Russland HEUTE

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Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

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Ein Fotograf muntert krebskranke Kinder auf.

Journalist Oleg Kaschin sieht in den reaktionären Gesetzen des Kreml „Vorrat“ für eine zukünftige Liberalisierung.

Wie Thomas Diez zum orthodoxen Priester wurde

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MAJA ZSCHADINA

NURIJA FATYKHOWA

Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 6. Februar 2013

Doch keine Russenpeitsche

Schachtjor Donezk, Zenit St. Petersburg und Bate Borisow in einer Liga? Von einer Wiedergeburt der „Fußballmeisterschaft der Sowjetunion“ träumen die von den nationalen Meisterschaften gelangweilten Fans aus der Ukraine, Belarus und Russland schon länger. Nun könnte sie Wirklichkeit werden – diesmal allerdings auf freiwilliger Basis. Dahinter stecken freilich handfeste finanzielle Interessen der führenden Clubs. Und FIFA-Chef Sepp Blatter? Ist strikt dagegen. SEITE 14

Vorposten in Sibirien Gegründet als Vorposten der Kosaken, wurde Tomsk zur Hauptstadt Sibiriens. Diesen Status hat sie verloren, geblieben ist eines der wichtigsten russischen Zentren für Wissenschaft und Forschung. Zuletzt hat Tomsk sich seiner Vergangenheit besonnen – und einige Architekturperlen aus seiner Gründerzeit restauriert.

© ROMAN DENISOW_RIA NOVOSTI

„Jetzt kommt die Russen-Peitsche!“, trumpfte die BILD im November auf, vulgo für die Aussage eines Meteorologen, aus Osteuropa ströme eiskalte Luft nach Deutschland. Dann traf die Russenpeitsche die vermeintlichen Verursacher selbst: „Bis zu minus 57 Grad. Russen bibbern im intensivsten Winter seit einem halben Jahrhundert“ titelte eine große deutsche Zeitung. Die Russen „stöhnten“, das Land wurde „lahmgelegt“, und dort lebende Deutsche erhielten besorgte E-Mails. Manche antworteten entnervt in Rundmails: „Alles Humbug!“ Tatsächlich war der Weltuntergang kurz nach Weihnachten ein Bluff: Minus 57 Grad gab es wirklich – aber in der Republik Jakutien, schlappe 5100 Kilometer entfernt von Moskau. Wenn man in jenen Breitengraden an etwas gewöhnt ist, dann an Kälte. In Moskau fiel die Temperatur auf minus 20, für Dezember etwas frisch, aber keine Katastrophe. Eine Katastrophe war dafür der Schneefall im Januar: Der legte den Verkehr in der Hauptstadt lahm. Ach ja, die „Russenpeitsche“. Die bescherte Deutschland Minustemperaturen im einstelligen Bereich.

Championsliga des Ostens

In der Republik Jakutien sind Temperaturen von minus 50 Grad im Winter reine Routine.

THEMA DES MONATS

Kein schöner Land für Unternehmer? 17 Prozent der russischen „Bisnesmeny“ sind laut Umfrage bereit, ihr Land zu verlassen. Boris Titow, Ombudsmann für ihre Belange, glaubt an eine Verbesserung der Lage und mit ihm westliche Investoren, die russische Start-ups finanzieren. SEITEN 6 BIS 9

© EKATERINA TSCHESNOKOWA_RIA NOVOSTI

GESCHÄFTSKLIMA RUSSKIJ BUSINESS JENSEITS VON STATISTIKEN

Virennetzwerk aufgedeckt Ein weltweit operierendes Netzwerk von durch Trojaner infizierten Computern, Hunderte Terabyte an vertraulichen Daten gestohlen – selbst der vorläufige Schadensbericht von Kaspersky Lab lässt Datenschützern die Haare zu Berge stehen. Das russische Virenschutzunternehmen

hat bekanntgegeben, dass es ein über die ganze Welt verteiltes Netzwerk aufgedeckt hat. Seit 2007 verschafften sich Cyberkriminelle Zugang zu Rechnern von Botschaften, Militär- und Forschungseinrichtungen. SEITE 11

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INHALT G20 Russland übernimmt Vorsitz WIRTSCHAFT

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Eisenbahn Auf der Breitspur bis Wien

Buddha für die Leinwand

WIRTSCHAFT

Der Schriftsteller Wiktor Pelewin ist Kult – nicht nur in Russland: Jetzt wird sein Roman „Buddhas kleiner Finger“ in Leipzig verfilmt. Dabei geht es um einen Kleinkriminellen im wilden Russland der 90er-Jahre, der sich in

die heldenhaften Jahre des russischen Bürgerkriegs träumt. Mit von der Partie bei der kanadischdeutschen Koproduktion ist unter anderem Schauspieler Stipe Erceg.

Automobil VW baut jetzt Audis in Kaluga

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WIRTSCHAFT

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Politik

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Prognose Die Zeitschrift Russkij Reporter wagt einen Ausblick auf das Jahr 2013

Es wird wohl kein Erdbeben geben

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ITAR-TASS

1 Die Oppositionsführer Alexej Nawalny (Mitte) und Sergej Udalzow (links) erwartet 2013 ein Prozess. 2 Es ist fraglich, wie lange sich Premierminister Dmitrij Medwedjew auf der politischen Bühne noch halten wird. 3 Ex-Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow (Mitte) steht im Zentrum einer Korruptionsaffäre.

Bei der Bestandsaufnahme für das Jahr 2012 stellten wir vom Magazin Russkij Reporter fest, dass das politische Erwachen in Russland mit einer konservativen Konterrevolution endete, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Es gibt kaum Gründe anzunehmen, dass sich daran im neuen Jahr viel ändern wird. Allerdings gibt es einige Ereignisse, die vielleicht kein großes politisches Erdbeben auslösen werden, aber das Land doch ernsthaft ins Wanken bringen könnten.

KOMMERSANT

DMITRIJ KARZEW RUSSKIJ REPORTER

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Premier Medwedjew steht auf Abruf bereit Wie lange noch wird Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew unter Präsident Putin seinen Posten behalten? Über den baldigen Rücktritt Medwedjews wurde praktisch vom Tag seiner Ernennung gemunkelt. Aber um die Situation richtig einzuschätzen, muss man verstehen, wozu Putin den Ministerpräsidenten eigentlich braucht. Vor fünf Jahren war dieser der ideale Stellvertreter des ersten Mannes im Staate. Heutzutage jedoch besteht sein Nutzen nicht in dem Posten, den er bekleidet, sondern in dem, den er nicht beklei-

det – den eines unabhängigen Oppositionsführers mit reicher politischer Erfahrung. Auf Medwedjew ist die liberale Opposition ausgerichtet, und seine Mitwirkung an der Regierung bindet dieser die Hände. Was ist besser für Putin: Medwedjew weiter einzubinden und damit die Einheit der Regierungsmannschaft aufs Spiel zu setzen oder die Oppositionellen aus der Regierung zu drängen? Aristoteles hat in seiner „Politik“ davon abgeraten, die Herausbildung einer neuen Oligarchie innerhalb der vorhandenen zuzulassen. Aber es gibt auch noch einen anderen Weg, die in-

ternen Gruppierungen zu bekämpfen: sie in der Umarmung zu ersticken. In ihrer letzten Konsequenz bedeutet die eine wie die andere Taktik Medwedjews Rücktritt, die Frage ist nur – wann. Die Antwort hängt unter anderem von einigen äußeren Faktoren ab. Unsere Prognose: Putin zögert die Entscheidung so lange hinaus, bis klar ist, ob es zu ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten kommen wird oder nicht. Wenn ja, wird Medwedjews Kabinett nicht vor deren Kulmination zurücktreten. Doch wenn alles ruhig bleibt, erfolgt der Rücktritt recht schnell. Ein wichtiger Faktor ist auch, dass der Präsident Akzente setzen muss. Wenn sich in den dafür nötigen Fristen keine anderen Gelegenheiten dafür bieten sollten, wird der Rücktritt des Kabinetts unter Medwedjew noch wahrscheinlicher.

Oppositionelle vor Gericht Alexej Nawalny kommt wahrscheinlich mit einem blauen Auge davon. Radikalen Regierungsgegnern droht Gefängnis. Wie werden die Urteile im Prozess um die gewalttätigen Proteste vom Mai 2012 ausfallen? Wird der extreme Linke Sergej Udalzow in diesem Zuge wegen „Vorbereitung zum Umsturz“ eingesperrt? Landet der Oppositionsführer Alexej Nawalny wegen Betrugs im Gefängnis? Werden also die Strafverfahren dafür genutzt, Teile der Opposition

zu verfolgen und ins Abseits zu katapultieren? Unsere Prognose: Für die Opposition der Straße gilt in etwa die gleiche Logik des Einbindens und Abstoßens wie für die „Systemopposition“. Das bedeutet einen fairen Umgang mit denen, die noch einen Rest Loyalität bewahrt haben, und ein hartes Durchgreifen gegenüber den radikalen Regierungsgegnern. Die strafrechtliche Verfolgung der Oppositionsführer Alexej Nawalny und Sergej Udalzow entwickelt sich nur langsam: Ende 2012 wur-

de beiden die Anklage verlesen, aber anders als viele ihrer weniger bekannten Anhänger befinden sie sich vorerst noch in Freiheit. Es wird offenbar manövriert. Nawalny, zuverlässiger Kanal für kompromittierendes Material aus dem Machtapparat und seit 2012 Aeroflot-Vorstandsmitglied, bleibt wohl auf freiem Fuß – mit dem Damoklesschwert der Anklage über sich. Bezeichnend ist, dass ihm nicht politische, sondern ökonomische Tatbestände vorgeworfen werden. Udalzow dagegen könnte im Gefängnis landen.

Wer wählt die Gouverneure? Welche Chancen können sich Oppositionskandidaten bei Gouverneurswahlen in den russischen Regionen ausrechnen? Erst vor einem Jahr hatte Präsident Medwedjew die Direktwahlen der Gouverneure wiedereingeführt – als Zugeständnis nach den Winterprotesten. Im September 2013 sollen nun neue Gouverneure in acht russischen Regionen gewählt werden. Zwischenzeitlich hat die Duma ein Gesetz angenommen, das es den Regionen auch gestattet, zur Variante der Gouverneursernennung durch die Parlamente zurückzukehren, nämlich dann, wenn Direktwahlen zu ethischen Konflikten führen könnten, etwa im kaukasischen Dagestan. Die Direktwahlen auf regionaler Ebene wurden eingeführt, um oppositionellen Kandidaten eine größere Chance einzuräumen. Die Erfahrung des letzten Jahres hat jedoch gezeigt, dass ihnen auch hier der Weg verbaut ist: Für eine Kandidatur müssen die Unterschriften der Abgeordneten eingeholt werden – und die sind in der Regel von Kremlpartei Einiges Russland dominiert. Darüber hinaus unterliegt die Opposition auch auf kommunaler Ebene, wo es diesen „Filter“ nicht gibt. Die Chancen für Gennadij Gudkow, der sich als freier Kandidat im Moskauer Gebiet aufstellen lassen will, stehen deshalb schlecht.

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

Die Bürger erwarten hartes Durchgreifen Ziehen die Korruptionsfälle rund um die Ex-Minister für Verteidigung und Landwirtschaft harte Urteile nach sich? Unsere Prognose: Nach den ersten Festnahmen im Umfeld des Ex-Verteidigungsministers Anatolij Serdjukow stellten Umfrageinstitute sofort ein steigendes Vertrauen gegenüber Wladimir Putin fest: Die Russen hatten auf diese Verhaftungen gewartet. Die Regierung hatte die Antikorruptionslosungen der Opposition übernommen und konnte mit den Festnahmen zumindest einen PR-Erfolg verbuchen. Doch dieser könnte sich als Pyrrhussieg herausstellen. Erstens muss die Politik der „harten Hand“ konsequent weitergeführt werden, da ansonsten die Zustimmung sehr schnell in Verärgerung und Misstrauen umschlagen könnte. Zweitens ist das „Schwungrad der Repressionen“ zwar leicht in Gang zu setzen, aber nur schwer wiederanzuhalten: Der Ermittlungsausschuss wird zur Rechtfertigung der eigenen Existenz immer neue Opfer finden, bis das Ganze Ausmaße annimmt, die man sich heute nicht vorstellen kann. Der Kreuzzug gegen den korrupten Beamtenapparat erhöht das Risiko eines Auseinanderfallens der Elite drastisch. 2013 wird es daher einige Schauprozesse gegen hohe Funktionäre geben, doch bald darauf wird der Kreml versuchen, deren Organisatoren politisch zu schwächen. So war es 2006, als bald nach dem Prozess gegen Michail Chodorkowskij der Generalstaatsanwalt in die Wüste geschickt wurde und seiner Institution Schritt für Schritt viele wichtige Funktionen entzogen wurden. Ein „Stalin 2.0“ in dem Sinne, dass er die Reihen der Elite radikal lichtet, wird Putin nicht werden. Serdjukow könnte trotzdem auf der Anklagebank landen – denn wenigstens ein Opfer der Antikorruptionskampagne muss einen für die Masse der Wähler bekannten Namen haben.


Wirtschaft

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G20 Russland übernimmt 2013 den Vorsitz

Bis zum 30. November 2013 leitet Russland die G20, in der die 20 wichtigsten Industrieund Schwellenländer vereint sind. Das Land will wichtige Veränderungen anstoßen. JURIJ PANIJEW FÜR RUSSLAND HEUTE

Der russische Präsident Putin kündigte jüngst in einer Rede an, dass sein Land die wichtigste Aufgabe bei seinem Vorsitz der G20 in der Erarbeitung von stimulierenden Maßnahmen für ein erhöhtes Wirtschaftswachstum und in der Schaffung von Arbeitsplätzen sehe. Es ist zu erwarten, dass Russland den Zustand der Weltwirtschaft, die Erhöhung der Beschäftigungsquote, Reformen des weltweiten Währungssystems, die Stabilität der Energiemärkte, Fragen der internationalen Zusammenarbeit, die Stärkung des multilateralen Handels und die Bekämpfung der Korruption auf die Tagesordnung setzt. Neben diesen „traditionellen“ Themen plant Russland, zwei neue Prioritäten vorzuschlagen. Das ist zum einen die Finanzierung von Investitionen als Grundlage für Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze sowie die Modernisierung der nationalen Systeme für Staatsanleihen und das Management von Staatsschulden. Das Schlüsselthema während des russischen Vorsitzes der G20 werde jedoch die Wiederherstellung des Vertrauens von Investo-

ren sein, ist sich der russische Finanzminister Anton Siluanow sicher. Seine Sorgen sind berechtigt. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich sogar in Ländern wie China, die bislang als wirtschaftliche Lokomotiven galten. Die südlichen Länder der EU tun sich schwer, aus der Rezession herauszukommen. Kein Wunder, dass Großinvestoren äußerst vorsichtig agieren. Darunter leiden vor allem Entwicklungsländer, etwa in Lateinamerika. Vorrangig sei auch, so Siluanow weiter, die Lösung der Schuldenprobleme jener Länder, deren Verschuldung über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrage. Es sei kein Zufall, dass Russland dem Thema Staatsverschuldung während seines G20-Vorsitzes besondere Aufmerksamkeit schenken werde. Moskau wolle konkrete Programme zur Verringerung von Staatsschulden vorstellen, so der Finanzminister. Während des G20-Vorsitzes Russlands steht auch die Überarbeitung der Quotenberechnungsformel im Internationalen Währungsfonds (IWF) an. Noch beträgt Russlands Anteil am Kapital des IWF ganze 2,8 Prozent, während die USA 17 Prozent und die EU über 30 Prozent beisteuern. Bei der Verteilung der Quoten müsse das Bruttoinlandsprodukt der entscheidende Faktor sein, fordert Siluanow. Während die BRICS-Staaten (die Gruppe der fünf großen Schwel-

REUTERS

Schwellenländer wollen IWF und Weltbank neu gestalten

Der russische Präsident Wladimir Putin während des G20-Gipfeltreffens im mexikanischen Los Cabos

ZITIERT

Anton Siluanow

Gennadi Tschufrin

Vorrangig ist die Lösung der Schuldenprobleme jener Länder, deren Verschuldung über 100 Prozent des BIP beträgt. Es ist kein Zufall, dass Russland dem Thema Staatsschulden besondere Aufmerksamkeit schenken wird. Moskau will konkrete Programme zur Verringerung von Staatsschulden vorstellen."

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Russland hat als G20-Vorsitzender die einmalige Chance, die Rolle der BRICS-Staaten zu stärken. Im Internationalen Währungsfonds (IWF) und in der Weltbank hat der Westen derzeit ein klares Übergewicht. Dieses Kräfteverhältnis sollte zugunsten der BRICSStaaten geändert werden."

lenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), aber auch die USA und mehrere G20Staaten die russische Meinung teilen, kommt Widerstand insbesondere von den kleineren europäischen Ländern. Sie befürchten, dass ihre Quoten im IWF deutlich fallen könnten. Nach Auffassung des russischen Finanzministers entspricht die derzeitige Quotenverteilung nicht den neuen Realitäten. Die Schwellenländer seien heute nicht mehr

das, was sie noch vor fünf oder zehn Jahren waren. Deshalb sei es ganz natürlich, dass diese Länder im IWF und im weltweiten Finanzsystem mehr Einfluss haben wollten. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Russland dem fünften Gipfeltreffen der BRICS-Staaten im Vorfeld des G20-Gipfels. Die BRICS-Staaten haben bereits ein ganzes Paket an Vorschlägen zur Reorganisation der wichtigsten internationalen Institutionen,

"

vor allem im Bereich Finanzen und Wirtschaft, auf den Tisch gelegt. Aber es gehe ihnen um mehr als nur Partikularinteressen. Das zeige etwa das von den BRICSStaaten vorgeschlagene Programm zur Reformierung des IWF und der Weltbank, erklärt Wladimir Dawydow, Direktor des Lateinamerika-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften. Das Programm ziele auf stärkere Positionen der gesamten Ländergruppe in den entscheidenden Strukturen des internationalen Finanzmanagements ab. Gennadi Tschufrin, Professor am Institut für Makroökonomische Modelle der Akademie der Wissenschaften, ist der Meinung, dass Russland als G20-Vorsitzender die einmalige Chance habe, die Rolle der BRICS-Staaten zu stärken. In IWF und Weltbank habe der Westen ein klares Übergewicht. Dieses Kräfteverhältnis sollte zugunsten der BRICS-Länder geändert werden.

MEINUNG

Die globalen Herausforderungen übersteigen die Möglichkeiten der Politik Fjodor Lukjanow POLITOLOGE

D

ie alljährlichen Treffen der Staats- und Regierungschefs der 20 größten Volkswirtschaften sind ein Resultat der Panik, von der die Weltgemeinschaft im Herbst 2008 erfasst wurde. Mit der Insolvenz der Lehman Brothers Bank und der Angst vor einem weltweiten Finanzkollaps suchten die Regierungen hastig nach Möglichkeiten, die Gemüter zu beruhigen. Vorrangiges Ziel war es, Zeit zu gewinnen, um weitere Schritte planen zu können. Das kurzfristig einberufene Treffen November 2008 in Washington, DC, sollte die aus dem Gleichgewicht geratenen Finanzmärkte beruhigen und verfehlte seine beabsichtigte Wirkung nicht. Die weiteren Gipfeltreffen fanden dann in einer entspannteren Atmosphä-

re statt. Doch auch die Erwartungen waren heruntergesetzt worden. Vielen Beobachtern wurde klar, dass selbst ein derart gewichtiges Format kein Allheilmittel für die Lösung der globalen Probleme sein kann. Die Welt verlangt heute nach Lösungen, deren Komplexität die Möglichkeiten der Politik übersteigt. Die Globalisierung hat ein allumfassendes Niveau erreicht und neue Herausforderungen nach sich gezogen, bei denen wirtschaftliche und politische Komponenten ineinandergreifen. Das soll nicht bedeuten, dass das G20-Format sinnlos wäre. Doch es kann höchstens zur Risikominimierung beitragen. Jedes Land setzt bei seinem Vorsitz neue Prioritäten. Russland hat die allgemeine Stoßrichtung bereits angekündigt: Stärkung der finanziellen Stabilität, das Problem der Staatsschulden, Stimulierung des Wachstums, Kampf gegen Arbeitslosigkeit.

JORSCH

Legitimität gewinnt die G20 durch die Teilnahme von wirtschaftlich und politisch sehr heterogenen Ländern.

Bei den G20-Treffen geben drei, maximal vier Mächte den Ton an. Das sind die USA, China, die EU – genauer: Deutschland im Namen der EU – und eventuell Japan dank der Größe seiner Wirtschaft. Doch gerade die Anwesenheit zahlreicher Länder mit einem heterogenen wirtschaftlichen und

politischen Profil verleiht der Diskussion ein zusätzliches Maß an Legitimität, die den exklusiven G8-Treffen fehlt. Vieles hängt von den organisatorischen Fähigkeiten und Ambitionen des vorsitzenden Landes ab. Als Russland 2012 den Vorsitz der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftlichen Zusammenarbeit (APEC) innehatte, bemerkten Beobachter, dass die russischen Minister viel Organisations- und Vermittlungstalent an den Tag legten, dank derer die zahlreichen Sitzungen mit einem Konsens endeten. Dies war keine leichte Aufgabe, weil China fast jeden Vorstoß blockierte. Auf den Treffen und bei Diskussionen im Rahmen der G20 werden solche Talente nicht weniger gefragt sein. Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs. Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti


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Wirtschaft

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Eisenbahn Eine neue Breitspurstrecke soll Russland und Österreich direkt verbinden

AKTUELL

Nach Wien ohne Umladen

Russland überholt BRD bis 2050

85 Millimeter trennen Russland von Europa. Um so viel breiter ist die Spurweite der russischen Bahn. Doch nun kommt Bewegung in ein Riesenprojekt: den Ausbau der Breitspur bis Wien. SEBASTIAN BECKER

Eines der größten Projekte der Russischen Eisenbahnen (RZD) in Europa schiebt sich langsam, aber stetig nach vorne: der Ausbau des russischen Breitspurnetzes von der slowakischen Stadt Kosice bis nach Wien. „Bei den Politikern und Vertretern der Österreichischen Bahnen (ÖBB) ist ein Wandel im Denken zu beobachten“, sagt der Wiener Logistikprofessor Sebastian Kummer im Gespräch mit Russland HEUTE. Der Wissenschaftler ist einer der Gurus seiner Branche und versucht schon seit Jahren, das internationale Projekt voranzutreiben. „Es wird 2013 eine Machbarkeitsstudie veröffentlicht“, heißt es von den ÖBB. Der Konzern erwartet sich für die beteiligten Länder mehrere Tausend Arbeitsplätze. Insbesondere die Twin-City-Region Wien-Bratislava würde als logistisches Zentrum in Europa aufgewertet.

PRESSEBILD

FÜR RUSSLAND HEUTE

Das Umstellen auf ein anderes Fahrgestell ist äußerst aufwendig und teuer.

ZAHLEN

Russland-Ukraine: neuer Gasstreit

Transportrouten nach Europa

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Millionen Tonnen Waren sollen 2050 zwischen dem slowakischen Kosice und Wien transportiert werden. 2025 sollen die ersten Züge auf der neuen Bahnstrecke rollen.

© RIA NOVOSTI

Durchgehende Infrastruktur Bislang endet die bestehende Breitspurstrecke aus dem Osten im slowakischen Kosice, bis Wien sind es von dort 400 Kilometer. Um eben diese Verlängerung geht es bei dem Projekt. 2025 sollen die ersten Züge rollen, so jedenfalls hat es die Planungsgesellschaft vorgesehen, die 2008 von der Slowakei, Österreich, der Ukraine und Russland gegründet wurde. Bis 2030 sollen hier elf Millionen Tonnen Waren befördert werden, 2050 werden es 14 Millionen Tonnen sein. Das ehrgeizige Bahnprojekt hat handfeste wirtschaftliche Hintergründe. Die Märkte rücken zwar aufgrund der Globalisierung immer enger zusammen, doch fehlt zwischen Russland und der EU nach wie vor eine durchgehende Infrastruktur.

400

Kilometer lang wird die Verlängerung der bestehenden Breitspurbahn aus der Slowakei bis Wien sein. Voraussichtliche Kosten: sechs Milliarden Euro. NATALIA MIKHAJLENKO

Bislang bremste die Politik das Projekt, denn die vier beteiligten Länder verfolgten ihre eigenen Interessen.

Ohne einen überproportional großen Beitrag aus Russland ist das Vorhaben kaum zu realisieren. verantwortliche Politiker bislang keinen Handlungsbedarf, was Russland betrifft.

Das größte Problem ist die unterschiedliche Spurweite der Eisenbahnstrecken: Der Abstand zwischen den beiden Schienen beträgt östlich der weißrussischen und ukrainischen Grenzen 1520 Millimeter und somit 85 Millimeter mehr als im restlichen Europa. An den Grenzen müssen Züge deshalb auf ein anderes Fahrgestell gehoben werden, oder die Waren

werden auf einen anderen Zug umgeladen. Die Breitspurtrasse nach Wien würde dieses Problem mit einem Schlag lösen. Doch bislang war es die Politik, die das Vorhaben ausbremste. Die vier beteiligten Länder verfolgen ihre eigenen Interessen, und diese unter einen Hut zu bekommen, hat sich als schwierig erwiesen. Insbesondere in Österreich sahen viele Politiker den Ausbau des Breitspurnetzes als zweitrangig an, Russland als Wirtschaftspartner genießt nicht erste Priorität. Seit der Osterweiterung der EU brachten die neuen östlichen Beitrittsländer Österreich neue Absatzmärkte, deshalb sehen viele

WIRTSCHAFTSKALENDER

VORTRAG KEINE ANGST VOR KORRUPTION – BEST PRACTICE FÜR GESCHÄFTE IN RUSSLAND

INFORMATION EXPORTGESCHÄFT MIT RUSSLAND – ZERTIFIKATE UND ZULASSUNGEN

7. FEBRUAR, BERLIN, JÄGERSTRASSE 1

14. FEBRUAR, IHK HANNOVER

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Der Mittel-Osteuropa Club lädt zu einem Vortrag, bei dem ein russlandgeprüfter deutscher Manager und eine interkulturelle Trainerin die Gratwanderung zwischen Compliance und interkultureller Kompetenz erklären.

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› moe-club.de

Keine Priorität in Österreich

Russland könnte bis 2050 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von acht Billionen US-Dollar (2012: zwei Billionen) zur sechstgrößten Wirtschaftsnation aufsteigen und damit Großbritannien, Frankreich und Deutschland überholen. Zu diesem Schluss kommt die Studie „The World in 2050“ der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC). Ferner wird China 2050 mit einem Bruttoinlandsprodukt von 53,8 Billionen US-Dollar die USA auf Platz zwei verweisen, gefolgt von Indien, Brasilien, Japan und Russland. Deutschland liegt dann noch an neunter Stelle.

Weg frei für russische Kohle „Doch das Wachstumspotenzial in diesen Ländern ist begrenzt“, mahnt Sebastian Kummer. Österreich müsse weitere Möglichkeiten im Osten suchen. „Und da bietet Russland mit seinem riesigen Markt sehr gute Chancen“, betont der Wissenschaftler. Mit dem Schienenausbau lasse sich auch die Rohstoffversorgung verbessern: Russland verfügt über riesige Kohlevorkommen, die über die neue Strecke problemlos nach Europa transportiert werden könnten.

Ein weiteres Problem sind die explodierenden Kosten von mehr als sechs Milliarden Euro. „Die sind sehr hoch“, gibt Kummer zu, aber auf dem gleichen Niveau wie bei ähnlichen Projekten: „Offenbar ist man in Europa nicht mehr in der Lage, kostengünstiger zu bauen.“

Streit über Kostenverteilung Daran schließe sich das Problem der Kostenverteilung an: „Ohne einen überproportional großen Beitrag aus Russland ist die Eisenbahntrasse kaum zu realisieren“, erklärt er. Österreich und die Ukraine hätten kein Interesse daran, dass die Lasten gleichmäßig auf alle vier Länder verteilt würden. Der Großteil der Strecke gehe durch die Slowakei, der jedoch fehle schlichtweg das Geld für ein solches Vorhaben. Aber immerhin: Die Politiker in Österreich werden immer hellhöriger – und das ist schon mal ein gutes Signal.

Russland und der Ukraine steht ein neuer Gasstreit bevor: Laut ukrainischen Medienberichten hat Gazprom dem ukrainischen Gasunternehmen Naftogaz eine Rechnung über sieben Milliarden Dollar ausgestellt, weil dieses im vergangenen Jahr anstatt vertraglich vereinbarten 33,5 nur 24,9 Milliarden Kubikmeter Gas importiert hat. Die Ukraine weigert sich, die Rechnung zu bezahlen und drängt stattdessen auf eine Revision des Vertrags von 2009.

Importstopp für deutsches Fleisch Seit 4. Februar hat Russland bis auf Weiteres den Import von gekühltem deutschen Rind-, Geflügel- und Schweinefleisch verboten. Der Föderale Aufsichtsdienst für Tier- und Pflanzengesundheit begründet das mit der Missachtung von russischen Hygieneanforderungen und Unzulänglichkeiten im deutschen Veterinärsystem. Die russischen Einfuhr- und Hygienebestimmungen sind insbesondere bei tierischen Frischeprodukten sehr streng und unterscheiden sich von den deutschen. Anders als in Deutschland ist etwa der Einsatz von Tetrazyklin in der Tierhaltung verboten.

KONFERENZ MARKT, MITTELSTAND, MODERNISIERUNG

UNTERNEHMERREISE ERNEUERBARE ENERGIEN IN RUSSLAND

22. FEBRUAR, BERLIN, DIHK

3. BIS 7. JUNI, MOSKAU, KRASNODAR

Thomas Mencke, Zertifizierungsexperte bei der Hamburger SGS Germany, erklärt, welche Konsequenzen der Beitritt Russlands zur WTO und jüngste Gesetzesänderungen für die deutschen Exporteure haben.

Über die Chancen für deutsche Unternehmen bei der Modernisierung und der Erschließung neuer Rohstofflagerstätten referieren der russische Minister für Wirtschaftliche Entwicklung Andrej Belousow und Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler.

Ostdeutsche und Berliner Unternehmen aus dem Bereich Erneuerbare Energien sind eingeladen, in Moskau und im südrussischen Krasnodar Kontakte zu knüpfen. Im Bereich Solarenergie und Biogas gibt es im Land bedeutende Möglichkeiten.

› hannover.ihk.de

› dihk.de

› gtai.de


Wirtschaft

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Automobil VW baut in Russland Audis

Dicke Autos für den Fuhrpark der Beamten Es ist das lukrative Geschäft mit den Fuhrparks der Behörden, das sich der VW-Konzern nicht entgehen lassen will.

In seinem russischen Standort Kaluga, 200 Kilometer südwestlich von Moskau, will VW nun auch Modelle der Premiummarke Audi fertigen. Die Produktion soll Ende 2013 anlaufen. ISWESTIJA

Schon seit 2007 montiert VW im Werk Kaluga aus Bausätzen den VW-Passat und den Octavia der Konzerntochter Skoda. Nun werden die Audi-Modelle A6 und A8, die Geländewagen Q5 und Q7 sowie der fünftürige A7 Sportsback dazukommen, die allesamt aus importierten bzw. in Russland hergestellten Einzelteilen im CKD-Verfahren (Completely Knocked Down) zusammengebaut werden. Durch das CKD-Verfahren federt der Konzern die hohen Importzölle für fahrbereite Automobile ab. Gleichzeitig wird das Montagepersonal sukzessive an die Herausforderungen der Produktion herangeführt. Dass nunmehr der Markt für Audi, der Topmarke von VW, reif ist, hat nicht nur mit der wachsenden Kaufkraft der Bevölkerung zu tun:

Moscow International Motor Show in Crocus Expo

hat, ähnlich wie VW eine lokale Produktion unter russischer Zulieferung aufzuziehen. Im Rahmen der Sonderwirtschaftszone wurde Avtotor unter anderem das Recht eingeräumt, Bausätze zollfrei einzuführen, und voraussichtlich wird es demnächst sogar Subventionen für den Transport von Autos in andere Regionen Russlands bekommen.

© RIA NOVOSTI

Die Entscheidung, die Produktion in Kaluga auf Audi-Modelle auszuweiten, liegt auch in einer Initiative der russischen Regierung begründet. Diese hat angeordnet, dass Beamte auf einheimische Autos umsteigen sollen: Laut einem Erlass vom 5. November 2012 gelten Beschränkungen für die staatliche Beschaffung von ausländischen Waren: Gibt es ein vergleichbares russisches Produkt, ist dieses dem ausländischen vorzuziehen. Da aber die Produktionslokalisierung von VW bei 50 Prozent liegt, werden die in Kaluga montierten Audis automatisch zu russischen Produkten. Damit wahrt sich VW die Chance, zum Hauptlieferanten von Premiumwagen für den Staatsapparat zu avancieren und mischt zugleich den Wettbewerb der deutschen Premiummarken auf. Bisher fertigte nur das Kaliningrader Werk Avtotor, das Ende der

ALEXANDRA JERMAKOWA

KOMMERSANT

Heimische Produkte bevorzugt

Der Staat als guter Kunde 1990er-Jahre einen Vertrag mit BMW schloss, Premiumautos des bayrischen Autobauers. Allerdings ist das Gebiet Kaliningrad eine Sonderwirtschaftszone, weshalb es Avtotor nicht besonders eilig

Wladimir Bespalow, Analyst der Investmentgesellschaft VTB Capital, bezweifelt jedoch, dass die Entscheidung über die Audi-Montage nur darauf zurückzuführen sei, dass der Volkswagenkonzern seine Konkurrenten BMW und Mercedes in die Schranken wei-

sen will. „Bei den Stückzahlen, die VW hierzulande produziert, werden die Audi-Modelle keine merkliche Steigerung bringen. Andererseits wirkt sich der Wegfall der hohen Einfuhrzölle positiv auf die bei Premiummodellen ohnehin hohe Marge aus. Hinzu kommt, dass Behördenfahrzeuge üblicherweise Vollausstattung haben, was sich gut verkaufen lässt.“ Obwohl also Audi für VW in Russland eher von nachrangiger Bedeutung sei, nehme der Konzern den Markt für Behördenwagen sehr ernst. „Der Staat“, so Bespalow, „ist ein verlässlicher Kunde.“ Dieser Artikel erschien zuerst in der Tageszeitung Iswestija

Luftfracht Die russische Fluggesellschaft Volga-Dnepr macht den Halle/Leipzig Airport zum Wartungszentrum

Neuer Hangar für den russischen Riesenvogel Zwei Ministerpräsidenten bei der Eröffnung einer neuen Wartungsanlage? Schon möglich, wenn es um einen Hangar für das größte in Serie gebaute Frachtflugzeug geht.

ZAHLEN

150

Tonnen beträgt die maximale Nutzlast des Flugzeugs. Damit kann die Antonow problemlos zwei Panzer des Typs Leopard-2 laden.

GERNOT BORRISS FÜR RUSSLAND HEUTE

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Stück des Typs Antonow 124 wurden bis zum Ende der UdSSR ausgeliefert. Seitdem ist die Produktion stillgelegt.

GERNOT BORRISS

„Ideen ermöglichen gerade im Luftverkehr den Blick auf neue Horizonte“, sagt Markus Kopp, Vorstand der Mitteldeutschen Airport Holding. Die Idee, um die es Kopp bei seiner Rede am 16. Januar ging, ist der Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle zur zentralen Wartungsbasis der Volga-Dnepr Group für ihre Antonow 124. Das Flugzeug ist die größte in Serie gebaute Frachtmaschine der Welt. Und mit dem neuen Wartungshangar hat die Idee eine weithin sichtbare Gestalt angenommen: Die Halle misst 94 mal 90 Meter in der Grundfläche und 30 Meter in der Höhe. Die Horizonte, die sich mit dem 17,7 Millionen Euro teuren Neubau eröffnen, wurden bei der Übergabe klar benannt. Alexej Isaikin, Präsident der Volga-Dnepr Group, sprach von einem „neuen Niveau der Wartung“. „Der Hangar bietet unserem Partner Volga-Dnepr Technics die Möglichkeit, in modernen Räum-

Schlüsselübergabe bei der Eröffnung des neuen Hangars

lichkeiten wetterunabhängig Wartungsarbeiten an Flugzeugen sowohl russischer als auch westlicher Bauart durchzuführen“, erläuterte Dierk Näther, Geschäftsführer des Leipzig/Halle Airports. Das eröffnet auch neue Chancen zur Instandhaltung. Seit 2006 stellt die Volga-Dnepr Group in Leipzig/Halle zwei Antonow 124 zur Verfügung. Das geht auf einen Vertrag mit der NATO zurück, die im Rahmen des Programms Strategic Airlift Interim Solution (SALIS) auf die

Dienste der russischen Riesenvögel zurückgreift, um militärische Ausrüstung zu transportieren, etwa nach Afghanistan oder in den Kongo.

Leipzig/Halle setzt auf den Weltmarktführer Doch es geht um mehr: Mit dem Investment unterstreicht die Volga-Dnepr Group ihr Interesse an einem langfristigen Engagement im Herzen Mitteldeutschlands. Für den dortigen Flughafen, der sich im Frachtgutbereich weiter

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Antonow 124 stehen im Dienst der Volga-Dnepr Group. Derzeit prüft die Frachtfluggesellschaft eine eigene Produktion des Flugzeugs.

Die Antonows können große Industriegüter wie Straßenbahnen und Turbinen in alle Welt transportieren.

als Nummer zwei in Deutschland profi lieren will, ist die Präsenz einer der größten Luftfahrtgesellschaften der Welt von zentraler Bedeutung: Die Volga-Dnepr Group ist beim Lufttransport besonders schwerer und sperriger Lasten Weltmarktführer. Flughafenvorstand Kopp lobte zur Einweihung die „beispielhafte Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg“. Am Ende gründe eine solche weitreichende Zusammenarbeit immer auf einem Netzwerk von Menschen, die sich vertrauen, so Kopp weiter. Dieses habe sich hier über die Jahre entwickelt – auch dank „umfassender politischer Unterstützung“. Zu den politischen Unterstützern zählt Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU). Mit der Volga-Dnepr Group werde sich Sachsen weiter zum Logistikland entwickeln. Die Antonows könnten große Industriegüter wie Straßenbahnen, Turbinen und andere Energieanlagen von Leipzig/Halle aus in alle Welt transportieren. Der Airport sei ein gewaltiger Jobmotor, ergänzte Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff (CDU): „Das Engagement der Volga-Dnepr Group zeigt, dass Leipzig/Halle längst mehr ist als irgendein Regionalflughafen irgendwo in Deutschland“, so der Ministerpräsident.


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Start-ups Viele russische Jungunternehmer versuchen sich in den Bereichen IT und Technologie

Warten auf die Investoren Die neue Generation von Startup-Unternehmern sieht sich auf Augenhöhe mit ihren amerikanischen und europäischen Vorbildern. Aber ein paar Besonderheiten gibt es doch. ADRIEN HENNI

Das Klischee vom russischen Wissenschaftler, der zurückgezogen in einem Forschungszentrum sowjetischen Stils vor sich hinbrütet, hat in den letzten Jahren dem international vernetzten und modern denkenden Unternehmer und Ingenieur Platz gemacht. Die russischen Start-ups folgen den Trends auf Twitter und Facebook, träumen von Praktika in einem kalifornischen Gründerzentrum und bereiten Projektentwürfe für russische oder westliche Investoren vor. Ausländische Anleger machen deshalb kaum noch einen Unterschied zwischen russischen Startups und denen aus anderen Ländern. „Die Kriterien für eine Investition sind überall dieselben“, sagt Igor Taber von Intel Capital, ein Pionier des westlichen Venture-Investments in Russland: „Es gibt ausgezeichnetes Management, einen großen Markt, aber wie woanders auch Zugangshürden und mögliche Störfaktoren.“

1. Wie finde ich geeignete Investitionsobjekte? Im Laufe der letzten Jahre ist eine Reihe technologieorientierter Datenbanken entstanden, um die russische Start-up-Landschaft zu erfassen (unter „Adressen“ auf der nächsten Seite aufgelistet). Einige von ihnen sind in englischer Sprache und bieten eine gute Orientierung für ausländische Investoren. Man kann zudem mit einheimischen Investmentfonds zusammenarbeiten. Fast Lane Ventures, eine auf den westlichen Markt ausgerichtete Start-upEntwicklungsgesellschaft im Internetbereich, gehört zu jenen Neugründungen, die mit westlichen Fonds ohne eigene Moskauer Dependancen kooperieren.

2. Sollte man mit Technologieparks und Gründerzentren zusammenarbeiten? Technologieparks, Gründerzentren und Geschäftsentwickler schießen wie Pilze aus dem Boden. Viele von ihnen bemühen sich, ausländische Kapitalanleger zu gewinnen. Zu den international vernetzten Geschäftsentwicklern gehört Farminers, ein Fonds, der seine Start-ups nach San Francisco ins Gründerzentrum Rocket-

DIGITAL OCTOBER

FÜR RUSSLAND HEUTE

Die Gewinner des Start-up of the Year Award 2012 im Moskauer Technopark Digital October

Gute Gründe, in Russland zu investieren 1. Russland ist der größte Internetund Mobilfunkmarkt in Europa. 2. Chancen bieten auch andere Hightechbranchen, von innovativer Software über Nanotechnologien und grüne Technologien bis zur Biomedizin. 3. Niedrige Lohn- und Produktionskosten (außerhalb Moskaus)

4. Großer, schnell wachsender Verbrauchermarkt: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wuchs von 1999 bis 2010 um 13 Prozent jährlich. 5. Hohes Niveau in Wissenschaft und Technologie 6. Starkes Engagement seitens der Regierung bezüglich Innovationen

Space schickt. Das Moskauer Plug & Play-Technologiezentrum, das mit dem kalifornischen Geschäftsentwickler gleichen Namens zusammenarbeitet, und TexDrive, das von einem Veteranen der Start-up-Geschäftsentwicklung in Großbritannien, Jon Bradford, mitfinanziert wird, sind bedeutende Geldgeber für neue russische Unternehmen. Technologieparks sind eine wichtige Alternative. Mit massiven Subventionen und Steuervorteilen für Innovationsprojekte hat Skolkowo, Technologiezentrum bei Moskau, Dutzende internationale Venture-Fonds und Hightechunternehmen angezogen. Um Russlands innovatives Potenzial auch außerhalb Moskaus nutzen zu können, sollten Investoren fortschrittlich eingestellte Regionalbehörden fi nden. Im IngriGründerzentrum, St. Petersburgs bekanntestem Technologiepark, sind 70 Unternehmen angesiedelt. In Kasan, der Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan, be-

findet sich mit dem IT-Park einer der größten Technologieparks in Osteuropa. Dieser eröffnete sein Gründerzentrum im letzten Jahr.

3. Soll ich gemeinsam mit einem russischen Fonds investieren? Vor wenigen Jahren glich die russische Venture-Szene noch einer Wüste. Im Laufe des letzten Jahres haben sich jedoch mindestens 60 russische Investmentfonds im IT-Bereich eingekauft. „Gegenwärtig gibt es mehr Geld in Moskau als in vielen anderen Innovationshochburgen der Welt – das ist der größte Geldhaufen, den ich jemals gesehen habe“, erzählt der amerikanische Technologieveteran Steve Blank, der Moskau im letzten Jahr besuchte. Der größte Teil dieser Investmentfonds arbeitet nach internationalen Standards und stellt für die Zusammenarbeit mit ausländischen Fonds kein länderspezifisches Risiko dar. „Mit ihrer starken Ausrichtung auf interna-

tionale Märkte haben die einheimischen Venture-Fonds sich einen sehr guten Ruf aufgebaut“, sagt Arkady Moreynis, Generaldirektor des Moskauer Plug & PlayZentrums.

4. Wie geht man mit russischen Teams um? Auch wenn russische Unternehmer sich mit Riesenschritten westlichen Standards annähern, könnte doch die Zusammenarbeit mit ihnen Fingerspitzengefühl und einen individuellen Ansatz erfordern. Eines der Probleme ist ihre mangelnde Erfahrung. „Während die meisten amerikanischen Unternehmer bereits einen Start-upHintergrund haben, ist es für viele Russen das erste Mal auf neuem Terrain“, sagt Moreynis. „In Russland neige ich dazu, Gründern zu vertrauen, die bereits um die 30 sind“, sagt Fabrice Grinda, „Business Angel“ aus dem Westen, die in Wikimart. ru, Oktogo.ru, Mallstreet.ru und Hipclub.ru investiert hat. Andererseits sind die Lohnkosten ein relevanter Grund für Kapitalanleger, nach Russland zu kommen. Ein typischer Softwareingenieur im Silicon Valley verdient 180 000 US-Dollar pro Jahr, ein Russe 40 000 bis 60 000 US-Dollar. Die Gehälter sind in den Moskauer Start-ups sehr hoch, aber in einer Stadt wie im sibirischen Tomsk, wo jeder vierte Einwohner Student, Wissenschaftler oder Universitätsdozent ist, können bescheidene 2500 US-Dollar pro

Monat sich als ausreichend erweisen, um die Crème de la Crème zu gewinnen.

5. Sind russische Start-ups transparent? Zweifellos gibt es auch heute Gefahren durch aggressive Geschäftspraktiken oder korrupte Gerichte. Aber erfolgreiche Investoren erzählen andere Geschichten: Investitionen in Technik- und IT-Start-ups sind sicher. Die Amerikanerin Esther Dyson hat in 15 russische Start-ups und in den Suchmaschinengiganten Yandex investiert. Und hat keine schlechten Erfahrungen gemacht: „Technologie- und IT-Unternehmen neigen zu mehr Transparenz, weil ihr Wert von den Leuten abhängt, die dort arbeiten, und nicht von Bodenschätzen oder Vermögen, deren Schicksal von den Behörden bestimmt wird“, sagt sie. Die russische Start-up-Szene scheint von der Geißel der Bestechung verschont geblieben zu sein. „Im Digitalbereich wissen die korrupten Staatsbeamten nicht, was es zu holen gibt – oder wo“, sagt Gleb Dawidjuk, geschäftsführender Teilhaber an der iTech Capital, einem Venture-Fonds mit Sitz in Moskau. „Das hilft den Startups, auf den Radarschirmen unsichtbar zu bleiben.“ Dennoch neigen viele Anleger – einschließlich russischer – dazu, ihre Start-ups als ausländische juristische Person zu gründen, weil sie sich von der westlichen Rechtsprechung einen besseren Schutz des geistigen Eigentums und der Rechte ihrer Aktionäre versprechen.

6. Wie steige ich wieder aus? Auf dem noch sehr jungen Markt sind die unklaren Ausstiegsperspektiven ein wichtiger Punkt. Im Bereich des E-Commerce gab es bisher nicht mehr als vier Kapitalrückzüge, wie das digitale Fachportal East-West Digital News kürzlich feststellte.

7. Was ist, wenn ich aus dem Ausland agiere und kein Russisch spreche? Kapitalanleger in Russland müssen nicht notwendigerweise die Landessprache verstehen, da viele Start-up-Unternehmer und Partner vor Ort mittlerweile sehr gut Englisch sprechen. Aber um operativ auf den Markt einwirken zu können, sollte man unbedingt persönlich im Land anwesend sein. Während einige internationale Kapitalgesellschaften wie Intel Capital, das deutsche e.ventures oder das japanische UMJ über ein Büro in Moskau verfügen, haben andere Anleger Vertreter, die regelmäßig nach Russland reisen. Investoren wie Esther Dyson, Fabrice Grinda und Jose Marin haben einen Mitarbeiter vor Ort oder kommen selbst zu Terminen nach Russland.


Spezial

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E-Commerce Börsengang weckt Investoren

Onlinehandel: Große Umsätze stehen bevor BEN ARIS FÜR RUSSLAND HEUTE

Oskar Hartmann, in Kasachstan geboren, hat seine ersten Schritte im deutschen E-Commerce getan. Er verkaufte Biokost für Bodybuilder. Als er 2007 nach Moskau kam, entdeckte er eine riesige Marktlücke: Keiner bot damals online Designerkleidung für modebewusste russische Frauen an. Mit 100 000 Euro, die er sich von seinen Freunden und Verwandten geliehen hatte, startete er KupiVIP, das schnell zu Russlands Premium-Online-Modeeinzelhändler wurde. Das Unternehmen gedieh, ironischerweise gerade in der Wirtschaftskrise: Der Handel stürzte ab, und die High-End-Hersteller suchten verzweifelt nach neuen Absatzwegen. Die Verkäufe schnellten in die Höhe. Das Unternehmen generierte im vergangenen Jahr 50 Millionen Dollar Umsatz und will in den kommenden Jahren Waren im Wert von mehreren 100 Millionen Dollar verkaufen. Russlands Internet boomt: Laut dem Meinungsforschungsinstitut TNS Gallup hatten Ende 2012

67 Prozent im Alter von zwölf bis 54 Jahren einen Internetzugang, das sind ungefähr 95 Millionen Menschen. Aber das große Wachstum steht noch bevor: Die Einnahmen aus dem Netz wachsen um jährlich 30 Prozent, das Volumen des elektronischen Handels wächst sogar noch schneller: Russen gaben 2012 laut einer Untersuchung der Moskauer Hochschule für Wirtschaft 18 Milliarden Dollar für Waren aus Onlinegeschäften aus. Laut Hartmann wird dieser Umsatz in den nächsten fünf Jahren auf insgesamt 80 Milliarden Dollar wachsen.

100 000 Dollar für ein Start-up Eine Hürde bleibt aber die Beschaffung von Geld zur Firmengründung. Zwar hat das schnelle Wachstum das Interesse russischer Kapitalanleger entfacht. Die Beschaffung der ersten 100 000 bis zu einer Million Dollar ist für ein Start-up relativ leicht. Schwierig ist aber die nächste Investitionsrunde, wenn zwischen fünf und 50 Millionen Dollar nötig sind. Heute gibt es auf dem russischen Markt nur eine Handvoll Private-Equity- und RisikokapitalFonds. Die mit Abstand größten sind Baring Vostok Capital Partners, die Ende 2012 einen neuen Fonds in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar aufgelegt haben und an den größten Internetgesellschaften des

550

Millionen Dollar investierten ausländische Kapitalanleger 2011 in russische Hightechunternehmen, doppelt so viel wie im Jahr zuvor.

67

Prozent aller Russen zwischen zwölf und 54 Jahren verfügten bis Ende 2012 über einen Internetzugang.

KOMMERSANT

Vor 2010 kümmerten sich Kapitalanleger kaum um russische IT-Neulinge. Dann ging Mail.ru an die Londoner Börse – und akquirierte eine Milliarde Dollar.

ZAHLEN

An der Innovationsspitze: staatlich gefördertes Technologiezentrum Skolkowo bei Moskau

Landes wie Yandex beteiligt sind. Zusammen mit Russia Partners sind sie für den Löwenanteil der einheimischen Investitionen im E-Commerce verantwortlich. Dazu investiert die staatliche VTB Capital im Private-Equity-Bereich sowie die staatliche Russian Venture Company, die über 1,5 Milliarden Dollar verfügt.

Börsengang von Mail.ru Der große internationale Durchbruch für Hightech-Start-up-Unternehmen kam mit dem erfolgreichen Börsengang von Mail.ru, der im November 2010 in London 912 Millionen Dollar einbrachte, und der Nasdaq-Listung von Yandex im Mai 2011, bei der das Unternehmen mit 11,2 Milliarden Dollar bewertet wurde. Der Onlineeinzelhändler Ozon. ru, Russlands Pendant zu Amazon, beschaffte sich zur gleichen Zeit Kapital. „Als wir 2010 begannen, Investitionen zu akqui-

rieren, interessierten sich die Anleger nur wenig für Russland“, sagt die französische Ozon-Geschäftsführerin Maelle Gavet. „Aber nach dem Börsengang von Mail.ru hatte sich die Situation grundlegend geändert. Plötzlich riefen uns alle an“, erzählt sie.

Investitionen verdoppeln sich Die Investitionen in russische Hightechunternehmen haben sich laut Fast Lane Ventures 2011 mit 550 Millionen Dollar gegenüber 220 Millionen im Vorjahr mehr als verdoppelt. Zu den größten Anlegern gehören Rakuten, ein japanisches Risikokapitalunternehmen, das einen Anteil von 100 Millionen Dollar an Ozon.ru erwarb, Northwest mit seinem Anteil von 70 Millionen Dollar an Avito, dem russischen eBay, sowie Bessemer Venture Partners und deren russische Partner, die 55 Millionen Dollar in KupiVIP investierten.

Adressen TechCrunch Moskau, alljährlich im Dezember stattfindende Technologieund Venture-Veranstaltung › www.tc.digitaloctober.com.

East-West Digital News, eine der wichtigsten Quellen zur IT-Branche Russlands und der entsprechenden Venture-Aktivitäten › www.ewdn.com

Skolkowo, staatlich gefördertes Technologie- und Innovationszentrum im Südwesten Moskaus › www.sk.ru/en

Fast Lane Ventures, Serien-Start-upEntwickler nach westlichem Vorbild › www.fastlaneventures.ru

Plug and Play – Technologiezentrum in Moskau › plugandplayrussia.com

Rusnano, staatlicher Nanotechnologiegigant › www.rusnano.com

IM GESPRÄCH

Wo sich Start-ups und Kapitalanleger treffen Dmitrij Repin, Direktor des Moskauer Technoparks Digital October, erzählt über die Rolle seines Zentrums für Start-ups. Was ist Digital October? Seit unserem Start vor zwei Jahren sind wir zum Zentrum der russischen Start-up-Landschaft geworden. Unsere Geschäftszentrale in der ehemaligen Schokoladenfabrik Roter Oktober im Herzen Moskaus ist ein Platz für global ausgerichtete Technologieunternehmer: Hier treffen große Ideen auf geniale Menschen. Wir richten internationale Konferenzen aus, die den neuen Technologien gewidmet sind, und laden Unternehmer ein. Wir führen innovative Technologieprodukte vor und haben eine Show auf dem Radiosender Business-FM. Unser Hauptevent ist das TechCrunch im Dezember, unser nächstes großes Ereignis die Demo Europe im Juni. Und wie gehen Sie mit russischen Start-ups um? Wir überprüfen sie auf Herz und Nieren. Ihr Ziel sollte sein, zur Weltspitze zu gehören. Start-up-

Unternehmen sollten von ausländischen Investoren unterstützt werden. Und wir bemühen uns, Unternehmer mit privaten Anlegern und Risikokapitalgebern zusammenzubringen.

wenn es um Finanzdienstleistungen und Tourismuswebsites geht, weil diese komplizierte mathematische Algorithmen enthalten – etwas, worin die Russen sehr erfahren sind.

Die 50 besten russischen Start-ups

Wonach sollten ausländische Investoren suchen, wenn sie sich an einem russischen Start-up-Unternehmen beteiligen wollen? Es gibt zwei Arten von Unternehmen, in die man investieren kann: effiziente Firmen, die auf den lokalen Markt ausgerichtet sind und eine originelle Geschäftsidee haben. Oder Firmen, die sich am Weltmarkt orientieren. Russische Start-up-Unternehmen sind zum Beispiel bei Computerspielen erfolgreich wie Zeptolab mit seiner Erfolgsgeschichte „Cut the Rope“. Worin besteht Russlands Wettbewerbsvorteil bei der Gründung eines Technologie-Start-ups? Russland verfügt über ein unglaubliches intellektuelles Potenzial bei seinen Softwareentwicklern. In der Welt des Softwareengineering-Outsourcing hat das Land immer noch einen Vorsprung gegenüber Indien und China,

Welche Probleme haben russische Start-up-Unternehmer? Sie stehen denselben Problemen gegenüber wie die gesamte Gesellschaft: schlechten Gesetzen und ihrer schlechten Umsetzung. Sie werden mit bürokratischem Schreibkram überfrachtet und müssen ihre Finanzierung oft außerhalb der russischen Rechtsprechung strukturieren.

ALJONA REPKINA

Russland HEUTE hat gemeinsam mit Digital October und PricewaterhouseCoopers (PwC) ein Ranking der besten russischen Start-up-Unternehmen erstellt. Zweimal jährlich werden diese in den Kategorien IT, Hightech und Biotechnologien ausgewählt. Kriterien sind u. a. die eingeworbenen Investitionen und die Medienpräsenz. Mehr dazu auf russland-heute.de/startups/

Setzt sich die Abwanderung von Fachkräften aus Russland fort? Im Technologiebereich ist die Abwanderung noch zu spüren, aber im Management gibt es eine umgekehrte Tendenz – immer mehr Führungspersonal kommt zurück. Ich bin ein Beispiel dafür: Ich habe acht Jahre als Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology gearbeitet. Dann kam ich zurück und unterrichtete im Technologiepark Skolkowo, bis ich zu Digital October ging.


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Thema des Monats

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INTERVIEW BORIS TITOW

EIN MANN GEGEN KORRUPTE BEAMTE BORIS TITOW, OMBUDSMANN FÜR UNTERNEHMER, SPRICHT DARÜBER, WIE ER KORRUPTION BEKÄMPFEN UND DAS GESCHÄFTSKLIMA VERBESSERN WILL

Laut einer Umfrage, die im Frühjahr 2012 von der Organisation Delowaja Rossija (dem russischen Unternehmerverband) durchgeführt wurde, haben 17 Prozent der russischen Geschäftsleute erklärt, sie seien bereit, das Land zu verlassen. Eine weitere Umfrage im Herbst hat diesen Trend bestätigt. Machen Ihnen als Ombudsmann solche Statistiken Sorgen? Das beunruhigt sowohl mich als auch die Regierung unseres Landes. Das Geschäftsklima unterliegt gegenwärtig sehr stark dem negativen Einfluss der Korruption. Leider ist das Eigentum der Unternehmer nicht ausreichend geschützt. Das Hauptproblem ist die unrechtmäßige Aneignung von Eigentum durch feindliche Firmenübernahmen. Wenn mit diesem Begriff früher in erster Linie Konflikte zwischen zwei konkurrierenden Privatunternehmen gemeint waren, so sind heutzutage feindliche Firmenübernahmen zum Nebenerwerb von Beamten geworden. Sie sind gang und gäbe vor allem bei korrupten Vertretern des Staates, die in den Strafverfolgungsbehörden arbeiten. Aber diese feindlichen Übernahmen treffen bei Weitem nicht jeden Unternehmer, über das Geschäftsklima beschwert sich jedoch fast jeder ... Das geschäftliche Umfeld in Russland wird immer härter. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es gegenwärtig nicht so lukrativ ist, Geschäfte in unserem Land

zu tätigen, wie vielleicht noch vor zehn bis 15 Jahren, weil die Kosten bereits wesentlich über denen unserer Wettbewerber in Kasachstan, China und Indien liegen. Gegenwärtig sind sowohl die Steuern als auch die Energiekosten und Löhne bei uns deutlich höher als in diesen Ländern. Deshalb ist die Versuchung der Unternehmer sehr groß, dorthin auszuweichen. Was konkret wollen Sie unternehmen, um eine Abwanderung zu verhindern? Einer unserer Schwerpunkte ist die Reformierung der Gesetzgebung, um bessere Rahmenbedingungen für Unternehmen zu schaffen. Im November verabschiedete das Parlament Korrekturen des Strafgesetzbuches, die auf unsere Initiative hin eingebracht wurden. Sie betrafen unter anderem den Paragraphen über Betrugsdelikte. Dieser wurde um sechs Straftatbestände ergänzt. Aber was haben die Unternehmer davon? Das bedeutet, dass nun eine Anklage nach diesem Paragraphen sehr viel differenzierter erfolgen kann. Bis dato wurde im Strafgesetz unter „Betrug“ ein alleiniger Straftatbestand erfasst. Eine Schadenshöhe ab einer Million Rubel (25000 Euro) galt als „Schaden in besonders hohem Ausmaß“ und wurde mit einer Freiheitstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet. Für die Geschäftswelt stellt eine solche Summe freilich eine Untergrenze dar. Da musste der Paragraph der Realität angepasst werden. Hinzu kommt: Bis zur Verabschiedung dieser Korrekturen gab es in 99 Prozent der Fälle nicht einmal einen Geschädigten. Das heißt, die Strafverfolgungsbehörden eröffneten von sich aus das Verfahren. Wir meinen, dass vor der Aufnahme einer strafrechtlichen Verfolgung eines Unternehmers unbedingt eine Anzeige der geschädigten Seite vorliegen muss. Die Ergänzungen im Strafgesetz-

KOMMERSANT

Boris Titow, bekannter Geschäftsmann und Politiker, wurde Ende Juni 2012 vom russischen Präsidenten zum „Bevollmächtigten für die Rechte von Unternehmern“ ernannt. Eine seiner Hauptaufgaben besteht darin, die Stimmung in der Unternehmerschaft zu heben: Laut einer Umfrage sind ein Fünftel der Geschäftsleute unzufrieden mit dem Geschäftsklima im Land, viele sind bereit, ihre Firma zu verkaufen oder ins Ausland zu gehen.

BIOGRAFIE PROFIL: ÖKONOM ALTER: 52 BERUF: BUSINESS-OMBUDSMANN

Boris Titow wird 1960 in Moskau geboren. 1983 absolviert er die Wirtschaftsfakultät des MGIMO, des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen, in der

buch sind also wesentlich gegen korrupte Beamte gerichtet. Ihnen dürfte es nun schwerfallen, von Geschäftsleuten Geld für die Einstellung von Strafverfahren zu erpressen. Im Dezember verabschiedete die Duma einen Gesetzesentwurf für

Fachrichtung Internationale Wirtschaft. Im Anschluss arbeitet Titow in der Außenhandelsvereinigung Sojusnefteexport. Ab 1989 ist er leitender Angestellter beim sowjetisch-holländischen Joint Venture Urals und ab 1991 Geschäftsführer der Firmengruppe Solvalub. 2000 wird er Vizepräsident des Russischen Verbandes der Indus-

triellen und Unternehmer, im Mai 2004 Präsident der Gesamtrussischen Unternehmervereinigung Delowaja Rossija. Von 2008 bis 2011 ist Titow zweiter Vorsitzender der liberalen Partei Rechte Sache. Am 22. Juni 2012 wird er von Präsident Wladimir Putin zum „Bevollmächtigten für die Rechte von Unternehmern“ ernannt.

die „Bevollmächtigung zur Wahrnehmung der Rechte von Unternehmern in Russland“. Worauf zielt dieses Gesetz ab? Wie der Name schon sagt: auf die Wahrnehmung der Rechte von Unternehmern. Dazu wurde die Institution des Ombudsmannes geschaffen. Dieser ist bevollmäch-

tigt, sich um die Belange von Unternehmern zu kümmern, deren Rechte verletzt wurden. Außerdem geht es um Fälle, in denen die Eingabe bei Behörden zu keinem Ergebnis geführt hat, gänzlich abgelehnt oder der Fall über einen langen Zeitraum nicht bearbeitet wurde.


Thema des Monats

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

auf ihrem Konto, haben es aber dann nicht weitergeleitet. Jetzt werden wir uns darum kümmern, dass es an die richtige Adresse gelangt. Sind die ausländischen Unternehmer denn überzeugt davon, dass Sie ihnen helfen können? Ausländischen Unternehmern ist klar, dass sie früher in strittigen Situationen unsere Behörden nur um etwas bitten konnten. Heute kann ich mit der neuen Gesetzeslage in ihrem Namen etwas fordern und diesbezüglich mit dem Staatsanwalt einen Termin vereinbaren. Das Entscheidende ist, dass wir jetzt über eine Institution verfügen, die mit der Staatsanwaltschaft und dem Innenministerium zusammenarbeitet. In der Staatsanwaltschaft gibt es nun eine eigene Abteilung, die sich ausschließlich um Unternehmerbelange kümmert. Wir hoffen, dass dieses Bündnis effektive Arbeit leisten wird.

Wie stellen Sie fest, ob Ihre Intervention erforderlich ist? Mehrere 100 Unternehmer haben sich bereits an uns gewandt, weil sie der Meinung waren, dass ihre Rechte verletzt worden seien. In jedem Fall führen wir ein juristisches und öffentliches Schiedsverfahren durch, das sich von einer Woche bis hin zu mehreren Monaten erstrecken kann, je nachdem, wie kompliziert der Fall ist. Wenn wir feststellen, dass die Rechte des Unternehmers tatsächlich verletzt worden sind, setzen wir alle Hebel in Bewegung, um ihm zu helfen. Wie genau sieht dieses Verfahren aus? Für jede Eingabe lassen wir ein öffentliches Gutachten anfertigen. Diese Praxis gab es im Übrigen schon vor meiner Ernennung zum Ombudsmann: Vor anderthalb Jahren hat die Organisation Delowaja Rossija, der ich vorstehe, zusammen mit dem Ministerium für Wirtschaftsentwicklung das Zentrum für öffentliche Verfahren „Business gegen Korruption“ gegründet. Dort haben wir unsere Methode zur Bearbeitung der Eingaben entwickelt und erprobt. Durch einen Beschluss der Co-Präsidenten – das sind gegenwärtig fünf Personen – wird jeweils entschieden, ob die Eingabe bearbeitet wird. Anschließend lassen wir ein juristisches Gutachten erstellen. Auf

Basis dieses Gutachtens beziehen wir dann Stellung. Sind bei der Ausarbeitung des Gesetzes internationale Erfahrungen eingeflossen? Und gibt es auch Paragraphen, die die Rechte ausländischer Unternehmer in Russland schützen? Bevollmächtigte zur Wahrnehmung der Rechte von Unternehmern gibt es in vielen Ländern der Welt: in den USA, Südkorea, Australien. Die Aufgabenfelder der Ombudsmänner unterscheiden sich jeweils, ihre Hauptfunktion ist jedoch immer die Akquisition von Investitionen. Wir in Russland haben leider eine ganz andere Funktion – den Schutz vor Korruption und bürokratischem Druck. In unserem Gesetz ist nicht von ausländischen Unternehmern die Rede, aber natürlich gehört ihr Schutz auch zu den Aufgaben des Bevollmächtigten – weil jeder Investor auf dem Territorium der Russischen Föderation ein Mandant des Ombudsmannes ist. Und zwar nicht nur die Investoren, sondern auch die Handelsvertreter. Außerdem werden wir zukünftig auch noch die Interessen russischer Unternehmer im Ausland verteidigen. Wobei dieser Aspekt nicht im Gesetz berücksichtigt werden konnte. Die entsprechenden Korrekturen bringen wir bei der zweiten Lesung ein. Das heißt, Sie können auch ausländischen Unternehmern in Russland helfen? Wir haben bereits relativ viele Eingaben dieser Art erhalten. Darunter waren auch hanebüchene Fälle von Konfiskation des Eigentums ausländischer Firmen. Die Heuschrecken unter den Beamten machen keinen Unterschied zwischen unseren und ausländischen Unternehmern. Vor den Ausländern haben sie genauso wenig Respekt wie vor unseren eigenen Geschäftsleuten. Es gibt auch Fälle, die schon eine Weile zurückliegen und die wir nun wieder aufrollen. 2003 hat eine ausländische Firma ein Schiedsverfahren gewonnen, im Anschluss konnte sie mit einer nicht unbeträchtlichen Nachzahlung rechnen. Aber bis zum heutigen Tage ist diese nicht eingetroffen, obwohl die Firma durch alle gerichtlichen Instanzen gegangen sind. Die Gerichtsvollzieher haben das Geld zwar seit 2008

Investitionsklima verbessert sich

Beim Ranking der Weltbank um das beste Geschäftssklima hat Russland den 112. Platz belegt und damit seine Position um acht Plätze verbessert. Aber Putins Ziel ist weitaus ehrgeiziger. ANDREJ KIRILLOW

NATALIA MIKHAJLENKO

Wie unabhängig sind Sie von anderen staatlichen Institutionen? Das Wichtigste an diesem Gesetz ist, dass der Ombudsmann eine eigenständige staatliche Behörde vertritt und direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Er ist mit gewissen Rechten ausgestattet und verfügt über eine ganze Reihe zusätzlicher Kompetenzen – das ist sein fundamentaler Unterschied zu anderen Institutionen. Diese Sonderrechte betreffen vor allem die Eingaben an die staatlichen Behörden. Binnen 15 Tagen muss der Ombudsmann eine Antwort erhalten, und zwar von dem Beamten, bei dem die Eingabe eingereicht wurde, und nicht etwa von dessen Sekretär. Außerdem hat der Bevollmächtigte das Recht, Gefängnisse zu besuchen, um zusätzliche Informationen von den Unternehmern zu erhalten, die sich in Untersuchungshaft oder nach einem Schuldspruch in Haft befinden.

Weltbank Ranking Doing Business 2013

SHUTTERSTOCK/LEGION-MEDIA

Worüber sich Geschäftsleute beklagen

In unserem Land finden von Zeit zu Zeit spektakuläre Prozesse gegen Unternehmer statt, die eine breite gesellschaftliche und internationale Resonanz erfahren: Fälle wie Chodorkowskij und Lebedjew, der Fall Magnitzkij ... Beabsichtigen Sie, sich um solche Prozesse zu kümmern und zu den Gerichtsurteilen Stellung zu beziehen? Die Bedeutung eines Prozesses bewerten wir nicht nach dem Lärm, den er verursacht. Für uns ist jeder Unternehmer von Bedeutung, unabhängig davon, ob er einen bekannten Namen hat oder nicht. Malow aus Kostroma, Worobjow aus Astrachan, Sultejew aus Wladiwostok, Markelow aus Ufa – das sind die Namen von einigen Geschäftsleuten, denen wir helfen konnten. Leider werden viele Prozesse in unserem Land politisiert, und am Ende ist es praktisch unmöglich, die Unschuld oder Schuld des Betreffenden objektiv einzuschätzen. Sie behaupten, dass eine der wichtigsten Aufgaben die Verbesserung des Geschäftsklimas in Russland ist. Glauben Sie nicht, dass eine vorzeitige Freilassung von Chodorkowskij dem Land und der Welt zeigen würde: Die Situation verändert sich zum Besseren? Ich fürchte, dass die Freilassung Chodorkowskijs und Lebedjews allein die Situation nicht verändern würde. Korruption und die widerrechtliche Konfiskation von Unternehmen – das sind globale, systembedingte Prozesse. Deshalb – ich möchte es noch einmal wiederholen – müssen wir für jeden einzelnen Unternehmer kämpfen. Den Beamten passt es ins Konzept, die Gesellschaft glauben zu machen, dass in der Geschäftswelt alle Gauner und Diebe sind und widerrechtliche Sanktionen oder gar die Konfiskation des Unternehmens dem Wohle der Gesellschaft dient. Mein Standpunkt dagegen ist diametral entgegengesetzt: Ein Unternehmen ist wie eine Henne, die dem Land goldene Eier legt. Und Ihre Pfl icht, meine Herren Beamten, ist es, diese Hennen zu behüten und zu beschützen. Und sei es auch nur deshalb, weil die Unternehmen den größten Teil der Steuern zahlen, von denen Sie leben. Das Interview führte die Nachrichtenagentur Itar-Tass

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RATING.RBC.RU

Das Ranking der Weltbank beurteilt seit zehn Jahren das Geschäftsklima in verschiedenen Ländern der Welt, im Jahr 2012 gehörten 185 Staaten dazu. Alle Länder werden nach zehn Kriterien bewertet, die die Arbeitsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) am besten charakterisieren. Das Ergebnis für Russland ist nicht schlecht, aber das Wachstumstempo entspricht nicht der von Präsident Putin gestellten Forderung: Die lautet, bis 2018 im Ranking unter die ersten 20 Länder zu kommen. Dafür müsste Russland sich jährlich um zwölf bis 14 Positionen verbessern. In Russland hat vor allem ein „Sprung“ bei der Besteuerung zur Verbesserung seiner Position geführt. 2012 belegte das Land hier den 64. Platz – gegenüber dem 105. im Jahr zuvor. Die Verbesserung kam dadurch zustande, dass russische Unternehmer laut Studie

nicht mehr 290 Stunden pro Jahr für die Entrichtung ihrer Steuern aufwenden, sondern nur noch 177. Diese drastische Verbesserung hat ihre Ursache in erster Linie in der Einführung der elektronischen Steuererklärung und der Erleichterung des Verfahrens für die Mehrwertsteuerrückerstattung. Die Verfasser des Reports haben auch Verbesserungen bei der Einhaltung vertraglicher Verpflichtungen verzeichnet, was aber nur zu einem Aufstieg um zwei Positionen geführt hat – vom 13. Platz auf den elften. Verkürzt hat sich auch das Anmeldeverfahren für Unternehmen. Die Zahl der Firmenpleiten ist ebenfalls gesunken, und Russland liegt hier nun nicht mehr auf dem 60., sondern nur noch auf dem 53. Platz. Schlechte Noten bekommt Russland unverändert bei der Erteilung von Baugenehmigungen (178. Platz), der Organisation des Außenhandels (162. Platz), dem Schutz von Investoreninteressen (117. Platz), der Kreditvergabe (104. Platz) und der Unterstützung von Unternehmensgründungen (101. Platz). Bei der Anbindung von Unternehmen an das Stromnetz landet das Land traditionell auf einer der letzten Positionen, nämlich auf der vorletzten.

MEINUNG

Business in Russland konkret Maria Borissowa

Reinhold von Ungern-Sternberg

GESCHÄFTSFRAU

MANAGER

V

I

Inhaberin/Geschäftsführerin von fünf Moskauer Restaurants und einer Kette von Schönheitssalons

Der Director International Projects der JSC Kirovsky Zavod, hat in sechs Jahren Russland u. a. die Produktion für einen Automobilzulieferer aufgebaut.

or zehn Jahren eröffnete ich mein erstes Restaurant. Seit dieser Zeit hat sich für kleine und mittlere Unternehmen in Moskau viel geändert. Bestechungsgelder gehörten damals zwar auch zum geschäftlichen Alltag, aber sie hatten keinen systemischen Charakter. Heute ist der ganze Prozess auf der kommunalen Ebene streng strukturiert und auf bestimmte Weise auch legitimisiert. Anstelle der meist unbekannten Banditen des letzten Jahrzehnts sind es heute Beamte mit Namen und Posten, denen man das Geld zahlt, um alle möglichen Arten von Genehmigungen zu bekommen. Wer nicht zahlt, der kann zum Beispiel die Lizenz für den Verkauf von Alkohol verlieren, oder das Restaurant wird einfach für mehrere Monate geschlossen.

n Russland kann man sehr gut Geschäfte machen, insbesondere als deutsches Unternehmen. Die Risiken sind heute vor allem unternehmerischer Art. Natürlich gibt es Barrieren, u. a. die Korruption: Bei den Mitarbeitern sollten hohe Unternehmensstandards, Controlling und ComplianceSchulungen vorbeugen, dass Einkäufer keine Kick-back-Zahlungen annehmen. Wer Zulieferer ist, muss bei seinem Angebot durch Qualität punkten. Die Vorstellung vieler Deutscher, ohne Bestechung nicht weiterzukommen, ist falsch und oft der Grund für ihre Probleme. Denn wer einmal besticht, von dem wird das auch in Zukunft erwartet. Ein eigenes Kapitel sind Zollprobleme: Da ist die Gesetzgebung so schwammig, dass man gegen die Beamten im Konfliktfall nicht ankommt.


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Gesellschaft

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Engagement Ein Moskauer Fotograf leitet krebskranke Kinder zum Fotografieren an – und macht ihnen wieder Mut Teilnehmer des Projekts „Wir leben auf dieser Erde“ zu Besuch in Heidelberg

AMWROSIJ CHRAMOW

Mit Kamera und Objektiv gegen weiße Wände TATJANA MARSCHANSKICH FÜR RUSSLAND HEUTE

Mit ihren 18 Jahren ist Rita Chairullina schon Europameisterin im Triathlon. Und nun Teilnehmerin des von Juri Chramow gegründeten Fotorehabilitationsprojekts „Wir leben auf dieser Erde“. Denn vor einem Jahr wurde bei ihr Blutkrebs diagnostiziert, und sie nahm gern das Angebot Chramows an, die öde Zeit im Krankenhaus durch Fotografieren herumzubekommen. „Ich habe alles fotografiert, was mir vor die Augen kam: Ärzte, die Krankenschwestern, den Blick aus dem Fenster und aus der Tür“, erzählt sie, streicht sich über das kurze Haar – die letzte Erinnerung an den Krebs – und fügt hinzu: „Das Fotografieren hat mich abgelenkt.“ Rita konnte das Krankenzimmer über ein Jahr lang nicht verlassen, bekam regelmäßig Medikamente gespritzt und absolvierte eine Chemotherapie, von der ihr die Haare ausfielen. Ihre Freunde durften sie nicht im Krankenhaus besuchen, sie selbst konnte nicht nach draußen. „Psychologen gehen davon aus, dass unter derartigen Umständen eine Art virtueller Hunger eintritt“, erklärt der 46-jährige Chramow. „Und das Fotografieren entwickelt die Fantasie. Dadurch lassen sich die erdrückenden Wände des engen Krankenhauszimmers in alles Mögliche verwandeln, sogar in ein Schloss oder einen Dschungel.“ Chramow hat vor sechs Jahren „Wir leben auf dieser Erde“ gegründet. Er besucht die kleinen Patienten,

die im Moskauer Zentrum für Kinderhämatologie, Onkologie und Klinische Immunologie behandelt werden, und zeigt ihnen, wie sie die bis zum Überdruss bekannten Objekte in ihrer unmittelbaren Umgebung fotografieren können: die Zimmertür, die Decke, das Bett, das Fenster. „Diese Dinge reizvoll und interessant aufzunehmen, das ist unsere Art, es der Realität heimzuzahlen“, sagt er lächelnd.

Durch das Fotografieren lassen sich die erdrückenden Wände des engen Krankenhauszimmers in alles Mögliche verwandeln, sogar in ein Schloss oder einen Dschungel.

Leben oder Unterschrift? Der Jurist Chramow war zunächst Beamter und danach Geschäftsmann, Fotografieren war sein Hobby. Dann aber sah er zufällig eine Annonce, in der es hieß, eine Stiftung suche einen ehrenamtlichen Helfer, der bereit sei, Kindern einmal monatlich die Grundlagen des Fotografierens zu vermitteln. Juri bewarb sich und wurde genommen. Bald begriff er: Einmal im Monat war zu wenig. Vor allem für ihn selbst, denn der Umgang mit den Kindern wurde ihm mehr und mehr zum Bedürfnis. Also kam er jede Woche. Nach einer seiner Fotografiestunden erfuhr Chramow, dass auf der Intensivstation ein Junge im Sterben lag. „Er hat bloß noch 30 Minuten“, sagte ihm der Arzt. Und dass das Kind vielleicht gerettet werden könne, aber das nötige Medikament fehle. Ein Anruf in einem anderen Krankenhaus ergab: Dort war das Präparat vorhanden, und Chramow wollte aushelfen. „Ich bin mit meinem Auto losgerast, bei Glatteis, unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln, um die ret-

Seit vielen Jahren ist für Juri Chramow das Fotorehabilitationsprojekt die Hauptsache seines Lebens.

ALEKSANDR LAKTIONOW

„Wer bringt krebskranken Kindern das Fotografieren bei?“ Diese Anzeige las der Hobbyfotograf Juri Chramow zufällig. Dann wurde das Helfen für den 46-Jährigen zum Lebensinhalt.

tende Ampulle zu holen“, schildert der Fotograf seinen Wettlauf mit der Zeit. Sein Adrenalinspiegel überschlug sich, aber er schaffte es: Der Junge überlebte. Am nächsten Tag musste Chramow an seinem Arbeitsplatz die Unterschrift eines Beamten einholen. Er saß eine halbe Ewigkeit im Vorzimmer des Staatsdieners, ehe man ihm schließlich die Dokumente aushändigte. „Als ich die unterschriebenen Papiere in der Hand hielt, kam mir zu Bewusstsein: Um das Leben eines Kindes zu retten, habe ich 15 Minuten gebraucht. Und die Unterschrift eines russischen Staatsbeamten unter ein wertloses, unnützes Dokument zu bekommen, hat mich ganze acht Stunden gekostet.“ S e it je ne m Tag ist das Fotorehabilitationsprojekt „Wir leben auf dieser Erde“ für Juri Chramow zum Lebensinhalt geworden. Dabei unterstützen ihn viele namhafte Kollegen. Kein Einziger der Meisterfotografen hat es bisher abgelehnt, mit den Kindern im Krankenhaus einen Fotoworkshop abzuhalten, wenn er darum gebeten wurde.

Schmerzhafter Alltag Einmal im Jahr fährt Juri Chramow mit zehn bis 15 Kindern und Jugendlichen, die eine Krebserkrankung hinter sich haben, nach Deutschland. Sie beziehen Quartier in einem kleinen Hotel, schlendern durch die

Stadt, besuchen Museen und Schlösser. Und fotografieren natürlich die ganze Zeit über. Die Teilnahme an dieser Reise ist für Juris Schützlinge kostenlos. „Wie viele der Eltern könnten denn das Geld dafür aufbringen?“, fragt der Fotograf rhetorisch. „Die allerwenigsten, viele der Kinder kommen aus der Provinz oder aus sozial schwachen Familien.“ Katja Kasakowa (26), eine Teilnehmerin des Projekts, die vor sieben Jahren ihren Krebs überwand, hält es für unwesentlich, wie lange die Krankheit zurückliegt. Die psychologischen Probleme seien noch über Jahre spürbar. Manche werden in der Schule gehänselt, weil sie durch die Hormonbehandlung sehr dünn oder dick geworden sind. Andere machen sich ständig Vorwürfe, dass sie krank und damit eine Belastung für ihre Familie waren. „Die meisten aber haben einfach niemanden, mit dem sie reden können“, sagt Katja. „Während der Zeit im Krankenhaus sind ihnen die Freunde abhandengekommen. Außerdem ändert sich bei einem Menschen, der eine schwere Krankheit durchgemacht hat, der Blick auf das Leben.“ Diesen Blick kann nur verstehen, wer selbst betroffen war. So erschüttert die erste gemeinsame Reise ins Ausland die Kinder emotional sehr stark. Im positiven Sinne natürlich. Die Fotoapparate um den Hals gehängt, bummeln sie durch die deutschen Städte – und vergessen alles. Auch Infusionsapparate und Geräte für die künstliche Beatmung.

Auf der Suche nach deutschen Partnern Das Moskauer Goethe-Institut unterstützt Chramows ungewöhnliche Fotorehabilitationsreisen. Dem Institut ist zu verdanken, dass die unkindlich gedankentiefen Fotos der Kinder nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland ausgestellt werden. Darüber, was diese Ausstellungen für die jungen Teilnehmer des Projekts bedeuten, verliert Chramow nicht viele Worte, denn es erklärt sich von selbst. Er schildert, was ihm die Eltern eines Kindes erzählt haben. Als der Junge nach einer Chemotherapie wieder in die Schule kam, riefen ihm seine Mitschüler „Glatzkopf“ nach. Worauf er versetzte: „Ich habe zur Zeit keine Haare, na und? Dafür hatte ich zwei Ausstellungen in Moskau, und ihr?“ Chramow organisiert nicht nur Ausstellungen, er gibt auch in regelmäßigen Abständen Bildbände mit den Fotografien seiner Schützlinge heraus. Ein Großteil der Auflage wird verkauft. Jetzt denkt er darüber nach, wie sich mehr krebskranke deutsche Kinder in das Projekt einbinden ließen, und ist in Deutschland auf der Suche nach Partnern. Sein Traum ist es, ein Fotocamp zu organisieren, in dem junge Fotografie-Enthusiasten aus verschiedenen Ländern gemeinsam arbeiten können. Der Projektleiter zweifelt nicht daran, dass diese Idee ein Erfolg wird, wie er ohnehin an wenigen Dingen zweifelt. Wenn er davon spricht, dass er seine Projekte notfalls selbst finanziere, meint man zunächst, das sei ein Scherz. Doch auf die Frage, was gewesen wäre, wenn sein Geld nicht für die Fahrt der Kinder nach Heidelberg gereicht hätte, antwortet er: „Dann hätte ich einen Kredit aufgenommen.“


Gesellschaft

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Datenschutz Mit Hilfe ausgefeilter Computerviren haben Kriminelle jahrelang weltweit geschützte Daten ausspioniert

Operation „Roter Oktober“ Kaspersky Lab hat ein Spionagenetz aufgedeckt, mit dem weltweit Regierungen, Militärsowie Forschungseinrichtungen ausgespäht wurden. Die Auftraggeber sind unbekannt.

Ein ausgeklügeltes Spionagenetz, das beinahe den ganzen Globus abdeckt

ALEXANDER PANOW FÜR RUSSLAND HEUTE

Bei der Analyse von Angriffen auf Rechnernetzwerke internationaler diplomatischer Vertretungen im Oktober 2012 deckten die Experten von Kaspersky Lab ein großangelegtes Cyberspionagenetz auf. Die Operation „Roter Oktober“ lief offenbar seit 2007. Die Cyberkriminellen stahlen vertrauliche geopolitische Informationen und Daten, die den Zugriff auf Computersysteme, persönliche mobile Endgeräte und Firmennetze ermöglichten. Das Hauptaugenmerk hatten die Angreifer auf Russland, Länder in Osteuropa sowie eine Reihe von Staaten in Zentralasien gelegt. „Wir schöpften erst Verdacht, nachdem wir von einem unserer Partner verdächtige Daten zugespielt bekamen. Schon bald erkannten wir, dass wir es mit einem der bisher größten Spionagefälle zu tun hatten“, erklärt Witalij Kamljuk, Seniorberater von Kaspersky Lab. „Die Komplexität und Vielschichtigkeit der Schadsoftware ist unglaublich: Wir sind auf mehr als 1000 einzigartige Dateien gestoßen, die sich 34 verschiedenen Modulen zuordnen lassen. Und das stellt nur einen Teil des tatsächlichen Ausmaßes dar.“

An vorderster Front im Kampf gegen Cyberkriminalität

Während der vergangenen fünf Jahre haben die Angreifer ungefähr 300 Computer und mobile Endgeräte infiziert und Hunderte Terabyte an Informationen erbeutet. Dabei wurden mehr als 60 Domainnamen verwendet, wie Berechnungen des Labors ergaben. Den Analysen zufolge wurden die Domains auf temporären Servern platziert, vorzugsweise mit russischen und deutschen IP-Adressen. Wo sich der Hauptserver befindet, ist noch unklar. Russische Wörter im Text der Virusmodule lassen auf russischsprachige Programmierer schließen. Allerdings sind die Herkunft und das Ziel der Hacker Kaspersky Lab zufolge bisher noch nicht geklärt. Die Angreifer interessierten sich nicht nur für Beamte und Diplomaten. Sie spionierten auch Computer in Wissenschafts-, Handelsund Militärorganisationen sowie Unternehmen aus dem Bereich der Atomenergie, der Petrochemie und der Luft- und Raumfahrt aus. Dabei wurden Dateien verschiedenster Formate erbeutet. So stießen die Experten auf Dateien mit der Endung „acid“, wie sie von

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

Hunderte Terabyte an Daten

einer Verschlüsselungssoftware verwendet wird, die von Europäischer Union und NATO genutzt wird. Zu den Quellen der Daten möchte Kaspersky Lab vor Abschluss der Untersuchungen keine Angaben machen.

EU und NATO als Opfer? Die Infizierung erfolgte vor allem per E-Mail. Jedes Opfer erhielt eine Mail, an die infizierte Dokumente zu einem für die jeweilige Zielperson interessanten Thema angehängt waren. So wurden etwa Verkaufsanzeigen für Diploma-

Jewgenij Kasperskij, Gründer und Geschäftsführer von Kaspersky Lab, wird 1965 geboren. 1987 absolviert er die Militärlehranstalt RotbannerHochschule des KGB, bis 1991 arbeitet er in einem Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums. 1989 beginnt er, nachdem er auf seinem Computer den ersten Virus entdeckt hatte, sich mit Computerviren zu beschäftigen. 1997 gründet er Kaspersky Lab. Heutzutage gilt Kasperskij als einer der weltweit bekanntesten Experten auf dem Gebiet des Virenschutzes. Er ist Mitglied der Computer Antivirus

Research Organization (CARO). 2001 rief er die jährliche Konferenz Virus Bulletin ins Leben, die zum Hauptevent der Antivirus-Industrie geworden ist. Seit 2010 ist er Mitglied des beratenden Forschungsrats des Innovationszentrums Skolkowo. Im Dezember 2012 belegt Kasperskij der Fachzeitschrift Wired zufolge den achten Platz in der Liste der 15 gefährlichsten Menschen der Welt. Zu diesen Ehren gelangt er, weil er die amerikanische Cyberwaffe enttarnt hatte, die gegen den Nahen Osten und das iranische Atomprogramm gerichtet war.

tenfahrzeuge verschickt. In den Dokumenten war dann ein spezieller Trojaner verborgen, der mittels einer Schadsoftware installiert wurde. Dabei nutzte der Trojaner Sicherheitslücken in Microsoft Office. Die Schadsoftware wurde von außenstehenden Tätern programmiert und schon bei früheren Cyberangriffen eingesetzt, beispielsweise bei Angriffen gegen tibetische Aktivisten oder gegen militärische Einrichtungen asiatischer Staaten. Das Besondere an der Software ist ein Modul, das infizierte Rech-

ner „wiederbeleben“ kann. Es wird als Plugin im Adobe Reader und in Microsoft Office implementiert und gestattet den Angreifern einen Zugriff auf das System, selbst wenn das Schadprogramm entdeckt, deaktiviert und gelöscht oder das System aktualisiert wurde. Zudem kann das Modul Daten von mobilen Geräten entwenden. Kaspersky Lab wird die bisherigen Ermittlungen gemeinsam mit internationalen Organisationen, Vollzugsbehörden und den Computer Emergency Response

Moskau als Steueroase: Russischer Pass für Gérard Depardieu. Lesen Sie mehr auf

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Teams (CERTs) fortsetzen und ausweiten. In den letzten fünf Jahren haben sich Spionageangriffe von kleinen, sporadischen Attacken hin zu Systemen industrieller Größenordnung entwickelt, erklärte der Geschäftsführer von Peak Systems, Maxim Emm, gegenüber der Zeitung Wedomosti. Die Zielcomputer würden heute häufig vorab infiziert, anschließend werde der Zugang zu ihnen verkauft.

Goldene Regel: keine Anhänge von Unbekannten öffnen Vor Cyberangriffen kann man sich mit Antivirenprogrammen schützen. Außerdem sollte man bei E-Mails von unbekannten Absendern niemals Anhänge und Links öffnen sowie ein und dieselben externen Datenträger in internen und externen Netzen nutzen. „Je vielschichtiger und komplexer der Cyberschutz einer Organisation ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs. Das bedeutet: Updates rechtzeitig installieren, keine Software aus unzuverlässigen Quellen verwenden, Antivirenprogramme aktivieren und Computer, die vertrauliche Informationen enthalten, physisch von Computern mit Internet trennen“, empfiehlt Emm.

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Meinung

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OPFERGANG UND GROSSER SIEG Matthias Uhl HISTORIKER

NATALIA MIKHAJLENKO

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ie Schlacht um Stalingrad war eine der blutigsten des Zweiten Weltkriegs. Die erbitterten Kämpfe zwischen Wehrmacht und Roter Armee um die Stadt, die den Namen des sowjetischen Diktators trug, kosteten mehr als 700 000 Menschen das Leben. Zugleich war die Vernichtung der 6. Armee an der Wolga ein entscheidender Wendepunkt im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland. Hitler und Wehrmacht gingen im Frühjahr 1942 davon aus, dass nur noch in diesem Jahr die Möglichkeit bestand, mit einem großen Aufgebot an der Ostfront um einen vermeintlichen Sieg zu kämpfen. Danach würde sich das Rüstungspotenzial der Vereinigten Staaten spürbar bemerkbar machen und die Westalliierten neue Fronten gegen das Deutsche Reich eröffnen. Die 6. Armee unter der Führung von Friedrich Paulus versuchte, Stalingrad aus der Bewegung einzunehmen, was am erbitterten Widerstand der 62. Armee unter Generalleutnant Wasilij Tschuikow scheiterte. Nachdem der Plan fehlgeschlagen war, sollte eine systematische Eroberung Straße um Straße, Haus für Haus, zuweilen sogar Etage für Etage erfolgen. Anfang November 1942 hatte die 6. Armee 90 Prozent der Stadt eingenommen und Tschuikows Trup-

Kritische Darstellungen der Schlacht gelten leicht als Verunglimpfung des Gedenkens an die Gefallenen. pen auf einen schmalen Streifen entlang der Wolga zusammengedrängt. Doch die Angriffskraft der Deutschen war erschöpft. Die Verluste beider Seiten erreichten in dieser Zeit das Ausmaß der Blutmühle von Verdun. Drastisch schilderte ein Rotarmist in einem Brief die Ankunft von 4000 Mann

Verstärkung, die sofort zum Einsatz kamen. Nur 15 bis 20 Soldaten überlebten das Gefecht: „Die Zeit die nötig war, um diese Division zu zerstören, betrug nicht einmal 15 Minuten.“ In Deutschland war die Erinnerung an die Schlacht bis ins neue Jahrtausend hinein fast ausschließlich die Geschichte des Opfergangs der 6. Armee. In der Sowjetunion wurde die Legende des heldenhaften Kampfes und Sieges der Stadt geschaffen, in der der tragische Kriegsalltag und seine Opfer keinen Platz fanden. Trotz aller Forschung ist das in der russischen Geschichtsschreibung überlieferte Bild der Schlacht

unscharf. Nach 1945 entstanden Darstellungen, die die sowjetischen Erfolge kritiklos verherrlichen. Nach dem Preis des Sieges wurde nicht gefragt, die Person Stalins als erfolgreicher Heerführer stand nicht zur Diskussion. Daran änderte weder das Tauwetter unter Chruschtschow noch die Breschnew-Ära etwas. Die UdSSR brauchte den unbefleckten Mythos des großen Sieges. Erst mit der Perestrojka wurde es möglich, eigene Verluste zu beziffern und eine wirklichkeitsnahe Geschichte der Schlacht an der Wolga zu schreiben. Gleichwohl gelang es diesen Arbeiten kaum, gegen den sakralen Charakter der öffentlichen Erinnerung an Stalingrad anzuschreiben. Kritische Darstellungen der Kriegsgeschichte gelten bis heute schnell als Verunglimpfung des Gedenkens an die Gefallenen. Deshalb bleibt die menschliche Dimension des Kämpfens und Sterbens unbeachtet, da sie es in den Augen der Verantwortlichen nicht erlaubt, den Mythos Stalingrad in verdaulicher Form an die Nachkommen weiterzureichen. Inszenierungen sollen Abhilfe schaffen, doch Kostümspiele mit gebügelten Uniformen, blankgewichsten Stiefeln und blitzenden Feldküchen können nicht die Wirklichkeit des Todes, Blutes, Drecks, Hungers, des „Rattenkrieges“ vermitteln, der die Teilnehmer der Schlacht prägte. Erst wenn die Erinnerung aus dem Korsett von Instrumentalisierung und Mythologisierung befreit wird, kann sie jüngeren Generationen deutlich machen, was diejenigen prägte, die der Hölle entronnen: „Nie wieder Krieg!“ Dr. Matthias Uhl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Moskau.

SINNLOSE GESETZE AUF VORRAT Oleg Kaschin JOURNALIST

Ü

ber die sinnlosen Initiativen der Duma wurde im letzten Jahr vielfach gelacht, doch der Running Gag vom „durchgedrehten Gesetzesdrucker“ ruft wegen seiner häufigen Verwendung keine Lacher mehr hervor. Als das alles begann, war noch klar, warum: drakonische Strafen für die Beteiligung an Demonstrationen – damit die Menschen nicht mehr hingehen; die Kriminalisierung von „Falschaussagen“ – um Regierungsgegner einzuschüchtern; der Angriff auf NGOs – damit die Wahlbeobachterorganisation Golos bei zukünftigen Wahlen lahmgelegt ist. Solche Bestimmungen dienten allesamt dem Zweck, die Bevölkerung in Schach zu halten und

keine vermeintlich regierungsfeindlichen Parolen laut werden zu lassen. Doch je mehr neue Gesetze verabschiedet wurden, desto nebulöser erschienen die Gründe dafür: Da gab es plötzlich Altersbegrenzungshinweise fürs Internet, Strafen für vulgäre Sprache in den Massenmedien, Schwarze Listen für Websites – warum? Welchen Nutzen zieht der Kreml aus einem „Antiadoptionsgesetz“ für Amerikaner oder der Diskriminierung von Homosexuellen? Und wenn sich hinter dem gesetzgebenden Irrsinn des vergangenen Jahres ein eiskaltes politisches Kalkül verbirgt? – Worin könnte dies bestehen? Man kann von der Serie reaktionärer Reformen halten, was man mag – ich schlage vor, sie als bewusste Ziehung einer neuen Verteidigungslinie um den Kreml anzusehen.

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de

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Im Dezember 2011 sah sich die Regierung gezwungen, eine politische Liberalisierung zu simulieren. Sie verkündete die Rückkehr zu den Gouverneurswahlen, die

Die ominösen Gesetze sind keine Ansammlung von Fehlern, sondern eine klar kalkulierte Sicherheitsreserve. vereinfachte Registrierung von Parteien und noch ähnliche Maßnahmen mehr. Den regierungskritischen Menschen erschienen die Zugeständnisse als unzureichend, für den Kreml waren sie jedoch offenbar so groß, dass er sie im folgenden Jahr wieder zusammenstutze.

Wäre der Kreml heute oder morgen wieder in der gleichen Situation wie im Dezember 2011, täte er sich nun wesentlich leichter mit seinen Zugeständnissen – die ganz einfach in einer Rücknahme jener unsinnigen Gesetze bestünden: etwa einer Gleichstellung von Homosexuellen oder einer Liberalisierung des Internets. Die Ansammlung der ominösen Beschlüsse ist also keine Ansammlung von Fehlern, sondern eine klar kalkulierte Sicherheitsreserve. Niemand weiß, wie und wann es zu einem Regierungswechsel kommen wird, doch mit einem neuen Präsidenten würde auch eine neue Epoche anbrechen. Und je mehr sinnlose Gesetze es heute gibt, desto größer werden die Reformen von morgen ausfallen. Dieser Text erschien auf dem Portal openspace.ru.

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-Mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow, Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Commercial Director: Julia Golikova, Anzeigen: sales@rbth.ru Artdirector: Andrej Shimarskiy, Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung Layout: Maria Oschepkowa

REFLEKTIERT

Eine Oase in der Wüste Der Ulenspiegel ZEITZEUGE

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er wäre so verrückt, nach Dubai zu fahren – in die sterile Boomstadt in der Wüste, wo der Stau schon am Hotellift anfängt? Wer würde dort Geschäfte machen, wenn es nicht Öl gäbe und damit viele reiche Menschen? Weil aber das Öl irgendwann ausgeht, überlegen die Scheichs intensiv, wie sie ihre Wirtschaft auf diesen Moment vorbereiten. Man setzt auf Tou r ismu s, H ig htech u nd Luftfahrt. Auch nach Russland kommen Geschäftsleute, weil Reichtümer locken, die auf dem Export von Bodenschätzen und Energie beruhen. Mit einem guten Geschäftsklima kann das Land allerdings nicht aufwarten, wie in dieser Ausgabe einleuchtend dargestellt wird. Außerdem sagen Experten voraus, dass die wichtigste Einnahmequelle zukünftig nicht mehr gar so schön sprudeln wird. Genauer: Durch neue Fördermethoden sprudelt sie nun woanders, und Russland verliert seine Position auf dem Energiemarkt. Vor diesem Hintergrund wäre es klug, in die Richtung der Ölscheichs zu denken: Was kommt nach Öl und Gas? Korruption und Kriminalität tragen nicht dazu bei, Unternehmer und Investoren anzulocken. Hinzu kommen Alltagsprobleme wie Bürokratie, schlechte Infrastruktur und mangelnde Sicherheit. Noch gibt es in Russland genügend Kunden für westliche Luxusgüter. Aber was kommt in Zukunft? Nach dem Ende der Sowjetunion sprach alle Welt von Russlands immensem Potenzial. Gut ausgebildete Arbeitskräfte, Wissenschaft auf höchstem Niveau, Kreativität, Nachholbedarf … und Bodenschätze. Auf Letztere hat man sich gestürzt, alles andere vernachlässigt. Innovation war kein Thema, warum auch? Es wurde fröhlich verkauft und umverteilt, die Industrie lebte von der Substanz. Doch die Kosten sind inzwischen schon höher als in vielen aufstrebenden Wirtschaften Asiens und Lateinamerikas. Natürlich haben vorausschauende Politiker sich darüber Gedanken gemacht, wie Russland seine Abhängigkeit vom Rohstoffmarkt verringern könnte. Herausgekommen sind Projekte wie die Technologiestadt Skolkowo. Eine Oase in der Wüste – ohne Staus, korrupte Bürokraten und Straßenkriminalität. Das soll ausländische Partner anlocken und Impulse für die russische Wirtschaft liefern. Weiter so!

Leiter Bildredaktion: Andrej Sajzew, Bildredaktion: Nikolaj Koroljow Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Karelsky. Zu erreichen über Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschinerstraße 8, 81677 München Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2013. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko, Geschäftsführer: Pawel Negojza Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


Die Stadt

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Tomsk Die einstige Hauptstadt Sibiriens geht heute eine glückliche Symbiose aus Vergangenheit und Zukunft ein RICARDO MARQUINA MONTANANA

Auch wenn die Transsibirische Eisenbahn die Touristenscharen 100 Kilometer südlich von Tomsk vorbeikutschiert: Die Stadt ist noch immer die heimliche „Perle Sibiriens“. ROBERT NEU FÜR RUSSLAND HEUTE

Sibirien tickt anders. Nicht allein die Zeitverschiebung ist es, nein, es ist vielmehr eine Verschiebung des gesamten Zeitgefühls. Ausnahmslos pünktlich gelangen die Züge an ihre Zielorte, aber sie rattern oft tagelang, bis sie ihren nächsten Halt erreichen. Der Sommer ist heftig und warm, und doch herrscht der Winter ein halbes Jahr. Historizität ist schwer fassbar auf dem schlafenden Kontinent. Tomsk jedoch, 250 Kilometer nördlich von Nowosibirsk mitten in Westsibirien gelegen, bietet dem Besucher eine spürbare Atmosphäre der Zeit, des Neuen wie des Alten zugleich.

Ein Vorposten des Zaren Vom Auferstehungsberg, einem gemächlichen Hügel im Zentrum der Stadt, bietet sich ein Blick in alle Himmelsrichtungen: Der mächtige Fluss Tom macht eine Schleife, schiebt sich, von den Kohlegruben des westsibirischen Ruhrgebiets Kusbass kommend, in Richtung Norden, bis er in den Ob mündet, der sein Wasser ins Nördliche Eismeer bringt. Einst trug der Tom die Kosaken hierher, auf Befehl des Zaren Boris

Godunow gründeten sie 1604 ein Fort als Vorposten des Russischen Reiches. Daraus entstand Tomsk, die Perle Sibiriens. Wiederaufgebaute Holzbarrikaden und ein Ausguck erinnern an die Rolle des Ortes als Kosakenfestung. Hoch über Tomsk ragt das Stadtmuseum mit altem Feuerturm, im Hintergrund bäumen sich mächtige Wolken aus den Kraftwerken der Umgebung. Auch die ehemals geschlossene Stadt Tomsk-7 um die kerntechnische Anlage zeigt sich am Horizont. Atomkraftwerke und Holzhäuser. Das Paradox dieser Stadt aus Modernität und Geschichte wird schon auf den ersten Metern des Spaziergangs deutlich.

RICARDO MARQUINA MONTANANA

Gestern Kosakenfestung, heute Studentenstadt

LORI/LEGION MEDIA

Junge Stadt: Ein Viertel der Tomsker Bevölkerung sind Studenten.

ZAHLEN

19 Hochschuleinrichtungen machen Tomsk zum bedeutenden Wissenschaftszentrum Westsibiriens.

8500 ethnische Deutsche leben im Gebiet Tomsk. Sie stellen damit die viertgrößte Bevölkerungsgruppe.

Erst Zentrum, dann Peripherie Sibirien war bald erobert, bedeutend blieb Tomsk durch seine Lage am „Sibirischen Trakt“. Auf der einzigen, morastigen Landstraße in der Taiga wühlten sich Gespanne und Kutschen durch den Schlamm, auf die Verbannten wartete ein langer Fußmarsch. Zumindest bevor die Eisenbahn Hunderttausende Menschen auf einen oft schicksalhaften Weg nach Osten beförderte. Als Handelszentrum und Militärposten wuchs Tomsk zu der neben Tobolsk und Irkutsk bedeutendsten Stadt Sibiriens heran. Alle Reisenden ihrer Zeit machten hier halt. Doch eine wahnwitzige Fehlentscheidung sollte das Schicksal der Stadt Ende des 19. Jahrhun-

Soll Russland in seiner Syrienpolitik dem internationalen Druck nachgeben?

derts bestimmen. Die Legende besagt, die Tomsker Kaufleute und Stadtoberen seien von der Notwendigkeit eines Bahnanschlusses nicht überzeugt gewesen. Zu dreckig, zu laut, so ihr fatales Urteil. Damit besiegelten sie die Zukunft des Ortes. Die Transsibirische Eisenbahn fährt nun 100 Kilometer südlich an Tomsk vorbei, und nur eine Stichstrecke verbindet die Stadt mit der Bahntrasse. Der Handel verblühte, andere Städte wie Nowosibirsk befanden sich im Aufschwung. Die heutigen Touristenströme auf der legendären Transsibirischen Eisenbahn fließen an Tomsk vorbei.

Aus einem anderen Grund nimmt Tomsk dennoch einen wichtigen Platz unter Russlands Städten ein: der Bildung. Wir schlendern die vielbefahrene Hauptstraße entlang. Lenin ragt über allem und weist auf die rosagetünchte Gotteserscheinungskirche, eine Armada von Kleinbussen wühlt sich hupend durch die Stadt. Die Haltestellen vor den Universitäten sind überfüllt mit jungen Menschen aller Couleur. Allein sechs staatliche Universitäten bietet Tomsk, Lyzeen, Mittelschulen, Berufsschulen, Institute und private Bildungseinrichtungen gar nicht mitgezählt. Der Tomsker Urtyp ist Student, ein Viertel der Bevölkerung ist an der Uni eingeschrieben. Wenig verwunderlich also die vielen jungen Leute, die die Parkbänke in Beschlag nehmen und die Uferpromenade des Tom bevölkern, sobald die ersten Sonnenstrahlen den Frühling ankündigen.

Älteste Universität in Sibirien Das Hauptgebäude der Staatlichen Universität ist ein architektonisches Kleinod, in einen hübschen Park eingebettet, und erinnert an einen altehrwürdigen englischen Campus. Als erste Universität Sibiriens 1880 gegründet, erfüllt sie die Stadt mit Stolz auf ihre für hiesige Verhältnisse lange Bildungsgeschichte. Nicht nur das Wissen verdankt Tomsk den Uni-

versitäten, sondern auch sein Kulturleben. Und das Beste ist, dass man in einem der Cafés leicht ins Gespräch kommt, denn aufgeschlossene Menschen finden sich hier eher als anderswo. Tradition verpflichtet: Seinem Ruf als bedeutendes Zentrum für Forschung und Bildung wird Tomsk auch heute gerecht. Über Russlands Grenzen hinaus wird kooperiert, man versteckt sich nicht mehr vor der Welt. Besonders gefördert wird der Nachwuchs für die Öl- und Gasindustrie, die nördlich der Region Tomsk angesiedelt ist. Überdurchschnittlich viele ausländische Studenten bereichern die Stadt, die auch bekannt ist für ihre große Anzahl an Sprachschulen. Im Vergleich zu anderen Provinzzentren ist Tomsk geradezu kosmopolitisch.

Vorbildlich saniertes Stadtzentrum Weit in die Vergangenheit taucht man, wenn man in eine der Nebensträßchen abbiegt. Hier lebt die Pracht des ehemaligen Handelszentrums auf. Die Stadt hat es sich etwas kosten lassen und die herrlichen Holzbauten reicher Kaufleute instand gesetzt. Dazu gehört das Russisch-Deutsche Haus an der KrasnoarmejskajaStraße. In jedem Detail offenbaren sich die Verspieltheit des Architekten und das Prestige des Bauherren, seien es die Erker, die weißen Kuppeln vor tiefblauem Anstrich oder die fein verzierten Fenster. Noch heute leben in Tomsk rund 8500 Deutschstämmige und sind damit viertgrößte Bevölkerungsgruppe. Freilich: Auch in Tomsk reihen sich die Plattenbauten aneinander, aber es ist so viel Altes und Schönes erhalten, dass man sich an einem historisch gewachsenen Ort fühlt, der ein Heute, ein Morgen, aber auch ein Gestern hat und sich dessen bewusst ist.

empfiehlt

Sagen Sie uns die Meinung. Russland stellt sein Tourismuspotenzial auf der ITB-2013 vor: 6.-10. März, Berlin facebook.com/ RusslandHeute

twitter.com/ruheute Mit Unterstützung von der Föderalen Agentur für Tourismus der Russischen Föderation


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Sport

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Fußball Mit Rückendeckung des Sponsors Gazprom plant Russland eine Spielklasse für die besten Clubs der GUS

Postsowjetische Championsliga Zenit St. Petersburg hat den Stein ins Rollen gebracht: Der Club will die stärksten Clubs der ehemaligen Sowjetunion in einer gemeinsamen Liga vereinen. Die FIFA ist strikt dagegen. JEWGENIJ PROLYGIN RUSSLAND HEUTE

Vorbild Tschechien/Slowakei

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Hört man Walerij Gassajew, könnte man glauben, die Errichtung einer GUS-Meisterschaft sei nur einen Steinwurf entfernt: „Momentan diskutieren wir das Format der Liga. Am wahrscheinlichsten ist, dass es eine oberste und eine 1. Liga mit jeweils acht oder neun Mannschaften geben wird.“ Gassajews Optimismus mag darin begründet sein, dass er neben seiner Tätigkeit als Coach von Alania Wladikawkas auch Direktor jener Organisation ist, die seit November ein Konzept für die Meisterschaft der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS, Nachfolgeorganisation der UdSSR) auf die Beine stellt. Schon 2015 könnte diese erstmals ausgetragen werden.

Zenit St. Petersburg, Champion der russischen Meisterschaft, drängt auf Reformen.

Zenit gegen den Fußballbund Hört man dagegen FIFA-Chef Sepp Blatter, gibt es offenbar wenig Raum für Diskussionen: „Die FIFA hat absolut kein Interesse an diesem Wettbewerb. Die Vereinswettbewerbe werden im Rahmen und unter Kontrolle der nationalen Verbände organisiert. Dies geschieht innerhalb der Grenzen des Landes und des Verbandes. Eine GUS-Meisterschaft ist eine falsche Entscheidung und kann die Pyramide der FIFA zerstören und der Solidarität innerhalb unserer Familie großen Schaden zufügen.“ So deutlich sprach sich Blatter Ende Januar in eben jenem St. Petersburg aus, wo die Idee geboren wurde.

Die neue Initiative trifft bei Fans, Clubs und Politikern auf großes Interesse. Der ukrainische Milliardär Rinat Achmetow, Besitzer des Superclubs Schachtjor Donezk, zeigte sich ebenso interessiert wie das Management des weißrussischen Clubs Bate Borisow. Suleiman Kerimow, russischer Milliardär und Besitzer des dagestanischen Clubs Anschi, für den seit letztem Jahr Superstar Eto’o spielt, ist Mitglied des Organisationskomitees. Die Clubs erhoffen sich von einer solchen Liga mehr Zuschauerinteresse und höhere Werbeeinnahmen.

Tschechien und die Slowakei sowie Lettland und Litauen planen momentan gemeinsame Fußballligen. Sie entstand nach einem schweren Konflikt des Clubs Zenit St. Petersburg mit dem russischen Fußballbund: Bei einem Spiel im November hatte ein Fan den gegnerischen Torwart mit einem Feuerwerkskörper verletzt. Der Petersburger Club wurde mit einer Geldstrafe, einer technischen Niederlage und zwei Spielen vor leeren Rängen abgestraft.

Die Clubführung zeigte sich empört, Alexej Miller, Aufsichtsratsvorsitzender des Zenit-Sponsors Gazprom, erklärte, es sei möglich, dass sein Club die russische Premier Liga verlasse und in einer anderen Meisterschaft spiele.

der Sowjetunion“ an, die von 1936 bis 1991 als eine der weltweit bedeutendsten Fußballligen galt: Dynamo Kiew, Spartak Moskau, Dynamo Minsk, aber auch der usbekische Club Pachtakor und der georgische Dynamo Tiflis kämpften damals um den begehrten Titel. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde zwar allwinterlich ein GUS-Pokal ausgetragen, allerdings nur in Turnierform und auf Kunstrasen. Das Zuschauerinteresse sank mit jedem Jahr, ebenso die Teilnahmewilligkeit der Clubs, weil das Turnier schlechte finanzielle, dafür aber gute Aussichten auf Verletzungen bot.

Anknüpfen an große Tradition Kurz danach beauftragten Zenit und mehrere andere Clubs Gassajew mit der Planung einer „Vereinigten Meisterschaft“ – so zumindest heißt das Organisationskomitee, das dieser leitet. Mit der Idee einer Meisterschaft, die die besten Clubs der GUS untereinander austragen, knüpft man an die „Fußballmeisterschaft

Politisch erhielt die Liga Rückendeckung vom einflussreichen Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Iwanow. Dieser steht der 2008 gegründeten paneuropäischen Basketballliga VTB United League vor, die in der laufenden Saison 20 Clubs aus ehemals sowjetischen Ländern, aber auch aus Polen und Tschechien vereinigt. Weitaus bekannter ist die ebenfalls 2008 gegründete Kontinentale Hockey Liga (KHL). In der laufenden Saison treten hier die führenden Clubs aus ehemals sowjetischen Ländern sowie der Slowakei und Tschechien gegeneinander an. Blatters deutliche Worte lassen die Perspektiven der Fußballliga nun allerdings dunkel erscheinen: Verständlicherweise hat die FIFA wenig Interesse daran, dass die von der UEFA organisierten Champions League und Europa League Konkurrenz bekommen. Die Befürworter verweisen jedoch darauf, dass etwa die Slowakei und Tschechien, aber auch Lettland und Litauen, momentan gemeinsame Ligen planen. Auch Gassajew ist weiterhin optimistisch: Nach Blatters Schelte erklärte er, die Idee der GUSMeisterschaft widerspreche den Prinzipien der FIFA nicht – man solle erst einmal abwarten, bis sein Komitee konkrete Vorschläge unterbreite.

Olympia Der Countdown läuft: In einem Jahr wird gestartet

Am 7. Februar 2014 beginnen die Olympischen Spiele in Sotschi. Das Prestigeprojekt soll für internationales Renommee sorgen. Aber es gibt noch viel zu tun bis zur Eröffnung. JELENA SCHIPILOWA RUSSLAND HEUTE

Eines steht jetzt schon fest: Die XXII. Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi werden zweifellos ungewöhnlich werden: Denn Wettbewerbe wie Eishockey und Eiskunstlauf finden in Sotschi und Adler statt, direkt am Meer also, wo subtropisches Klima herrscht und Palmen die Küste zieren. Die Wettkämpfe in Biathlon, Ski und Bob dagegen werden im 60 Kilometer entfernten Bergort Krasnaja Poljana ausgetragen, umgeben von den schneebedeckten Dreitausendern des westlichen Kaukasus.

Dmitrij Tschernyschenko, Chef des Organisationskomitees, verkündete jüngst, dass die Infrastruktur zu 70 Prozent fertiggestellt sei und die Vorbereitungen dem Zeitplan entsprächen. „Sotschi wird das Schaufenster Russlands sein“, sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press. Präsident Putin sehe das Ereignis als ein Schlüsselprojekt zur Verbesserung des internationalen Renommees Russlands an. Dementsprechend lässt sich der Staat die Ausrichtung der Spiele etwas kosten: Ungefähr 22,5 Milliarden Euro sind für den Bau von Hotels, modernen Stadien, Eislaufbahnen und Straßen vorgesehen, die zum Teil nur einspurig waren. Und auch wenn es an der Infrastruktur noch einiges zu tun gibt – die Pläne für die Eröffnungsund Abschlussfeier stehen bereits.

So soll laut Tageszeitung Iswestija ein als Peter der Große verkleideter Schauspieler die Spiele eröffnen. Er wird eine Flottille aus fünf Schiffen anführen, auf denen die Helden klassischer russischer Märchen versammelt sind. Die Feier besteht aus mehreren thematischen Blöcken, die über die russische Literatur und Geschichte erzählen. Insgesamt 49 Millionen Euro sollen dafür ausgegeben werden, immerhin 20 Prozent weniger als bei den Olympischen Sommerspielen in London. Probleme gibt es noch mit den Hotels: Etwa 1,2 Millionen Sportbegeisterte werden zu den Spielen erwartet, was voraussichtlich zu Engpässen bei der Unterbringung führt. Zurzeit bietet die Stadt gerade einmal 34 000 Hotelzimmer an. Das Internationale Olympische Komitee besteht jedoch da-

MICHAIL MORDASOW

Winterspiele zwischen Palmen und Dreitausendern

22,5 Milliarden Euro sind für den Ausbau von Sotschi vorgesehen.

ZAHLEN

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Tage dauert die Anreise der Flamme, so lange wie nie zuvor bei den Olympischen Winterspielen.

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Millionen Touristen erwartet Sotschi zu den Spielen. Bis zum Beginn von Olympia 2014 werden 41 467 neue Hotelzimmer verfügbar sein.

rauf, dass Sotschi mindestens 41 467 Plätze zur Verfügung stellen müsse. Ein staatliches Programm sieht vor allem neue Hotels in der Innenstadt von Sotschi und in der Nähe von Adler und Krasnaja Poljana vor. Eines der wichtigsten Vorhaben ist ebenfalls noch nicht ganz abgeschlossen: eine kombinierte Auto- und Eisenbahntrasse zwischen dem Flughafen Adler und dem Bergdorf Krasnaja Poljana. Das ehrgeizige Projekt wird um die sechs Milliarden Euro kosten.


Feuilleton

RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Kino Pelewins Roman über den Bürgerkrieg und die wilden 90er wird in Deutschland verfilmt 2005 erzählte der Kanadier dem deutschen Produzenten Karsten Stöter von seiner Idee, der mit seiner Firma Rohfilm schon mehrfach russisch-deutsche Koproduktionen gemacht hat. Stöter war begeistert von der Idee, „in einer Zeitreise den Coup von 1991, in dem eine sozialistische Gesellschaft fast in einen Radikalkapitalismus kippte, mit der Zeit von 1919 zu verbinden, in der eine ebenfalls völlig unvorbereitete Gesellschaft vom Feudalismus zum Kommunismus umgestaltet werden sollte.“ Dass die Zeichen in Russland wieder auf Sturm und Umbruch stehen, macht Stöter zufolge die Geschichte heute besonders relevant: Eine protestierende Mittelklasse, das sei neu für Russland.

Buddhas kleiner Finger in Leipzig

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LESENSWERT

Dadilo trifft auf Danilka

Wenig Geld, viel Enthusiasmus

BALTHASAR VON WEYMARN

Kein Interesse in Russland

FÜR RUSSLAND HEUTE

Der Film, der unter anderem mit Mitteln der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) und des Filmboards Berlin-Brandenburg entsteht, muss bis heute auf die Unterstützung durch einen Vorabverkauf ins deutsche Fernsehen verzichten. Auch aus Russland ist kein Koproduzent an Bord. „Dies ist die Adaption eines modernen russischen Klassikers, der nun im Ausland auf Englisch entsteht. Das ist in Russland schwer zu vermitteln“, räumt Stöter ein. Den Hindernissen zum Trotz ist der Produzent jedoch guter Dinge, was das zu erwartende Ergebnis angeht. „In den Szenen, wo die optischen Erwartungen besonders hoch sind, zum Beispiel im Bürgerkrieg, wird der Film deutlich teurer aussehen, als er ist.“ In einem Europa, das zurzeit Schlagzeilen damit macht, dass die Dinge teurer sind als geplant, stimmt diese Aussicht auf das Ergebnis einer internationalen Zusammenarbeit zuversichtlich. Der Film soll im Herbst 2013 in die Kinos kommen.

PRESSEBILD

Ein kanadischer Regisseur begeistert einen deutschen Produzenten für ein russisches Buch. Nun wird es verfilmt. Auf Englisch. In Leipzig.

„Buddha’s little finger“ ist mit einem Budget von 2,2 Millionen Euro eher unterfinanziert. Stöter ist sich dessen bewusst. Um den Film realisieren zu können, haben er und Pemberton auf ein junges Team gesetzt, das bereit ist, zugunsten des Projekts auf die üblichen Gagen zu verzichten. Neben kanadischen Schauspielern ist unter anderem auch der Deutsche Stipe Erceg („Die fetten Jahre sind vorbei“) dabei. Stöter zufolge ist der Enthusiasmus des Teams in den Ergebnissen schon jetzt zu sehen. Gedreht wird bis Ende September in und um Leipzig. „Das Moskau der frühen 90er-Jahre existiert nicht mehr“, sagt Stöter, „wir haben Glück, dass einzelne Straßenzüge und Landschaften hier in der Region überzeugend als Doubles eingesetzt werden können.“

Kleinkrimineller und Volksheld Der Titel der Romanvorlage „Tschapajew i pustota“, wörtlich „Tschapajew und die Leere“, verweist auf einen in Russland berühmten General der Revolutionsarmee, der vor seinem Tod im Herbst 1919 eine Reihe von wichtigen Schlachten im Russischen Bürgerkrieg gewinnen konnte. Der Held des Romans könnte anders nicht sein: Er ist Kleinkrimineller im Moskau des Jahres 1991 und gerät in die Hände des KGB. In der Gefangenschaft träumt er sich ins heroische Jahr

KULTURKALENDER

PRESSEBILD

„Buddha’s little Finger“ ist die Geschichte von Pjotr, der während des Staatsstreichs in Moskau August 1991 in die Machenschaften der Unterwelt gerät. Getrennt von seiner Freundin Anna, verhaftet und verhört vom KGB, verliert er sein Gedächtnis und findet sich in der Russischen Revolution von 1919 wieder. Dort kämpft er als Held an der Seite des legendären Tschapajew.

1919 und steht dort vor den gleichen Konflikten: Verrat, Identitätswechsel und -krisen und die große Unsicherheit, die in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche Menschen zu außergewöhnlichen Handlungen bringen. Der Autor der Romanvorlage Wiktor Pelewin (mit „Generation P“ auch über die Grenzen Russlands bekannt geworden) scheut ähnlich wie Schriftstellerlegende J. D. Salinger und Regisseur Terrence Malick seit Jahrzehnten die Öffentlichkeit. Selbst seine engsten Mitarbeiter wissen oft nicht, in welchem Land er sich gerade aufhält, da er vorzugsweise über das Internet kommuniziert. In der

MUSIK IVAN IVANOVICH & THE KREML KRAUTS 10. FEBRUAR, SONIC BALLROOM, KÖLN WEITERE TERMINE DEUTSCHLANDWEIT

mittlerweile achtjährigen Entstehungsgeschichte des Films war das eine Herausforderung für das Team um Produzent Karsten Stöter, insbesondere wenn es um vertragliche Fragen ging, die schnell gelöst werden mussten.

Russlanderfahrener Produzent Aber die Entstehungsgeschichte des Films ist eigentlich länger: 1990 lernte der kanadische Regisseur Tony Pemberton den Schriftsteller Pelewin in Moskau kennen. Nach Erscheinen seines Romans „Buddha’s little Finger“ 1996 beschäftigte er sich ein Jahrzehnt mit der Umwandlung des Stoffes in ein Drehbuch.

FESTIVAL WIE KLINGT RUSSLAND? 14. BIS 24. FEBRUAR, KONZERTHAUS BERLIN

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

Sie singen einen Walzer über Salzgurken und haben auch sonst alles, was zu einer ordentlichen deutsch-russischen Skaband gehört: einen übergewichtigen Sänger mit rauer Stimme, eine Bläsergruppe und viel Spaß.

Zwei Wochen gehört das Konzerthaus am Gendarmenmarkt verschiedenen Künstlern aus Russland. Chöre, Tanzensembles und herausragende Dirigenten geben Antwort auf die Frage: Wie klingt Russland? Schmankerl und Rarität: der live begleitete Stummfilm „Eine Reise zum Mars“ von 1924.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› kreml-krauts.de

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23. UND 24. FEBRUAR, MÜNCHEN, VERSCHIEDENE SPIELORTE

Der kleine Drache Dadilo hat großes Bauchgrimmen vor seinem ersten Tag im Kindergarten. Wie gut ist es da, dass er auf Regina trifft, die Elefantendame aus dem Waldkindergarten. Sie hilft ihm dabei, gleich neue Freunde zu fi nden – und erklärt ganz konkret, was es bedeutet, „Erfahrungen“ zu machen. Am Ende des Tages geht Dadilo trotz einiger Höhen und Tiefen zufrieden nach Hause und kommt am nächsten Tag gerne wieder. So, und nun das Ganze auf Russisch: „Skorej w detskij sad, Danilka“, heißt es da parallel zum deutschen Text. Der Münchner Verlag Edition bi:libri hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kindergarten- und Grundschulkindern, die zweisprachig aufwachsen – und das sind immer mehr –, auch mit bilingualen Kinderbüchern auf die Sprünge zu helfen. Neben dem deutschen Text wird die gleiche Geschichte in einer anderen Sprache erzählt. Bei bilingualen Kindern sorgt das regelmäßig für Staunen: genau dieselbe Geschichte, aber in einer anderen Sprache. Und, so sind die Macher des Verlags überzeugt, zweisprachige Bücher können zur Förderung dieser Kinder eine wertvolle Unterstützung leisten. Auf diese Weise erweitern sie gleichzeitig in beiden Sprachen spielerisch ihren Wortschatz – was im Übrigen auch für die vorlesenden Eltern gilt! – und schulen ihr Sprachgefühl. Neben den deutsch-russischen Kinderbüchern bietet der Verlag die Sprachen Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Spanisch und Türkisch an, natürlich immer in Kombination mit Deutsch. Derzeit sind 16 Titel in verschiedenen Sprachausgaben lieferbar, einige sind mit einer Hör-CD ausgestattet, auf der die Geschichten von Muttersprachlern vorgelesen werden. Der Verlag empfiehlt seine Bücher auch speziell Kitas und Grundschulen: Auf seiner Homepage findet sich zum Download pädagogisches Zusatzmaterial für diese Einrichtungen.

Stanislawskij hat mit seiner Schauspieltheorie weltweit die Theaterkunst beeinflusst. Das Zentrum russischer Kultur in München widmet ihm Theateraufführungen und Lesungen in deutscher und russischer Sprache.

Katharina E. Volk/Andrea Dölling: „Viel Spaß im Kindergarten, Dadilo!“. edition bilibri 2012, 40 Seiten, mit mehrsprachiger Hör-CD, ab drei Jahren, 17,95 Euro

THEATER 150. GEBURTSTAG VON KONSTANTIN STANISLAWSKIJ

› mir-ev.de

Moritz Gathmann


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Porträt

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Religion Thomas Diez ist Priester in Moskau. Sein Weg zum russisch-orthodoxen Glauben war lang und steinig

Batjuschka Fomá aus Ottobrunn Als Thomas Diez beschließt, vom Katholizismus zur RussischOrthodoxen Kirche überzutreten, hat er bereits ein Studium der Philosophie und Theologie an der Päpstlichen Hochschule Gregoriana in Rom hinter sich. Aber der römisch-katholische Glaube und die Begeisterung für die russische Orthodoxie ließen sich für den jungen Mann nicht länger vereinbaren. Die meisten seiner Bekannten, die aus der katholischen Bewegung des Neokatechumenats stammten, brachen den Kontakt zu ihm ab.

Vor neun Jahren hängte der Münchner Architekt Thomas Diez mit 39 Jahren seinen Beruf an den Nagel, packte einen Koffer und fuhr nach Moskau, um orthodoxer Priester zu werden. TATJANA MARSCHANSKICH FÜR RUSSLAND HEUTE

Eine deutsch-polnische Familie Vater Foma räumt freimütig ein, dass er sich mit einer großen Portion Zweifel im Bauch auf den Weg nach Russland machte: „Anfänglich habe ich gedacht, ich würde hier entführt, ausgeraubt oder betrogen.“ Aber das Interesse an der russischen Orthodoxie und der Wunsch, Priester zu werden und gleichzeitig eine Familie zu gründen, waren größer als alle Skepsis. Und Foma Diez fand sein Glück. Im gemischten Chor der Geistlichen Akademie traf er seine zukünftige Frau, eine ebenfalls orthodox gläubige Polin. Anfangs schenkte Joanna dem Deutschen keine Beachtung. „Einmal ist eine Bekannte aus meiner Studiengruppe gekommen und hat gesagt: ‚Weißt du eigentlich, dass sich jemand für dich interessiert?‘“, erzählt Matuschka Joanna, wie sie seit der Eheschließung genannt

NURIJA FATYKHOWA

NURIJA FATYKHOWA

Mit 40 auf die Schulbank

© PRAVMIR.RU

Die Moskauer Kirche des Allgnadenreichen Erlösers, in der Foma Diez sein Priesteramt versieht, gehörte vor der Revolution zu einem Kloster. Im Hauptgebäude, wo seinerzeit die Gottesdienste stattfanden, steht heute ein Wachmann am Eingang. Er lässt nur Besucher passieren, die in die Anwaltskanzlei möchten, die sich hier seit einigen Jahren eingemietet hat. „Wenn Sie beten wollen, dann gehen Sie in den roten Ziegelbau um die Ecke“, erklärt er. „Dort wohnt auch Foma Diez, falls Sie den suchen.“ Batjuschka Fomá (die russische Entsprechung von Vater Thomas) ist der einzige deutsche russischorthodoxe Geistliche in Russland. Seine Familie wohnt im Erdgeschoss eines schönen Backsteinhauses, das dem Kloster einst als Wirtschaftsgebäude diente. Vom Korridor gehen drei Türen ab. Eine führt in das Zimmer des Kirchenvorstehers, die zweite in die Wohnung von Vater Foma und die dritte in die Kirche. „Zu Sowjetzeiten war das eine Turnhalle“, erzählt der deutsche Priester auf Russisch. Er spricht schnell, mit leichtem Akzent. „Es gäbe hier noch viel zu sanieren, aber bis jetzt hat das Geld nur für das Ausbessern der Fassaden gereicht.“ Auf dem alten Holzfußboden der Kirche sind noch die Markierungslinien eines Basketballfeldes zu sehen. In den Ecken liegen Säcke mit Baumaterial. Doch weder Vater Foma noch die Mitglieder seiner Gemeinde stört das im Geringsten.

Thomas Diez hat sich seinen Traum erfüllt: Er kahm nach Russland, studierte an der Moskauer Geistlichen Akademie, fand seine Frau, gründete eine Familie und wurde ein russisch-orthodoxer Priester.

wird. Aber Joanna dachte anfangs nicht im Geringsten an Heirat, zeitweise wollte sie sogar in ein Kloster eintreten. Und doch wurde sie neugierig: „Wer interessiert sich für mich?“ Als sie hörte: „Foma!“, fragte sie erstaunt zurück: „Wer ist denn das?“ Bald schon suchte Foma selbst ihre Nähe und fragte ganz unverblümt: „Hältst du es für möglich, dass wir uns besser kennenlernen und vielleicht heiraten?“ Foma und Joanna, die in Russland eine Ausbildung zur Kirchenchordirigentin absolvierte, haben vier Kinder. Nika, Maria, Vera und Anna sprechen gleich mehrere Sprachen: mit der Mutter Polnisch, mit dem Vater Deutsch und mit ihren Freunden im Kindergarten oder in der Schule Russisch. Die kleine Kirchenwohnung ist für die große Familie nur eine Unterkunft auf Zeit. Bereits vor mehreren Jahren hatte der deutsche Geistliche bei einer Baugesellschaft investiert, die dann aber bankrott ging. Mit Hilfe des Gouverneurs des Moskauer Gebiets erhielt die Familie schließlich doch ihr Domizil. Und die Gemeindemitglieder unterstützen Foma und Joanna nach Kräften. Die einen gehen mit den Kindern spazieren,

andere stehen den Eltern in Alltagsfragen mit Rat und Tat zur Seite oder bringen Kleidung für die Kleinen vorbei.

Der deutsche Geistliche hatte einst bei einer Baugesellschaft investiert, die dann bankrott ging. Mit 40 Jahren war er der Älteste, viele der anderen Seminaristen hätten seine Söhne sein können. Der weite Umweg zum russisch-orthodoxen Glauben „Als Kind habe ich die Kirche nicht gemocht“, gibt der Geistliche zu. Was für ein hässlicher Betonkasten, dachte der zehnjährige Thomas, wenn er mit seinem Vater die evangelische Kirche in Ottobrunn, einem Vorort von München, besuchte. Die Krise, die Thomas Diez als Heranwachsender durchlebte, ließ ihn den Weg zum Glauben finden. Allerdings nicht zum protestan-

tischen, sondern zunächst zum katholischen. Weder der Vater noch die Mutter verstanden ihn, als er sein Architekturstudium unterbrach und nach Westberlin ging, um sich dort in der Mission der Katholischen Kirche zu engagieren. Das war im Jahr 1988, als die Tausendjahrfeier der Christianisierung Russlands begangen wurde. „Unter dem Eindruck dieses Ereignisses habe ich dann Bücher und Artikel über den russisch-orthodoxen Glauben gelesen“, erinnert sich Vater Foma. „Als ich erfahren habe, wie es der Russisch-Orthodoxen Kirche unter dem Kommunismus erging, dass es Verfolgungen und Martyrien gab, hat mich alles interessiert, was im Zusammenhang mit Russland stand.“ In Berlin kaufte sich der junge Mann die ersten Audiokassetten, um Russisch zu lernen. Fortan widmete der katholische Architekturstudent seine gesamte Freizeit der Geschichte und Kultur Russlands und der RussischOrthodoxen Kirche. Manch einer fragte beim Anblick der Bücher in den Regalen seiner Studentenwohnung: „Willst du nun Architekt werden oder russischer Geistlicher?“

Als 36-Jähriger wurde Thomas Diez in der Russisch-Orthodoxen Auslandskirche getauft. Gleich danach begann er im Kirchenchor zu singen, was eine intensive Beschäftigung mit dem Kirchenslawisch erforderte. Drei Jahre später fuhr er dann nach Russland, um sich am Priesterseminar der Moskauer Geistlichen Akademie ausbilden zu lassen. Dabei galt es, Bibelkunde, Kirchengeschichte, Philosophie oder Lithurgik zu bewältigen. In den kirchlichen Bildungsstätten Russlands werden die Kenntnisse der angehenden Geistlichen wie in Schulen nach einem fünfstufigen Notensystem bewertet, wonach man Testate und Prüfungen absolviert. „Manche Vorlesungen habe ich nur mit Mühe verstanden“, erinnert sich Foma. Zudem war er mit 40 Jahren der Älteste, viele der anderen Seminaristen hätten seine Söhne sein können. Vor der Abreise hatte er von einem Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche in München zu hören bekommen: „Ich wette, dass Sie in spätestens zehn Monaten wieder hier sind.“ Doch Thomas Diez hielt durch, schloss die Ausbildung ab, fand seine Frau, gründete eine Familie und trat in den Dienst der Russisch-Orthodoxen Kirche. Unser Gespräch wird unterbrochen von einer jungen Frau, die zur Tür des Refektoriums hereinschaut. „Vater Foma, können Sie meiner Mutter die Krankensalbung spenden? Sie liegt im Krankenhaus.“ – „Schreiben Sie mir die Adresse und Ihre Telefonnummer auf. Ich fahre hin.“ Für diese Antwort erntet der Geistliche ein dankbares Lächeln. Die Mitglieder der Kirchengemeinde lieben Vater Foma. Und es macht ihnen nichts aus, dass er beim Gottesdienst mit leichtem Akzent spricht, aus Deutschland stammt und obendrein einmal Katholik war. Für sie ist er ihr geistlicher Hirte. „Nur beichten kommen die Gläubigen nicht gern zu mir“, schränkt Vater Foma etwas bekümmert ein. „Sie denken sicher, dass ich mit meiner deutschen Mentalität ihre russischen Probleme nicht wirklich verstehen kann.“

Das neue Gesetz gegen Homo-Propaganda Hintergründe, Meinungen und die praktische Anwendung

6. März


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