen Welle, zu deren Paten Balabanow gezählt wird. Michail Segals „Erzählungen“, ein Film, der sowohl in Cottbus als auch auf der Russischen Filmwoche in Berlin Anfang Dezember zu sehen sein wird, nutzt eine Fabel, um Nadelstiche zu setzen: vier Kurzgeschichten, abgegeben von einem jungen Schriftsteller in einem Verlagshaus, beginnen die Leben der Menschen zu verändern, die sie lesen.

Cottbus und Berlin Am Anfang war „Die Rückkehr“ von Andrej Swjaginzew. Vom 6. bis zum 11. November öffnet das Festival des osteuropäischen Films in Cottbus zum 22. Mal seine Tore. Freunden des russischen Kinos ist ein Thementag gewidmet: der „Russkij Djen“ am 7. November.

Wegschauen oder Hinsehen? Frei von Schuld bleiben oder das persönliche Glück suchen? Eine klare Position bezieht „Winter, geh weg“, eine dokumentarische Anthologie von zehn Moskauer Regieschülern über die Protestbewegung des letzten Winters. Doch was zeichnet die Neue Welle aus? Ist sie, wie der Name suggeriert, ein Pendant zur französischen Nouvelle Vague der 60er-Jahre?

› filmfestivalcottbus.de

Vom 28. November bis 5. Dezember zeigt die 8. Russische Filmwoche in Berlin die Vielfalt des aktuellen russischen Kinos. Eröffnung ist im Kino International.

Jenseits des Mainstream Das sowjetische Filmgeschäft war stark reglementiert, Regisseure wussten, an welche Vorgaben sie sich zu halten hatten. Als sich 1991 auch die rein staatliche Filmindustrie auflöste, wuchsen Filmemacher heran, die ohne staatliche Regeln, aber auch ohne staatliche Unterstützung auskommen mussten. Regisseure wie Andrej Swjaginzew („Die Rückkehr“), Boris Chlebnikow („Verrückte Rettung“), Awdotya Smirnova („Kokoko“) und

› russische-filmwoche.de

Auch dieser Film gefällt durch seine andere Perspektive – es geht nicht um eine Neuauflage antideutscher Antagonismen, sondern um einfache Menschen vor großen Fragen: Überleben oder Prinzipien folgen?

KULTURKALENDER

IMPRESSION

Auf Dostojewskis Spuren

AUSSTELLUNG KÄTHE KOLLWITZ UND RUSSLAND ... EINE WAHLVERWANDTSCHAFT? 26. OKTOBER 2012 BIS 20. JANUAR 2013, KÄTHE-KOLLWITZ-MUSEUM BERLIN

„Russland berauschte mich“, notierte Käthe Kollwitz über das zehnjährige Jubiläum der Oktoberrevolution in ihr Tagebuch. Ihrem Bezug zu Russland und der dortigen Rezeption widmet sich die Ausstellung. › kaethe-kollwitz.de

Igor Rothmann, einstmals erfolgreicher Bauingenieur in der Sowjetunion, hat sein Business aufgegeben und kam nach Baden-

Baden, um bei Tochter und Enkelkind zu sein. Er musste sein Leben von vorne beginnen und hart für seinen Erfolg kämpfen.

JURIJ LEPSKIJ_RG

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AUSSTELLUNG YULIA KAZAKOVA „LEFTOVER WE“

Michail Segal verbindet inhaltlich und stilistisch nur das Anderssein und die Umstände, unter denen sie ihre Filme machen. Etwa seit 2009 werden ihre Arbeiten als „Neue Welle“ bezeichnet. Mit den französischen Regierebellen der 60er verbindet sie die Bereitschaft zum Film jenseits des Mainstream und die Lust am Experiment. Anders als Chabrol und Godard in Frankreich sind die Namen der russischen Regisseure jedoch nicht allgemein bekannt. Ihr Blick auf die Gegenwart und die Vergangenheit Russlands ist frei von der lange vorherrschenden Selbstglorifizierung. Auf internationalen Filmfestivals sind sie gern gesehen, aber Publikumserfolge werden ihre Filme zu Hause eher selten, den Kinobesuchern erscheinen sie zu deprimierendrealistisch, schließlich können die Russen die in den Filmen gezeigte Gegenwart auch sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen.

an der Universität der Künste in Berlin. In ihrer Kunst vereint sie Malerei, Grafik und Fotografie. „Leftover We“ ist der Titel ihrer neuen Ausstellung. Angelehnt an die Kurzgeschichte „Explorers We“ von Philip K. Dick aus dem Jahr 1959 widmet sich Kazakova dieses Mal mit ihren Arbeiten dem Gefühl des Übrigbleibens. › hmbischoff.com

THEATER. KONZERT. KINO. RUSIMPORT 29. NOVEMBER BIS 9. DEZEMBER, BERLIN

Russische Künstler wie der Schriftsteller Dmitri Bykow oder die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa diskutieren mit ihren deutschen Kollegen über ihre Rolle in der Gesellschaft. Dazu gibt es aktuelles Theater und Kino aus Russland. Ort ist das Haus der Berliner Festspiele in der Schaperstraße. › berlinerfestspiele.de

3. NOVEMBER BIS 1. DEZEMBER, GALERIE HELGA MARIA BISCHOFF, BERLIN

Yulia Kazakova, 1980 in Moskau geboren, emigrierte mit 17 Jahren nach Leipzig und studierte später

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Bereits mit 27 macht einer, der als Journalist sein eigenes Sprachgeklapper, seine Lebensroutine nicht mehr erträgt, jene Erfahrung: „Mir wurde bewusst, dass ich in die Jahre gekommen war und sterben würde. Angst saß mir im Nacken.“ Was Wassili Golowanow, Schriftsteller und Journalist, geboren 1960, in seinem eben auf Deutsch erschienenen Roman „Die Insel“ vor uns entfaltet, ist die Suche nach eben jener Insel, die Suche nach dem Geheimnis und dem, was Reise bedeuten kann. Insel als Idee – mit ihrer Abgeschlossenheit, ihrer Andersheit – hat ihn immer fasziniert; und das Geheimnis, obwohl alles vermessen und kartiert erscheint und der Ich-Erzähler sagt: „Der Verlust des Geheimnisses ist unhintergehbar“, bleibt ein trotzig beibehaltener Traum. Die „sinnlose Reise“ – wie der Zweittitel suggeriert – ist ein Unternehmen, das aufs Ganze geht: „Vorwärtskriechen, mit dem eigenen Ich den Raum vermessen, sich mit ihm verschwistern – und im Gegenzug etwas erhalten, wofür ich keinen Namen kenne.“ Konkrete Gestalt nimmt die Suche auf der Insel Kolgujew in der Barentssee an. Der Druck der Wirklichkeit ist stark, die wüst gemischte Realität rückt dem Ich-Erzähler auf den Pelz. Das ist eine Welt fern vom Urbanen, aber auch längst aus den Traditionen herausgerissen. Viehzucht, Seifenoper, Müllhalde und Mythos existieren nebeneinander. Die Bewohner, das sibirische Volk der Nenzen, versuchen mit Rentierzucht zu überleben, nicht weit entfernt wird in großem Maßstab Öl gefördert. Zu kommunistischer Zeit hatte das Industriesystem sich dort ins Leben gefressen und seine Spuren hinterlassen. Der Erzähler sagt von sich: „Ich selbst bin ein Produkt des alten Systems, und augenblicklich ist mein einziger Wunsch: mich von seinen bedrückenden Sinnsetzungen loszureißen.“ Was er letztendlich sucht, ist neben aller Zerstörtheit die machtvolle Schönheit der Natur, sind die Überreste archaischer Lebensweise und mythischen Weltverstehens. Wassili Golowanow: „Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens“. Aus dem Russischen von Eveline Passet, Matthes & Seitz 2012 Raimund Petschner


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Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Politik Anastasija Udalzowa steht nicht hinter, sondern neben ihrem Mann, dem linken Revolutionär Sergej Udalzow

Auf Stöckeln ins Polizeirevier © ARTJOM ZSCHITENEW_RIA NOVOSTI

BIOGRAFIE BERUF: PRESSESPRECHERIN ALTER: 34 GEBURTSORT: TSCHERKASSY AP

Und doch fühlt Anastasija sich in dem Nobelrestaurant „Casta Diva“ auf dem Twerskoj-Boulevard im Herzen Moskaus nicht heimisch. „Für Restaurantbesuche fehlt mir schlicht die Zeit“, erzählt Udalzowa. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal ausgegangen bin. Sergej und ich leben bescheiden – ich koche in der Regel für uns beide und die Kinder zu Hause.“ Während der Visagist an ihren Haaren zupft, studiert Udalzowa mit gerunzelter Stirn die Nachrichten auf ihrem iPad. „Oh, mein Mann wurde wieder verhaftet“, teilt sie gelassen mit. Als Udalzowa das grelle, kurze Paillettenkleid mit offenem Rückenteil erblickt, schüttelt sie den Kopf: „Wollt ihr, dass Sergej mich umbringt?“ Später ist sie der Meinung, dass das Dekolleté eines anderen Kleides eindeutig zu gewagt ist, woraufhin der Ausschnitt mithilfe einiger Sicherheitsnadeln etwas gezügelt wird.

Auch wenn die Proteste zuletzt immer kleiner werden – Anastasija Udalzowa und ihr Mann Sergej fehlen nie. Aber wie passen Revolution und High Heels zusammen? JEWGENIJ LEWKOWITSCH ROLLING STONE

Bis Anastasija Udalzowa einwilligte, an einem Modeshooting des russischen Rolling Stone teilzunehmen, musste sie erst einmal drei Tage tief in sich gehen. „Wir sind ein Teil der Revolution, und ich werde an einem Fotoshooting teilnehmen.“, wie würden die Bilder wirken auf Russen, die Anastasija als Sprecherin der radikalen „Linken Front“ kennen und Udalzow als deren Organisator, der praktisch auf jeder Kundgebung festgenommen wird, der schon mal den Hungerstreik ausruft – und dem nun zehn Jahre Haft drohen wegen „Anstiftung zu Massenunruhen“? Am 6. Mai war es in Moskau zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Die zentrale Forderung der von Udalzow angeführten „Linken Front“ ist die Einführung des Sozialismus – und seine Frau soll sich in einem schicken Restaurant in teuren Klamotten fotografieren lassen? Ausschlaggebend für Anastasijas Ja zum Fotoshooting ist am Ende Sergej, Liebhaber russischen Punkrocks und selbst mehrfach Protagonist von Reportagen im Rolling Stone.

Dialoge über Politik und Mode Die 34-Jährige stammt aus einer einfachen Familie in der ukrainischen Stadt Tscherkassy. Mit 18 trat sie zunächst in die Kommunistische Partei der Ukraine ein, nach ihrer Übersiedlung nach Moskau 1998 in die Nationalbolschewistische Partei Russlands. Von der Partei trennte sie sich erst nach der Bekanntschaft mit ihrem zukünftigen Mann Sergej im Jahr 2000. Udalzowa schloss ihr Jura-

KIRILL KOLOBJANIN

Udalzowa mit ihrem Mann Sergej am Rande einer Demonstration

Anastasija Udalzowa wurde 1978 im ukrainischen Tscherkassy geboren. Mit 20 Jahren zog sie nach Moskau, um Jura zu studieren, und wurde Mitglied der später verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. Heute ist sie Pressesprecherin der von ihrem Mann Sergej mitbegründeten „Linken Front“. Ziel der Bürgerrechtsbewegung ist ein basisdemokratischer Sozialismus in Abgrenzung zur Sowjetunion. Erklärter Gegner ist Präsident Putin.

Schönheit und Revolution: Anastasija Udalzowa zeigt, dass beides möglich ist.

studium ab, wurde Pressesprecherin der „Avantgarde der Roten Jugend“, dann der Nachfolgerorganisation „Linke Front“. Anastasijas Freunde berichten, sie sei eine außergewöhnliche und sehr engagierte Frau. Gleichzeitig habe sie aber nichts gegen schöne Kleider oder Accessoires und plaudere ab und zu gerne über aktuelle Modetrends. Das sieht man auch ihrer Facebook-Seite an: Fotos von den Protestdemos wechseln mit Shootings von Bademode am Strand. Oder das Bild, auf dem sie zu sehen ist, wie sie zum Gefangenentransporter abgeführt wird: links und rechts von einem Polizisten flankiert – in Stöckelschuhen mit schwindelerregenden Absätzen. Die sozialen Netzwerke gehen deshalb nicht eben zimperlich mit der ansonsten knallharten Dekabristin um. Auf Twitter kann man immer noch den Schriftwechsel zwischen Udalzowa und dem russischen „It-Girl“ Xenija Sobtschak

nachlesen, in dem sich die beiden ausführlich über Frisuren austauschen. „Ich habe mich noch nie geweigert, mit jemanden den Dialog zu suchen, nur weil er andere politische Ansichten vertritt“, erklärt Anastasija dazu.

Soldatin, nicht Ballerina „In meiner Kindheit wollte ich nie Ballerina werden oder irgend so etwas Schönes oder Strahlendes machen, wovon die meisten Mädchen in meinem Alter träumten“, erzählt sie. „Meine Träume waren einfacher und profaner. Zum Beispiel wollte ich zur Armee.“ Hört ihr Mann auf ihre Ratschläge? „Er hört schon auf mich, aber er kann auch ganz schön stur sein: Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hat, bleibt es dabei.“ Dass Udalzow etwa nach mehreren Verhaftungen in den Hungerstreik trat, konnte seine Frau ihm nicht ausreden. Derzeit sieht es schlecht aus für ihren Mann Sergej: Im Oktober

wurde gegen ihn Anklage erhoben: wegen „Vorbereitungen zur Organisation von Massenunruhen“. 14 Personen sitzen deshalb bereits in Untersuchungshaft. Am 6. Mai war es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Anastasija macht sich zwar Sorgen um ihre beiden Kinder, möchte aber weiterkämpfen. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir kein Recht haben, nur auf uns selbst bezogen zu leben. Das löst nicht die Probleme des Landes“, sagt sie. „Wen nehmt ihr denn da auf?“, interessiert sich ein in Dior gekleidetes Model, das Gast einer Veranstaltung im Nebensaal ist und sich gerade die Beine vertritt. „Die Revolutionärin? Cool! Auf der Straße sieht sie immer ganz anders aus …“ Dieser Text erschien zuerst in der russischen Ausgabe des Magazins Rolling Stone

ITAR-TASS

Putin, Proteste und Prozesse. Ein Rückblick auf ein ereignisreiches Jahr 2012 in Russland

5. Dezember


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