Russland HEUTE

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Der Neue

Yandex-Chef über den eigenen Browser

Ein Nachruf auf den Science-Fiction-Pionier Boris Strugatzki, der am 19. November im Alter von 79 Jahren starb

Er will seine Stadt vor dem Untergang retten.

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KOMMERSANT

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

KOMMERSANT

Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

MEINUNG

Eiszeit rund um den Kreml Die Demokratie Russlands erscheint vielen nicht ganz lupenrein, aber wenigstens gibt es dort echte Winter. Und so schnüren die Russen ab November ihre Schlittschuhe: Allein Moskau bietet über 70 offene und geschlossene Eislaufbahnen, „Katok“ genannt. Als zentraler „Katok“ des Landes gilt, prominent an den Mauern des Kremls und vor dem Lenin-Mausoleum gelegen, der „GUM-Katok“ auf dem Roten Platz. Vom Kreml immer der Moskwa entlang, kommt man zum Gorki Park, in dem schon seit November der wohl ungewöhnlichste Eislaufpark Europas seine Tore geöffnet hat: Die Parkverwaltung lässt zum Winter auf einer Fläche von 18 000 Quadratmetern Wege und Plätze mit einer künstlichen Eisschicht bedecken, die bis ins Frühjahr erhalten bleibt. Der Park, der einst durch einen pfiffigen Gassenhauer der Scorpions Weltruhm erlangte, erlebt nach einer Phase des Niedergangs nun seine „Wiedergeburt“.

Moritz Gathmann GASTREDAKTEUR

Besuch in einer Stadt, vor der sich alle fürchten: Mit Norilsk verbinden auch die meisten Russen nur wenig Positives. Die nördlichste Großstadt der Welt gilt als dunkel, kalt und verschmutzt. Aber die knapp 200 000 Einwohner haben gelernt, wie man mit den extremen Bedingungen klarkommt.

ine Besonderheit der Russen ist ihr Verhältnis gegenüber Kritik: Untereinander, aber auch gegenüber Ausländern, können sie ihren Nationalcharakter, ihr Land und ihren Präsidenten im Besonderen verfluchen. Behauptet der Gast aus dem Ausland jedoch das Gleiche, hört er oft missmutiges Zähneknirschen. Diese Eigenart mag die teils angespannte Stimmung auf dem gerade zu Ende gegangenen Petersburger Dialog erklären. Russische Teilnehmer nannten die in der Russlandresolution des Bundestags geäußerte Kritik „bösartig“, während die Deutschen sie als „gut gemeinte Ratschläge“ unter Partnern verteidigten. Ratschläge gerne, entgegneten die Russen, aber bitte in Zukunft ohne das Wort „müssen“. Wer auf kulturelle Unterschiede hinweist, wird schnell als „Russenversteher“ abgekanzelt. Aber den deutsch-russischen Beziehungen würden ein paar Russenversteher mehr guttun: Von den 622 Mitgliedern des Bundestags sind jene, die überhaupt Russisch sprechen, an einer halben Hand abzuzählen. Nach einer Serie gegenseitiger Anschuldigungen war es auf dem Dialog die Grünenabgeordnete Marie-Luise Beck, die mit einem gut gemeinten Vorschlag versuchte, Brücken zu bauen: Sie erinnerte an den von Gorbatschow geprägten Begriff vom „gemeinsamen europäischen Haus“, dessen Bewohner ihr zufolge in einer „Wohngemeinschaft“ leben sollten. Kein Zweifel, der Begriff „WG“ ist für viele Deutsche positiv besetzt, er riecht nach Freiheit, wilden Studentenjahren und einer Prise Sozialismus. Die Wohngemeinschaften, die Russen kennen, waren aber stets mangelndem Wohnraum geschuldet. Für sie klingt der Begriff nach zu wenig Freiheit, nach Enge, der man entfliehen will. Russen träumen vom Eigenheim, nicht von WGs. Aber lassen wir das. Wer braucht schon Russenversteher.

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© ILIJA PITALEW_RIA NOVOSTI

MEHR DAZU AUF SEITE 5

Russenversteher überflüssig?

Winterspaß vor den Mauern des Kremls – mit der russischen Trickfilmfigur Tscheburaschka

THEMA DES MONATS

Russkij Pirat

Agentengesetz

Während deutsche „Piraten“ schon in mehreren Landtagen sitzen, wartet die russische Piratenpartei noch immer auf ihre Registrierung. 5000 Beitrittswillige gebe es, so Oberpirat Pawel Rassudow. Ganz oben auf ihre Flagge hat sich die Partei den Kampf gegen die Einschränkung der Netzfreiheit geschrieben.

Kaum eine Reform hat der Russischen Föderation so viel Kritik eingebracht wie die neue Fassung des Gesetzes über Nichtregierungsorganisationen: Politisch tätige NGOs, die sich aus dem Ausland finanzieren lassen, müssen sich seit November als „ausländische Agenten“ ausweisen. SEITE 2

ITAR-TASS

Am Polarkreis

RÜCKBLICK 2012 „SOLCHE STRASSENKÄMPFE SEIT LANGEM NICHT MEHR ERLEBT“ PHOTOXPRESS

Was im letzten Winter nach den Dumawahlen als ein Aufschrei der Zivilbevölkerung begann, hat diesen Winter deutlich an Fahrt verloren. Russland blickt auf ein turbulentes Jahr: Proteste – ein neuer alter Präsident – Pussy Riot. Doch auch: WTO-Beitritt und olympische Ehren in London. Welche Ereignisse Russland sonst noch bewegten, lesen Sie auf den Seiten 6 und 7.

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Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Neuerung Das neue Gesetz über Nichtregierungsorganisationen sorgt im In- und Ausland für Kritik

NGOs wollen Widerstand leisten

Alexander Sidjakin

Regierungen sind, die faire Wahlen in Russland brauchen“, sagt sie. Lukjanowa bemerkt auch, es sei einer der größten Mängel des Gesetzes, dass es keine klare und eindeutige Definition des Begriffs „politische Tätigkeit“ gebe und dass das Wort „Auslandsagent“ eine negative Konnotation habe, da es von den meisten Russen mit „Spion“ gleichgesetzt werde. Gestützt wird ihre Aussage durch eine Untersuchung des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada vom Herbst, wonach 62 Prozent der Bevölkerung den Begriff „Auslandsagent“ negativ wahrnehmen. Oleg Orlow und Jelena Panfilowa betonen, sie seien bereit, für ihre Rechte auch vor Gericht einzutreten, sollten irgendwelche Sanktionen folgen. „Ich kann nicht sagen, was genau wir tun werden – das hängt alles vom ersten Schritt derjenigen ab, die beabsichtigen, gegen uns vorzugehen“, sagt Panfilowa. Ungeachtet der Tatsache, dass das NGO-Gesetz im In- und Ausland größtenteils negative Reaktionen hervorgerufen hat, sagt Irina Jarowaja von der Partei Einiges Russland: „Es ist im Moment verfrüht, von einer Revision des Gesetzes zu sprechen. Erst muss man sehen, wie es sich in der Praxis bewährt.“ Analysten sind der Meinung, dass die Restriktionen gegenüber den NGOs eine Reaktion der Regierung auf die massiven Proteste des letzten Winters gegen die angeblich manipulierten Parlamentsund Präsidentenwahlen seien.

ABGEORDNETER DER STAATSDUMA (EINIGES

Ärger vorprogrammiert

RUSSLAND) UND VERFASSER DES NGO-GESETZES

„Die NGOs tragen dazu bei, die Gesetzlosigkeit in diesem Lande einzudämmen, zum Beispiel, indem sie die Wahlen beobachten und Unregelmäßigkeiten melden“, sagt Dmitrij Oreschkin, unabhängiger Politologe und ehemaliges Mitglied des Präsidentenrats für Menschenrechte, der das Gremium im Laufe des Wahlkampfs verlassen hatte. „Viele dieser Organisationen können als regierungsfeindlich eingestuft werden, weil sie gegen die allgemeine Korruption kämpfen – die Quelle jener Korruption aber häufig die Regierung selbst ist. Sie können gar nicht anders, als diese Regierung automatisch gegen sich aufzubringen, besonders wenn es sich um ein autoritäres Regime handelt“, fügt Olga Kryschtanowskaja, Soziologieprofessorin mit eigenem Institut in Moskau, hinzu. Und weiter meint sie: „Die Botschaft, die das ‚Kollektiv Putin‘ der Öffentlichkeit durch die Brandmarkung der NGOs als ‚Auslandsagenten‘ zu vermitteln versucht, ist folgende: Der Westen mischt sich in die russische Politik ein und provoziert damit immer neue Proteste, um Putin durch einen schwächeren Regierungschef zu ersetzen, mit dem sich dann leichter verhandeln lässt. Im Großen und Ganzen stimmt solch ein Meinungsbild mit der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung der Politik in Russland überein.“

Ein neues Gesetz könnte den Ruf vieler Nichtregierungsorganisationen beschädigen und ihre Arbeit in Russland lähmen. Diese wollen sich notfalls vor Gericht wehren. JULIA PONOMARJOWA FÜR RUSSLAND HEUTE

ZITATE

Ljudmila Alexejewa

ITAR-TASS

Im November sind die Änderungen zum Gesetz über Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Kraft getreten. Diese erlauben es, vom Ausland unterstützte und im politischen Bereich tätige NGOs als „Auslandsagenten“ zu deklarieren – ein Begriff, der ein Synonym für „Spion“ darstellt. Das Gesetz verschärft auch die Kontrollen in den Organisationen, die neuerdings sogar auf Antrag von Privatpersonen vorgenommen werden können. Einer der Unterstützer der neuen Gesetzgebung, Irina Jarowaja von der Partei Einiges Russland, die der Antikorruptions- und Sicherheitskommission in der Staatsduma vorsteht, argumentiert, dass „die Bevölkerung wissen soll, wer und welche Institution in Russland Politik mit Geld aus dem Ausland betreiben.“ Abgeordnete schätzen, dass das Gesetz etwa 1000 der 220 000 in Russland tätigen NGOs betreffen könnte. Trotz drastischer Geldstrafen von bis zu 1,5 Millionen Rubel (37 500 Euro), Haftstrafen von bis zu vier Jahren und einer möglichen Aussetzung der Tätigkeit von bis zu sechs Monaten im Falle eines Verstoßes gegen die neue Verordnung haben viele NGOs, die zuvor mit den Behörden aneinandergeraten waren, öffentlich erklärt, dass sie sich im Justizministerium nicht wie verlangt als „Auslandsagenten“ registrieren werden.

VORSITZENDE DER MOSKAUER HELSINKI-GRUPPE

Ljudmila Alexejewa (links) und Michail Fedotow (in der Mitte)

UND BIS 2012 MITGLIED IM MENSCHENRECHTSRAT

Auslandsagenten oder Spione?

Wenn wir auf die ausländischen Fördermittel verzichten, riskieren wir die Existenz unserer Organisation, denn dann müssen wir ausschließlich mit russischer Hilfe auskommen. Und die ist gegenwärtig äußerst gering."

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Die Vertreter der Menschenrechtsorganisationen müssen verstehen, dass dies ein föderales Gesetz ist und diesem unbedingt nachzukommen ist. Wenn sie der Meinung sind, dass es ihr Budget zulässt, Bußgelder in Höhe von bis zu 1,5 Millionen Rubel [umgerechnet 37 500 Euro] zu zahlen, nun gut, sollen sie halt zahlen. Aber dabei sollten sie nicht vergessen, dass ihr Verhalten nach mehreren Bußgeldbescheiden als Widerstand gegen ein föderales Gesetz eingestuft wird. Dies kann laut den geltenden Rechtsnormen die Grundlage für die Auflösung ihrer Organisation sein."

ALJONA REPKINA

„Wir lassen uns diesen Stempel nicht aufdrücken“ In einer Anfang November veröffentlichen Stellungnahme wies Transparency International Russia darauf hin, dass die neue Gesetzgebung mindestens vier Paragraphen der russischen Verfassung zuwiderläuft, einschließlich desjenigen, der „die Gleichheit der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Vereinigungen“ zusichert. „Das Gesetz fördert die Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Organisationen und beschuldigt uns, dass unsere Tätigkeit, die immer auf den Nutzen Russlands und seiner Bürger ausgerichtet war, in Wirklichkeit im Interesse anderer Staaten ausgeführt wird“, sagt Jelena Panfilowa, Direktorin von Transparency. Oleg Orlow, Aufsichtsratsvorsitzender der Organisation Memorial, sieht voraus, dass das Gesetz das Ansehen von NGOs in den Augen der Durchschnittsbürger und Beamten trüben wird. „Wir haben nicht vor, uns diesen Stempel aufdrücken zu lassen“, sagt er. „Wenn ich mir die russische Wirklichkeit anschaue, weiß ich jetzt schon, dass Beamte und Abgeordnete uns wie Teufel vor dem Weihwasser fürchten, wenn wir erst

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als ‚Auslandsagenten‘ etikettiert werden.“ Orlow fügt hinzu, dass dies den Zugang der Menschenrechtsorganisationen zu Straflagern, Polizeirevieren und Armeegarnisonen erheblich erschweren könnte.

Starker Gegenwind aus dem Präsidentenrat Michail Fedotow, Vorsitzender des Präsidentenrats für Menschenrechte, hat mehrfach auf die Mängel des Gesetzes hingewiesen, auch gegenüber Präsident Putin. Auf der Ratssitzung am 12. November schlug er deshalb vor, es noch einmal zu überarbeiten und einen neuen Gesetzesentwurf vorzulegen.

„Dieses Gesetz wird in der Praxis entweder überhaupt nicht zur Anwendung kommen, oder es wird beim ersten Versuch einer Anwendung einen großen politischen Skandal und juristische Probleme hervorrufen, weil es im Konfl ikt mit der übrigen Gesetzgebung steht“, sagt Fedotow. „Die Behörden können gegen eine Organisation eine Strafe verhängen oder deren Tätigkeit aussetzen. Aber sie werden es nicht tun, weil sie nicht verrückt sind.“ Die Gesellschaftskammer Russlands, die auf Initiative Wladimir Putins im Jahre 2005 gegründet wurde, gab schon im September eine harsche Bewertung des Gesetzesentwurfs ab, die allerdings

nach Meinung ihrer Verfasser bei der Ausarbeitung des Gesetzes nicht berücksichtigt wurde. „Ich habe noch nie etwas Absurderes und für den Staat Schädlicheres gesehen“, sagt Jelena Lukjanowa, Direktorin des Instituts zur Überwachung der Wirksamkeit der Strafverfolgung bei der Gesellschaftskammer und Mitverfasserin des Berichts.

Mangelhafte Definitionen „Es hat keinen Sinn, die Arbeit von Antikorruptionsorganisationen wie Transparency International und Human Rights Watch oder von Wahlbeobachtern wie Golos mit der Behauptung zu behindern, dass es die ausländischen


Wirtschaft

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AKTUELL

IM GESPRÄCH

Riesenauftrag für Siemens von der Russischen Bahn

Warum investiert das russische Business nicht in Innovationen? Das hängt vor allem mit unseren besonderen Produktionsbedingungen zusammen. Wir haben noch nicht vollständig die Möglichkei-

Siemens hat im Zuge der deutschrussischen Regierungskonsultationen eine Absichtserklärung mit der Russischen Bahn (RZD) über die Lieferung von 675 Lokomotiven für den Frachtverkehr unterzeichnet. Der Wert des Auftrags wird auf etwa 2,5 Milliarden Euro geschätzt. Produziert werden sollen die Loks von LLC Ural Locomotives, einem Joint Venture von Siemens und der russischen Sinara Group. Die Strategie des Konzerns, die Produktion mehr und mehr zu lokalisieren, scheint sich auszuzahlen: Siemens vereinbarte gleichzeitig eine Kooperation mit dem russischen Stromnetzbetreiber Federal Grid Company. Die Partner einigten sich über Eckpunkte für die langfristige Lieferung von Transformatoren.

OLEG SERDECHNIKOW

Beim internationalen Forum „Offene Innovationen“, das Anfang November in Moskau stattfand, haben viele Teilnehmer angemerkt, dass gegenwärtig in Russland Innovationen ausschließlich durch die Regierung angeregt werden. In jeder Etappe eines innovativen Prozesses muss es einen bestimmten Player geben: den Staat, die Geschäftswelt oder – was seltener vorkommt – akademische Einrichtungen. Leider ist die Geschäftswelt in Russland derzeit nicht dazu bereit oder in der Lage, diese Führungsrolle zu übernehmen – ihre innovative Aktivität ist äußerst gering. Deshalb muss der Staat die Initiative ergreifen. Obwohl wir natürlich davon ausgehen, dass in absehbarer Zeit auch die Geschäftswelt ihr Engagement vergrößern wird. Gegenwärtig sind die Ausgaben für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung in Russland im Verhältnis 70 zu 30 zugunsten des Staats verteilt, wobei es eigentlich genau andersherum sein müsste.

© WITALIJ BELOUSOW_RIA NOVOSTI

Innovationen sind nicht nur Staatssache Um Innovationen kümmert sich in Russland fast ausschließlich der Staat. Warum das so ist, wie das Business darauf reagiert und wie es in Zukunft ausschauen soll, erklärt Oleg Fomitschew, stellvertretender Minister für Wirtschaftsentwicklung.

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Oleg Fomitschew

Ausstellungsräume des Innovationsforums in Moskau

ten der „passiven Modernisierung“ ausgenutzt, bei der ausländische Technologien übernommen werden: und zwar nicht die innovativen, sondern jene, die bereits seit Langem auf dem Markt sind. Das Erstaunliche ist, dass sogar die Übernahme nicht mehr ganz neuer Technologien zu einem abrupten Anstieg des Produktionsniveaus führt. Denn in vielen Industriezweigen, zum Beispiel im Maschinenbau, ist dieses Niveau so niedrig, dass jede beliebige, selbst die billigste und unbedeutendste Verbesserung, zu einer Vergrößerung der Effektivität und infolgedessen zu höheren Gewinnen führt. Solange die Unternehmen nicht das Niveau der Wettbewerbsfähigkeit ihrer ausländischen Geschäftspartner erreicht haben, können sie gar kein Interesse daran haben, in neue Modernisierungsprogramme zu investieren. Zweitens hat sich in Russland bisher immer noch kein freund-

liches Geschäftsklima für innovative Unternehmen herausgebildet. Das betrifft die Zoll- und Steuerregularien, die Lohnnebenkosten, den Zustand der Infrastruktur – obwohl da schon viel geschehen ist. Zum Beispiel wurden Sonderwirtschaftszonen und Technologieparks eingerichtet, das reicht jedoch bei Weitem nicht aus. Kann man die Wettbewerbsfähigkeit etwa der traditionellen Rohstoffwirtschaft bei der stürmischen Entwicklung der alternativen Energien erhalten? Ich denke, von einer stagnierenden Rohstoffwirtschaft kann bei uns nicht die Rede sein. Wir müssen jedoch den Schwerpunkt unserer Produktion in andere Sektoren verlagern – in das verarbeitende Gewerbe, den Bereich der Dienstleistungen und die Informationstechnologien. Aufgrund der Rückständigkeit dieser Sek-

toren erscheint unsere große Rohstoffindustrie überentwickelt. Andererseits haben Innovationen in der traditionellen Energiewirtschaft höchste Priorität. Unsere Leader wie Rosneft, Transneft, Gazprom und Rusgidro haben ihre Ausgaben zur Entwicklung neuer Technologien für die Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen hochgefahren. Sie haben ihre Programme mit unserer methodologischen Unterstützung ausgearbeitet und sind jetzt dabei, sie umzusetzen. Und wir führen ein staatliches Monitoring durch, damit auch alles seine Ordnung hat. Für die Unternehmen wurden Effizienzkriterien ausgearbeitet, die außer Innovationsindikatoren auch noch den ökonomischen Effekt widerspiegeln, was insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen steigert. Das Interview führte Artjom Sagorodnow

Geld abheben per Fingerabdruck

KOMMERSANT

Die Bank Leto plant als erste russische Bank, im Laufe des nächsten Jahres Bankautomaten einzuführen, bei denen es ausreichend ist, dass der Kunde sich per einfachem Fingerabdruck identifiziert. Nach Eingabe der persönlichen Geheimnummer kann er dann Geld abheben. Eine Bankcard ist nicht mehr nötig. Die Bank ist eine vor Kurzem gegründete Tochter der Großbank VTB, die sich vor allem um Mikrokredite kümmern will.

Nuklearmedizin Eine neue Technologie macht die Erzeugung des Heil-Isotops effektiver und sicherer

Führende europäische Länder, darunter auch Deutschland und Russland, entwickeln innovative Technologien im Bereich des Gesundheitswesens, u. a. für die Nuklearmedizin. ANDREJ RESNITSCHENKO FÜR RUSSLAND HEUTE

Das wichtigste Isotop bei der Diagnostik und Heilung vieler gefährlicher Krankheiten wie Krebs ist Molybdän-99. Der Bedarf an diesem Isotop nimmt deswegen weltweit ständig zu. Allerdings ist seine Gewinnung ein äußerst komplizierter Prozess, der zudem auch ökologisch nicht ganz unbedenklich ist. Das Molybdän-99 wird bei 80 Prozent der Diagnoseverfahren unter Verwendung von Radionukliden in der Onkologie, der Kardiologie und Neurologie eingesetzt. Dabei zerfällt es in das

kurzlebige Technetium-99m, wichtigstes diagnostisches Radionuklid der modernen Nuklearmedizin. Mit seiner Hilfe werden jährlich 25 bis 30 Millionen Menschen weltweit behandelt und geheilt. Rosatom, Föderale Agentur für Atomenergie, habe zusammen mit dem Schweizer Unternehmen GSG mit Sitz Leipzig ein neues Verfahren zur Produktion von Molybdän-99 auf Alkalibasis entwickelt, sagt Wjatscheslaw Perschukow, stellvertretender Generaldirektor von Rosatom. Die Lizenz für die Herstellung der Isotope wird zurzeit den internationalen Standards angepasst und soll zum Ende des Jahres ausgestellt werden. Die neue Technologie, die aus wirtschaftlicher Sicht wesentlich effektiver als andere Verfahren ist, ermöglicht es auch, das Risiko umweltschädli-

PRESSEBILD

Molybdän-99 – Heilen mit kleinsten Isotopen

Produktion von Molybdän-99

cher Auswirkungen dieses Materials spürbar zu verringern. In der weltweiten Praxis kommen mehr als 130 radiodiagnos-

tische Verfahren zur Anwendung. In den russischen Forschungsund Entwicklungszentren werden davon 30 eingesetzt. Alexander Udarow, Chefredakteur von Atominfo.ru, stellt fest: „In der Russischen Föderation arbeiten mehr als 100 Einrichtungen für die Radionukliddiagnostik, in denen Untersuchungen in vivo (Abgabe der Präparate an die Patienten) durchgeführt werden, und mehr als 200 Labors für radioimmunologische Analysen von Blutproben in vitro (also mit Analysetechniken im Labor). Es sei daran erinnert, dass Siemens seinerzeit die Zusammenarbeit mit Rosatom aufgrund eines Beschlusses der deutschen Regierung, nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima die weitere Entwicklung der Kernenergie einzustellen, aufgeben musste.

Mehr als dreißig Jahre Erfahrung Die Gamma Service-Group International (GSG) ist ein internationales Unternehmen mit Stammsitz in der Schweiz und der Hauptniederlassung für medizinische Dienstleistungen in Leipzig. Mit Russland kooperiert die GSG bereits seit 1980 und lieferte medizinische Gerätetechnik für sowjetische Forschungseinrichtungen. In den 1990er-Jahren wurden u. a. das Bakulew-Klinikum und das Moskauer Zentralkrankenhaus mit dem medizinischen Know-how von GSG ausgerüstet. In den letzten zehn Jahren entwickelte das Unternehmen zusammen mit russischen Partnern Gerätetechnik in Bereich der Nuklearmedizin.


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Reportage

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Norilsk Hier lächelt man nicht seltener als in den anderen russischen Städten. Trotz harter Lebensumstände

Auf zum Großen Argisch Kälte, Finsternis, ökologische Probleme – die Stadt Norilsk wird in den russischen Medien nur selten mit anderen Dingen assoziiert. Unser Korrespondent prüft, ob dieses Bild stimmt. ANTON MACHROW RUSSLAND HEUTE

Zwischen Moskau und Norilsk liegen fast 3000 Kilometer, mit der Boeing in vier Stunden zu bewältigen. „Unser Flugzeug ist in Norilsk-Alykel gelandet. Das Wetter ist heute normal, minus 28 Grad“, verkündet der Flugkapitän. In seiner Stimme ist keinerlei Ironie zu spüren – für das herbstliche Norilsk ist das Wetter wirklich absolut normal.

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Schnee und Gulags Die Erschließung der Halbinsel Taimyr, auf der Norilsk liegt, begann im 17. Jahrhundert, aber die Stadt selbst ist wesentlich jünger. Das erste Norilsker Haus wurde erst 1921 bei einer Expedition des Geologen Nikolaj Urwanzew errichtet. Es war ein simples Holzgebäude mit vier Zimmern, grob zusammengezimmerten Tischen und Bänken, einem Ofen, Petroleumlampen. Das erste Haus steht immer noch inmitten von Norilsk und soll daran erinnern, wer diese Region bewohnbar gemacht hat. Die etwa 175 000 Einwohner der Stadt sind bestrebt, die Vergangenheit nicht zu vergessen, auch nicht ihre düsteren Seiten: Ab den Dreißigerjahren befand sich unweit von Norilsk ein stalinistisches „Besserungsarbeitslager“. Im Stadt-

WIRTSCHAFTSKALENDER

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1. In der nördlichsten Großstadt der Welt leben 175 000 Menschen. 2. Norilsker Nickelwerk 3. Heiraten im Schnee 4. Beim Großen Argisch feiern die Norilsker den Anbruch der Polarnacht.

museum wurde eine Ausstellung eröffnet, die den Häftlingen gewidmet ist. Auch auf dem Norilsker Friedhof am Berg Rudnaja erinnert ein Gedenkkomplex an die zahlreichen Opfer.

Luft und Wasser

KONFERENZ FUTUROLOGISCHER KONGRESS

FEIER JUBILÄUMSFEIER DER AHK

14.-16. DEZEMBER, MOSKAU, POLYTECHNISCHES MUSEUM

14. DEZEMBER, MOSKAU

Die Norilsker Industriegebiete wirken sich zweifellos schlecht auf die Umwelt aus. Hauptverursacher von Umweltschäden ist der Nickel- und Palladiumpro-

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duzent Norilsk Nickel. Der regionale Chef des Konzerns, Jewgenij Murawjow, verheimlicht die Probleme nicht. „Sie wissen doch, welchen Stellenwert der Umweltschutz zu Sowjetzeiten hatte. Jetzt müssen wir uns mit diesem Erbe herumschlagen“, sagt er und zählt die Programme auf, die in der Stadt zur Verbesserung der Ökologie umgesetzt werden. Das ambitionierteste Vorhaben ist die drastische Verringerung des Schwefeldioxidausstoßes. Wobei ein großes Problem besteht: Die etablierten Verfahren sind in Norilsk nicht anwendbar. Der Direktor erklärt, warum: In anderen russischen und ausländischen Fabriken wird das gasförmige Schwefeldioxid in Schwefelsäure umgewandelt, die anschließend verkauft werden kann. Dieses Geschäft rechnet sich betriebswirtschaftlich nicht, aber die Unternehmen haben keine andere Wahl – der Umwelt-

SEMINAR ZOLLABWICKLUNG SPEZIAL RUSSLAND – WARENVERKEHR UND ZERTIFIZIERUNG

PRESSEBILD (4)

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schutz hat Priorität. Aber der Abtransport der Säure aus Norilsk ist aus Sicherheitsgründen praktisch unmöglich. Zur Lösung wurde jüngst ein technologisches Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe aus den Gasrückständen der metallurgischen Produktion Schwefel erzeugt wird. Es soll bis 2019 in zwei Norilsker Werken eingeführt werden. Das neue Verfahren gestattet es, mehr als 95 Prozent des Schwefeldioxids aus den angereicherten Abgasen zu entsorgen. Probiert man das Leitungswasser, ist man erstaunt über den guten Geschmack: Moskauer sind daran gewöhnt, dass es nach Chlor schmeckt. Auch die Qualität der Luft scheint vollkommen normal, oder hängt ihre Verschmutzung von den Wetterverhältnissen ab?

Tanzen im Schnee Psychologen sind sich einig: Der lange Winter, das Defizit an Sonnenlicht, die Umweltverschmutzung führen zu Depressionen. Die Bewohner von Norilsk lächeln jedoch nicht seltener als die Einwohner anderer russischer Städte. „Was ist euer Geheimnis?“, wird die Journalistin Natalja Fedjanina vom Fernsehsender „Sewernyj gorod“ (Nördliche Stadt) gefragt. „Sewernyj gorod“ ist eine Tochterfirma von Norilsk Nickel, der Konzern bedient neben seiner Nickelproduktion in Norilsk ein komplettes Kulturcluster. Natalja bekennt offenherzig ihr Geheimnis im Umgang mit den harten klimatischen Bedingungen. Schon früher hätten sich die Neuankömmlinge bei den Ureinwohnern des Nordens – den Dolganen, Ewenken, Nenzen, Enzen, Nganasanen und anderer Nomadenvölkern – abgeguckt, wie man hier nicht nur überlebt, sondern glücklich lebt. „Es ist schon seltsam, dass nicht schon früher jemand auf die Idee gekommen ist, sich dafür zu interessieren, was der Winter für diese Völker eigentlich bedeutet, wie diese ihn erleben. Die Nordvölker sind sich darin einig: Der Winter ist gut, er bedeutet Jagd und Fischfang.“ Dann kommen sie auf ihren Zügen durch die Tundra besser voran – Flüsse und Sümpfe frieren zu. Außerdem müssen sie sich nicht, wie im kurzen Sommer, mit den Mückenschwärmen plagen. „Eigentlich sind auch wir ja jede Woche auf einem Argisch“, sagt Natalja und erklärt, das die indigenen Völker so ihre Wanderungen nennen, bei denen sie von Ort zu Ort ziehen. Das haben sich die Städter abgeschaut: Heutzutage versammeln die Norilsker sich einmal im Jahr zum „Großen Argisch“, um den Anbruch der Polarnacht zu feiern.

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Junge, innovative Wissenschaftler aus Deutschland und Russland entwickeln im Austausch drei Tage lang eine Vorstellung von der Zukunft. Der Ansatz ist bewusst interdisziplinär, Teilnehmer sind Klimaforscher, Ökonomen, Neurowissenschaftler und Psychologen.

Seit fünf Jahren kümmert sich die deutsch-russische Auslandshandelskammer (AHK) um die Belange deutscher Unternehmen in Russland. Gefeiert wird im Moskauer „Internationalen Haus der Musik“ mit der Philharmonie der Nationen unter der Leitung von Justus Frantz.

Russland gilt als lukrativ für exportorientierte Unternehmen, doch ist es kein einfacher Absatzmarkt. Das Seminar beschäftigt sich mit den aktuellen Anforderungen bei der Zertifizierung und beim Warenverkehr.

In diesem Seminar erlangen Sie ein vertieftes Verständnis für die russische Lebens- und Geschäftskultur. Der Schwerpunkt liegt auf Verhandlungssituationen, auf die Sie gezielt und handlungsorientiert durch Theorie und Übungen vorbereitet werden.

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Die Stadt

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Konstruktivismus Die nachrevolutionären Architekten Russlands ließen sich von geometrischen Figuren inspirieren

Arbeiterpaläste aus Glas und Beton an den Werkbänken zu vollbringen, sondern um über Politik zu diskutieren. Die Konstruktivisten experimentierten auch sehr gewagt mit Fensterformen, in denen sie verschiedene geometrische Figuren kombinierten: Der einzige umgesetzte Entwurf des Avantgardekünstlers El Lissitzky ist das Druckereigebäude der Zeitschrift „Ogonjok“. In diesem Bauwerk fließt zusammen, was zuvor undenkbar gewesen wäre – große quadratische und kleine runde Fenster.

Konstruktivistische Architekten hatten in den 1920er-Jahren in Moskau viel Spielraum für künstlerische Experimente. Ein Teil ihres Erbes ist allerdings akut vom Abriss bedroht. ANNA WEKLITSCH FÜR RUSSLAND HEUTE

Abriss von Arbeitersiedlungen

LORI/LEGION MEDIA

„Eine ununterbrochene Mechanisierung des Lebens“ – so beschrieb der Architekt Moisej Ginzburg die 1920er- und 1930er-Jahre in Moskau. Ginzburg war einer der Ersten, der die Prinzipien des Konstruktivismus in der Architektur erkannte. Es galt, die sozialen Gegensätze ästhetisch zu entschärfen – für Straßenkehrer wie für Adelige, die ihre Plätze in der sozialen Ordnung radikal getauscht hatten. In diesem neuen Raum sollten die Maschinen harmonisch eingepasst – und die Bedürfnisse der in der Phase der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) zu Geld gekommenen Geschäftsleute berücksichtigt werden.

Funktionalität über alles

Alexej Schtschussew, Erbauer des Lenin-Mausoleums, konzipierte das Ministerium für Landwirtschaft.

Auch die Architekten suchten nach neuen Formen und ließen sich in den Bann geometrischer Figuren und eines sachlichen Ausdrucks ziehen. Sie wendeten sich ab von der L’art pour l’art und schufen ein anderes Verständnis von Design. Jedes Objekt sollte, ähnlich wie im deutschen „Bauhaus“, zugleich funktional und

ansprechend sein. Außer Wohnraum entstanden in Moskau Arbeiterkulturzentren, Fabrikküchen und geräumige Garagen. Die Baukünstler stießen alles Überflüssige ab und ließen sich von dem Ideal einer rationalen Nutzung jedes einzelnen Gebäudeteils leiten. So konnte der Schacht eines

Aufzugs eine Fassade schmücken, Uhren, Lautsprecher und Reklame zu einem dekorativen Ensemble verschmelzen. Das grundlegende Material der Epoche war Glas. Große Glaselemente sollten den technischen Fortschritt und in ihrem Kontrast zum Beton den neuen Indus-

triestil verkörpern. Ilja Golossow, der 1925 den Sujew-Arbeiterclub entwarf, wählte als Zentrum seiner architektonischen Komposition einen Glaszylinder. Dieser erinnerte an den Bau eines Fabriksilos und demonstrierte so, dass sich hier Arbeiter versammeln – nicht allerdings, um Heldentaten

Konstantin Melnikow ist Architekt des wohl bekanntesten konstruktivistischen Gebäudes in Moskau. Er durchsetzte die Mauern seines Wohnhauses, das ihm gleichzeitig als Werkstatt diente, mit vielen kleinen sechseckigen Fensterchen. Dieses Meisterstück der Epoche zählt zu den touristischen Attraktionen und denkmalgeschützten Gebäuden. Leider lässt sich Ähnliches nicht von anderen Bauwerken der 1920er- und 1930er-Jahre sagen. Einigen von ihnen, die nicht als Architekturdenkmäler anerkannt sind, droht heute der Abriss. Es gibt in Moskau noch 26 Arbeitersiedlungen der konstruktivistischen Epoche. Derzeit wird über das Schicksal von Wohnhäusern der Siedlungen Budjonowskij gorodok, Dubrowka und Pogodinskij entschieden.

Lebensraum Wie Moskau im Jahr 2011 den sowjetischen Traum eines idealen Kultur- und Erholungsparks verwirklichte

Zwei Jahrzehnte lang war der Gorki Park im Moskauer Zentrum ein Schandfleck. Seit einem radikalen Umbau „zurück zu den Wurzeln“ erfreut er sich nun wieder großer Popularität. MARIA BACHAREWA FÜR RUSSLAND HEUTE

Noch vor wenigen Jahren boten sämtliche Moskauer Parks einen eher traurigen Anblick. Die einen waren vollkommen verwildert, die beliebteren unter ihnen übersät von Schaschlikbuden, Achterbahnen und Karussellen mit nervtötender Musik. Der berühmte Gorki Park gehörte zu letzterer Kategorie. Als der 36-jährige Sergej Kapkow im März 2011 zum Direktor des Parks ernannt wurde, bestand seine erste Amtshandlung darin, das Eintrittsgeld abzuschaffen. Es folgte eine noch ungewöhnlichere Entscheidung: Er verbannte alle Achterbahnen und Imbisse vom Gelände. Stattdessen gab es kostenloses WLAN und eine Fahrradvermietung, was dazu führte, dass mehr junge Menschen in den Park kom-

men. Diesen Sommer stieg die Zahl der täglichen Besucher auf das Fünfzigfache im Vergleich zum Vorjahr: Bei schönem Wetter tummeln sich 20 000 Menschen in der grünen Anlage. Allerdings konnte Kapkow seine Reformen nicht ganz bis zu Ende führen – schon im Herbst 2011 übernahm er das Kulturdezernat der Hauptstadt und dehnte sein Engagement auf die übrigen Moskauer Parks aus, sodass diese im Sommer eine ähnliche Wandlung wie der Gorki Park vollzogen haben. Ungeachtet der vielen Gespräche über westliches Know-How und einem Erfahrungsaustausch mit westlichen Städteplanern haben Kapkow und seine Mannschaft ganz offensichtlich die sowjetischen Pläne zur Schaffung eines idealen Kultur- und Erholungsparks umgesetzt. Allerdings waren die real existierenden sowjetischen Grünzonen von diesem Ideal in den meisten Fällen meilenweit entfernt. In der Theorie sowie in Literatur und Film jedoch existierte das Bild eines wunderbaren, utopischen

© JEKATERINA TSCHESNOKOWA_RIA NOVOSTI

Neuer alter Glanz: Moskaus Parks wurden entrümpelt

Die Kunsteislaufbahn im Gorki Park ist die größte in ganz Europa.

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Millionen Menschen besuchten die Moskauer Erholungsparks bis Oktober, zwei Millionen mehr, als die Stadt für das gesamte Jahr erwartet.

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Milliarden Rubel (umgerechnet 250 Millionen Euro) wurden im Jahr 2012 insgesamt von der Moskauer Regierung für die Modernisierung der städtischen Parks bereitgestellt.

Orts, an dem ein jeder seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnte: Verliebte und Rentner spazieren in schattigen Alleen, Kleinkinder spielen in Sandkästen, die etwas Älteren beschäftigen sich in diversen Zirkeln, die Papas treiben Sport und die Mamas sitzen in einem Café und plaudern mit ihren Freundinnen. Und das Entscheidende: Alle Angebote sind gratis und stehen jedem Bürger frei zur Verfügung. („Zur Zarenzeit wäre so etwas ganz und gar undenkbar gewesen“, fügte die sowjetische Propaganda an dieser Stelle normalerweise hinzu.)

Heutzutage ist es nicht möglich, alle Vergnügungen umsonst anzubieten, auch wenn die Stadtverwaltung das Finanzvolumen für die Grünanlagen drastisch erhöht hat – allen voran das Budget des Gorki Parks, der 2012 1,5 Milliarden Rubel, umgerechnet 37,5 Millionen Euro, erhält. Ein Teil des Angebots wie die Joggingklubs, Yogakurse und öffentliche Vorträge ist kostenlos, für anderes (Kino, Eislaufbahn, Kreativworkshops) muss der Besucher – wenn auch wenig – bezahlen. Die Aufgabe der Parks besteht nicht darin, Gewinn zu erwirtschaften – so lautet die Devise der Stadtverwaltung. Sergej Kapkow beantwortet die Frage nach der Rentabilität des Moskauer Parks wie folgt: „Das sind staatliche Kultureinrichtungen auf kommunalem Territorium.“ Anfang dieses Jahres, nach einer Reihe öffentlicher Protestveranstaltungen gegen die massenhaften Fälschungen bei den Wahlen in die Staatsduma, schlug der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin gar vor, in Moskau ein Pendant zum Londoner Hyde Park zu schaffen, in dem die Menschen sich versammeln und offen ihre Meinung äußern können. Die Moskauer Stadtregierung wählte dafür zwei Orte aus – den Gorki Park im Zentrum und den etwas nördlicher gelegenen Sokolniki Park – und kündigte an, diese bis Ende 2012 in ihrer neuen Gestaltung der Öffentlichkeit zu übergeben.


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Thema des Monats

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4. MÄRZ PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN MIT EINDEUTIGEM AUSGANG

An den Wahlen nehmen fünf Kandidaten teil, darunter Wladimir Putin von der Partei Einiges Russland sowie der unabhängige Kandidat und Milliardär Michail Prochorow. Den Sieg im ersten Wahldurchgang erringt Putin (63,6 Prozent), Prochorow erzielt den dritten Platz (7,98 Prozent) hinter dem Chef der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow (17,18 Prozent). Erstmals in der Geschichte Russlands wird der Präsident für sechs Jahre (anstatt wie früher für fünf) gewählt, erstmals wird ein Kandidat wiedergewählt, der bereits zwei Amtszeiten hinter sich hat, erstmals nimmt an den Wahlen ein unabhängiger Kandidat teil und zum ersten Mal können die Wähler den Wahlverlauf online verfolgen. Der Wahl folgen zahlreiche Proteste auf Moskaus Straßen, die Demonstranten werfen der Regierung Wahlbetrug vor.

8. MAI DMITRI MEDWEDJEW ALS MINISTERPRÄSIDENT BESTÄTIGT

Beim Feiern seines dritten Sieges auf dem Roten Platz standen dem sonst immer beherrschten Putin die Tränen in den Augen.

RÜCKBLICK 2012

Dmitri Medwedjew, der 2008 Wladimir Putin auf dem Posten des Staatspräsidenten abgelöst hat, kandidiert nicht für eine zweite Amtszeit. Auf dem Wahlkampfparteitag der Partei Einiges Russland im September 2011 unter-

EIN JAHR, DAS MIT PROTESTEN UND DEMONSTRATIONEN IN RUSSLANDS

TRÄNEN, PROTESTE, ERFOLGE UND DEALS DIE PROTESTAKTION VON DER PUNKBAND PUSSY RIOT

ITAR-TASS

Zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen führen die Mitglieder der Punkband Pussy Riot eine Aktion in der Christus-Erlöserkirche in Moskau durch. Später erscheint ein Videoclip des „Punkgebets“ im Netz, in dem es heißt: „Muttergottes, vertreibe Putin“. Anfang März werden drei der Gruppenmitglieder verhaftet und später wegen religiös motivierten Rowdytums zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Verhaftung und das Gerichtsurteil stoßen auf heftige Reaktionen – sowohl in Russland als auch im Ausland. Laut öffentlichen Meinungsumfragen tritt eine Mehrheit der Russen für eine Verurteilung der Musikerinnen ein. Der Patriarch Kyrill bezeichnet die Aktion als eine Verhöhnung des Allerheiligsten und die Versuche von Seiten russisch-orthodoxer Gläubiger, diese „Gotteslästerung“ zu rechtfertigen, als sündhaft. Wladimir Putin kommentiert den Gerichtsprozess mit den Worten, er sähe in dieser Tat nichts Positives, glaube jedoch, dass „es sich nicht lohne, die Frauen streng zu bestrafen“, wobei er hinzufügt, dass die endgültige Entscheidung natürlich beim Gericht läge. Amnesty International sieht die Verurteilung als politisch motiviert und fordert die sofortige Freilassung der Inhaftierten.

6. MAI MASSENPROTESTE AM BOLOTNAYA-PLATZ IN MOSKAU

Die Bewegung „Für ehrliche Wahlen“ aus Oppositionellen und enttäuschten Bürgern entstand als Reaktion auf die Wahlfälschungen bei der Dumawahl am 4. Dezember 2011. Am 6. Mai, dem Vorabend der neuerlichen Einführung Wladimir Putins in das Amt des russischen Staatspräsidenten, ruft die Opposition zu einer Kundgebung auf dem Bolotnaja-Platz im Zentrum Moskaus auf. Auf dem Weg dorthin versuchen einige De-

KOMMERSANT

21. FEBRUAR

monstranten, Absperrungen der Sicherheitskräfte zu überwinden: Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und massenhaften Festnahmen. Laut russischer Medienberichte hat Moskau solche „massiven Straßenkämpfe seit zwanzig Jahren nicht mehr erlebt“. Am 9. November gibt es das erste Urteil zum BolotnajaVerfahren: Der Unternehmer Maxim Lusjanin wird zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.

ITAR-TASS

GROSSSTÄDTEN BEGANN, ENDET NUN IN OFFENSICHTLICHEM STILLSTAND

stützt er öffentlich die Kandidatur Putins, der sich für seine insgesamt dritte Amtsperiode zur Wahl stellt. Dafür sichert Putin Medwedjew zu, ihn im Falle eines Wahlsiegs zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Am Tag seines Amtsantritts, am 7. Mai 2012, bringt Putin die Kandidatur Medwedjews zur Bestätigung in die Staatsduma ein. Für die Ber ufung Medwedjews zum Ministerpräsidenten stimmen 299 Abgeordnete (bei benötigten 226 Stimmen). Nach der eigentümlichen Rochade erhalten viele Mitglieder der Mannschaft des früheren Präsidenten Medwedjew führende Posten in der neuen Regierung, und die ehemaligen Minister aus Putins Regierungszeit ziehen in den K rem l u m u nd werden Präsidentenberater.


Thema des Monats

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22. AUGUST RUSSLAND WIRD MITGLIED DER WELTHANDELSORGANISATION

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ITAR-TASS

1. JULI

27. JULI – 12. AUGUST RUSSISCHE MANNSCHAFT BELEGT DEN DRITTEN PLATZ IM MEDAILLENSPIEGEL DER OLYMPISCHEN SPIELE IN LONDON

2.–9. SEPTEMBER

Das 24. Gipfeltreffen der APECLänder (Asia-Pacific Economic Cooperation), das erstmals in Russland stattfindet, bleibt weniger wegen seiner Beschlüsse als durch die enormen Kosten in Erinnerung. Seit 2008 – als die Durchführung des Gipfels auf der Insel Russki vor Wladiwostok beschlossen wurde – sind zu seiner Realisierung mehr als 650 Milliarden Rubel (17 Milliarden Euro) ausgegeben worden. Eine der wichtigsten Modernisierungsmaßnahmen ist die Schrägseilbrücke zur Insel Russki, die den Steuerzahler alleine schon 34 Milliarden Rubel gekostet hat. Die Kostenexplosion um den APEC-Gipfel stößt bei der Opposition auf harsche Kritik: weil die Kosten zur Verbesserung der dortigen Infrastruktur die Baukosten vergleichbarer Objekte in anderen Regionen Russlands um ein Vielfaches überstiegen haben.

24. APEC-GIPFEL FINDET IN WLADIWOSTOK STATT

Der Hochleistungssport gehörte in der Sowjetunion zum Allerheiligsten. Über viele Jahre hinweg gelang es, der Konkurrenz des größten ideologischen Gegners – der USA – standzuhalten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 änderte sich die Situation: Während bei den Olympischen Sommerspielen in Seoul (1988) die Mannschaft der UdSSR noch mit großem Abstand die Sportler aus der DDR und den USA hinter sich ließ, mussten die

Russen in den darauffolgenden Jahren ihre Führungsposition an die Amerikaner abtreten. Bei der Sommerolympiade in London gewinnt das russische Team weniger Goldmedaillen als die Gastgeber und belegt hinter den USA, China und Großbritannien den vierten Platz. Tröstlich ist, dass es bei der Gesamtzahl der Medaillen immerhin auf Platz drei landet und sich nur von den Amerikanern und Chinesen geschlagen geben muss.

22. OKTOBER DER RUSSISCHE STAATSKONZERN ROSNEFT ÜBERNIMMT TNK-BP

15. SEPTEMBER

© MICHAIL KLIMENTIEW_RIA NOVOSTI

PRODUKTION VOM LEGENDÄREN LADA 2104 GESTOPPT

Ein Auto wie ein Bär: AwtoWAS, größter Automobilhersteller in Russland und Osteuropa, stellt die Produktion des in der Sowjetuni-

on so beliebten Lada 2104 ein. In Deutschland war das Modell bis Ende der 1990er-Jahre unter dem Namen Lada Nova zu haben. Die Stelle des robusten und schnörkellosen Klassikers mit Hinterradantrieb werden der vorderradangetriebene Lada Granta und die Modelle der Marken Renault und Nissan einnehmen.

ITAR-TASS

Nach Einschätzung des Architekturbüros Grumbach-Willmont, das durch seinen Projektentwurf für Groß-Paris bekannt geworden ist, könne auf dem neuen Territorium Wohnraum mit einer Gesamtfläche von 80 Millionen Quadratmetern entstehen. Für die Umsetzung des Projekts veranschlagen sie 35 Jahre und Kosten von 7,5 Billionen Rubel, umgerechnet 190 Milliarden Euro. Die Frage der Finanzierung ist allerdings noch nicht geklärt.

ITAR-TASS

Als Initiator des Projekts GroßMoskau tritt zu Beginn des Jahres 2012 der damalige Präsident Dmitri Medwedjew auf. Es ist eine seiner letzten Amtshandlungen. Nach der Eingliederung von 148 000 Hektar Moskauer Umland in die russische Hauptstadt vergrößert sich deren Fläche auf das Zweieinhalbfache. In das neue Groß-Moskau sollen Medwedjew zufolge alle staatlichen Behörden umziehen, einschließlich der Regierung und der Staatsduma.

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MOSKAU WIRD AN EINEM TAG ZWEIEINHALB MAL GRÖSSER – DURCH DIE EINGLIEDERUNG SEINES UMLANDS

14. OKTOBER

8. OKTOBER

DIREKTWAHL VON GOUVERNEUREN IN RUSSISCHEN REGIONEN – BRINGT KEINE ÜBERRASCHENDEN ERGEBNISSE

DIE ZWEITE RÖHRE DER OSTSEE-PIPELINE NORD STREAM IST IN BETRIEB GENOMMEN UND VERSORGT EUROPA MIT ERDGAS

AFP/EASTNEWS

umgehen. Mit Inbetriebnahme des zweiten Nord-Stream-Strangs können bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich nach Europa transportiert werden. Das reicht aus, um den Energiebedarf von 26 Millionen europäischen Haushalten zu decken.

Erstmals seit 2004 werden die Gouverneure, die früher vom Präsidenten ernannt wurden, direkt gewählt. In fünf Regionen bewarben sich 17 Kandidaten aus sechs politischen Parteien. Die entscheidende Frage bei diesem politischen Ränkespiel: ob es den Kandidaten der Regierungspartei Einiges Russland gelingen wird, ihre Konkurrenten im direkten Wettbewerb zu bezwingen. Die Sensation bleibt allerdings aus: Den Sieg tragen alle fünf Kandidaten von Einiges Russland davon – ihr Stimmenanteil (65–78 Prozent) liegt sogar deutlich über dem bei den letzten Dumawahlen (35–51 Prozent).

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Nord Stream ist ein internationales Konsortium, an dem Gazprom mit 51 Prozent beteiligt ist und die Wintershall Holding und E.ON jeweils 15,5 Prozent der Aktien halten. Eines der Hauptziele des Projekts ist es, die Transitländer Belarus und Ukraine zu

Erste Verhandlungen zu Russlands Beitritt in die WTO werden im Jahr 1995 aufgenommen. Am zähesten erweisen sich die Gespräche mit den USA und der EU. Die Meinungsverschiedenheiten mit der Europäischen Union können beigelegt werden, nachdem Russland das Kyoto-Protokoll unterzeichnet hat. Nach Einschätzung von Experten werden nach dem russischen WTO-Beitritt die Importzölle binnen der nächsten drei Jahre von 9,5 Prozent auf sechs Prozent sinken und dadurch dem Staatshaushalt 2013 Mindereinnahmen von 188 Milliarden Rubel (4,7 Milliarden Euro) und 2014 Mindereinnahmen von 257 Milliarden Rubel bescheren.

Der staatliche Erdölkonzern Rosneft übernimmt seinen größten Wettbewerber, den britisch-russischen TNK-BP, indem er 50 Prozent der Aktien vom britischen Energieriesen BP sowie 50 Prozent von dem russischen Oligarchenkonsortium AAP aufkauft. Für den Anteil der Briten zahlt Rosneft 17 Milliarden US-Dollar, für das Paket der russischen Aktionäre 28 Milliarden. BP erhält außerdem 12,8 Prozent der Rosneft-Aktien. Rosneft-Präsident Igor Setschin versichert, die Übernahme könne innerhalb eines halben Jahres abgewickelt werden, am 21. November erklärt Vizeministerpräsident Arkadij Dworkowitsch, dass die Regierung bereits alle Formalitäten abgesegnet hat. Nach dem spektakulären Milliardendeal wird Rosneft mit Abstand größter börsennotierter Ölkonzern der Welt vor dem amerikanischen Konkurrenten Exxon-Mobil (Esso). Lediglich Saudi Aramco, die nicht börsennotierte Ölgesellschaft Saudi-Arabiens, fördert noch mehr Öl.

Chefredakteur von Russland HEUTE Alexej Karelsky


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Internet

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IM GESPRÄCH

Hochleistungshybrid für das Netz 1,3 Milliarden Dollar sammelte Yandex 2011 beim Börsengang ein. Nun bringt es einen eigenen Browser. Generaldirektor Arkadij Wolosch erklärt, warum.

Was der YandexBrowser bietet

ANASTASIJA GOLIZYNA

In den Browser ist der Proxyserver Opera Turbo integriert, der die Seiteninhalte komprimiert und es gestattet, das Laden speziell von langsamen Internetzugängen zu beschleunigen. Außerdem ist der Cloudservice Yandex.Disc vorinstalliert – die Dateien des Users werden automatisch in der Cloud abgelegt und können von jedem Endgerät, auf dem der Browser installiert ist, genutzt werden. In die Benutzeroberfläche für Webanwendungen ist ein File-Viewer für PDFDokumente und der Adobe Flash Player eingebaut. Darüber hinaus enthält der Browser die Yandexeigenen Dienste E-Mail und Wörterbuch. Im russischen Internet betrug der Marktanteil des Browsers eine Woche nach dessen Präsentation 1,4 Prozent. Im November stieg der Marktanteil auf 2,1 Prozent.

Was hat Sie dazu bewegt, in den heiß umkämpften Browser-Markt einzusteigen? In der Vergangenheit waren wir bemüht, uns eher an fremde Plattformen anzupassen, statt mit ihnen zu konkurrieren. Wir waren der Meinung: Die Entwicklung von Browsern ist eine eigenständige Branche, und wir beteiligen uns daran lediglich über die Entwicklung von Cloud-Dienstleistungen. Das haben wir auch getan. Aber vor ein paar Jahren begann die Situation sich zuzuspitzen: Google pushte seinen Browser Chrome und begann, die Wettbewerber aktiv aus diesem Markt herauszudrängen. Heute sehen wir eine Entwicklung, die gegen jene Netzneutralität geht, die in der Vergangenheit von allen vehement verfochten wurde. Früher herrschte das Prinzip der Offenheit – das ist jetzt vorbei. Wir haben lange mit Mozilla kooperiert, aber der Browser wurde aufgekauft. Irgendwann war klar, dass wir um die Entwicklung eines eigenen Browsers nicht herumkommen. Aber wir haben bis heute ein gutes Verhältnis zu Opera, und wir entwickeln die Plattformen gemeinsam. Es gibt Gerüchte, dass Sie Opera übernehmen könnten? Nein. Was bleibt denn den unab-

Für Generaldirektor Arkadij Wolosch ist der neue Yandex-Browser kein Spielchen.

Womit browsen Russen und Deutsche im Netz?

NATALJA MICHAJLENKO

Was hat Ihr Browser, das andere nicht haben? Wir als Suchmaschine wissen viel über das Internet: Wir kennen den Content, die Linkstruktur des Internets, was die Nutzer suchen und anklicken. Unser Browser basiert auf der offenen Plattform Webkit und Chromium. Das bedeutet, dass Webdesigner ihre Seiten nicht an eine neue Plattform anpassen müssen. Aber es ist keine neu zusammengebaute Version von Chromium. Wir haben eine Plattform mit einem eigenen Interface geschaffen, einen Hybrid aus Suchmaschine und Browser. Zudem ist unser Browser darauf eingestellt, dass heute viele mobiles Internet nutzen: Die Frage der Geschwindigkeit spielt plötzlich wieder eine Rolle. In unserem Browser gibt es ein Instrument, das die Qualität der Übertragung überwacht, und in Abhängigkeit davon ändert sich das „Verhalten“ des Browsers.

PRESSEBILD

VEDOMOSTI.RU

hängigen Entwicklern? Früher waren wir der Meinung, dass wir als kleines Unternehmen nicht alles machen können und uns auf die Entwicklung von Diensten konzentrieren müssen. Wir waren sicher, dass wir immer Partner finden würden, die Bedarf an unseren Diensten haben, und wir so unsere Vertriebskanäle nicht verlieren. Aber vor Kurzem nahm Apple die Karten von Google aus seiner Plattform, und wir waren gezwungen, unsere Strategie anzupassen. Und das war gar nicht so einfach: Wenn man eine eigene Plattform mit allen dazugehörenden Diensten anbietet, muss man gewährleisten, dass diese von

Anfang an auf der ganzen Welt funktioniert, damit die gigantischen Entwicklungskosten wieder hereingeholt werden. Für den lokalen Markt wäre das mit viel zu hohen Kosten verbunden. Das ist auch der Grund, weshalb wir auf den Weltmarkt gehen. Manche Analysten werfen Yandex vor, sein Geschäftsmodell sei nicht ausreichend diversifiziert und der Erlös hänge ausschließlich von den Werbeeinnahmen ab. Planen Sie kostenpflichtige Dienste? Die Ökonomie des Internets beruht darauf, dass Hunderte Milliarden Dollar auf der Welt durch die Hardware erwirtschaftet wer-

den. Ein paar Dutzend Milliarden Dollar werden mit der Werbung verdient und einige Milliarden mit dem Verkauf von Inhalten wie Musik, Filmen und Büchern. Zusammengenommen beträgt der Gesamterlös aus dem Content nur einen Bruchteil des Werbemarkts. Die Umsätze von iTunes erscheinen im Vergleich zur Konkurrenz riesig, aber das Ganze dient wohl mehr zum Anheizen des Hardwarehandels, mit dem Apple Hunderte Milliarden umsetzt. Wer sagt, unser Geschäft sei nicht ausreichend diversifiziert, vergisst, dass dieses auf Hunderttausenden von Kunden basiert. Das bedeutet, dass es intern

durchaus ausreichend diversifiziert ist. Wir haben momentan lediglich einen kostenpflichtigen Dienst – unser Musikangebot für Handys. Und das auch nur deshalb, weil das eine Forderung der Rechteinhaber war. Es ist ja bekannt, dass Yandex an einer weltweiten Suchfunktion arbeitet und plant, so viele Internetseiten wie möglich zu indizieren. Wie steht es heute um dieses Projekt, und wie groß ist Ihre Datenbasis bereits? Wir haben Milliarden von Dokumenten indiziert. Und mittlerweile haben wir einen Index, der mit jenem der führenden Suchmaschinen mithalten kann – wir befi nden uns inzwischen in der Premier League der Suchmaschinen. Über einen solch mächtigen Index verfügen außer uns nur noch die Suchmaschinen Google und Bing. Was haben Sie in Zukunft damit vor? Sie benötigen ja wohl kaum einen solch riesigen Index ausschließlich für den russischen Markt ... Auf jedem lokalen Markt, in den wir einsteigen, muss auch auf globale Suchanfragen reagiert werden. Der globale Suchindex, über den wir verfügen, funktioniert gegenwärtig sowohl in Russland als auch in der Ukraine und in der Türkei. Dieser Beitrag erschien in der Online-Ausgabe der Zeitung Vedomosti


Gesellschaft

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Parteien Die russischen Piraten wollen zur Speerspitze im Kampf gegen die Einschränkungen des Internets werden

ANGELIKA WOHLMUTH RIA NOVOSTI

Rein äußerlich entspricht Pawel Rassudow nur ein ganz klein wenig dem abgeschmackten Stereotyp vom blassen Nerd – aber blass ist an so einem feuchtkalten Novembertag fast jeder. Ohne Augenklappe oder Jack-SparrowHut, dafür in Begleitung seiner Pressefrau, betritt Russlands Oberpirat ein Bierlokal im Moskauer Zentrum. Rassudow legt los, wie alles begann mit der russischen Piratenpartei, der PPR. Seit 2006 in Schweden die erste Piratenpartei auf der Politbühne auftauchte, hätten es die Russen geschafft, gleich dreimal Piratenparteien zu gründen und wieder aufzulösen, erklärt der aktuelle PPR-Chef. Dabei waren Gruppen am Werk, mit denen wohl niemand gerechnet hätte: Zum einen gab es Nationalisten, die sich völkische Reinheit in den Reihen der Netzaffinen wünschten, zum anderen – sage und staune – eine eigene Kreml-Piratenpartei, ein Simulacrum auf Stimmenfang. „Damals war außerdem eine recht konservative Lobby aktiv, die der Ansicht war, dass Piraten sich nur um Urheberrechte kümmern sollten“, erzählt der 29-Jährige. Erst im Jahr 2011 kamen die Themen Offenheit und direkte Demokratie dazu, das Weltbild nahm Form an: „Informationsfreiheit, offener Staat und Recht auf Privatleben – dafür stehen wir. Das Einzigartige an den Piraten ist, dass wir nicht über Religion, Fußball und politische Ideologien streiten. Wir suchen konkrete Entscheidungen, die jetzt und heute effektiv sind.“

Zensur ahoi! Konkretes Ziel für Russlands Piraten ist zurzeit die von der Regierung erstellte Ru-Blacklist, erwirkt durch das „Gesetz über den Schutz der Kinder vor Informa-

Russland HEUTE online

tionen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden“, das am 1. November in Kraft trat. Danach sollen als kinderschädlich eingestufte Seiten vom Netz genommen oder gesperrt werden. „Aber es trifft oft die Falschen“, sagt Stanislaw Schakirow, einer der Mitbegründer der Bewegung, der sich mittlerweile seinen Weg durch Moskaus verstopfte Straßen gebahnt hat, bevor er sich ein Bier bestellt. „Vor Kurzem landete auf der Blacklist etwa eine von Gerichtsmedizinern und Psychologen konzipierte Website, wo versucht wird, mit dem Mythos aufzuräumen, dass Selbstmord irgendwie romantisch ist, wie das oft in Musik und Kunst dargestellt wird. Sie beschreiben das Beispiel einer Schauspielerin, die ein schönes Kleid anzieht, sich mit Blumen schmückt und eine Überdosis nimmt. Dann muss sie sich natürlich übergeben, läuft mit dem angekotzten Kleid ins Bad, rutscht auf den Blumen aus und stößt sich den Kopf an der Badewanne usw. Den Rückmeldungen zufolge brachte die Website täglich 15 Menschen von ihren Suizidgedanken ab“, erzählt Schakirow.

Piraten ohne Regenbogen „Man muss erst mal zeigen, dass solche Gesetze nicht funktionieren, und den Bürgern beibringen, wie man sie umgehen kann. Und man muss denen, die sich so etwas ausdenken, klarmachen: ‚Was ihr auch unternehmt, es ist nicht effektiv.‘ Und man muss den Druck in Expertenrunden und bei Diskussionen verstärken, Aufklärung betreiben“, sagt der 25-jährige Programmierer. Das Internet kann ihm zufolge per se nicht unfrei sein. „Derartige Gesetze haben höchstens den Effekt, dass sie VPN, Tor oder dem Freenet mehr neue Nutzer zuspielen – da gibt es nämlich keine Zensur.“ In nicht allzu ferner Zukunft sieht sich Russlands Piratenpartei als einer der Hauptakteure, wenn es darum geht, auf die umstrittenen Verbots- und Einschränkungsgesetze Einfluss zu nehmen, die in letzter Zeit in Rekordgeschwindigkeit verabschiedet werden.

Das Idealbild eines Wählers der Piratenpartei: jung, städtisch und gut ausgebildet

Ein langer Weg zur Anerkennung Eine Online-Community der Piratenpartei Russlands formierte sich am 26. Juni 2009. Dieses Datum gilt als der offizielle Gründungstag der PPR. Im Dezember 2009 fanden die ersten Onlinewahlen des Vorsitzenden statt. Der heutige PPR-Chef Pawel Rassudow wurde im Juli 2010 gewählt. Im September 2010 nahmen die Mitglieder auf dem ersten gesamtrussischen Parteitag „Kurs auf die Registrierung der Partei und auf die Vereinigung aller Piratenbewegungen

Russlands“. Im Frühjahr 2011 wurde der PPR dann die Registrierung verweigert – „aufgrund mangelhafter vorgelegter Informationen über die Partei“ –, so das russische Justizministerium. Anfang Juli 2012 visierte man auf dem dritten Parteitag erneut eine Registrierung unter dem Namen „Piratenpartei Russlands“ an. Auf dem Parteitag nahmen 93 Delegierte aus 41 Regionen teil. Die PPR ist bis heute nicht registriert.

Parteichef Pawel Rassudow

er als Parteiloser antreten, weil die Piratenpartei noch immer um ihre Registrierung kämpft. Zuletzt hatte sie eine Absage erhalten – mit dem Hinweis auf die Illegalität von Meerespiraterie. Inwieweit die russischen Piraten den deutschen ähneln, darüber herrscht Uneinigkeit zwischen den beiden Parteien. Einen offensichtlichen Unterschied gibt es aber: „Wir drucken das Piratenlogo auf den verschiedensten Fahnen. Im Gegensatz zu Deutschland ist in Russland aber die Regenbogenflagge nicht dabei. Das Land ist da traditionell etwas homophober“, stellt Schakirow ironisch fest und wendet sich seinem mit deutschen und russischen Piratenstickern zugepflasterten MacBook zu.

ZAHLEN

5000

Beitrittswillige haben die Piraten nach Angaben der Gründer. Bislang wartet die Partei noch auf ihre Registrierung.

500

Mitglieder aus mehr als der Hälfte der 83 Regionen muss eine Partei haben, um registriert werden zu können.

Bei den Bürgermeisterwahlen in Kaliningrad schickten die Piraten, die laut eigenen Angaben mittlerweile russlandweit 30 000 Anhänger – davon 5000 Beitrittswillige – haben, erstmals ihren Kandidaten ins Rennen. Ein „zu den Piraten übergelaufener Offizier“, ZenBuddhist, glatzköpfig, tätowiert, schaffte es auf Anhieb auf über zwei Prozent. Allerdings musste

Der Staat uns untertan Jung, gut ausgebildet, städtisch, mit einem Sinn für die Krise der repräsentativen Demokratie: Die Wählerschaft der russischen Piratenpartei könnte frisch von einer Anti-Putin-Demo kommen. Schakirow sieht in ihr Gleichaltrige, die „das Paradigma eines zeitge-

© IGOR ZAREMBO_RIA NOVOSTI

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Dieser Artikel erschien bei der Nachrichtenagentur RIA Novosti

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mäßen Staates adäquat einschätzen – als einen Apparat, den wir angestellt haben, um uns zu dienen, um einige von unseren eigenen Problemen zu lösen, nicht umgekehrt.“ Ihn selbst zieht es allerdings nicht auf Demonstrationen. „Ob Putin oder Nawalny an der Macht ist, macht keinen Unterschied“, sagt er. Die russische Piratenpartei sei dabei, sich andere Nischen als Demonstrationen vor dem Kreml zu suchen: Erst gestern habe man die ganze Nacht lang eine Idee durchdiskutiert, die Ideologie, Aufklärung und PR vereint. Es geht dabei um Spiele für Smartphones und für die sozialen Netzwerke. „Das ist gute Promotion und erreicht Millionen von Leuten“ – und Kohle bringt es nebenbei auch ein. Die könnte die Piratenpartei dann in den Wahlkampf für die nächsten Wahlen zum Moskauer Stadtparlament investieren.

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Das Motto „Be happy – copy all“ haben die russischen Piraten im Westen kopiert. Nun warten sie auf ihre Registrierung – um dann das Moskauer Stadtparlament zu entern.

KOMMERSANT

Russlands Piratenpartei nimmt Kurs auf große Politik

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Meinung

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DER KREML ZIEHT DIE MAUERN HÖHER Stefan Melle JOURNALIST

NATALJA MICHAJLENKO

W

er sich schwach fühlt, baut Mauern um sich herum, schließt Türen und Fenster. Rüstet auf gegen angebliche Feinde. – Genau so reagierte die russische Führung unter Wladimir Putin auf die Bürgerproteste im Winter. Ihr Gesetz zu NGOs als von „ausländischen Agenten“ bevölkerte Institutionen ist nur ein Teil dieser Mauer: Es steht in einer Reihe mit der Beschneidung des Demonstrationsrechts, der Verschärfung der Paragrafen zu Verleumdung und Hochverrat, mit der exemplarischen Bestrafung der Band Pussy Riot und der Verfolgung populärer Oppositioneller. All dies wurde seit März ins Werk gesetzt, um jene Bewohner Russlands zu marginalisieren, die auf der Straße, in NGOs oder im Internet für eine pluralistische und weltoffene Gesellschaft eintreten. Das NGO-Gesetz diskreditiert die internationale Zusammenarbeit auf dem breiten Feld der Zivilgesellschaft, wie sie im 21. Jahrhundert eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, indem es Nichtregierungsorganisationen unter Pauschalverdacht stellt. Dabei gehört es zur Selbsttäuschung der Moskauer Elite, dass der Veränderungswille im eigenen Land und letztlich der Ruf nach Modernisierung ja nur vom Ausland gesteuert sein kann. Gehen Zehntausende auf die Straße oder

beobachten die Wahlen, nur weil sie Geld aus dem Ausland bekommen? Unsinn. Aber es passt offenbar nicht in Putins Weltbild, dass sich Menschen aus Russland für ideelle und völkerrechtlich verankerte Werte einsetzen – die im Übrigen auch in Russlands Verfassung eingeschrieben sind. Möglicherweise werden einige der betroffenen russischen NGOs ihre Finanzierung nun verstärkt im eigenen Land suchen, um einer Brandmarkung als „Agentenhochburg“ zu entgehen. So bat etwa die bekannte Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa kürzlich die

russische Bevölkerung, die Moskauer Helsinki-Gruppe per Crowdfunding zu unterstützen. Doch die Forderung des Kreml nach rein russischen Quellen für die Arbeit in Feldern wie Menschenrechten oder Wahlrecht ist ohnehin heuchlerisch, solange die Regierung signalisiert, dass sie eine solche Tätigkeit grundsätzlich für feindlich hält – egal, wer sie finanziert. All die hastigen Neuregelungen werden vermehrt mit angeblich ähnlichen Gesetzen in westlichen Ländern erklärt. Doch näheres Hinsehen lohnt. Beim NGO-Gesetz verwiesen die Autoren auf den

„Foreign Agents Registration Act“ in den USA. Der aber, 1938 gegen bezahlte Apologeten der deutschen Faschisten eingeführt, wird seither nur selten und dann gegen Personen ausländischer Geheimdienste angewandt. Auch gilt das Gesetz in den USA längst als überholt. Suchte die russische Führung wirklich nach solch einem Vorbild? Unrichtig ist auch, wie Umfragen beweisen, die Behauptung, das Wort „Agent“ werde im Russischen werteneutral aufgefasst – es ist bekannt, dass Wladimir Putin, der frühere Agent, genau auf diesem Wort bestanden hat. Um das Bild des Diskreditierungsund Isolierungswillens zu vervollständigen, brachten Duma-Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland kürzlich einen weiteren Gesetzentwurf ein, der bald auch alle Medien in Russland, an denen Ausländer zu mehr als 50 Prozent beteiligt sind, zu „Orten ausländischer Agenten“ erklären soll – eine Absurdität im international vernetzten Medienmarkt. In Deutschland müssten sich bei gleichem Verfahren Mitglieder von Vereinen, die von Gazprom oder der Stiftung Russkij Mir (Russische Welt) unterstützt werden, als „ausländische Agenten“ registrieren lassen – so etwas wäre undenkbar. Und auch über dieser Zeitung Russland HEUTE, die vom russischen Staat bezahlt wird, müsste die Aufschrift „von ausländischen Agenten gemacht“ prangen. Wenn Russland seinen Weg in einer vielfältigen, offenen Beziehung mit der Welt sucht, in echtem Pluralismus, wirtschaflicher Diversifizierung, Bildung, Kultur und einer starken, unabhängigen Zivilgesellschaft, wird es ohne Mauern stark sein – und ringsum Freunde haben. Der Autor ist Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Deutsch-Russischer Austausch.

UNTERSCHIEDLICHE DIALOGE Fjodor Lukjanow JOURNALIST

V

or dem diesjährigen Petersburger Dialog rechnete man aus bekannten Gründen mit einem Skandal. Zu einem offenen Konflikt kam es jedoch nicht, eher zu einem Meinungsaustausch über die innenpolitische Situation in Russland – allerdings, wie so oft zwischen Berlin und Moskau, im Schatten geschäftlicher Fragen. Und obwohl Putins Bemerkung zu Pussy Riot in Deutschland, wo man gegenüber dem Schicksal der inhaftierten Frauen sehr sensibel reagiert, eine weitere Welle der Empörung hervorgerufen hat, blieben im Großen und Ganzen alle bei ihren Standpunkten. Aber die Annahme, in den russisch-deutschen Beziehungen ändere sich nichts, ist falsch: Die po-

litischen und wirtschaftlichen Beziehungen befinden sich in einer einander entgegengesetzten Schwingungsphase. Der Fall „Pussy Riot“ demonstriert anschaulich, dass die europäischen und die russischen Sichtweisen nicht miteinander korrespondieren. In Europa spricht man von politischer Verfolgung und Einschränkung der Meinungsfreiheit, in Russland werden Gotteslästerei, Frevelhaftigkeit und Verletzung religiöser Gefühle thematisiert. Es ist klar, dass diese Diskussion auf beiden Seiten ein propagandistisches Element enthält, aber entscheidender ist das Aufeinanderprallen der Weltanschauungen: der liberalen, zutiefst im modernen Europa verwurzelten und der in Russland verankerten traditionalistischen. In der Wirtschaft ist alles anders. Nach dem WTO-Beitritt Russlands

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nimmt das Interesse der europäischen Geschäftswelt an dem Land zu, als Rohstoffquelle, aber auch als nahezu unerschöpflichem Absatzmarkt und als Land, das einer technologischen Partnerschaft mit den führenden Unternehmen und Staaten bedarf. In einem inoffiziellen Gespräch bemerkte unlängst ein hochrangiger europäischer Politiker: „Wie Russland sich auch entwickeln mag – man muss anerkennen, dass es für uns das letzte Eldorado ist.“ Was natürlich vor dem Hintergrund der allgemeinen Stagnation der Europäischen Union und den beunruhigenden Tendenzen in der Welt sehr große Bedeutung hat. Deshalb sind auch deutsche Geschäftsleute aufs Äußerste daran interessiert, dass die politischen Unstimmigkeiten ihre Arbeit auf dem russischen Markt nicht behindern.

Wie lassen sich diese beiden gegenläufigen Trends – die politische Entfremdung und der wachsende wirtschaftliche Austausch – unter einen Hut bringen? Der Petersburger Dialog hat gezeigt, dass man sich auch mit unterschiedlichen Ansichten an einen Tisch setzen kann. Die Dissonanz kann jedoch nicht ewig weiterbestehen. Eines Tages wird sich der Westen damit abfi nden müssen, dass es in Russland eigene Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft gibt, oder Russland beginnt, europäische politische Standards anzunehmen. Andernfalls wird die wirtschaftliche Zusammenarbeit an diesem politischen Widerspruch scheitern. Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114 Artdirector: Andrej Shimarskiy, Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa

REFLEKTIERT

Sag’s auf Französisch Der Ulenspiegel ZEITZEUGE

2012

war „ein schwieriges deutschrussisches Jahr“, meint die Deutsche Welle und zählt dafür gewichtige Gründe auf. Die reichen von Pussy Riot über die Kritik des Bundestagsabgeordneten Schockenhoff bis zum angespannten Verhältnis der Präsidenten Putin und Gauck. Ist alles richtig – aber: Welches deutsch-russische Jahr war jemals einfach? Da muss man weit in die Vergangenheit zurückgehen. Reichlich 20 Jahre, in das Jahr 1989 beispielsweise, als die Sowjetunion dafür sorgte, dass die Deutschen aus Ost und West unblutig zueinanderfanden. Oder 100 Jahre, in das Jahr 1922. Damals vereinbarten die Weimarer Republik und das revolutionäre Russland, zwei Außenseiter der Völkergemeinschaft, in Rapallo eine breite Zusammenarbeit. Oder knapp 200 Jahre, in das Jahr 1813, als russische Truppen, begeistert von deutschen Patrioten empfangen, Napoleon aus Deutschland vertrieben. Und Deutsche müssen wohl zugeben: Die besonders schwierigen deutsch-russischen Jahre – wie etwa das Jahr 1941 – gehen auf ihre Kappe. Schwankungen gibt es immer in den Beziehungen zwischen Ländern. Auch das Verhältnis der Deutschen zu Frankreich ist nicht immer nur voller Sonnenschein. Aber es gibt einen Unterschied. Mit den westlichen Partnern streitet sich Deutschland um Geld und Einfluss, von der Landwirtschafts- bis zur Außenpolitik. Jede Seite möchte ihre Interessen durchsetzen. Aber es würde einem deutschen Politiker wohl kaum einfallen, ein Sündenregister zusammenzustellen und es öffentlich zu verlesen, in dem steht, was in Staat und Gesellschaft bei einem Nachbarn so alles schiefläuft. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es beispielsweise in Frankreich etwas gesitteter zugeht als in der Russischen Föderation. Es liegt aber auch an der deutschen Grundhaltung gegenüber den verschiedenen Himmelsrichtungen. Sehen Deutsche nach Westen, sind sie froh, wenn sie nicht selbst eins auf den Deckel kriegen. Nicht so, wenn sie Richtung Osten blicken. Hier erheben westliche Staaten ohne Bedenken den Zeigefinger. Zu tatsächlich vorhandenen Problemen kommt noch ein Gefühl der moralischen Überlegenheit. Solange deutsche Politiker dieses nicht ablegen, werden auch die kommenden deutsch-russischen Jahre „schwierig“ sein.

Leiter Bildredaktion: Andrej Sajzew, Bildredaktion: Nikolaj Koroljow Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Karelsky. Zu erreichen über Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschinerstraße 8, 81677 München Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

NACHRUF

Orient und Okzident

Der Letzte

DPA/LEGION-MEDIA

Kuratorin Ulrike Weinhold bereitet im Dresdener Residenzschloss die neue Sonderausstellung vor.

© MUSEEN DES MOSKAER KREML; S. BARANOV, W. OWERTSCHENKO

Am 1. Dezember wurden die Pforten des Dresdener Residenzschlosses, dem Herzstück der Staatlichen Kunstsammlungen, für eine außergewöhnliche Ausstellung geöffnet. ANGELIKA KETTELHACK

Unter dem vielversprechenden Titel „Zwischen Orient und Okzident“ und dem Zusatz „Schätze des Kreml von Iwan dem Schrecklichen bis Peter dem Großen“ wurde die Neugier des Publikums geweckt. Und das sicher auch, weil ein Teil der Exponate im Dresdener Residenzschloss nicht nur aus dem russischen Kulturkreis stammt, sondern auch aus dem persischen und osmanischen. Die für die Ausstellung ausgewählte Zeitspanne erstreckt sich auf die Zeit zwischen 1547, als Iwan der Schreckliche sich eigenmächtig zum Zaren ernannte, bis zu Peter dem Großen, der 1712 St. Petersburg zur neuen Hauptstadt des russischen Zarenreichs machte. Die Kunstsammlungen, die in jener Zeit zusammengetragen wurden, bestanden und bestehen unter anderem aus „diplomatischen“ Geschenken der anderen Völker Europas und des Osmanischen Reichs.

Schätze als Beweis Dazu erklärt Dirk Syndram, Direktor des Grünen Gewölbes und der Rüstkammer der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden: „Die Rüstkammer im Kreml besitzt die größte historisch gewachsene Sammlung europäischen und insbesondere Augsburger und Nürnberger Silbers weltweit. Diese

KULTURKALENDER

© MUSEEN DES MOSKAER KREML

FÜR RUSSLAND HEUTE

Ergiebiger Kunsttransfer

Links: Maske, Persien, 16. Jahrhundert, rechts: Adler mit Zepter und Reichsapfel, Augsburg, Mitte des 17. Jahrhunderts

entstammt den Gesandtschaftsgeschenken des 16. bis 18. Jahrhunderts, wurde aber auch durch gezielte Erwerbungen der Zaren und anderer Hochadeliger gebildet.“ Mit diesen kostbaren Kunstgegenständen stellten die Zaren die bedeutende Rolle Russlands im politischen und wirtschaftlichen Machtgefüge Europas unter Beweis. „Moskau und der Kreml entwickelten sich im 16. Jahrhundert unter Iwan IV. zum Kreuzpunkt der Kulturen, insbesondere der persischen und osmanischen wie auch der europäischen. Insofern wurden in den Werkstätten des Zaren auf dem Kreml stilistische Einflüsse der osmanischen, der abendländischen und russischen Kultur miteinander zu Kunstwerken und Objekten vereint“, so Syndram.

THEATER DEPOT FÜR GENIALE IRRTÜMER 8. UND 9. DEZEMBER, HAUS DER BERLINER FESTSPIELE

ses Preziosen, Gewänder, edle Gefäße und eben auch die wertvollen europäischen Goldschmiedearbeiten wie auch türkische und persische Prunkwaffen zu sehen, ergänzt durch 23 Leihgaben der Staatlichen Kunstsammlungen und diverser deutscher Bibliotheken. Gedacht ist die Ausstellung auch als ein Gegengeschenk der Russen für die deutschen und insbesondere die Dresdener Kunstliebhaber, die ihre Schätze schon 2006 unter dem Titel „Das Juwelenkabinett Augusts des Starken. – Aus der Sammlung des Grünen Gewölbes Dresden“ in diverse Moskauer Museen geschickt hatten. Nach ihrer Reise konnten die Ausstellungsstücke dann endlich wieder an ihren angestammten Ort zurückkehren: Inzwischen war das Grüne Gewölbe im Residenzschloss im barocken Stil rekonstruiert und saniert worden. „Bereits 2006, also mit der Ausstellung des Grünen Gewölbes auf dem Kreml, kam die Idee auf, diesen Besuch durch den Kreml erwidern zu lassen“, sagt Dirk Syndram, und Hartwig Fischer, Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, ergänzt: „Wir freuen uns nun sehr, dass sechs Jahre später einzigartige Kunstwerke der KremlMuseen nach Dresden kommen und in den Paraderäumen des Residenzschlosses präsentiert werden können.“

Die Schätze des Kreml wurden aber auch deshalb mit Spannung erwartet, weil die Ausstellung einen weiteren Beitrag zum Russlandjahr in Deutschland und zum Deutschlandjahr in Russland 2012/2013 liefert. Hatte doch dieses „Jahr des kulturellen Austauschs“ schon Ende August mit dem Musikfestival „Strahlende Sterne Russlands“ Tausende Berliner auf die Straße gelockt und – mit einem Galakonzert auf dem Gendarmenmarkt als Höhepunkt – die besten russischen Ensembles aus Tanz und Musik in die deutsche Hauptstadt geholt.

Schätze als Geschenk Jetzt, im Dezember, sind auf 700 Quadratmetern der noch im Rohbau befi ndlichen Paraderäume des Dresdener Residenzschlos-

FEIER DEUTSCHE UND RUSSISCHE WEIHNACHT IM VERGLEICH 13. DEZEMBER, RUSSISCHES HAUS DER KULTUR UND WISSENSCHAFTEN, BERLIN

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

Im Zuge des zwölftägigen Festivals „RusImport“ führt das Petersburger Untergrundtheater AKHE auf einen ungewöhnlichen Trip: Ihre Performance basiert auf wissenschaftlichen Irrtümern der letzten 100 Jahre und sprengt die Grenzen des Theaters.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten diskutieren die Leiterin des Deutschen Weihnachtsmuseums und der Stellvertretende Vorsitzende der PuschkinGesellschaft. Dazu gibt es Kulinarisches und Musik aus beiden Ländern.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› berlinerfestspiele.de

› deutsch-russisches-forum.de

Auf wissenschaftlichem Gebiet arbeiten die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden seit Langem eng mit russischen Museen zusammen. So auch mit dem Puschkin-Museum in Moskau und vor allem der Eremitage in St. Petersburg. „Es konnten beispielsweise“, sagt Hartwig Fischer, „in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem A.S.-Puschkin-Museum unter dem Titel ‚Kunsttransfer‘ die deutsch-russischen Kulturbeziehungen seit dem 17. Jahrhundert erforscht werden. Die Ergebnisse, die nach fünf Jahren gemeinsamer Arbeit zusammengetragen wurden, waren für beide Seiten sehr ergiebig.“ Sie mündeten in diverse Präsentationen, in denen die Staatlichen Kunstsammlungen auch „die Rückgabe derjenigen Dresdener Kunstwerke würdigten“, so Fischer, „die in der Folge des Zweiten Weltkriegs in die ehemalige Sowjetunion gebracht wurden und zwischen 1956 und 1958 nach Dresden zurückgekehrt waren.“

FILM ANNA KARENINA AB 6. DEZEMBER, DEUTSCHLANDWEIT

Keira Knightley als Anna Karenina, Jude Law als ihr Ehemann – die zwölfte Verfilmung von Tolstojs Roman aus Großbritannien kommt vollkommen ohne Russen und russische Drehorte aus. Und doch fühlt sich der Film russisch an – so, wie man sich Russland eben vorstellt: goldene Kuppeln, Epauletten und Schnee.

ITAR-TASS

Ausstellung Bis zum März 2013 können in Dresden die Schätze des Kreml bewundert werden

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Nach dem Tod Ray Bradburys im Sommer ist nun mit Boris Strugatzki der letzte ScienceFiction-Autor gestorben, den man als einen lebenden Klassiker des Genres bezeichnen konnte, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Bild der SF geprägt hat, ehe Hollywood die Anhäufung visueller Effekte zur Hauptsache machte. Auch Präsident Putin würdigte den Schriftsteller nach dessen Tod, obwohl Strugatzki in den letzten Jahren als Unterzeichner von Protestnoten sein nach wie vor enormes Prestige in die Waagschale für Demokratie und Rechtsstaat geworfen hatte. Dieses Prestige gründete sich vor allem auf das Œuvre, das er mit seinem Bruder Arkadi geschaffen hat und mit dem die beiden in der Sowjetunion weit über die Intelligenzija hinaus eine moralische Autorität erlangten, die man sich im Westen kaum vorstellen kann. Mithilfe spannender Sujets und fantastischer Ideen konnten sie ethische, philosophische und politische Fragen so extrapolieren, dass eine anschauliche literarische Umsetzung überhaupt erst möglich wurde. Die Verfremdung, um an der Zensur vorbei unliebsame Dinge zu sagen, spielte dabei erst in zweiter Linie eine Rolle, die Strugatzkis waren keine typischen Dissidenten. Darum hat sich die Aktualität ihrer Werke mit dem Ende der UdSSR nicht erledigt: Wie man sich gegenüber einem übermächtigen Anpassungsdruck verhalten, wie in einer hedonistischen Gesellschaft seine inneren Werte bewahren, ob man dem „objektiven“ Fortschritt sein Menschsein opfern soll – manches dieser Probleme ist heute akuter als damals, da die Strugatzkis es aufwarfen. Boris Strugatzki hat diese Linie nach dem Tode seines Bruders 1991 weiterverfolgt, seine beiden allein verfassten Romane sind in der Machart kaum vom gemeinsamen Spätwerk zu unterscheiden, nur die Perspektive hat sich geändert: Während die Handlung in „Die Suche nach der Vorherbestimmung“ fast die gesamte sowjetische Nachkriegsgeschichte ins Bild setzt, zeigt „Die Ohnmächtigen“ die Enttäuschung über die Entwicklung im neuen Russland, über die bleierne Trägheit der Verhältnisse – aber auch die Entschlossenheit, zu kämpfen, solange die Kraft reicht. Das hat Boris Strugatzki getan. Erik Simon hat das Werk Strugatzkis übersetzt, lektoriert und herausgegeben.


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Porträt

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Provinz Wiktor Jemez, Citymanager von Kostroma, will seine Stadt wie ein Unternehmen verwalten

Für die Bürger, gegen die Gesetze Dann platzt Wiktor Jemez doch noch der Kragen: „Ich sag Ihnen doch, ich bin erst seit 19. Juli im Amt! Was hier vorher getan oder nicht getan wurde, dafür kann ich nichts!“ MORITZ GATHMANN RUSSLAND HEUTE

Wiktor Jemez, in Jeans, Hemd und Lederjacke, steht mit seiner Frau im ersten Stock eines Kindergartens im Zentrum von Kostroma, um ihn herum frustrierte Mütter: Die Bleibe für 80 Kinder sollte nach einem Jahr Umbau am 1. September eröffnet werden, aber Mitte Oktober wird immer noch gebaut. Der Ärger der Mütter ist verständlich: Die Menschen sind auf ihren Kindern „sitzengeblieben“, weil die Stadt nicht Wort gehalten hat. Jemez verspricht, dass der Kindergarten am 1. Dezember bezugsfertig sein wird. „Sie reden immer nur, aber wer gibt uns eine Garantie?“, schimpft eine junge Mutter und hört gar nicht mehr auf. Jemez schlägt vor, lieber die Räume zu besichtigen. Am Ende seines Besuchs verspricht er den Eltern, zusammen mit ihnen auch am nächsten Samstag den Fortschritt der Bauarbeiten zu begutachten. Dann setzt er sich mit seiner Frau in den schwarzen Dienstjeep und fährt davon. Der 36-jährige Jemez ist seit Juli Citymanager der Stadt Kostroma, etwa 300 Kilometer nordöstlich von Moskau. Den „city manager“ haben sich die Russen in den USA abgeschaut: Er wird nicht gewählt, sondern von der Stadt angestellt, um, ja, die Stadt zu managen. In Kostroma ist das kein Spaß: Die Stadt hat ein wunderschönes Zentrum aus der Zarenzeit, aber die meisten Gebäude sind baufällig. „Wenn wir nichts unternehmen, sind wir in zehn bis 15 Jahren am Ende“, schätzt Jemez. Die Infrastruktur wurde seit dem Ende der Sowjetunion notdürftig geflickt, aber nie erneuert. Die Wasserrohre sind zu 85 Prozent abgenutzt, das Heizsystem zu 90 Prozent: „Man müsste 16 bis 20 Milliarden Rubel investieren, aber die haben wir nicht“, sagt Jemez. Und dann ist da noch die einzige Brücke über die Wolga, die baufällig ist und dringend renoviert werden muss.

KOMMERSANT (3)

Manche Rohre unter der Erde der Stadt stammen aus der Zarenzeit (oben). Wiktor Jemez, Citymanager von Kostroma (unten)

Jemez ist kein typischer russischer Beamter: Er hat einen MBA in strategischem Management von der Moskauer Higher School of Economics, die letzten 15 Jahre war er Manager, gründete die erste Personalagentur in Kostroma, leitete eine Supermarktkette, eine Möbelproduktion und eine Kleiderfabrik. Er ist fest davon überzeugt, dass man eine Stadt so managen kann wie ein Unternehmen. Damit steht er für einen neuen, bislang wenig verbreiteten russischen Beamtentypus. In seinem Arbeitszimmer sucht man vergeblich nach einem Putin-Porträt – sonst Standard in den Zimmern russischer Beam-

Einstein statt Putin Mit ähnlichen Problemen kämpfen viele russische Städte. Aber andere haben mehr Geld: 3,5 Milliarden Rubel, etwa 90 Millionen Euro, hat Jemez 2012 zur Verfügung. Es reicht nicht, weder hinten noch vorne. Ein Grund ist, dass die Stadt ein Viertel der eingesammelten Steuern ans Staatsbudget abtreten muss – und mehr als die Hälfte an die Gebietsverwaltung, weil die finanziell noch schlechter dasteht.

ter. Nur ein Nagel ragt aus der Wand, von einem Tischchen streckt Albert Einstein Hereinkommenden die Zunge heraus. Zu Jemez’ Stil gehört auch, dass er mit Journalisten offen über alles spricht. Über Korruption etwa, an die sich die meisten Beamten gewöhnt haben. „Ich kontrolliere die städtischen Aufträge persönlich“, sagt er. Wie das konkret aussieht? Eine Mitarbeiterin legte ihm ein Angebot für Visitenkarten vor. Jede Karte sollte demnach acht Rubel kosten. „Ich weiß aber, dass Visitenkarten nur zwei bis drei Rubel kosten“, sagt er. Kurzerhand rief Jemez mehrere Druckereien an, die ihm den Preis bestätigten.

„Es war klar, dass die Mitarbeiterin bei der Auftragsvergabe einen Umschlag mit Geld bekommen hatte. Ich hab sie noch am gleichen Tag entlassen.“

„Arme und Beine gebunden“ Aber ist diese „manuelle Verwaltung“ nicht ein Armutszeugnis für seine Beamten? Jemez hat sich dazu eine Frist gesetzt: „Wenn ich in einem Jahr noch immer von sechs Uhr morgens bis abends um neun arbeiten muss, heißt das, dass ich es nicht geschafft habe, die Kompetenzen zu verteilen.“ Er spricht sogar offen darüber, dass er manchmal die Gesetze brechen muss – zum Wohle der Bür-

ger: Die Handwerker, die den Kindergarten nicht fertiggebaut hatten, ließ er von der Polizei vom Grundstück werfen. Und beauftragte eine gut beleumundete Firma, die sich verpflichtete, das Gebäude bis zum Winter zu sanieren. „Dafür werde ich persönlich 50 000 Rubel (1250 Euro) Strafe zahlen müssen, denn laut Gesetz hätte ich den Auftrag neu ausschreiben müssen“, sagt er. Mit dem Gesetz über Staatsaufträge, das Firmen mit dem günstigsten Angebot den Auftrag sichert, werde er noch öfter in Konflikt kommen, glaubt Jemez. Denn das gegen Korruption gerichtete Gesetz führe in der Praxis oft zu schlechter Qualität. Auf die örtlichen Journalisten macht der neue Citymanager einen guten Eindruck. „Aber in vielen Fällen sind ihm Arme und Beine gebunden“, sagt der Journalist Albert Stepanzew. Viele politische und wirtschaftliche Strukturen würden von Moskau gesteuert. Es gab da etwa vor Kurzem diesen Unfall im Heizsystem: Während die Mieter eines Hauses vor sich hinfroren, erklärte der Direktor des Unternehmens – einer Tochterfirma von Gazprom – den Behörden, dass alle Mängel beseitigt seien. Jemez überzeugte sich persönlich vom Gegenteil. Aber erst ein Anruf des Gouverneurs bei Gazprom in Moskau sorgte dafür, dass das System repariert wurde. Jemez’ Vertrag läuft bis 2015, und trotz schwieriger Lage glaubt er an seinen Erfolg: „Aber ich bin kein typischer Beamter: Wenn ich scheitere, ist das nicht mein Ende.“

ITAR-TASS

Business auf Russisch – Business as usual? Womit Unternehmer in Russland konfrontiert sind

6. Februar


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