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www.russland-heute.de

WIKTOR WASENIN / RG

Optimistisch

Nicht optimal

Orthodox

Der Vizepremier über IT, Öl und Gas

Ein Sender für die Zivilgesellschaft? Das neue öffentlichrechtliche Fernsehen enttäuscht die liberalen Großstädter.

Warum ein Deutscher ein russisches Kloster baut.

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DMITRI PANKOW

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 5. Juni 2013

Ein Gesetz für die Gläubigen

An einem Tag im Juni

Pussy Riot lässt Russland keine Ruhe: Während zwei Mitglieder der Gruppe noch ihre Haftstrafe absitzen, verabschiedet das russische Parlament eine Gesetzesänderung, das die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen unter Strafe stellen soll. Das Vorhaben reiht sich in eine Serie von populistischen Gesetzen ein, die seit der Wiederwahl von Präsident Wladimir Putin verabschiedet wurden. Während die Fürsprecher von der Notwendigkeit des Gesetzes in einem multikonfessionellen Land sprechen, kommt selbst aus der Kirche Kritik: Das Gesetz sei zu schwammig formuliert. SEITE 2

AFP/EASTNEWS

INTERNETPORTAL RUSSLAND-HEUTE.DE

Russen retten den europäischen Luxusmarkt „Independence Day“ wollte Jelzin ihn machen, den Tag, an dem Russland seinen Austritt aus der Sowjetunion erklärte. Aber bald war kaum noch jemandem zum Feiern zumute. SEITEN 4 UND 5

RUSSLAND-HEUTE.DE/23893

ITAR-TASS

Am 12. Juni begehen die Bürger Russlands ihren Nationalfeiertag. Russland HEUTE gratuliert allen Mitbürgern in Deutschland und erinnert an die Ursprünge des etwas in Vergessenheit geratenen Feiertags. Zu einem russischen

Freiwillige deutsche Helfer in Russland RUSSLAND-HEUTE.DE/23801


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Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Recht Ein neues Gesetz soll die Gefühle Gläubiger schützen. Richter müssen nun tief in die Menschenseelen blicken

Nachbeben von Pussy Riot Vor gut einem Jahr traten Pussy Riot mit ihrem „Punkgebet“ in einer Kirche auf. Nun beschließt die Duma eine Gesetzesänderung: über die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen.

Menschenrechtler warnen

JULIA PONOMARJOWA

Duma folgt der Volksmeinung „Unsere Gesellschaft lehnt die Schändung religiöser Kultstätten ab, und so wurde die Forderung nach einem angemessenen Schutz der Gefühle Gläubiger laut. Der Auftritt von Pussy Riot ist bei der großen Mehrheit der Bevölkerung auf Kritik gestoßen, und zwar unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religion“, erklärte der Abgeordnete von Einiges Russland Tamerlan Agusarow. Laut Meinungsforschungsinstitut FOM waren im September 2012 45 Prozent der Russen der Meinung, die Verletzung der Gefühle Gläubiger müsse strafrechtlich verfolgt werden. 22 Prozent stimmten dem nicht zu, ein Drittel der Befragten konnte sich dazu nicht äußern.

Gesetz für ein Multikultiland? Die Gesetzesinitiative unterstützt auch der Kreml. „Es ist ein in der praktischen Anwendung sehr kompliziertes, aber in einem multinationalen und multikonfessionellen Land wie unserem absolut notwendiges Gesetz“, erklärte Anfang April Dmitri Peskow, Sprecher von Wladimir Putin. Andrej Kurajew, einer der bekanntesten Geistlichen des Landes und Professor an der Moskau-

ITAR-TASS

RUSSLAND HEUTE

Ende Mai nahm das russische Parlament in zweiter Lesung Änderungen im Paragrafen 148 des Strafgesetzbuches („Verhinderung der Glaubensausübung“) an. 304 Abgeordnete stimmten dafür, vier dagegen, einer enthielt sich. Für den früher im Strafgesetzbuch nicht enthaltenen Tatbestand „öffentlicher Handlungen, die eine deutliche Respektlosigkeit gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck bringen“ und die etwa in Kirchen oder Moscheen ausgeübt werden, „um die Gefühle Gläubiger zu verletzen“, sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor. Das Höchstmaß der Geldstrafe beträgt 500000 Rubel (12500 Euro). Ebenfalls vorgesehen sind gemeinnützige Arbeiten.

einer Sendung des Fernsehkanals „Kultura“, als der Medienrummel um Pussy Riot seinen Höhepunkt erreicht hatte, Atheisten als „Tiere und Kranke, die man heilen muss“ bezeichnete. Wjasemskij erklärte allerdings später, seine Äußerung sei beim Schneiden der Sendung aus dem Zusammenhang gerissen worden.

EIn russisch-orthodoxer Priester während eines öffentlichen Gottesdienstes in Wladiwostok

ZAHLEN

45 Prozent der Russen waren im September 2012 laut FOM der Meinung, die Verletzung der Gefühle von Gläubigen müsse strafrechtlich verfolgt werden. 22 Prozent stimmten dem nicht zu.

56 Prozent bewerten die Strafe für die Pussy-Riot-Mitglieder laut Lewada als angemessen, 26 Prozent als zu hart, 9 Prozent hielten eine strafrechtliche Verfolgung für unbegründet.

er Geistlichen Akademie, bezeichnet die Formulierungen des Gesetzes als „sehr schwammig“. „Wechselseitige Beschwerden und Fälle von Akzeptanz und Ablehnung solcher Beschwerden durch die Gerichte werden an der Tagesordnung sein“, erklärte Kurajew. „Wenn ich mich an ein Gericht und den Staatsanwalt wende und erkläre, dass meine religiösen Gefühle verletzt wurden – wer außer mir wird das überprüfen können? Dem Gericht obliegt es, in das Innere zweier Personen vorzudringen: Es muss feststellen, ob Herz und Gefühle des Klägers tatsächlich entrüstet und verletzt sind, und gleichzeitig, ob ein heimlicher und krimineller Vorsatz im Inneren und in der Absicht des Beschuldigten vorliegt.“

Nicht „Verletzungen“, sondern „Handlungen“

3 Jahre Haft sieht das neue Gesetz für öffentliche Handlungen in Kirchen oder Moscheen vor, wenn „die Gefühle Gläubiger“ verletzt werden.

Michail Markelow, Vizeleiter des Dumaausschusses für gesellschaftliche Vereinigungen und religiöse Organisationen, betont, dass es in der neuen Fassung des Gesetzes nicht um die Verletzung religiöser Gefühle als solcher gehe: „Das ist ein subjektiver Begriff, und es wird sehr schwer sein, qua-

lifizierende Merkmale dieses Sachverhaltes zu definieren. Wir sprechen daher von der Einführung strafrechtlicher Verantwortung für öffentlich begangene Handlungen.“ Der Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin warnt in seinem der Duma vorgelegten Jahresbericht über die Einhaltung und den Schutz der Rechte und Freiheiten russischer Bürger vor „Versuchen,

„Es ist nicht nötig, die Verletzung der Gefühle eines Gläubigen zu bestrafen. Gott wird über die Übeltäter richten.“ eine Konfession den anderen entgegenzustellen, ebenso Gläubige den Nichtgläubigen“. Er erinnert die Abgeordneten daran, dass die Artikel 14 und 28 der Verfassung allen Bürgern gleiche Rechte garantieren, Gläubigen wie auch Nichtgläubigen. Als alarmierendes Beispiel zitierte er die Aussage des Leiters der Fakultät für Internationale Kultur einer angesehenen russischen Universität, Juri Wjasemskij, der in

„Leider unternahm niemand den Versuch, sich die Reaktion von Angehörigen beliebiger Konfessionen vorzustellen, etwa von Orthodoxen oder Muslimen, wenn solche ungeheuren Worte an ihre Adresse gerichtet worden wären“, so Lukin. Unterstützt wird Lukin von der nicht in der Duma vertretenen liberalen Partei Jabloko: „Mit dem strafrechtlichen Schutz von Gefühlen nur einer Kategorie der Bevölkerung – der Gläubigen – verstößt die Regierung gegen die Verfassung, die die Gleichheit aller Staatsbürger garantiert“, heißt es in einer Erklärung der Partei. Nach einer FOM-Umfrage sind 17 Prozent der Russen der Meinung, das Gesetz über die Verletzung religiöser Gefühle verletze die Rechte von Atheisten, 45 Prozent vertreten die gegenteilige Ansicht. Die Zeitung Moskowskije Nowosti befragte Kirchgänger in Moskau nach ihrer Meinung zu dem Gesetzentwurf. „Die Gefühle eines Gläubigen dürfen nicht verletzt werden, es ist aber nicht nötig, solche Handlungen zu bestrafen – Gott wird über die Übeltäter richten“, sagte die Rentnerin Irina Fjodorowa. Aktionen wie die von Pussy Riot sollten jedoch verfolgt werden, sie gingen „mit ihrer Provokation zu weit“. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums vom April ergab, dass 56 Prozent der Russen das Urteil gegen die Pussy-Riot-Mitglieder für angemessen, 26 Prozent es für zu hart und 9 Prozent eine strafrechtliche Verfolgung für unbegründet halten. Ein anderer Kirchgänger, Juri Oskin, sieht ebenfalls keinen Sinn in dem Gesetzesentwurf. „Wer einen anderen Menschen beleidigt, wird sich vor Gott verantworten müssen“, sagt er. „Nach dem geltenden Recht wird jede Person für die Verletzung der Persönlichkeit anderer ohnehin zur Verantwortung gezogen. Das Gesetz gilt allgemein, es ist deshalb nicht nötig, bestimmte Gruppierungen in ihren Persönlichkeitsrechten hervorzuheben. Man müsste dann auch Artikel einführen, die eine Beleidigung von Arbeitern, Verkehrspolizisten usw. unter Strafe stellen.“

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Wirtschaft

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INTERVIEW ARKADI DWORKOWITSCH

„Wir werden weniger abhängig von Öl und Gas“ DER VIZEPREMIER ÜBER DEN EINFLUSS VON GAS WIKTOR WASENIN / RG

UND ÖL AUF DIE WIRTSCHAFT UND REKORDE DES PETERSBURGER WIRTSCHAFTSFORUMS 2011 sagten Sie, dass „in der russischen Wirtschaft die Privatwirtschaft zu wenig Platz einnimmt“. Hat sich die Situation geändert? Ja. Russland hat ein Programm zur Privatisierung von Staatseigentum bis zum Jahr 2018 verabschiedet. Im September wurden für umgerechnet 5,2 Milliarden US-Dollar 7,58 Prozent der Aktien der größten russischen Bank, der Sberbank, verkauft. In diesem Jahr bereiten sich auf den Einstieg in den Fondsmarkt unter anderem die VTB-Bank und die Russischen Eisenbahnen RZD vor. Wir prüfen die Privatisierung als Instrument der Wettbewerbs- und Rentabilitätsverbesserung. Eine Aufstockung des Staatshaushalts ist unsere zweitwichtigste Aufgabe. Die Mittel daraus werden in langfristige Investitionsprogramme fließen. In letzter Zeit hat die Regierung viel über die Diversifizierung der Wirtschaft gesprochen. 2012 sank das Exportniveau im Nichtrohstoffsektor dagegen sogar um vier Prozent. Warum?

Auch wenn der Anteil des Exports petrochemischer Produkte ein historisches Hoch erreicht hat, ist das Wachstum hier wesentlich geringer als in anderen Wirtschaftsbereichen. Die verarbeitende Industrie entwickelt sich sehr schnell, der IT-Bereich weist in den letzten zehn Jahren ein jährliches Wachstum von 15 bis 20 Prozent auf. Dabei hat sich der wertmäßige Anteil im Erdölund Erdgassektor tatsächlich erhöht, da der Erdölpreis gestiegen ist. Wenn ein Barrel Erdöl 70 bis 80 US-Dollar und nicht 105 bis 110 US-Dollar kostete, würde das Gleichgewicht sich wahrscheinlich in Richtung der Nichtrohstoffbereiche verschieben. Wann wird Russland sich von der Erdölabhängigkeit lösen? Dafür müssen die ineffektiven Wirtschaftsbereiche verkleinert und rentable Produktionsstätten geschaffen werden. Aber das geht nicht so schnell. Deshalb bemühen wir uns, gute Bedingungen für die Entwicklung des Unternehmertums und die Akquise von Investitionen zu schaffen. Wir bieten Steuervergünstigungen

ALTER: 41 POSITION: VIZEPREMIER

Arkadi Dworkowitsch wurde am 26. März 1972 in Moskau geboren. Er studierte Wirtschaftskybernetik an der Moskauer Lomonossow-Universität und Wirtschaftswissenschaften an

für diverse Wirtschaftsbereiche an – zum Beispiel für den IT-Sektor – und für die Produktion in Sonderwirtschaftszonen, wir bauen die Infrastruktur in den Technologieparks aus. Noch vor fünf Jahren war das Interesse an Investitionsprojekten in Russland gering, gegenwärtig existieren im Land bereits Hunderte von Start-ups. Wir haben den Technopark Skolkowo gegründet und damit ausländische Unternehmen hergeholt, wobei diese nicht nur in Moskau, sondern auch in Nowosibirsk, St. Petersburg, Rostow, Kasan und anderen Städten Niederlassungen haben.

Wir haben mit einer Bevölkerung von knapp 150 Millionen Menschen einen riesigen Markt. Das zieht natürlich die Konsumgüterindustrie an. Schauen Sie nur, wie sich beispielsweise der Automobilmarkt entwickelt. Vor sieben Jahren haben führende Konzerne wie Ford, Toyota und Volkswagen damit begonnen, bei uns eigene Montagekapazitäten aufzubauen. Jetzt hat die zweite Welle der Lokalisierung begonnen, und die Unternehmen errichten Werke zur Produktion von Zulieferteilen. Bis zum März 2013 hat das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung mit internationalen Konzernen, die weltweit zusammen mehr als 90 Prozent der Automobilproduktion realisieren, 31 Abkommen zur industriellen Montage von Fahrzeugen abgeschlossen. Wobei es allerdings in anderen Branchen insgesamt nicht so schnell geht, wie wir es gerne hätten.

Was hält ausländische Investoren davon ab, sich in Russland sicher zu fühlen? Das Investieren in Russland gestaltet sich im Vergleich zu anderen Ländern aus verschiedenen Gründen schwieriger. Momentan ist es unser Ziel, bis zum Jahr 2018 unter die ersten zwanzig Länder auf der Rankingliste Doing Business der Weltbank vorzurücken. Schon heute ist das bürokratische Verfahren zur Registrierung von Unternehmen wesentlich vereinfacht.

Am 20. Juni beginnt das St. Petersburg International Economical Forum, größtes Wirtschaftsforum in Osteuropa. 2011 wurde hier mit Abschlüssen im Wert von 15 Milliarden Euro ein Rekord aufgestellt. Wird dieser Wert 2013 übertroffen? Das Wirtschaftsforum findet nicht deshalb statt, weil irgendwelche Rekorde aufgestellt werden sollen. Es ist vor allem eine Kommunikationsplattform, auf der sich internationale und russische Unternehmen begegnen und austauschen können. Die wichtigsten Ereignisse finden normalerweise am Rande von Gesprächen zu konkreten Projekten und Investitionsentscheidungen statt. Und ein Abschluss erfolgt nicht im Rahmen des Forums, sondern erst einen Monat oder vielleicht sogar anderthalb Jahre später. In diesem Jahr werden uns unter anderem hochrangige Delegationen aus Deutschland und aus den Niederlanden besuchen. 2013 ist ja schließlich das russisch-niederländische und das russisch-deutsche Jahr. Ich denke, das Forum wird äußerst inhaltsreich.

Wodurch können die Nachteile kompensiert werden?

Das Interview führte Elena Schipilowa

BIOGRAFIE NATIONALITÄT: RUSSISCH

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der Duke University in Durham (North Carolina, USA). Von 2008 bis 2012 war er persönlicher Berater von Präsident Dmitri Medwedjew. Seit Mai 2012 ist er Stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung der Russischen Föderation. Ab 2007 war Dworkowitsch Vizepräsident des Russischen Schachverbands, seit 2010 ist er dessen Präsident.

Transport Transaero schließt weiteres Kooperationsabkommen mit Lufthansa und zieht in ein neues Flugterminal um

Von Frankfurt ins Moskauer Zentrum Das Reisen zwischen Deutschland und Russland soll leichter werden. Transaero fliegt zukünftig von Wnukowo – und kooperiert eng mit der Lufthansa. MICHAIL WOLKOW FÜR RUSSLAND HEUTE

LORI/LEGION MEDIA

Im Dezember wurde das 1,4 Milliarden Dollar teure Terminal A des Moskauer Flughafens Wnukowo fertiggestellt. Es verdoppelt seine Kapazität auf jährlich 30 Millionen Passagiere und soll den Druck von den zwei ständig überlasteten Flughäfen Domodedowo und Scheremetjewo nehmen. Transaero Airlines, zweitgrößte Fluggesellschaft Russlands, fliegt seit Februar 2012 von Wnukowo. „Wir sind darum bemüht, ein neues, großangelegtes Transitzentrum in Terminal A zu schaffen“, erklärt Dmitri Stoljarow, Vizegeneraldirektor von Transaero.

Wnukowo liegt im Südwesten von Moskau und ist unter allen anderen Flugplätzen der Innenstadt am nächsten. Dieser Vorteil veranlasste Transaero dazu, im Sommer 2013 seine Flüge nach Frankfurt von Domodedowo nach Wnukowo zu verlegen. „Wir rechnen damit, dass Passagiere aus Frankfurt den Komfort des modernen Terminals A sowie die großen Vorteile seines Standorts begrüßen. Darüber hinaus können die Reisenden unsere bequemen Flugverbindungen zu anderen Städten Russlands und den GUS-Staaten nützen“, sagt Stoljarow. Die Transaero-Flieger nach Berlin starten weiterhin von Domodedowo. Dies hängt damit zusammen, dass über Domodedowo ebenfalls der Transitverkehr in andere russische Städte abgewickelt wird.

Durch ein Abkommen mit der Lufthansa gibt es auch für Fluggäste aus Deutschland spezielle Tarife und günstige Flugverbindungen nach Russland. Sie können frei zwischen den Lufthansa-Flügen aus den verschiedenen Regionen wählen und sich so die günstigste Flugverbindung zur

russischen Hauptstadt heraussuchen. Seit 2008 arbeiten Transaero Airlines und Lufthansa eng zusammen. Für Reisende, die lieber mit der Bahn fahren, ist es möglich, Zug und Flugzeug miteinander zu kombinieren und die Tickets gemeinsam zu kaufen.

„Wir versuchen permanent durch die Zusammenarbeit mit unseren deutschen Partnern, den Kunden günstige Preise anzubieten und die Flugrouten zu optimieren“, so Dmitri Stoljarow. Deutschland verzeichnete dank der Tatsache, dass es Russlands größter Handelspartner in Europa ist, einen rasanten Zuwachs an Fluggästen aus Moskau und anderen russischen Städten. Mit fast anderthalb Millionen Reisenden, die in den ersten neun Monaten des Jahres 2012 aus Russland nach Deutschland geflogen sind (das entspricht einem Zuwachs um sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr), nimmt Deutschland hinter der Türkei und Ägypten den dritten Platz ein. Dies schlug sich auf die Zahlen bei Transaero nieder: Die Airline konnte einen Zuwachs von 37 Prozent seiner Fluggäste nach Deutschland melden. Dieser Anstieg lag weit über der durchschnittlichen Wachstumsrate von 19 Prozent bei allen internationalen Flugdestinationen.


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Spezial

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Acht Monate bis Olympia in Sotschi Die Vorbereitungen auf die Olympischen Winterspiele in Sotschi laufen auf Hochtouren. Die Probewettkämpfe sind so gut wie abgeschlossen, bis zur offiziellen Eröffnung des Olympischen Dorfes bleiben noch etwa acht Monate. „Die Infrastruktur für unsere Spiele ist die modernste der Welt. Praktisch alle Objekte wurden von Grund auf neu gebaut und sind daher innovativer und technisch ausgereifter als alle vergleichbaren Stadien und Pisten“, erklärte

JUNI

GLEB TSCHERKASSOW KOMMERSANT

Es begann am 12. Juni 1990, als der Kongress der Volksdeputierten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) die Deklaration der staatlichen Souveränität annahm. Wer diese Zeit nicht miterlebt hat, wird sich kaum vorstellen können, warum diese Abstimmung so wichtig war. In jener Zeit verabschiedeten die Parlamente von ehemaligen Sowjetrepubliken wie Estland und Lettland der Reihe nach Souveränitätserklärungen. Der RSFSR blieb in diesem historischen Moment nichts anderes übrig, als sich anzuschließen.

Zurück in die Zarenzeit Für diesen Tag wurden im Jahr darauf die ersten Präsidentschaftswahlen der RSFSR anberaumt – eine politische Botschaft. Die Entscheidung hatte außerdem praktische Gründe. Das Wahlkampfteam von Boris Jelzin befürchtete, dass ein Aufschub des Wahltermins den Sieg des Kandidaten im ersten Wahlgang gefährden könnte. Man musste damit rechnen, dass die Wähler in den verdienten Sommerurlaub abreisen würden. Doch die ideologischen Motive für den Termin am 12. Juni waren

weitaus wichtiger. Denn die Begründung des neuen russischen Staates hatte zwei Prämissen. An erster Stelle stand die Rückkehr zu den Traditionen des vorsowjetischen Russlands. Markantes Beispiel dafür war die um sich greifende neue Popularität von Kaufleuten und Adeligen, die sich in einem Wiederaufleben von „Kaufmannsgilden“ und „Adelsversammlungen“ niederschlug. Und auch die Rückkehr des Wortes „gospodin“ (Herr) und die dreifarbige Fahne in den panslawischen Farben, die fast über Nacht als offizielle Flagge der RSFSR angenommen wurde, waren Ausdruck für diesen Trend. Die Rückbesinnung auf „vorbolschewistische Zeiten“ entwickelte sich zum Symbol des neuen russischen Staates. Nicht zufällig fand auch am 12. Juni 1991 die Umbenennung von Leningrad in St. Petersburg statt.

Raum, und wir sind die Begründer neuer Traditionen. Der Kongress der Volksdeputierten der noch als Sowjetrepublik existierenden RSFSR spielte anfangs mit: Der 12. Juni wurde durch Beschluss des Obersten Sowjets 1992 zum Feiertag er-

Die Bezeichnung „Tag der Unabhängigkeit“ warf die Fragen auf: Wer ist unabhängig und von wem? klärt. 1994 bekräftigte Jelzin den Festtag durch einen Erlass. Zu diesem Zeitpunkt war die Begeisterung über den Jahrestag jedoch bereits erlahmt. Nicht von ungefähr warf die Bezeichnung „Tag der Unabhängigkeit“ Fragen auf. Vor allem: Wer ist unabhängig und von wem? Im Juni 1990 hätte niemand gedacht, dass die RSFSR tatsächlich aus der Sowjetunion

Ein neuer Tag, ein neues Land Zugleich schlüpften die Architekten der neuen russischen Staatlichkeit in die Rolle der Gründerväter der USA, die ein Land aus dem Nichts geschaffen hatten. Das erklärt auch die Entscheidung, den Tag, an dem die Deklaration der Unabhängigkeit – im Grunde ein symbolisches Dokument – verabschiedet wurde, zum nationalen Feiertag zu machen. Und der Präsident des neuen Russlands musste selbstverständlich am Tag der Unabhängigkeitserklärung gewählt werden. Das war Teil ein und desselben Konzepts: Wir bauen ein neues Land auf, wir schaffen einen neuen staatlichen und gesellschaftlichen

ausscheiden würde. Ein Zerfall der UdSSR war unvorstellbar. Die Unabhängigkeitserklärung erschien nur als ein Element des politischen Machtkampfes zwischen der sowjetischen Führung und der Gruppe um Jelzin. Die zweite Frage betrifft die Rolle der russischen Führung im politischen Zerfallsprozess der UdSSR. Mitte der 1990er-Jahre sprach man über den Untergang der Sowjetunion nicht als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie dies Präsident Putin später tat. Viele aber empfanden dies bereits so. Damals kam die UdSSR-Nostalgie auf. Zu diesem Zeitpunkt auch verschoben sich die Machtverhältnisse im Kreis um Jelzin zuungunsten der radikalen Demokraten. Die neue Generation des Jelzin-Regimes brauchte diesen Feiertag als Legitimation ihrer Macht. An die Umstände der Machtübernahme und die politischen Losungen, die diese Anfang der 1990er-Jahre be-

gleiteten, wollte man sich in Jelzins Kreml nicht erinnern. Im Laufe der Zeit wurde das Datum immer wichtiger für den russischen Staat. So hieß es auf der offiziellen Website des Feiertags anlässlich seines fünfjährigen Jubiläums: „Regierungsvertreter fast aller Regionen haben am Vorabend dieses Datums beschlossen, den Tag der Unabhängigkeit feierlich zu begehen. Und erstmals wurde dieser Tag zu einem wirklichen Fest.“ Die endgültige Entkopplung des Feiertags von seiner ursprünglichen Bedeutung fällt in das Jahr 1998, als Boris Jelzin ihm einen anderen Namen gab. Seitdem heißt er schlicht „Tag Russlands“. Erklärungen, die Unabhängigkeit, Gründerväter und der Marsch in die vorbolschewistische Vergangenheit blieben weit zurück. Der Staatsbankrott, das Ende des Tschetschenien-Kriegs, Wladimir Putin und ein unbekanntes, neues Russland sollten folgen.

AFP/EASTNEWS

Einen „4th of July“ wollten die Gründerväter des neuen Russlands etablieren. Aber der 12. Juni wurde bald zum Symbol des Niedergangs. Heute hat der „Tag Russlands“ seine Bedeutung eingebüßt. Wir erinnern an die Ursprünge.

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

MICHAIL MORDASOW

Dmitri Tschernyschenko, Leiter des „Organisationskomitees Sotschi 2014“. „Das unter baulichen Gesichtspunkten komplizierteste Projekt haben die Russischen Eisenbahnen (RZD) übernommen. Ihre Umsetzung der Vorhaben verdient großen Respekt. Es handelt sich um eine Verbindungsstraße von Adler nach Krasnaja Poljana, die ausschließlich aus Brücken und Tunneln besteht. Für die erste Fahrt wurde die Eisenbahnstrecke bereits freigegeben, im Oktober wird sie in Betrieb genommen. Die Strecke wird den Transport von bis zu 20 000 Fahrgästen pro Stunde ermöglichen.“

RUSSISCHER „INDEPENDENCE DAY“ – VOM FEIERTAG ZUM FREIEN TAG

Am 9. Juni 1989 stellte Andrej Sacharow auf dem Volksdeputiertenkongress der UdSSR offen das Machtmonopol der KPdSU infrage.

Am 23. August 1993, nach dem misslungenen Putsch, verlangte Jelzin von Gorbatschow den Rücktritt als Generalsekretär der KPdSU.


Spezial

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CHRONIK

1999 Am 31. Dezember übergibt Präsident Boris Jelzin seine Vollmachten an Wladimir Putin. Am 7. Mai 2000 wird das neu gewählte Staatsoberhaupt Putin in sein Amt eingeführt.

Ende des ersten TschetschenienKriegs. Im Abkommen von Chassawjurt wird ein Waffenstillstand ausgehandelt, das auch den Abzug der russischen Truppen beinhaltet.

Boris Jelzin bei seinem Rücktritt

2012

REUTERS

1996

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

Ich habe die wichtigste Mission meines Lebens erfüllt. Russland wird nie in die Vergangenheit zurückkehren. Russland wird nur noch vorwärtsgehen."

AP

Vom Ende der Sowjetunion bis zum Bolotnaja-Platz

Nach den umstrittenen Parlamentswahlen im Dezember 2011 kommt es über Monate zu Protesten von Hunderttausenden meist jungen Russen. Ihr Symbol ist der Bolotnaja-Platz.

Wirtschaft Die Transformation ist noch immer in vollem Gange

Zweiundzwanzig Jahre auf dem Weg zur Modernisierung VIKTOR KUSMIN FÜR RUSSLAND HEUTE

REUTERS

Boris Jelzin am 19. August 1991 vor dem russischen Parlament

Jekaterinburg will die Expo 2020

LORI/LEGION MEDIA

Anfang Mai legte Russland der Generalversammlung des Internationalen Büros für Ausstellungen in Paris seine Bewerbung für die Ausrichtung der Expo 2020 in Jekaterinburg vor. Die russische Delegation leitete der russische Vizepremier Arkadi Dworkowitsch. „Jekaterinburg ist eine junge Stadt“, erklärte er. „Sie entwickelt sich zügig und hat ein großes industrielles und wissenschaftliches Potenzial. Wir sind sicher, dass die Expo 2020 der Stadt und dem ganzen Land neue Entwicklungsimpulse geben wird.“ Außer Jekaterinburg bewarben sich Izmir (Türkei), Ayutthaya (Thailand), Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) und São Paulo (Brasilien). Jekaterinburg gilt als heimliche „dritte Hauptstadt“ des Landes nach Moskau und St. Petersburg. Die Stadt hat sich bereits mehrfach als Gastgeberin großer internationaler Veranstaltungen profiliert. Hier fand 2003 das deutsch-russische Gipfeltreffen statt, außerdem die Treffen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und der BRICS-Staaten. Jekaterinburg ist außerdem Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2018. Die Vorbereitungen für dieses Großereignis sind bereits angelaufen. Parallel werden die für die Expo erforderlichen Objekte gebaut, heißt es in den zuständigen russischen Behörden. Für den Bau sind mehrere Dutzend Milliarden Dollar veranschlagt. Auch aus Kreisen der russischen Wirtschaft werden Gelder in die Vorbereitungen für die Expo fließen und die Mittel der Haushalte verschiedener Ebenen ergänzen. Für die Messehallen selbst sind 182 Hektar vorgesehen, auf der übrigen Fläche entstehen Hotels, Büros, Restaurants und Geschäfte. Nach der Expo sollen die gesamte Infrastruktur und alle Gebäude für städtische Zwecke genutzt werden. Die Hotels werden in Wohnungen und Studentenwohnheime umgewandelt, die Messehallen in Büros, Geschäfts- und Freizeitzentren. › http://expo2020.ru/en/

2009 schrumpfte die russische Wirtschaft um fast acht Prozent, und viele Bürger sahen ihr Land auf dem Weg in den Staatsbankrott wie 1998. Damals waren ganze Industriezweige kollabiert, gingen die meisten systemrelevanten Banken pleite, und die Menschen benutzten die Rubel-Geldscheine als Notizzettel. Aber 2009 erwies sich: Russland hatte Lehren aus der Katastrophe der Endneunziger gezogen und begriffen, dass es entsprechend seinen Verhältnissen leben muss. Dazu gehörte, dass der Staatshaushalt 13 Jahre lang kein Defizit aufwies. Erstmals im vergangenen Jahr, zu Wahlkampfzeiten, lagen die Staatsausgaben über den Einnahmen – in einer Größenordnung von 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Gegenwärtig ist Russlands Auslandsverschuldung eine der niedrigsten der Welt. Zum 1. April 2013 betrug sie laut Timur Nigmatullin, Experte der Analyseagentur Investcafé, 49,8 Milliarden US-Dollar – bei einem BIP von etwa zwei Billionen US-Dollar. Russland hat sich in erster Linie bei den Käufern seiner Energieträger zu bedanken. Die Gewinne aus Erdöl und Erdgas machten 2012 mehr als die Hälfte der Staatseinnahmen aus. Die Einnahmen aus Rohstoffexporten „parkt“ Russland in Sonderfonds. Mit diesem Notgroschen war es möglich, die Krise 2008/2009 relativ gut zu überstehen. Heute wird das Land für seinen schleppenden Transformationsprozess kritisiert unter Missachtung der Tatsache, dass hier noch vor 22 Jahren Planwirtschaft herrschte. Vieles von dem, was heute existiert, gab es damals nicht einmal ansatzweise. Die Banken etwa haben sich inzwischen zu einem Blutkreislauf für die Wirtschaft entwickelt. Laut Angaben der Agentur für Einlagenversicherung stieg das Gesamtvolumen der Spareinlagen zum Ende des ersten Quartals 2013 um

14,74 Milliarden Rubel (350 Millionen Euro). Inzwischen verfügen 75 Prozent der Russen über Sparguthaben – der höchste Wert seit dem Ende der Sowjetunion. Noch Mitte 2005 hatte bei einer Meinungserhebung mehr als die Hälfte der Befragten angegeben, dass ihre Familie bestenfalls über geringe Rücklagen verfüge. In der Sowjetunion existierte auch kein Fondsmarkt. Inzwischen liegt die Gesamtkapitalisierung auf einem Niveau von 20 Billionen Rubel (500 Milliarden Euro).

Aus dem Bankrott von 1998 zog der Staat Konsequenzen: 13 Jahre lang wies der Haushalt kein Defizit auf. Kürzlich fusionierten die beiden Börsen des Landes zur Moskauer MICEX-RTS, die in diesem Frühjahr mit 4,2 Milliarden US-Dollar bewertet wurde. Das ist zwar nur ein Fünftel des Wertes der Hongkonger Börse, aber mit den Börsen in London und Tokio vergleichbar. Ein anderes Ergebnis der Perestroika war die positive Entwicklung des Dienstleistungssektors. Mittlerweile wird fast der gesamte Einzelhandelsumsatz privatwirtschaftlich generiert, und mehr als die Hälfte entfällt auf kleine Unternehmen.

Vor ein paar Jahren nahm die Regierung die technologische Modernisierung des Landes in Angriff, und diverse Förderprogramme und Steuervergünstigungen gaben den Impuls für die rasche Entwicklung des IT-Sektors. Ende 2011 generierte die Internetwirtschaft 0,6 Billionen Rubel, was einem Prozent des BIP entspricht. 2012 wuchs die Branche um ungefähr 30 Prozent. Es wird erwartet, dass die Exporte von IT-Produkten in fünf bis sechs Jahren mit denen von Rüstungsgütern gleichziehen werden. Bereits heute gehört Russland, was das Volumen der IT-Dienstleistungen auf dem Binnenmarkt betrifft, mit 10,7 Milliarden US-Dollar zu den 20 größten Wirtschaftsnationen in der Welt. Dennoch ist der Anteil der Rohstoffsektoren am BIP gewachsen. Was allerdings an der Preisentwicklung der Rohstoffe und nicht an strukturellen Versäumnissen bezüglich der Wirtschaftsentwicklung liegt, ist der Chefökonom von VTB Capital, Maxim Oreschkin, überzeugt. Seiner Meinung nach war in den letzten Jahren das Wachstum außerhalb des Erdöl- und Erdgassektors preisbereinigt wesentlich größer. „Und ungeachtet des Nachfragerückgangs von Energieträgern in Europa, dem wichtigsten russischen Markt, weist die Wirtschaft des Landes doch ein – wenn auch geringes – Wachstum des BIP auf“, unterstreicht der Experte.

REUTERS

Die russische Wirtschaft ist eine bizarre Mischung aus dem Erbe des kommunistischen Imperiums und modernem Hightech.

Mai 2011: Yandex geht in New York an die Börse. Der Börsengang war einer der größten Internet-IPOs seit dem IPO von Google.


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Gesellschaft

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Fernsehen Seit Mai sendet ein neuer, landesweiter „Bürgerkanal“. Bei Experten erntet er vor allem Häme

89 % im Fernsehen

26 % im Internet

26 % über Printmedien

21 % bei Bekannten und Freunden

Es war eines der wichtigsten Versprechen an die liberale Öffentlichkeit: ein öffentlichrechtlicher Fernsehkanal. Seit Mai ist OTR auf Sendung. Und enttäuscht die Jüngeren.

finanziert wird und an dessen Spitze Anatoli Lyssenko steht. Den 76-Jährigen, der in der Perestroika zur Fernsehlegende wurde, hatte Präsident Wladimir Putin auf diesen Posten berufen.

JULIA PONOMARJOWA

Pioniere zur Primetime

RUSSLAND HEUTE

Sein Hauptziel sieht der Kanal darin, die Zivilgesellschaft zu entwickeln, universale Werte zu fördern und für das Publikum attraktiv und zugleich aufklärend zu sein. „Erinnern Sie sich noch, wie man das Halstuch eines Pioniers bindet?“, fragt ein Talkmaster im Trailer zur Show „Die Pioniere von damals“, einem Format während der Primetime. „Das war nur ein Gag“, erklärte Lyssenko darauf der Zeitung Kommersant. Die Sendung sollte sich eigentlich mit der Freizeitbeschäftigung von Managerkindern beschäftigen. Lyssenko versprach für die nächsten Folgen interessantere Themen.

Die Idee eines öffentlich-rechtlichen Fernsehkanals wurde vom damaligen Präsidenten Dmitri Medwedjew im Dezember 2011 vorgebracht, zwei Wochen, nachdem Moskau seine größte Antiregierungsdemonstration seit dem Ende der Sowjetunion erlebt hatte. Die Demonstranten hatten die Abschaffung der De-facto-Zensur auf den landesweit sendenden Fernsehkanälen gefordert. 18 Monate später, am 19. Mai, schlüpfte das Öffentliche Russische Fernsehen (OTR) aus seinem Kokon. OTR ist ein neuer, landesweiter Kanal, der zu 99 Prozent durch föderale Haushaltsmittel

Die Gäste im Studio schienen das Thema jedoch schrecklich ernst zu nehmen. Prominente und Hauptstädter schwelgten in Erinnerungen über die Sommerlager, Hilfsaktionen für alte Menschen und die Wertstoffsammlungen. Nach der Talkshow wurde

Die Zuschauerreaktionen auf der Website sind positiv, für das moderne Publikum hat der Sender aber wenig zu bieten. eine sowjetische Filmkomödie aus dem Jahr 1964 über die Pionierlager mit dem Titel „Herzlich willkommen oder Zutritt für Fremde verboten“ ausgestrahlt, die sich über die Lager mit ihren aberwitzigen Regeln für Kinder lustig machte. Neben solchen Geschichten bietet OTR Talkshows über Bauern,

SRGEY KUKSIN / RG

Versprechen erfüllt, Hoffnungen enttäuscht

„Wie informieren Sie sich täglich?“ Bei einer Umfrage der Stiftung Öffentliche Meinung (FOM) Anfang des Jahres haben Russen erklärt, wie sie sich auf dem Laufenden halten. Mehrere Antworten waren möglich.

autistische Kinder und andere „Großereignisse“ aus dem ganzen Land, vom Schönheitswettbewerb unter Delfi ntrainern in Sotschi bis zu einem Gefängnisausbruch in Sibirien. Die Zuschauerreaktionen auf der Website sind durchwegs positiv: „Ich möchte gerne mehr solche anspruchsvollen Sendungen über unser Land, seine Menschen und die unterschiedlichen Traditionen“, schreibt etwa Jekaterina Osmanowa aus Tula. „Ich möchte, dass unsere Kinder stolz auf ihre Heimat sein können.“ Nikolaj Kusnezow aus dem Gebiet Swerdlowsk bittet um weitere Beiträge über Bauern. „Auf den anderen Kanälen wird nichts über das Landleben berichtet, nur über die Moskauer Zauberwelt“, schreibt er. Andere würden gerne Serien der 90er wie Akte X sehen. Laut Medwedjew sollte der neue Sender „eine Plattform für freie Diskussionen über die drückends-

ten Probleme werden und als Instrument zum Meinungsaustausch zwischen Regierung und Publikum dienen.“ Kritiker fragen jedoch, wie frei Diskussionen auf einem staatlichen Kanal überhaupt sein können. Das Urgestein der Fernsehbranche, Wladimir Posner, kritisierte die „direkte Abhängigkeit von den Behörden“, darauf Bezug nehmend, dass der Fernsehdirektor vom Präsidenten ernannt wird. Zudem stammt der Großteil des jährlichen Budgets von knapp vierzig Millionen Euro aus dem Staatssäckel. Medwedjew verwies daraufhin auf die gängige Praxis in Großbritannien und Frankreich, wo „die Spitzenpositionen in den öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten auf der Grundlage von Entscheidungen besetzt werden, die vom Premierminister beziehungsweise vom Präsidenten abgesegnet werden.“

„Abwarten“, sagt Lyssenko Irek Murtazin von der liberalen Nowaja Gaseta bezeichnet den Stil des Senders als naiv und provinziell. „Wir haben so ein Programm Anfang der Neunzigerjahre bei TV7 in Wologda gemacht“, schrieb er in seinem Blog. Und der Rektor der Medienakademie Andrej Nowikow-Lanskoj macht Ähnlichkeiten mit dem sowjetischen Fernsehen aus. Der Sender richte sich an ein älteres Publikum. „Design, Stil und Musik erinnern schmerzlich an die Bilder und Eindrücke aus meiner Kindheit“, sagte er. „Seine Agenda besteht wahrscheinlich im Aufdecken mäßig dringlicher Probleme aus dem Alltag. Für das moderne Publikum ist das nur von geringem Interesse, während ältere Leute aus der Provinz mehr davon sehen wollen.“ Seine Kritiker bittet Lyssenko um Geduld. Der Sender, der schon heute über Kabel und Satellit landesweit zu empfangen ist, sei noch in der Testphase. „Das sind unsere ersten Schritte, und acht oder neun Monate brauchen wir, bis alles richtig läuft“, so Lyssenko.


Sport

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INTERVIEW MARIA SCHARAPOWA

„Die erste Partie verkaufte sich in zwei Wochen“ DIE RUSSISCHE TENNISDIVA ÜBER IHRE UND IHR NEUES SÜSSES BUSINESS In Stuttgart haben Sie sich im Finale gegen Li Na durchgesetzt. Die Chinesin hatte Sie zuvor im Halbfinale bei den Australien Open besiegt. War Ihr Sieg hier von besonderer Bedeutung? Ich komme mit Niederlagen sehr schlecht klar. Wenn ich aber verliere, dann möchte ich unbedingt die Chance zur Revanche haben. Daher hatte mein Sieg gegen Li Na in Stuttgart eine große Bedeutung für mich. Sie haben gegen fast alle Toptennisspielerinnen öfter gewonnen als verloren, nur Serena Williams ist eine Ausnahme: Von 15 Spielen haben Sie 13 verloren. Was hat sie, was Sie nicht haben? Serena ist physisch sehr stark. Sie schafft es, über zwei, drei Stunden ein hohes Niveau zu halten. Und natürlich ist ihr Aufschlag eine furchtbare Waffe. Damit kann sie sehr schnell in Führung

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STUTTGARTER REVANCHE GEGEN LI NA

BIOGRAFIE GEBURTSORT: NJAGAN ALTER: 26 BERUF: TENNISPROFI

gehen, und das gibt ihr zusätzliches Selbstvertrauen.

gen einer ernsthaften Schulterverletzung überwunden hatte.

Sie haben schon zum zweiten Mal in Stuttgart gewonnen. Neben dem Preisgeld erhalten die Siegerinnen dort auch einen Porsche. Werden Sie die beiden Autos abwechselnd fahren? Das Auto, das ich im vergangenen Jahr gewonnen habe, ist bei mir zu Hause in Florida. Für den letzten Sieg habe ich noch kein Auto bekommen. Vorerst brauche ich es auch nicht.

Haben Sie sich schon Gedanken über das Ende Ihrer Karriere gemacht? (Lacht.) Ja, darüber mache ich mir Gedanken. Ich denke daran, in die Wirtschaft zu gehen. Neulich war ich geschäftlich in Moskau. Seit dem 29. April sind in Russland die Sugarpova-Gummibärchen im Verkauf.

Welche Momente Ihrer Karriere haben sich Ihnen besonders ins Gedächtnis eingeprägt? Natürlich mein erster GrandSlam-Titel. 2004 war ich 17 Jahre alt, als ich im Finale in Wimbledon Serena Williams besiegte. Sehr wichtig war außerdem mein Sieg im vergangenen Jahr bei Roland Garros, nachdem ich die Fol-

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine eigene Marke für Süßigkeiten zu gründen? Ich liebe Süßigkeiten, vor allem Fruchtgummis. Bleibt Ihnen genug Zeit, sich damit zu befassen? Ich behalte den Überblick. Ich habe natürlich wenig Zeit, dafür aber ein gutes Team. Ich habe mich eingehend mit dem Markt beschäftigt und festgestellt, dass

es in diesem Segment keine Premiumprodukte gibt. Die Hersteller produzieren weitgehend die gleiche Gelatine und verpacken sie auf sehr ähnliche Weise. Zielgruppe sind vor allem Kinder. Sugarpova-Süßigkeiten sind Qualitätsprodukte in einem höheren Preissegment für Erwachsene. Die Präsentation der Marke fand 2012 in New York statt. Die erste Partie verkaufte sich innerhalb von zwei Wochen. Jetzt sind die Fruchtgummis in den USA, in Großbritannien, Frankreich und in den Arabischen Emiraten auf den Markt gekommen. Was haben Sie aus der Londoner Olympiade gelernt? Werden Sie in Rio dabei sein? Ich möchte sehr gerne nach Rio. In London habe ich gegen Serena Williams verloren und Silber geholt. Aus Rio will ich mit einer Goldmedaille zurückkehren.

1987 wurde Maria Scharapowa in der Ölförderstadt Njagan geboren. Mit 17 Jahren gewann sie in Wimbledon ihren ersten großen Titel gegen Serena Williams. Insgesamt hat die Russin in ihrer Karriere 27 WTA-Titel gewonnen. Derzeit liegt sie in der Tennisrangliste der Frauen hinter Serena Williams auf Platz 2. Laut Forbes ist sie die bestbezahlte Sportlerin der Welt: Von Juni 2011 bis Juni 2012 verdiente sie 27,9 Millionen Dollar.

Reisen Sie auch zu den Winterspielen nach Sotschi? Das ist für Sie schließlich keine fremde Stadt ... Ja, Sotschi ist sozusagen meine zweite Heimatstadt. Dort fing meine Tenniskarriere an. Dort lebt meine Familie. Ich fahre auf jeden Fall zu den Winterspielen. Dieses Interview erschien zuerst in der Zeitung Kommersant

Strandfußball Im September will Russland auf Tahiti seinen Weltmeistertitel von 2011 verteidigen

Beach-Magier aus dem verschneiten Land Strandfußball aus einer Weltgegend, die nicht eben bekannt ist für Meer und weite Strände? – das scheint reichlich exotisch. Ausgerechnet in dieser Sportart ist Russland Trendsetter.

ZAHLEN

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-tausend Rubel (ca. 10 000 Euro) Preisgeld bekam jeder Nationalspieler nach dem Sieg bei der Weltmeisterschaft 2011 im italienischen Ravenna.

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Weltmeisterschaften wurden seit 1995 im Strandfußball ausgetragen, davon holte sich Brasilien 13-mal den Titel. 2011 siegte Russland überraschend im Finale gegen Brasilien.

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Ravenna im September 2011 – Finale der Strandfußballweltmeisterschaft. Die Nationalmannschaft der Russischen Föderation deklassiert den Favoriten Brasilien 12:8 und wird Weltmeister. Das Finale auf italienischem Boden bildete den Auftakt zu einer neuen Ära des russischen Strandfußballs. Die „Beachsoccers“ hatten es geschafft, sich in gerade mal sechs Jahren von Amateurkickern zu einem führenden Team zu entwickeln. Laut Nikolaj Pissarew, einst Fußballnationalspieler und heute erster Trainer der Strandfußballerauswahl im Land, hätten seine Schützlinge 2005 ganz von vorne angefangen: „Zunächst mussten sie sich erst einmal daran gewöhnen, überhaupt barfuß im Sand zu spielen. Dann mussten sie die Regeln von Grund auf erlernen.“

2011 feierte die russische Mannschaft ihren ersten großen Sieg.

„Am Anfang waren wir nur begeisterte Amateure“, erinnert sich der Kapitän der Nationalmannschaft Ilja Leonow. „Als man dann anfing, uns im Fernsehen zu zeigen, war das für uns alle eine große Überraschung!“ Bereits 2007, im Jahr der ersten Teilnahme an der Euro-Beachsoccer-League (EBSL), gelang es der Mannschaft, Bronze zu erringen. Damit verdiente sie sich ihre Fahrkarte zur FIFA-Beachsoccer-

Weltmeisterschaft 2007, wo sie immerhin den zwölften Platz errang. 2008 und 2009 schaffte es das Team dann schon ins Viertelfinale. Und bei der Weltmeisterschaft 2011 erlebte es einen wahrhaften Triumph. Das Turnier gipfelte in dem historischen Sieg über die Nationalmannschaft Brasiliens. „Ich erinnere mich, wie die Journalisten in Brasilien ständig fragten: ‚Wie seid ihr Weltmeister geworden?‘“, erzählt Leonow. „Wir

hatten eine eingespielte Mannschaft, verfügten über ausreichend Erfahrung und verstanden einander ohne Worte. Und natürlich waren wir auch in sehr guter körperlicher Verfassung.“ Das hervorragende Zusammenspiel der Mannschaft lässt sich leicht erklären: Nahezu alle Spieler stammen aus dem Moskauer Fußballklub Lokomotive. Eine Landesmeisterschaft im Strandfußball wird in Russland seit 2005

veranstaltet. An dem Turnier nehmen 16 Mannschaften teil, aber um den Meistertitel kämpfen traditionell die beiden Moskauer Vereine Lokomotive und Strogino. In der Hauptstadt befindet sich auch die einzige Kindersportschule für Strandfußball. Über eine überdachte Halle verfügt sie allerdings nicht – zwischen Oktober und Mai findet deshalb das Training an der Schwarzmeerküste oder in St. Petersburg statt, wo eine entsprechend präparierte Halle vorhanden ist. Zwar hat die „richtige“ Fußballnationalmannschaft weit weniger Triumphe zu feiern, ist aber wesentlich populärer. Immerhin: Der WM-Sieg machte die Beachsoccers in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Auch beim Einkommen liegen Welten zwischen den beiden Mannschaften. „Für den WM-Sieg bekamen wir 420 000 Rubel pro Nase (etwa 10 000 Euro)“, erzählt Leonow. „Das war das höchste Preisgeld in meiner gesamten Laufbahn.“ Im September 2013 findet auf Tahiti die nächste WM statt – Leonow & Co. sind optimistisch, den Titel zu verteidigen.


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Porträt

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Religion Norbert Kuchinke baut bei Berlin ein russisch-orthodoxes Kloster. Und bekommt Hilfe von ganz oben

Schlesier, Däne, Brückenbauer Als Journalist für Spiegel und Stern kam Norbert Kuchinke nach Moskau und entdeckte die orthodoxe Kirche. Dann kam ihm die Idee eines orthodoxen Gotteshauses in Deutschland. TATJANA MARSCHANSKICH

Norbert Kuchinke ist dreiundsiebzig Jahre alt. Fast die Hälfte seines Lebens hat er in Russland verbracht. Entsprechend „russisch“ sieht es in seiner riesigen Berliner Wohnung am Prenzlauer Berg aus. „Möchten Sie einen Tee mit diesen … ach, wie heißen sie gleich noch mal …“ Der Journalist mit den Puschkin-Koteletten versucht sich an den russischen Begriff für die Kringel aus leicht gesüßtem Weißbrotteig zu erinnern, dann fällt es ihm ein – „Suschki!“ Auf dem Boden seines Arbeitszimmers stapeln sich Bücher über den Günstling der Zarenfamilie Grigori Rasputin und die Dynastie der Romanows, darunter befi nden sich auch einige Titel über Russland aus Kuchinkes eigener Feder. Mit seiner deutschen Ehefrau Katharina, die er russisch „Katia“ nennt, zieht Kuchinke die Adoptivtochter Dunja aus Russland groß.

DMITRI PANKOW

FÜR RUSSLAND HEUTE

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1. Norbert Kuchinke ist der einzige Ritter zweier Orden der Russisch-Orthodoxen Kirche in Westeuropa: Er wurde mit dem Wladimirund dem Danielorden ausgezeichnet. 2. In Russland kennt man Kuchinke vor allem als dänischen Professor aus dem Film „Marathon im Herbst“ von 1979. 3. Das orthodoxe Kloster in der ehemaligen Residenz Hermann Görings soll Deutsche und Russen einander näherbringen.

Erfolg: Von Lübeck bis München blieb in keiner der sechsundzwanzig Kirchen ein Platz frei. Friedrich Kardinal Wetter, damals Erzbischof von München und Freising, sagte: „Komm wieder! Unser Dom war seit 1946 nicht mehr so besucht.“ Und jetzt das Kloster. Eine Stunde nördlich von Berlin liegt in der

Aus erster Hand erfuhr Kuchinke, dass „Marathon im Herbst“, in dem er mitgespielt hatte, Putins Lieblingsfilm ist. Uckermark der Flecken Götschendorf, Ortsteil der Gemeinde Milmersdorf. Dort steht ein Anfang des letzten Jahrhunderts erbautes Herrenhaus, das einst Hermann Göring gehörte und in dem sich die Stasi später ein Ferienheim einrichtete. 2006 kam Kuchinke die Idee, das leerstehende Herrenhaus in ein russisch-orthodoxes Kloster zu verwandeln. Er trug der or-

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-Mail redaktion@ russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow, Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Commercial Director: Julia Golikova, Anzeigen: sales@rbth.ru Artdirector: Andrej Schimarskiy

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thodoxen Diözese in Berlin die Idee vor, diese wiederum fand Unterstützung beim Moskauer Patriarchen.

Mönche statt Panzer Heute leben in Götschendorf erst vier Mönche. Wenn die Renovierung abgeschlossen und die Kirche für eintausend Gläubige fertig ist, werden weitere zwanzig Mönche anreisen. Und bei dem Kloster wird es nicht bleiben. Kuchinke plant ein russisches Restaurant, eine Bibliothek und sogar einen kleinen Lebensmittelladen. Dort können die Besucher dann Gemüse und Kräuter kaufen, die von den Mönchen angebaut werden. Der Journalist betrachtet die Baustelle und erzählt träumerisch: „Hier werden sich Beamte und Geschäftsleute aus Russland und Deutschland treffen. Oder wer auch immer das möchte!“ Kuchinke war es auch, der in der Gemeinde Milmersdorf um Verständnis für das Projekt warb.

DPA/VOSTOCK-PHOTO

Der aus Schlesien stammende Kuchinke hatte einige Jahre für Regionalzeitungen gearbeitet. 1973 bekam er die Stelle als MoskauKorrespondent des Spiegel angeboten und dachte nicht lange nach. Es folgten fünf Jahre beim Spiegel, dann wechselte er zum Stern, weil er nicht mehr mit der Linie des Nachrichtenmagazins einverstanden war. 1983, nach zehn Jahren als „gut bezahlter Sklave“, entschied er sich, als freier Journalist weiterzumachen, und begann, sich in Büchern und Dokumentarfi lmen voll und ganz der orthodoxen Kirche zu widmen. Kuchinke zeigt auf einen Stapel Schallplatten und CDs in der Ecke des Zimmers. „Da sind orthodoxe Kirchengesänge drauf. Vor dreißig Jahren war so etwas in Deutschland so gut wie unbekannt. Ich habe damals die erste Scheibe herausgebracht. Und die Menschen waren begeistert!“ In Moskau stieß Kuchinkes Interesse an der Kirche nicht gerade auf Gegenliebe. Als er auf den Gedanken kam, einen Mönchschor aus Sagorsk auf Tournee nach Deutschland zu schicken, reagierten die Behörden ungehalten: „Wir lassen die Mönche nicht in den Westen ausreisen!“ Zehn Jahre bearbeitete er die Behörden, aber erst 1988, mitten in der Perestroika, stimmte das Zentralkomitee zu. Das Gastspiel der russischen Mönche war ein voller

FOTO BANK

Ein Schlesier in Moskau

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„Ihr solltet euch freuen, dass statt der sowjetischen Panzer jetzt russische Mönche hierher kommen“, erklärte er den Katholiken und Protestanten vor Ort. Diese hörten zwar aufmerksam zu, aber mit Freudenausbrüchen hielten sie sich zurück. Kuchinke zeigte ihnen seine Filme über das russisch-orthodoxe Christentum. Und fand schließlich die Unterstützung von Pfarrer Horst Kasner, Vater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Am Ende bekam die Kirche das Grundstück von vier Hektar Größe für einen symbolischen Preis von einem Euro. Fehlten nur noch neun Millionen Euro für die Renovierung.

Der dänische Professor Die Millionen für das Kloster konnte der Journalist leichter in Russland auftreiben. Dort kennt ihn praktisch jeder. Denn Ende der Siebziger hatte der Ausländer aus dem „feindlichen Westen“ seine erste große Rolle gespielt: In dem schnell zum Kultfilm avan-

Produktionsleitung: Milla Domogatskaja, Layout: Maria Oschepkowa Leiter Bildredaktion: Andrej Sajzew, Bildredaktion: Nikolaj Koroljow Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Karelsky, zu erreichen über MBMS, Hauptstraße 41A, 82327 Tutzing Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2013. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko, Geschäftsführer: Pawel Negojza, Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion

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cierten Streifen „Marathon im Herbst“ verkörperte Kuchinke den etwas hilflosen dänischen Linguisten Bill Hansen. Bei einem Besuch in Putins Datscha erfuhr er aus erster Hand, dass „Marathon im Herbst“ des Präsidenten Lieblingsfilm sei. „Ich sagte ihm: ‚Nun, da haben Sie von mir viel früher erfahren als ich von Ihnen.‘“ Dem Präsidenten gefiel der Humor des Deutschen, und auch Kuchinkes Idee vom Kloster überzeugte ihn. Bald überwies eine russische Bank mehrere Millionen Euro für den Bau. Seine Mission beschreibt der Journalist als „Brückenschlag“. Mit aller Kraft kämpft er gegen Stereotype und Ängste an, die in Deutschland gegenüber den Russen bestehen. Und er hat Erfolg. Schon heute kommen Katholiken und Protestanten nach Götschendorf. Unter einer großen Bauplane sitzen sie mit dem ehemaligen Korrespondenten bei Tee und Piroggen und plaudern. Nicht nur über Religion.

4. September


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