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www.russland-heute.de

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Stolpersteine

Fischleder

Gunter Demnig verlegt sie nun auch in Russland.

Krempelt ein Ingusche die Modeindustrie um?

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PETER WETZEL

JEWGENIJ KONDAKOW / RR

Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Russland HEUTE fürs iPad®

Wortkünstler Pelewin.

Klassiker Tolstoi oder

Babuschkin am Baikalsee.

Metropole Moskau oder

gibt es jetzt in einer App.

Ganz Russland HEUTE

Brillante Traditionen

Syrien: Frieden in Sicht?

Als Inbegriff russischer Juwelierskunst gelten die prächtigen Fabergé-Eier, die bis 1917 in St. Petersburg gefertigt wurden und heute weltweit für zweistellige Millionenbeträge gehandelt werden. Derweil besinnen sich russische Juweliere auf ihre Traditionen und holen mit ihren Kreationen auf internationalen Ausstellungen Preise. Ein Problem ist die Beschaffung der Rohstoffe: Russland selbst fördert nur Brillanten, andere Edelsteine müssen teuer eingekauft werden. SEITE 3

Luxuskarossen gegen den Trend

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GETTY IMAGES/FOTOBANK

Vielmehr wäre den Syrern geholfen, wenn Russland Assad dazu brächte, ihnen endlich Freiheit und Demokratie zu geben.

Die Jahre des wilden Wachstums auf dem russischen Automarkt scheinen vorerst vorbei zu sein: In den ersten sieben Monaten sanken die Verkaufszahlen um acht Prozent. Selbst der Konzern Volkswagen, der in den letzten Jahren starke Zuwächse verzeichnen konnte, verkaufte fünf Prozent weniger Neuwagen. Experten sehen zwar eine Übersättigung des Marktes, aber noch keine Krise. Gegen den Trend dagegen stehen BMW, Daimler und Audi: Die „großen drei“ konnten ihre Verkäufe in Russland deutlich steigern.

Interessen der Rüstungswirtschaft, geopolitische Geltungssucht, eine Schwäche für Despoten – Russland bekommt von Kommentatoren rund um den Globus für sein Engagement in Syrien

gern unlautere Motive unterstellt. Doch immerhin hat das Land den syrischen Diktator Assad nun dazu bewegt, sein Chemiewaffenarsenal unter internationaler Aufsicht vernichten zu lassen.

THEMA DES MONATS

In Moskau lebenden Syrern ist das zu wenig: Von der Vernichtung des Giftgases profitiere nur der Staat Israel, sagen sie. Dabei gehe es darum, den Bürgerkrieg endlich zu beenden.

Gefahr aus dem All

FRANKFURTER BUCHMESSE SCHRIFTSTELLER ABZUHOLEN – BITTE AM RUSSISCHEN STAND

Russische Wissenschaftler arbeiten an einem System, dass die Erde vor herabstürzenden Himmelskörpern schützen soll. Dass die Initiative aus dem größten Land der Erde kommt, ist kein Zufall: Erst im Februar explodierte über der Stadt Tscheljabinsk ein Me-

teorit, 1491 Menschen wurden verletzt. Das System „Zitadelle“ sieht vor, Asteroiden, die auf Kollisionskurs mit der Erde sind, zu zerstören oder wenigstens von ihrem Kurs abzubringen. SEITE 5

Coming-out oder Karriere

6. November

Nächste Ausgabe INTERNETPORTAL RUSSLAND-HEUTE.DE

Russische Rekruten aus dem Tierreich RUSSLAND-HEUTE.DE/26005

AP

Welchen zeitgenössischen Schriftsteller aus Russland kennen Sie? Ljudmila Ulizkaja, sagt die weibliche Leserschaft, Sorokin und Pelewin fallen dem ein oder anderen ein, Fantasy-Freunde schätzen die „Metro“-Serie von Dmitri Gluchowski. Ansonsten sieht es mit der Wahrnehmung russischer Literatur eher düster aus. Auf der Frankfurter Buchmesse ab dem 9. Oktober präsentiert das Land, was es sonst noch zu entdecken gibt. SEITEN 6 UND 7

Boykottieren? Bei Olympia die Regenbogenflagge zeigen gegen Homophobie? Der Westen ist sich uneins über den Umgang mit dem russischen Gesetz gegen „Schwulenpropaganda“. „Wir wissen von drei homosexuellen Spitzensportlern bei Olympia 2014, aber sie be-

halten das lieber für sich“, sagt Konstantin Jablozkij, Chef der LGBT-Sportvereinigung. Russland HEUTE erklärt, was russische Profisportler vom Comingout abhält.

Darf man in Russland Goebbels und Mussolini lesen?

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RUSSLAND-HEUTE.DE/26059


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Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Syrien-Krise Während Russland seinen diplomatischen Erfolg feiert, sind Moskauer Exilsyrer eher wenig begeistert

„Ein richtiger Schritt für das Regime, aber nicht für die Menschen“ Russland HEUTE fragte in Moskau lebende Syrer, was sie von der russischen Initiative zur Übergabe des syrischen Chemiewaffenarsenals unter internationaler Kontrolle halten.

Das C-WaffenProgramm Syriens

MUNSER CHALLUM RUSSLAND HEUTE

Hasan Aldasch, INGENIEUR UND UNTERNEHMER

AFP/EASTNEWS

Die großen internationalen Akteure respektieren die Interessen unseres Volkes nicht, dessen Recht auf Freiheit und Demokratie und auf ein vollwertiges Leben. Die chemischen Waffen waren ein Mittel, um Israel auf Abstand zu halten. Das Regime hat sich praktisch innerhalb von zehn Minuten von diesen Waffen getrennt, um an der Macht zu bleiben. Die russische Initiative gehört zu einem Spiel, das Russland mit Amerika und dem Assad-Regime vereinbart hat. Der russische Vorschlag nützt lediglich dem Regime und Assad persönlich, aber er schwächt Syrien und verschafft Israel völlige Handlungsfreiheit.

Das syrische C-Waffen-Programm soll zwischen 1970 und 1980 mit sowjetischer Hilfe entwickelt worden sein, was Russland heute allerdings bestreitet. Syrien verfügt vermutlich über die weltgrößten Vorräte an Chemiewaffen. Es wird angenommen, dass im Land insgesamt mehr als 1000 Tonnen Senfgas, Sarin, Tabun und Nervengas VX gelagert sind. Die Kampfstoffe können mit Fliegerbomben (bis zu 1000 Stück) und Raketen (100 Stück) abgefeuert werden. Nach der nun erreichten Vereinbarung sollen bis Mitte 2014 die Chemiewaffen aus dem Land gebracht und vernichtet werden. Assad schätzt die Kosten für die Vernichtung der C-Waffen auf etwa eine Milliarde Dollar und behauptet, die Vernichtung des Arsenals werde ein Jahr dauern. Experten bezweifeln, dass der Plan mitten im Bürgerkrieg überhaupt umgesetzt werden kann.

Bisher ist es ungeklärt, von wem das Giftgas Sarin bei Damaskus verwendet wurde. Amin Aldaher

nicht das Problem: Alle Beteiligten müssen sich an den Verhandlungstisch setzen. Russland hat getan, was es tun musste, nun muss Amerika endlich damit aufhören, die Terroristen mit Waffen auszustatten. Dann blieben nur noch die wahren Oppositionellen übrig und dann werden sich auch alle Seiten an den Verhandlungstisch setzen. Aber Russland muss über ein klares Programm für die Friedensgespräche verfügen, das die demokratischen Forderungen des syrischen Volkes enthält.

CHEMIKER UND UNTERNEHMER

Die Initiative Russlands bewerte ich positiv, weil sie einen Militärschlag gegen Syrien verhindert. In diesem Sinne bewahrt sie viele Syrer vor Tod und Leiden. Ein Militärschlag würde den islamistischen Kräften in Syrien zum Sieg verhelfen. Aber die russische Initiative sorgt nicht für ein Ende der Krise, weil sie den weiteren Zustrom von Kämpfern aus dem Ausland nicht beendet. Sie muss die Konfliktparteien dazu bringen, am Genf-2-Treffen teilzunehmen, damit eine politische Lösung gefunden und eine Übergangsregierung der nationalen Einheit gebildet werden kann.

Wo in Syrien C-Waffen zu finden sind

lassen das syrische Volk in einer ausweglosen Situation zurück. Die Initiative gebietet der Gewalt von außen Einhalt, aber kann sie auch die Gewalt im Inneren des Landes beenden? Russland muss Druck auf das Regime ausüben und darf dabei nicht vergessen, dass das Volk gerechtfertigte Forderungen hat, wegen derer es vor zweieinhalb Jahren auf die Straße gegangen ist – die Forderung nach Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Wo bleibt die russische Initiative zu diesen Punkten?

Nedal Hudr

NATALIA MIKHAYLENKO

Nidal Abu-Ali ARZT UND STAATLICHER ANGESTELLTER

Es ist schon sehr viel wert, dass die russische Initiative den sich anbahnenden Angriff auf Syrien aufgeschoben hat. Aber das löst

ARZT UND MANAGER

Ahmed Al-Deri,

Es ist schon etwas schmachvoll, dass alle Probleme des Regimes zulasten der militärischen Sicherheit des Landes gehen. Die Chemiewaffen sind ja letzten Endes Eigentum der Syrer. Nun werden sie als Tauschobjekt für die Rettung des Regimes verwendet und

PHARMAZEUT UND UNTERNEHMER

Alle Initiativen und Abmachungen zu Syrien drehen sich nicht um die Sicherheit des syrischen Volkes, sondern um die Sicherheit Israels. Die jüngste Initiative verlängert lediglich das Leben des Regimes auf ungewisse Dauer.

EXPERTEN-MEINUNG

„Die Opposition wird nicht an den Friedensverhandlungen teilnehmen“ Hazem Nahar ANALYTIKER

D

ie Abgabe der syrischen Chemiewaffen kommt den Interessen Amerikas und Israels entgegen. Syrien verliert jene Waffen, die Israel bislang zur Mäßigung zwangen. Der Westen könnte sich eventuell damit abfinden, dass Assad während der Übergangsperiode an der Macht bleibt, wenn er sich mit Russland darauf einigt. Aber das hilft den Syrern nicht. Es stellt sich die Frage: Kann der

Westen den Krieg in Syrien beenden? Der Krieg, der nun schon über zwei Jahre dauert, hat eine neue Realität geschaffen: Die Opposition stellt ihre Waffen zum Teil bereits selbst her, es existieren vielfältige Quellen für Waffenlieferungen und deren Finanzierung. Hier stellt sich eine weitere Frage: Wenn die Initiative fortgeführt wird und es zu Friedensgesprächen kommt, es unter Billigung von Amerika und Frankreich eine Genf-2-Konferenz gibt, wo wird dann die Opposition stehen? Die Syrische Nationalkoalition für Opposition

und Revolutionäre Kräfte wird sich nicht auf Verhandlungen einlassen, weil sie weiß, dass das den Machterhalt Assads bedeuten würde – denn das ist eine Hauptbedingung Russlands und das will auch der Iran. Auch für Israel ist ein schwaches Syrien unter Assad und ohne Chemiewaffen von Vorteil. Russland und Amerika gewährleisten dies Israel mit ihrer Initiative. Der Dissident Hazem Nahar ist Analytiker des Arabischen Zentrums für Politische Forschung und Studien in Doha.


Wirtschaft

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Kernkraft Rosatom blickt nach Europa

Russische Atomtechnologie ruft in Europa immer größeres Interesse hervor. Nach Finnland und Tschechien könnte Rosatom in den nächsten Jahren auch nach Großbritannien gehen. ANDREJ RESNITSCHENKO FÜR RUSSLAND HEUTE

Einst baute die Sowjetunion Atomkraftwerke in Bulgarien, in der Slowakei, Ungarn, Tschechien, Finnland und der DDR. Danach setzte die Föderale Agentur für Atomenergie Rosatom ihre Tätigkeit in der EU fort. Tschechien etwa hat sich vollständig von amerikanischem Kernbrennstoff losgesagt und verwendet aufgrund ihrer größeren Zuverlässigkeit Brennelemente aus russischer Produktion. Auch das finnische Unternehmen Fennovoima hat in diesem Sommer ein Abkommen mit Rusatom Overseas, einer Tochter von Rosatom, über die Ausarbeitung eines Vertragsentwurfs zum Bau des AKWs Hanhikivi 1 unterzeichnet. Laut der Zeitung Kommersant beabsichtigt Rusatom Overseas, 34 Prozent von Fennovoima zu übernehmen. Damit würde sich

der Konzern bei Gesamtkosten um die sechs Milliarden Dollar mit rund zwei Milliarden am Bau des Atommeilers beteiligen. Die Entscheidung über die Umsetzung der Pläne wollen die FennovoimaAnteilseigner bis Ende Oktober 2013 treffen. Noch im Rahmen eines sowjetischen Projekts wurden in Finnland zwei Blöcke des Kernkraftwerks Loviisa errichtet. Dieses Kraftwerk gilt unter unabhängigen Experten heute als eines der besten europaweit bezüglich seiner Rentabilität und auch in puncto Sicherheit. In Finnland stammen 25 Prozent der erzeugten Energie aus Atomkraft. Zum Vergleich: In Russland und Deutschland erzeugen Atomkraftwerke etwas mehr als 16 Prozent des Stroms. Die Führung von Fennovoima hat erklärt, dass Rosatom die weltweit beste energetische Lösung bei der friedlichen Nutzung der Atomkraft bietet. Tschechien könnte das nächste Land sein, das sich für den Bau eines AKWs mit moderner russischer Technologie entscheidet. An der Ausschreibung für den Bau von zwei Blöcken für das Kraft-

© FENNOVOIMA

Russische AKWs punkten mit Sicherheit Die Entscheidung über den Bau des finnischen Kernkraftwerks Hanhikivi 1 soll bis Ende Oktober fallen.

werk Temelin nimmt ein tschechisch-russisches Konsortium teil, das das Projekt AKW-2006 eingereicht hat. Nach dieser Bauart werden in Russland derzeit sechs Blöcke er-

Großbritanniens Energie stammt heute zu 20 Prozent aus Kernkraft. Die Regierung will die Kapazitäten ausbauen. richtet, dazu zwei in Belarus und vier in der Türkei. AKW-2006 gehört zur Generation 3+. Es verfügt über eine Kombination aus aktiven und passiven Sicherheitssystemen und entspricht den nach Fukushima ausgearbeiteten Sicherheitsanforderungen der International Atomic Energy Agency (IAEA) und den in der EU gel-

tenden Parametern. Das Projekt AKW-2006 sieht eine doppelte Schutzhülle vor, die den Aufprall eines bis zu 400 Tonnen schweren Flugzeugs überstehen kann. Es beinhaltet passive Systeme, die die Wärme aus der aktiven Zone und der Schutzhülle abführen sowie aktive Systeme, einen Wasserstoffnachbrenner und einen Core-Catcher. Dazu kommt eine Vorrichtung zum Auffangen von geschmolzenem Material. Auch im autonomen Betrieb, wenn alle Elektro- und Wasserversorgungssysteme über einen längeren Zeitraum ausfallen sollten, ist das Kraftwerk in der Lage, den Kernspaltungsprozess aufzuhalten, die Restwärme abzuführen und damit die Sicherheit zu gewährleisten. Ein größerer Umfang an Sicherheitsmaßnahmen ist weltweit in keinem anderen Projekt vorgesehen. Rosatom ist der Meinung,

dass ein Kraftwerk dieses Typs eine Umweltkatastrophe wie in Fukushima ohne größere Schäden überstanden hätte. Die nach Fukushima durchgeführten Stresstests haben die Standhaftigkeit moderner russischer AKWs gegenüber extremen Einwirkungen bestätigt. Auch in Großbritannien, das seine Nuklearkapazität von heute 20 Prozent ausbauen will, könnte Rosatom zum Zuge kommen. Am 5. September unterzeichneten die Russen mit der Rolls-Royce und dem finnischen Energieunternehmen Fortum in Moskau ein Abkommen über die gemeinsame Erforschung der Möglichkeiten zum Bau und Betrieb eines AKWs in Großbritannien. Im Gegenzug sollen die Briten Rosatom bei der Lizensierung eines Wasser-Wasser-Energie-Reaktors (WWER) unterstützen.

Edelsteine Russische Juweliere beleben ihre Traditionen wieder, aber kämpfen mit bürokratischen Hindernissen

Feinschliff für Brillanten nach alter Manier

MARINA OBRASKOWA RUSSLAND HEUTE

In den letzten 20 Jahren konnte die Juwelierbranche in Russland mit der Wiederbelebung traditioneller Techniken eine Reihe von Erfolgen verbuchen. Die schönsten Exponate werden jedes Jahr auf den internationalen Messen für Schmuck und Uhren in Vicenza, Basel, Berlin und Hongkong vorgestellt. 1996 gewann Jelena Opalewa mit ihrer „Sphinx von Gizeh“ den International Diamonds Award von De Beers, sozusagen den Oscar der Edelsteinbranche. In diesem Jahr holte sich bereits zum zweiten Mal hintereinander der russische Goldschmied Ilgis Fasulsjanow den Grand Prix und den Titel „Champion of the Champions“ beim International Jewellery Design Excellence Award in Hongkong. Zentren der Juwelierkunst sind Moskau, St. Petersburg, Kostroma und Jaroslawl. „Zudem bekommen auf den ausländischen Messen jakutische Brillanten und Schmuck mit nationalen Motiven

sowie Arbeiten von Edelsteinschleifern aus dem Ural Auszeichnungen“, erklärt Galina Ananjina, Direktorin der Nationalen Sammlung von Kunstgegenständen. Die Russen selbst hätten häufig jedoch keine Gelegenheit, die neuesten Prunkstücke ihrer Landsleute kennenzulernen und somit einen Eindruck über den Entwicklungsstand der Branche zu bekommen. „Sie gewinnen den Eindruck, dass russische Künstler ausschließlich durchschnittliche Ringe und Schmuckkettchen für den Massengebrauch herstellen“, sagt Ananjina. Nach ihrer Einschätzung verteile sich die Produktion der Juwelierbetriebe zu 20 Prozent auf exklusive Einzelstücke und Sonderschliffe und zu 80 Prozent auf die Massenproduktion von Schmuck, die auf Kunden mit mittlerem Einkommen und darunter abzielt.

Republik Sacha. Und weiterhin sei der Handel gesetzlich beschränkt, auch durch Paragrafen im Strafgesetzbuch.

Besteuerung macht Produktion unrentabel

PRESSEBILD

Russische Juweliere und Edelsteinproduzenten wollen ihre Branche zu altem Glanz zurückführen. Dabei stören gesetzliche Hindernisse und steuerliche Belastungen.

vestoren in der postsowjetischen Zeit eine Neubelebung.“ Auch sei in letzter Zeit die Unterstützung der weiterverarbeitenden Betriebe durch den Staat bemerkbar.

Schleifindustrie stagniert Steigende Produktionskosten hemmen Branchenwachstum Die Geschäftsführerin der Innung der Brillanten- und Schmuckhersteller der Republik Sacha (Jakutien), Tatjana Kyrbassowa, registriert ebenfalls eine Wiederbelebung des Industriezweigs: „In Jakutien hat das Juweliergeschäft jahrhundertealte Wurzeln. Die Branche erfuhr dank privater In-

Die Gewährleistung einer stabilen Entwicklung der Branche sei wichtig: „Bei uns in Jakutien sind Arbeitskraft und Energie teuer. Alrosa, der größte russische Diamantenförderer, geht zum Abbau von Diamanten unter Tage über. Das ist kostspieliger, deshalb sind die Rohstoffe für die Schmuckherstellung – Diamanten, Gold und Silber – teurer geworden.“

Das hat auch negative Auswirkungen auf die Schleifindustrie. Ein weiteres Problem: Zwar haben Edelmetalle und -steine seit 2003 keinen Sonderstatus mehr, der ihren Handel beschränken würde, aber ansonsten gelten weiterhin strenge Gesetze, die die Produktionskosten in die Höhe treiben: „Wer eine Produktion aufbauen will, muss die Räume mit massiven Tresoren, Sicherheitstüren und vergitterten Fenstern ausstatten. Es muss Sicherheitspersonal für den Abbau, die Weiterverarbeitung und den Transport geben“, erläutert Wassili Wlassow, Vorsitzender des Diamantenrats der

Die Juweliere haben darüber hinaus große Schwierigkeiten mit der Steuerlast. Sie müssen Smaragde, Saphire, Alexandriten und andere Edelsteine aus dem Ausland einführen, weil diese in Russland aus Kostengründen nicht gefördert und aufbereitet werden. Das bedeutet außer den Steuern noch 33 Prozent höhere Kosten aufgrund des Zolls. Doch genau diese Steine seien auf dem russischen Markt am meisten begehrt, klagt Wlassow. „Sie werden von uns in China und Indien für die Massenproduktion eingekauft, dazu kommen die 33 Prozent bei der Einfuhr.“ Auch der Verkauf im Inland erweist sich für Schmuckhändler als problematisch. So verkauft Alrosa Diamanten steuerfrei an ausländische Partner, von inländischen Abnehmern nimmt der Großkonzern jedoch Steuern. Wlassow merkt an, dass der Diamantenrat der Republik Sacha seit den letzten zehn Jahren mit diesen Hindernissen kämpfe, aber nicht immer von der russischen Regierung unterstützt werde.


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Wirtschaft

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Automobilbranche 2013 sinken auch in Russland die Verkaufszahlen. Nur wenige Autobauer können zulegen

Deutsche Premiumklasse auf der Überholspur

FÜR RUSSLAND HEUTE

Dieses Jahr liegt Russland genau im Trend des zentral- und osteuropäischen Automobilmarkts. In den ersten sieben Monaten sanken die Verkaufszahlen laut Association of European Business um acht Prozent. Der Direktor der Analyseagentur Awtostat, Sergej Zelikow, will aber nicht von einer Krise sprechen. „Der Markt stabilisiert sich lediglich, und die Verkaufszahlen gehen zurück. Die Aufgabe der Produzenten und Händler besteht inzwischen darin, Angebot und Nachfrage in eine Balance zu bringen“, erklärt er. Nach der Krise von 2009 nahm der Verkauf von Neuwagen um Zahlen im zweistelligen Bereich zu, bis der Markt schließlich übersättigt war. Den gegenwärtigen Rückgang erklären Experten mit dem Ende des aktuellen dreijährigen Erneuerungszyklus des Kfz-Bestands, dem Auslaufen einer Reihe staatlicher Förderprogramme sowie der

chendes Image einzukaufen“, sagt Rodionow. Dieser Meinung ist auch Sergej Zelikow. „Die Hersteller versuchen heute, mit ihren Premiummarken Käufer anzuziehen, die früher von solchen Autos nicht einmal geträumt haben, und entziehen sie damit dem gehobenen Großseriensegment. Die untere Preisgrenze des Premiummarkts hat sich inzwischen der Preisobergrenze der Großserienfahrzeuge angeglichen. Außerdem bieten die ‚großen drei‘ aggressive Preisnachlässe von bis zu 7 500 Euro an“, so der Analyst.

Premiumfahrzeuge halten ihre Position Bei den Premiumfahrzeugen haben die „großen deutschen drei“ – Daimler, BMW und Audi – ihre Position gefestigt. Ihre Verkäufe nahmen mit jeweils 20, 18 und neun Prozent deutlich zu. Lexus (sieben Prozent) und Porsche (sechs Prozent) folgen. Bei den anderen Wettbewerbern sieht die Situation nicht ganz so rosig aus. Volvo, in Russland Teil der Premiumklasse, verzeichnete ein Minus von 29 Prozent, Cadillac sogar minus 34 Prozent. Axel Albrecht, bei Audi verantwortlich für Zentral- und Osteuropa, erklärt den Erfolg mit dem besonderen Verhältnis der russischen Käufer zur Premiumklasse. „Sogar in der Krise sind die

Premiumklasse überzeugt mit Neuentwicklungen Die „großen deutschen drei“ wurden 2013 mit Gewinn verkauft.

Kunden der Premiumklasse bereit, Geld für diese Fahrzeuge auszugeben. Sie begreifen, welchen Wert sie haben und dass die Werterhaltung entsprechend hoch ist“, erklärt er.

pro Jahr unter Berücksichtigung der Inflation an“, sagt er. Der Preisunterschied zwischen dem Großserien- und dem Premiumsegment sei inzwischen nicht mehr groß. In letzter Instanz entscheiden die Käufer sich deshalb für die Premiumkarossen, da sie neben dem Fahrzeug auch noch eine starke Marke, eine reichhaltigere Ausstattung und bessere Technik erwerben. „Der Kunde zieht es vor, ein wenig mehr zu bezahlen und dafür ein entspre-

Rabatte bis zu 7500 Euro Der Sprecher von Mercedes-Benz RUS, Andrej Rodionow, betont auch die ausgewogene Preispolitik, dank derer ein Preisanstieg vermieden werden konnte. „Wir passen den Rubelpreis zweimal

Laut Zelikow ist ein weiterer Grund für deren Erfolg auch die Tatsache, dass alle drei in ihre Modellreihen Neuentwicklungen integriert haben, die auf das obere Segment des Massenmarkts ausgerichtet sind. Bei Audi der Q3, bei BMW der X1, bei Daimler die GLA-Serie. Zudem habe Daimler in Russland ein neues Modell der A-Klasse herausgebracht, das in direkter Konkurrenz zum VW Golf stehe, und dieser gelte immerhin als Maßstab für die Klasse der KompaktKombilimousinen.

Flüssiggas Ein neues Gesetz bringt Änderungen für dem LNG-Markt

Gazprom verliert sein Exportmonopol Ein Gesetzesentwurf aus dem Energieministerium liberalisiert den Export von Flüssigerdgas (LNG). Das könnte das Ende des LNG-Monopols bedeuten, das Gazprom seit 2006 innehat. TATJANA LISINA FÜR RUSSLAND HEUTE

Das neue Gesetz soll die Ausfuhr von Gas ermöglichen, ohne dass mit dem Förderriesen Gazprom ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet wird. Es richtet sich an Unternehmen, die selbst Gas fördern oder die Lizenz haben, ein eigenes Werk zu bauen und das Gas zur Verflüssigung an einen Staatsbetrieb weiterzuleiten. Zum anderen betrifft es Förderunternehmen, an denen der Staat mindestens zur Hälfte beteiligt ist und die Gas ausschließlich aus russischen Schelflagerstätten verflüssigen. Derzeit liegt Russland deutlich hinter den Marktführern von LNG zurück. Sachalin 2 im Ochotskischen Meer nördlich von Japan wird von Gazprom kontrolliert und ist das einzige Werk zur Herstellung von Flüssiggas. Es verfügt über eine Kapazität von 10,8 Millionen Tonnen, das entspricht lediglich fünf Prozent des LNG-Weltmarkts. „Gazprom hat als Monopolist auf Pipeline-Erdgas gesetzt und ist damit bislang ausgezeichnet gefahren. Das Unternehmen hat es nicht eilig, in die LNG-Herstel-

PRESSEBILD

VIKTOR KUSMIN

Befürchtung, die Wirtschaftskrise könne erneut aufflammen. Der Umsatzrückgang ist in erster Linie im mittleren Preissegment zu beobachten: Nissan (–18 Prozent), Ford (–18 Prozent), Peugeot (–21 Prozent) und Suzuki (–19 Prozent). Volkswagen, der zuletzt seine Produktion in Russland ausgeweitet hat, musste in den ersten sieben Monaten immerhin nur einen Rückgang von fünf Prozent in Kauf nehmen.

REUTERS

Daimler, BMW und Audi haben entgegen dem allgemeinen Trend ihren Absatz in Russland gesteigert. Innovationen und eine günstige Preisentwicklung machen sie konkurrenzfähiger.

Seit sieben Jahren hat Gazprom das Exportmonopol.

lung weiter einzusteigen“, erklärt Witalij Krjukow, Analyst bei IFD Kapital. Angestoßen wurde das Gesetz zur Liberalisierung des Gasmarkts vom Energieunternehmen Novatek, das ein Großprojekt namens „Jamal LNG“ plant. Die Verflüssigungsanlage in drei Strängen soll ab 2018 jeweils eine Kapazität von fünf Millionen Tonnen haben. Obwohl das Gesetz noch nicht verabschiedet wurde, ist Novatek bereits auf der Suche nach Investoren. Anfang September holte das Unternehmen den chinesischen Energiekonzern CNPC und ein chinesisches Bankenkonsortium mit ins Boot.

Auch der Energieriese Rosneft hat zusammen mit ExxonMobil den Export von Flüssiggas projektiert. Das Werk im Fernen Osten Russlands mit einer Kapazität von fünf Millionen Tonnen jährlich soll ebenfalls 2018 seine Produktion aufnehmen. Experten bewerten den Gesetzesentwurf des Energieministeriums unterschiedlich. Witalij Krjukow hält ihn für nicht ganz ausgereift, weil er auf eine sehr kleine Gruppe, in erster Linie staatliche Unternehmen, ausgerichtet sei: „Völlig ungeklärt ist beispielsweise, was aus dem Vorhaben ‚Pechora LNG‘ des Privatunternehmens Alltech wird, das die Errichtung eines LNG-Werks in der sibirischen Arktis auf Basis zweier Gasfelder plant.“ Der Raiffeisen-Analyst Andrej Polischtschuk glaubt, dass die beschränkte Zahl der Marktteilnehmer immerhin seine Vorteile hat. „Ein schlagartiger Übergang riefe eine zu mächtige Konkurrenzsituation hervor, was die Preise auf dem Binnenmarkt und damit die Staatseinnahmen negativ beeinflussen würde“, so seine Einschätzung. Langfristig sei im Falle einer Verabschiedung des Gesetzes mit einem signifikanten Anstieg der LNG-Ausfuhr zu rechnen. Jedoch wird es Russland mit Blick auf den globalen Wettbewerb schwerfallen, eine Schlüsselrolle unter den führenden Flüssiggasexporteuren einzunehmen. Die USA und Kanada wollen ebenfalls ihren Export ankurbeln. In einem ist Russland im Vorteil: Es liegt nahe an den asiatischen Ländern, wo die größten Abnehmer von Flüssiggas sitzen.


Wissenschaft

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Weltraum Schutz vor Himmelskörpern

„Zitadelle“: ein Schutzschirm für die Erde ANDREJ KISLJAKOW FÜR RUSSLAND HEUTE

Die jüngsten Ergebnisse der Weltraumforschung sind für die Erdbewohner recht beunruhigend: Die Gefahr herabstürzender Objekte aus dem All nimmt von Jahr zu Jahr zu. Laut NASA-Angaben wurden bis zum 3. Juli 2013 auf dem erdnahen Orbit 16 602 künstliche Objekte registriert. Dabei handelte es sich lediglich bei 3612 um aktive Satelliten. Alles andere ist Weltraumschrott. Außerdem wird die Erde in letzter Zeit auch aktiv von „Gästen aus der Ferne“ heimgesucht – von Asteroiden. „Während früher noch angenommen wurde, dass das Herabfallen von Trümmern – wie etwa des Tunguska-Asteroiden – auf die Erde im Durchschnitt einmal alle 700 bis 900 Jahre vorkommt, wird mittlerweile davon ausgegangen, dass solche Ereignisse wesentlich häufiger geschehen können, möglicherweise sogar alle 90 bis 100 Jahre“, sagt der Akademierat der Akademie für Ingenieurwissenschaften Jurij Sajzew. Im vergangenen Jahrzehnt wurden mehr Asteroiden entdeckt als in den beiden letzten Jahrhunderten zusammengenommen. „Eine Kollision mit der Erde ist praktisch unausweichlich und im Grunde nur eine Frage der Zeit, wenn wir nichts tun“, prognostiziert der Wissenschaftler.

Mit atomaren Sprengsätzen auf Asteroiden-Jagd Im März stellten die Entwickler das Internationale System für Planetaren Schutz Zitadelle in Moskau vor. Nach der Auffassung von Anatolij Sajzew, Generaldirektor des Zentrums für Planetaren Schutz, wäre es nötig, bei der kosmischen Beobachtung der Asteroiden zwei bis drei Aufklärungssatelliten in das System zu integrieren, um die Parameter der Asteroiden und ihre Flugbahnen mit einer noch größeren Genauigkeit als bisher zu ermitteln. Zudem spricht sich Sajzew für Abfangsatelliten aus, mithilfe derer die Asteroiden zerstört oder zumindest ihre Flugbahnen geändert werden können. Für die Fertigstellung eines solchen Systems werden ungefähr fünf bis sechs Jahre benötigt, die Kosten belaufen sich auf annähernd 1,5 Milliarden Euro. Auch die Luft- und Weltraumfahrtkorporation Energija hat ein

Projekt zum Schutz vor Asteroiden vorgestellt. Das führende russische Weltraumunternehmen beabsichtigt, zwischen 2020 und 2030 eine leistungsstarke Trägerrakete mit Atomantrieb zu entwickeln, um Anti-Asteroiden-Sprengsätze in den Weltraum zu befördern. Im Experimental-Konstruktionsbüro S. A. Lawotschkin wurde bereits der Entwurf für einen Roboter entwickelt, der imstande ist, auf Asteroiden zu landen und auf deren Oberfläche einen speziellen Peilsender zu platzieren. Der Sender soll es ermöglichen, die Flugbahn des Himmelskör-

Der Transport atomarer Sprengsätze in den Weltraum kann zu einem militärpolitischen Problem werden. pers exakter zu ermitteln. Wladimir Popowkin, Chef der russischen Weltraumagentur Roskosmos, betont, dass Methode und Vorgehensweise von verschiedenen Parametern abhängen: von der Größe des bedrohlichen Objekts, von seiner Masse, seiner Zusammensetzung und den Gesteinseigenschaften. Russische Experten sind sich jedoch in einem einig: dass zur Vernichtung gefährlicher Asteroiden und Kometen in jedem Fall atomare Sprengsätze verwendet werden müssen. Welches konkrete Verfahren zur Neutralisierung der Gefahren aus dem All in Russland aber am Ende zur Anwendung kommt, ist bislang noch unklar.

47 50 ALAMY/LEGION MEDIA

Russische Wissenschaftler entwickeln Systeme, die Informationen zu Weltraumobjekten sammeln, die der Erde gefährlich werden könnten. Im Notfall müssen sie eliminiert werden.

ZAHLEN

Tausend Asteroiden könnten auf unserem Planeten einschlagen.

Indes könnte der Transport atomarer Sprengsätze in den Weltraum zu einem internationalen militärpolitischen Problem werden. Das erklärte Ende Februar der Vizeministerpräsident Dmitri Rogosin. Er glaubt, dass einige Länder unter dem Vorwand der Asteroiden-Abwehr Atomwaffen zu militärischen Zwecken im All stationieren könnten.

Russisch-amerikanische Zusammenarbeit Die physische Vernichtung von Asteroiden ist noch ein Zukunftstraum. Vorerst geht es lediglich um die Erfassung von Informationen über die gefährlichsten kosmischen Körper, die sich der Erde nähern. Eines dieser Objekte ist der Asteroid Apophis. 2004 sagten die Astronomen voraus, dass Apophis im Jahr 2029 mit der Erde kollidieren könnte, in den folgenden Jahren stellte sich dann heraus, dass er an unserem Heimatplaneten lediglich vorbeifliegt. Wenn Apophis dabei allerdings in eines der vielen zwei bis 600 Meter breiten „Schlüssellöcher“ gelangen sollte, könnte er in eine Gravitationsfalle geraten, sodass ein Zusammenstoß früher oder später nicht auszuschließen ist. Im Januar stellten NASA-Spezialisten zwar aufgrund jüngster Beobachtungen fest, dass das Risiko eines Zusammenstoßes in den nächsten Jahrzehnten nahezu ausgeschlossen werden könne. „Die

Wie groß ist die Gefahr wirklich? Die Zahl der Asteroiden, die auf der Erde einschlagen könnten, beträgt mehr als 47 000. Das sind doppelt so viele wie früher angenommen, wobei bis heute nur 20 bis 30 Prozent von ihnen lokalisiert wurden. Asteroiden mit einigen Metern Durchmesser dringen jedes Jahr in die Atmosphäre ein, verglühen jedoch, bevor sie die Erdoberfläche erreichen. Dabei leuchten sie grell auf und detonieren in einer Höhe von 30 bis 40 Kilometern wie in diesem Jahr über der russischen Stadt Tscheljabinsk. Asteroiden, die ein lokales Desaster wie 1908 in Tunguska verursachen können, müssen einen Durchmesser von mindestens 50 Metern haben, was jedoch nur einmal alle 100 Jahre vorkommt. Um eine globale Katastrophe auszulösen, muss ein Asteroid einen Durchmesser von mehr als einem Kilometer haben.

2004 sagten Astronomen eine Kollision des Asteroiden Apophis mit der Erde für das Jahr 2029 voraus. Inzwischen wird das zwar als unwahrscheinlich eingeschätzt, aber die Gefahr bleibt bestehen.

Meter Durchmesser reichen für eine lokale Katastrophe aus.

Gefahr bleibt jedoch weiterhin bestehen, und wir müssen uns jetzt schon darauf vorbereiten“, sagt Lew Seljonyj, Direktor des Instituts für Weltraumforschung der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Asteroiden abschleppen „Das aus meiner Sicht effektivste Mittel besteht darin, ein kosmisches Instrument auf einem gefährlichen Objekt weich landen zu lassen und durch schubschwache Triebwerke dessen Bahn Schritt für Schritt zu ändern“, glaubt Seljonyj. Die Entwicklung einer solchen Technologie könnte durch ein gemeinsames russischamerikanisches Forschungsvorhaben realisiert werden, in dem es darum geht, kleinere Asteroiden zunächst zu erfassen und dann in die Umlaufbahn des Mondes zu transportieren. Im April erläuterte RoskosmosChef Wladimir Popowkin das Projekt näher: „Es handelt sich dabei um eine Art kosmischer Abschleppvorrichtung, über die kleinere Asteroiden mit einem Durchmesser von 15 bis 20 Metern auf die Umlaufbahn des Mondes befördert werden. Für den Anfang könnte man zur Installation dieser Vorrichtung bemannte Expeditionen entsenden oder den Prozess mithilfe automatischer Instrumente beobachten.“ Die Gesamtkosten des Projekts werden auf knapp zwei Milliarden Euro geschätzt.

Welche Teile der Erde der Asteroid Apophis treffen könnte

NATALIA MIKHAYLENKO


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Thema des Monats

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

FRANKFURTER BUCHMESSE RUSSISCHE LITERATUR AM KOMMENDEN MITTWOCH BEGINNT DIE GRÖSSTE BUCHMESSE DER WELT. RUSSLAND WIRBT MIT EINEM EIGENEN STAND FÜR EINE BREITERE WAHRNEHMUNG SEINER LITERATUR

ALJONA TWERITINA RUSSLAND HEUTE

In den 1990er-Jahren verspürte die russische Literatur das Gefühl berauschender Freiheit, die aus der Kluft zwischen zwei Epochen entströmte. Und nutzte diese, so gut sie nur konnte. Endlich wurden auch Werke veröffentlicht, deren Publikation in der UdSSR undenkbar gewesen wäre, von Exilliteratur bis hin zu den dissidentischen SamisdatWerken, jenen illegal vervielfältigten Schriften wie Solschenizyns „Archipel Gulag“. Parallel erlebte auch die Trivialliteratur ihre erste Blüte. In dieser gewaltigen Lawine literarischer Strömungen gingen neue Autoren zwar gänzlich unter, schafften jedoch ihren Durchbruch in den 2000er-Jahren. Die wichtigen Themen ihrer Zeit behandelt auch die russische Literatur des 21. Jahrhunderts: Sie reflektiert über die Epoche, zeichnet Porträts der neuen Gesellschaft, strapaziert die Nerven ihrer Leser und therapiert sie mit postapokalyptischen Szenarien, sucht nach Formen, die dem Zeitgeist entsprechen. Während die Massenliteratur von einem Gefühl der Freiheit und Unbezwingbarkeit geführt wird und ihre Leser mit leichten und

amüsanten Groschenheften anlockt, ist die intellektuelle Prosa von diesem Regenbogen der Gefühle weit entfernt.

Das Nichtverhältnis zum Staat Der russische Schriftsteller Sachar Prilepin, einer der meistgelesenen Autoren, sieht die russische Literatur der 2000er von apokalyptischen Vorahnungen gezeichnet. Charakteristisch sei „die Rückkehr zum sozialen und kritischen Realismus, wobei sie gleichzeitig das Gefühl vom Ende der Nation verspürt und alle Kri-

Eine Million Mal verkauften sich die Erzählungen aus dem Leben Geistlicher von dem Archimandriten Tichon. terien für Moral und gesunden Menschenverstand verblassen lässt“, so Prilepin. Im vorrevolutionären Russland fragte die Literatur stets danach, wie man in der Gesellschaft Humanität säen könnte, welcher politische Kurs optimal sei und wie man das Land auf diesen Kurs bringen könnte. Die Regierung hörte damals auf die Schriftsteller und richtete ihre Reaktion nach dem Flügelschlag der neuen Zeit. Heute ist die Beziehung zwischen Literatur und Staatsmacht zugleich schwierig und einfach: Prilepin, ein Mitglied der verbotenen Nationalbolschewistischen Partei und

Autor des Buchs „Sankya“, einem der radikalsten und meistdiskutierten Romane der 2000er-Jahre, ist überzeugt, dass Schriftsteller und Staatsmacht „getrennt voneinander leben“. Man könne alles schreiben, was man will, da einem sowieso niemand zuhört. Ein Schriftsteller müsse sich deshalb auf die politische Bühne wagen, um seine Position besser vertreten zu können.

Postapokalypse und Heilige In den 2000er- und 2010er-Jahren entstand in der Massenliteratur der Trend, eigenständige Welten zu erschaffen und Romanserien in diesen anzusiedeln. Eines der bekanntesten Projekte ist das Metro-2033-Universum, das auf dem gleichnamigen postapokalyptischen Roman von Dmitri Gluchowski aufbaut. Das Projekt geht über die Grenzen Russlands hinaus: Es haben sich jeweils ein britischer, italienischer und kubanischer Autor mit ihren Werken daran beteiligt. Und völlig unerwartet entstand ein neuer Begriff: „Orthodoxe Bestseller“. Damit bezeichnen Kritiker den phänomenalen Erfolg des auf den ersten Blick anspruchslos wirkenden Erzählbands über das Leben russischer Geistlicher, der von dem Mönch Tichon verfasst wurde. Das Buch „Nicht heilige Heilige und andere Erzählungen“ wurde mehr als eine Million Mal verkauft, woraufhin sich sofort ein neuer Markt gebildet hat, der von Nachahmungen überflutet wurde.

ITAR-TASS

Die russischen Schriftsteller suchen nach Antworten auf die drängenden Fragen ihrer Zeit. Doch leider hört die Staatsmacht ihnen schon lange nicht mehr zu.

© JEWGJENIJ KOZIRJEW / RIA NOVOSTI

NEUE BESTSELLER – VON HEILIGEN UND APOKALYPTIKERN

Der Mönch Tichon schrieb den ersten „orthodoxen Bestseller“.

Die vier bedeutendsten russischen Schrifsteller des 21. Jahrhunderts

Michail Schischkin Der Schriftsteller und Journalist Michail Schischkin, der seit 1995 in der Schweiz lebt, wurde bereits mit allen bedeutenden russischen Literaturpreisen ausgezeichnet und kann durchaus als der renommierteste Schriftsteller des Landes gelten. Aufgrund seiner Leistung, die Traditionen der russischen Literatur zu bewahren, wird er von vielen als zeitgenössischer Klassiker angesehen. Er scheut nicht davor zurück, in seinen komplexen, polyfonen Werken mit scharfen politischen Äußerungen auf sich aufmerksam zu machen. Zuletzt weigerte er sich im Frühjahr 2013 aus Protest gegen die Politik des Kreml, Russland auf der New Yorker Buchmesse zu vertreten. Was seine Produktivität anbelangt, zählt Schischkin zu den eher bedachten Schreibern. Er veröffentlicht nur etwa alle fünf Jahre ein Buch. Zu seinen Hauptwerken zählen „Venushaar“ und „Briefsteller“.

Viktor Pelewin/ Vladimir Sorokin Für die größte Resonanz in der russischen Literatur der 1990er-Jahre sorgten Viktor Pelewin („Buddhas kleiner Finger“, „Das heilige Buch der Werwölfe“) und Vladimir Sorokin („Ljod. Das Eis“, „Der Zuckerkreml“), deren literarischer Ruhm auch noch in den 2000ern zu spüren ist. Pelewin, der zu den am meisten geschätzten russischen Denkern zählt, veröffentlicht jährlich (mit wenigen Ausnahmen) ein Buch, in dem er die russische Gesellschaft beschreibt und mittels überspitzter Darstellungen zeigt, was sie bewegt. Sorokin, der sich von keinem ästhetischen Rahmen einschränken lässt, wagt hingegen einen mutigen Blick in die Zukunft der Gesellschaft und greift dabei ihre heikelsten Probleme auf.

Ljudmila Ulizkaja Ljudmila Ulizkaja begann ihre Karriere als Schriftstellerin sehr spät – ihr erstes Buch veröffentlichte sie erst im Alter von 50 Jahren. Ihre Bücher appellieren an die Menschlichkeit und greifen persönliche, aber auch gesellschaftliche und ethische Probleme auf. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Ulizkaja von vielen nicht nur als geniale Autorin angesehen wird, sondern in gewisser Weise auch als Moralapostel. Ihre Hauptwerke sind „Sonetschka“, „Medea und ihre Kinder“ und „Daniel Stein“. 2012 erschien „Das grüne Zelt“ in deutscher Sprache.

ZAHLEN

85 Prozent aller elektronischen Bücher auf dem russischen Markt sind Raubkopien.

760 Millionen Exemplare betrug im Jahr 2012 die Gesamtauflage sämtlicher in Russland gedruckten Bücher.

120 Tausend Bücher und Broschüren sind 2012 in Russland erschienen.


Thema des Monats

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PRESSEBILD

Russland auf der Frankfurter Buchmesse

Der Russlandstand auf der 65. Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr vom 9. bis 13. Oktober stattfindet, wird von der Föderalen Agentur für Pressewesen und Massenkommunikation und der Generaldirektion Internationaler Bücherausstellungen und Messen betreut. Diverse Sonderausstellungen stellen Werke von Preisträgern der jährlich verliehenen russischen Literaturpreise („Buch des Jahres“, „Großes Buch“, „Russischer Booker“, „Nationaler Bestseller“) vor und präsentieren die neuesten Arbeiten zeitgenössischer Autoren aus Belletristik und Sachbuch. Die wichtigsten Ereignisse am Eröffnungstag der Messe, dem 9. Oktober, sind die Vorstellung des Literaturprei-

INTERVIEW THOMAS WIEDLING

Vom Wunsch, in andere Welten einzutauchen Der Mitbegründer der Literaturagentur Nibbe & Wiedling darüber, warum zu enge Genregrenzen deutscher Verlage dafür verantwortlich sind, dass viele Bücher nicht übersetzt werden. Wo steht die russische Literatur im Jahr 2013? Die Rolle, die die Literatur für die Gesellschaft spielt, hat sich in Russland über die letzten zehn bis 15 Jahre an Westeuropa angenähert. In Deutschland etwa ist die Erkenntnis, dass man mit politischer Literatur die Welt nicht wirklich verändern wird, nicht neu und aus leidvoller Erfahrung entstanden. In Russland war die Literatur lange eine gesellschaftliche Instanz, die gefragt wurde: „Was tun? Wer ist schuld?“ Heute ist die Situation ähnlich wie bei uns: Ein offener Brief deutscher Autoren zur NSA-Affäre wird genauso viel Resonanz auslösen wie ein Empfang russischer Autoren bei Putin, der sich ihre Äußerungen anhört und dann wieder nach Hause geht. Die Anerkennung eines Autors läuft heute wie überall über literarische Qualität oder Medienhype, nicht aufgrund seiner politischen Meinung. Welche interessanten literarischen Entwicklungen sehen Sie? Ich beobachte mit Interesse die Autoren, die fantastische Elemente in „realistische“ Literatur ein-

weben und verarbeiten wie Slawnikowa oder Dubovitsky, genauso wie die Geschichten, die reale Ereignisse mit den Mitteln der Fiktion ausfüllen wie bei Matveeva. Dieser „Mix“ ist in der osteuropäischen Literatur sehr beliebt und zu einer gewissen Meisterschaft entwickelt. Deutsche Verlage tun sich bedauerlicherweise schwer damit, weil die Genres strenger abgegrenzt sind. Dies beginnt schon beim Lektorat: Da ist die Abteilung Fantasy, da ist SF, da ist Gegenwartsliteratur. Das sollte man aufbrechen, weil den deutschen Lesern sonst eine besonders reizvolle Art von Literaturerlebnis vorenthalten wird. Wie können sich russische Autoren heute im Ausland bemerkbar machen? Präsenz ist das Stichwort. Aus der Entfernung sind Autoren heute für den Menschen, ob Journalist oder Leser, nicht greifbar. Da hilft es, wenn es Aktionen wie die der Frankfurter Buchmesse gibt, die ähnlich wie die Petersburger Messe oder das Goethe-Institut Autoren einlädt und Rundreisen veranstaltet. Je mehr die Autoren durch Veröffentlichungen dann im Westen präsent sind, desto mehr werden sich auch Medien, Pressestellen und Institutionen um sie kümmern – und diese übernehmen dann auch mit steigendem öffentlichen Interesse Schritt für Schritt die Einladungen.

Halten Sie die erwähnte „Renaissance des Fantastischen“ jenseits der „Wächter“- und „Metro“Geschichten für exportierbar? Soweit ich das beobachten konnte, war die Fantastik in Russland schon immer besonders stark, und Sie haben mit Strugatzki, Belyaev und Jefremow ja einige Namen unter den Begründern der modernen Fantastik. Bis 2010 sind Bücher russischer Autoren zur Stalker-Computerspielserie auch hier in Deutschland erschienen. Der Blick dieser Fantastik ist vorrangig der auf postapokalyptische Gesellschaften. Das stimmt. Ich weiß allerdings nicht, ob das als Spiegel der russischen Gesellschaft verstanden werden sollte, weil es auch hierzulande als Genre erfolgreich ist. Den Wunsch, in andere Welten zu gehen, gab es immer schon, sei es durch die Fantasy oder ScienceFiction. Die in den letzten Jahren immer greifbarere Darstellbarkeit solcher Welten im Film hat die Beschäftigung mit dem Genre bestimmt noch verstärkt. Das Interview führte Balthasar von Weymarn.

ses „READ RUSSIA“ für die beste Übersetzung russischer Literatur in andere Sprachen und eine Informationsveranstaltung für ausländische Verleger „Wie komme ich an finanzielle Förderung? Das Förderprogramm des Instituts für Übersetzung“. Das 2011 gegründete Institut ist eine NonProfit-Organisation und fördert die literarische Übersetzung in „Theorie und Praxis“. Am 11. Oktober werden das internationale Medienprojekt Russia Beyond the Headlines (zu dem Russland HEUTE gehört) der Rossijskaja Gaseta und das Sonderheft über russische Literatur „Russland erLESEN“ vorgestellt. Am Samstag organisiert Russland HEUTE einen runden Tisch zu zeitgenössischer russischer Literatur.


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Gesellschaft

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IM GESPRÄCH

Kinder des Krieges erinnern anders

Gunter Demnig in Orjol

Seit diesem Sommer ist Russland um einen deutschen Export reicher, diesmal aus dem Bereich der Erinnerungskultur: In der Stadt Orjol und der nahe gelegenen Ortschaft Kromy verlegte der Erfinder der „Stolpersteine“, Gunter Demnig, Ende Juli die ersten vier Gedenksteine in Russland, um an zivile Opfer des Zweiten Weltkriegs zu erinnern. Russland HEUTE sprach mit Peter Wetzel, dem Initiator des Projekts. Herr Wetzel, Sie sind Pädagoge und leiten den Fachbereich Seniorenbildung bei der Bildungsver-

einigung Sachsen-Anhalt. Was hat Sie nach Orjol geführt? Seit 16 Jahren kooperieren wir in der Erwachsenenbildung in Städten wie Kursk, Jaroslawl, Nowosibirsk und eben Orjol mit der russischen Organisation „Snanije“. Die Organisation entspricht in etwa den Volkshochschulen in Deutschland und ist neben den Veteranenräten eine der wenigen Vereinigungen, in denen sich auch ältere Menschen zusammenschließen können. In unseren gemeinsamen Projekten wurde bald auf beiden Seiten großes Interesse an der Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit signalisiert. Das hat damit zu tun, dass viele unserer Projektteilnehmer „Kinder des Krieges“ waren und sind.

Biografien zerstören kann. Bei einem dieser Besuche „stolperten“ die Russen über Gedenksteine in Merseburg und Magdeburg. Und fragten: „Könnte man so etwas nicht auch in Orjol machen?“

Nur dass auf der einen Seite Kinder der Sieger und auf der anderen Kinder der Angreifer und Kriegsverlierer standen ... Das spielt für die Teilnehmer unserer Projekte kaum noch eine Rolle. Seit fünf Jahren läuft in der Region von Orjol das Projekt „Kriegskinder“, gefördert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Wir holen russische Zeitzeugen an deutsche Schulen, deutsche Zeitzeugen gehen in russische Organisationen, und sie erzählen, wie ein Krieg eben nicht nur Städte, sondern ganze

Orjol gehört zu den Gebieten, die noch immer sehr kommunistisch geprägt sind. Wie hat die lokale Verwaltung reagiert? Der Bürgermeister von Orjol hat uns lange zugehört, hat sich Beispiele angeschaut, wie solche Stolpersteine in Deutschland aussehen, und am Ende legte er das Projekt dem Stadtrat vor. Der hat zugestimmt. Für das Gelingen unseres Projekts gibt es wohl zwei Hauptgründe: Wir sind schon seit langer Zeit in Orjol aktiv und haben Partner, die uns Vertrauen schenken. Zum anderen haben wir es unse-

Aber wie geht das mit der russischen, sehr patriotisch geprägten Erinnerungskultur zusammen? In Russland ist die Erinnerung an den Krieg, zumindest auf offizieller Ebene, tatsächlich sehr stark vom Heldengedenken geprägt. In vielen Städten stehen Denkmäler für Generäle oder einzelne militärische Einheiten. Die Zivilbevölkerung kommt bisher wenig vor. Aber dass unsere Partner diesen Wunsch geäußert haben, zeigt ja, dass es Bedarf gibt.

PETER WETZEL (4)

Export deutscher Erinnerungskultur: Ein „Stolperstein“ im Städtchen Kromy erinnert an die 1942 ermordete Agafja Kurenzowa.

ren Partnern von „Snanije“ überlassen, die Menschen auszuwählen, derer wir mit den Stolpersteinen gedenken werden. Und welche Menschen hat „Snanije“ ausgewählt? Zwei Steine sind jüdischen Kindern gewidmet, die von einer russischen Familie aufgenommen wurden, nachdem ihre Eltern vom NKWD verhaftet worden waren. Als die Deutschen kamen, wurden sie denunziert und ins Gefängnis verschleppt. Sie starben in einem der berüchtigten Gaswagen zur Ermordung von jüdischen Bewohnern der besetzten Gebiete. Der dritte Stein ist einer jüdischen Kinderärztin gewidmet, die von den Deutschen ermordet wurde. Der vierte Stein erinnert an eine russische Ärztin, die in einem Lazarett arbeitete und heimlich den örtlichen Partisanen half. Als das aufflog, wurde sie von den Deutschen erschossen. Waren die örtlichen Veteranenverbände und Organisationen zufrieden mit dieser Auswahl? Die fanden es ungewöhnlich, dass wir an Kinder und Frauen erinnern wollen – und nicht an Helden. Aber wir haben sie daran erinnert, dass von den 28 Millionen Toten der Sowjetunion zwei Drittel der Zivilbevölkerung angehörten. Und

dass es ja schließlich für die Helden schon genug Denkmale gibt. Am Ende war das Feedback positiv, besonders in den örtlichen Medien. Man verspürte auch einen gewissen Stolz, dass Orjol jetzt im „Teppich der Stolpersteine“ ein Teil von Europa ist. Einige der mehr als 40 000 Gedenksteine wurden ja auch in Italien, Ungarn, in der Ukraine, Norwegen und anderen Ländern verlegt. Gibt es noch weitere Pläne zur Verlegung von Stolpersteinen in Russland? Wir ermutigen alle deutschen Organisationen, die Partner in Russland haben, solche gemeinsamen Projekte vorzuschlagen. Wir selbst planen, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 2015 fünf weitere Steine in Orjol zu verlegen. Mit Blick auf den Partner symbolisch für jedes Jahr der deutschen Besetzung der Sowjetunion einen Stolperstein. Allerdings ist viel Fingerspitzengefühl erforderlich: Man sollte die Steine zum Beispiel nicht am 9. Mai, dem offiziellen „Tag des Sieges“, einweihen. In Orjol beispielsweise haben wir die Stolpersteine eine Woche vor dem 70. Jahrestag der Befreiung der Stadt verlegt. Mit ein wenig Distanz kann man da Konflikte vermeiden. Das Interview führte Moritz Gathmann


Meinung

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möglichst viele ehemalige Sowjetstaaten zu integrieren, spürbar geringer geworden. Eine Integration unter allen Umständen ist gegenüber pragmatischen Berechnungen in den Hintergrund getreten.

AUSSENPOLITIK NACH DER METHODE TRY AND ERROR

Allianzen nicht um jeden Preis Selbst die russisch-ukrainischen Beziehungen haben im Moment kein eindeutiges Ziel. Niemand bezweifelt zwar, dass eine Einbeziehung der Ukraine in die Zollunion wichtig ist. Es besteht aber die Gefahr, dass Kiew, in welcher Konstellation auch immer, eine Obstruktionspolitik verfolgen wird, um jede Kleinigkeit verbissen verhandeln und damit das gemeinsame Projekt handlungsunfähig machen wird. Das Engagement für die Sicherheit der Länder Zentralasiens und umso mehr die Einbindung dieser Länder in eine Allianz mit Russland werden keinesfalls um jeden Preis stattfinden. Die Höhe des Preises wird zu klären sein.

Fjodor Lukjanow POLITOLOGE

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oskaus demonstrative Handelseinschränkungen gegenüber der Ukraine haben gezeigt, dass der Kreml im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion weiterhin zu einer unnachgiebigen Politik entschlossen ist. Je näher das Gipfeltreffen „Östliche Partnerschaft“ im November in Vilnius rückt, auf dem die ukrainische und die armenische Regierung Verträge über eine engere institutionelle Anbindung ihrer Länder an die Europäische Union unterzeichnen sollen, desto klarer gibt Russland zu verstehen, dass der Schritt für die Beziehung Moskaus zu diesen Ländern nicht ohne Folgen bleibt.

Trial-and-Error-Strategie NIJAZ KARIM

Potenzielle Bündnispartner Im Unterschied zu den Europäern, die Armenien und die Ukraine immer betont vor die Entscheidung für die Integration in die EU oder für eine strategische Partnerschaft mit Russland gestellt haben, forderte die russische Regierung eine solche Entscheidung nicht und hob stattdessen immer wieder die Fruchtbarkeit von Projekten in beide Richtungen hervor. Dennoch sieht man momentan einem erneuten Nullsummenspiel entgegen, bei dem der Verlust des einen der Gewinn des anderen ist. Paradox ist der Umstand, dass der postsowjetische Raum aus Sicht der wichtigsten

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Teilnehmer des Spiels schon lange an Bedeutung verloren hat.

Ukraine und Georgien verlieren an Bedeutung Die USA fassen ihre politischen Ziele enger. Das Streben nach einer universalen Führungsrolle und allgegenwärtiger Präsenz dürfte der Vergangenheit angehören. Es gilt, Schwerpunkte zu setzen, und es ist unwahrscheinlich, dass die Ukraine und Georgien für Washington die Bedeutung zurückerlangen, die sie noch vor fünf bis sieben Jahren hatten. Das Interesse an Zentralasien ist

auch nicht unerschöpflich, insbesondere nicht nach dem Abzug der NATO aus Afghanistan. Die EU plant keine neuen Erweiterungsrunden und wird auch nicht nennenswert in die Anbindung ihrer östlichen Nachbarn investieren. Russland schließlich ist der interessanteste Fall. Offiziell gilt in Moskau die Festigung der Freihandelszone und auf ihrer Basis die Gründung der sogenannten Eurasischen Union als Priorität. Alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind eingeladen, sich an diesen Projekten zu beteiligen.

Gegenüber der Ukraine lässt man deutlich werden, was sie im Falle der Unterzeichnung einer Vereinbarung über eine erweiterte Freihandelszone mit der EU riskiert. Armenien warnt man, dass auch die engen Beziehungen zur Diskussion stehen, sollte es das EUAssoziierungsabkommen unterzeichnen. Moldawien gegenüber bedeutet man, noch bestünde die Möglichkeit, Russland für gemeinsame Projekte zu gewinnen. Moskau jedoch weiß selbst nicht genau, welchen außenpolitischen Kurs es verfolgen soll. In den letzten fünf Jahren ist das Interesse,

Russland befindet sich in allen Aspekten seiner Politik in einer Übergangsphase. Die postsowjetische Ära ist zu Ende. Welche Konturen die neue Ordnung annehmen wird, ist noch unklar. Der Weg dorthin gestaltet sich nach der „Trial-and-Error“-Methode. Gegenüber seinen Nachbarstaaten übt sich Moskau vorerst in abwartender Zurückhaltung. Solange die eigene Strategie noch nicht klar ist, scheint es geboten, die Beziehungen unbestimmt und in einem Status der Vorläufigkeit zu belassen. Wenn Moskau allerdings noch lange überlegt, werden die Gesetze der Natur die Lücke auch ohne Russland füllen. Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur des Magazins Russia in Global Affairs.

GOTT, MACHIAVELLI UND ASSAD Der Ulenspiegel AUGENZEUGE

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ie Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, sollte der Mensch ursprünglich gar nicht besitzen. Gott hatte offenbar andere Pläne mit seinen Kreaturen und verbot ihnen, vom Baum der Erkenntnis zu naschen. Bekanntlich hörten diese jedoch nicht auf ihn. Besonders weit gekommen sind wir dennoch nicht mit unseren Fähigkeiten zur Unterscheidung der Geister. Die gängige Methode, herauszufinden, ob jemand gut oder böse ist, ist heutzutage der sogenannte Zirkelschluss. Wie der funktioniert, macht die Moskauer Journalistin Mascha Gessen in einem Kommentar zu Syrien in der amerikanischen International Herald

Tribune deutlich: Putins SyrienPlan ist schlecht, weil er von Putin kommt. Und der ist böse, also ist auch sein Plan böse. Putin ist böse, weil er den guten Litwinenko hat umbringen lassen. Litwinenko war gut, weil er gegen den bösen Putin war. Assad ist böse, weil er ein Freund des bösen Putin ist. Und die syrische Opposition ist gut, weil sie gegen den bösen Assad ist. Und die Autorin ist ganz besonders gut, denn sie ist für alles Gute und gegen alles Böse. Man bewertet etwas dadurch, dass man es mit sich selbst vergleicht. A ist böse, denn es ist das böse A. Oder man vergleicht mit etwas anderem, das man bereits bewertet hat. A ist wie B, und B ist böse. Oder: A ist anders als B, und B ist gut. Also ist A böse. Und B ist gut, weil es C mag, das ebenfalls gut ist. C ist nämlich gegen das böse

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de

Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redaktion dar.

A. Und so weiter. Auf diese Weise kommt man bequem um eine inhaltliche Beurteilung einzelner Sachfragen herum. Warum sich herumschlagen mit komplizierten Fragen über die Erfolgsaus-

Man muss Putin nicht mögen, aber er scheint derzeit der Einzige zu sein, auf den die syrische Führung hört. sichten einer Waffeninspektion oder einer Analyse der verschiedenen Rebellengruppen in Syrien? Wer hat wann wen warum bedroht oder niedergemetzelt? Langweiliger Faktenkram! Einfach den Zirkelschluss anwenden – fertig ist der meinungsstarke Appell.

Das Spiel lässt sich beliebig weit treiben. Obama ist gut, weil er die gute syrische Opposition beschützen will. Putin ist gut, weil er dem guten Obama dabei helfen will. Halt, nein, der Putin ist ja böse! Aber dann wäre ja auch Obama böse, wenn er mit dem bösen Putin zusammenarbeitet und dessen böse Pläne akzeptiert ... Tja, das ist die Schwäche dieser Methode. Im echten Leben ist eben nicht alles so schwarz und weiß wie in den Texten derer, die immer auf der richtigen Seite stehen. Da ist viel Grau, und damit muss man leben. Man muss Putin nicht mögen, aber er scheint derzeit der Einzige zu sein, auf den die syrische Führung hört. Man muss Assad erst recht nicht mögen, aber es stellt sich die Frage, was nach ihm kommen soll. Man mag tiefstes Miss-

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-Mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow, Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Commercial Director: Julia Golikova, Anzeigen: sales@rbth.ru Artdirector: Andrej Schimarskiy Produktionsleitung: Milla Domogatskaja, Layout: Maria Oschepkowa

trauen gegen das Regime in Teheran hegen, das bekanntlich Syrien stützt. Ich persönlich hege durchaus Misstrauen gegen ein Land, dessen Politiker sich oft und gern damit brüsten, dass sie Israel von der Landkarte tilgen wollen. Aber weder mit starken Worten noch mit wildem Umsichschießen lässt sich dieses Problem lösen. Es nützt nichts, mithilfe des Zirkelschlusses zu beweisen, dass A, B oder C böse sind. Mit Realitäten muss realistisch umgegangen werden. Das ist Realpolitik, sagen Sie? Und die ist böse? Weil sie von Typen wie Machiavelli, Bismarck oder Churchill kommt? Und die sind böse, weil ... Gott hat schon gewusst, warum er uns nicht von der verbotenen Frucht kosten lassen wollte!

Leiter Bildredaktion: Andrej Sajzew, Bildredaktion: Nikolaj Koroljow Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Karelsky, zu erreichen über MBMS, Hauptstraße 41A, 82327 Tutzing Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2013. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko, Geschäftsführer: Pawel Negojza, Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


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Sport

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Homophobie Seit 2011 organisieren sich homosexuelle Sportler in Russland in einem eigenen Verband

Kein Coming-out im Profisport trativ verhältst, in der Öffentlichkeit deinen Partner küsst und überall herumerzählst, dass du schwul oder lesbisch bist, kann es natürlich sein, dass sich das Verhältnis des Teams zu dir verändert. Aber soweit ich mich erinnern kann, ist so etwas bei uns im Land noch nicht vorgekommen“, erzählt die ehemalige Profisportlerin, die lieber anonym bleiben wollte.

Fans würden homosexuelle Sportler boykottieren

REUTERS

Der Kuss: Tatjana Firowa und Xenia Ryschowa bei der Siegerehrung der 4 x 400-m-Staffel auf der Leichtathletik-WM in Moskau. Deutungen westlicher Medien, es habe sich um einen Protest gegen das neue Homosexuellengesetz gehandelt, widersprachen die Russinnen später.

2011 wurde in Russland die Föderation des Lesben- und Schwulensports gegründet. Profisportler verschweigen hingegen ihre Homosexualität. Verbandssprecher erklären, warum. ANDREJ SCHITICHIN MOSKOWSKIJE NOWOSTI

Integration statt Segregation PRESSEBILD

KOMMERSANT

Im russischen Profisport gibt es nach Meinung von Experten in etwa genauso viele Lesben und Schwule wie im restlichen Europa. Allerdings hat sich in Russland noch nie einer dieser Sportler zu seiner Homosexualität bekannt. Angesichts der drohenden Gefahr eines Boykotts der Olympischen Spiele 2014 erwies sich, dass der russische Sport nicht zu Diskussionen über die Rechte von lesbischen und schwulen Sportlern in Sotschi bereit ist. Dennoch gibt es – wie in jeder anderen sozialen Gruppe – unter den Sportlern auch Vertreter sexueller Minderheiten. In Russland offiziell registriert ist seit 2011 die Föderation des LGBTSports (LGBT steht für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle, Anm. d. Red.). Sie organisiert Großveranstaltungen, Sportwettkämpfe und entsendet Nationalmannschaften zu den Gay Games. „Im Profisport überwiegen bei den Spiel- und Kampfsportarten die Lesben, in den künstlerischen Sportarten (Formationstanz, Eiskunstlauf) gibt es mehr Schwule als in anderen Sportarten“, erklärt der 30-jährige Konstantin Jablozkij, Präsident des Verbands. Der Chemielehrer gewann 2010 bei den Gay Games in Köln die Goldmedaille im Eiskunstlauf – was dem russischen Staatsfernsehen sogar einen Bericht wert war. „Unsere Organisation weiß

Die Sportpsychologin Galina Sawjalowa hat einen weiteren Grund dafür gefunden, dass sich homosexuelle Sportler mit ihrem Coming-out zurückhalten: Sie befürchten eine negative Reaktion der Fans. Der Präsident der russischen Fanvereinigung, Alexander Schprygin, ist sich sicher, dass sich die Anhänger bei einem möglichen Outing ihres geliebten Sportlers äußerst kritisch verhalten würden. „Die Fangemeinschaft akzeptiert das nicht und würde so etwas auch nie verstehen können“, sagt Schprygin. „Unter den politischen Bedingungen in Russland wird es bei den Spitzensportlern niemals zu einem Coming-out kommen, weil das sofort das Ende ihrer Karriere nach sich ziehen würde.“ Das führte dazu, dass die Mehrheit der lesbischen und schwulen Sportler nicht an den Olympischen Spielen, sondern an den Internationalen Spielen der Schwulen und Lesben, den Gay Games, teilnimmt. Und das ist nicht etwa nur in Russland so. Im Westen hat man sich für diese Sportler gesonderte Wettkämpfe ausgedacht, obwohl es dafür keinerlei physiologische Gründe gibt.

Konstantin Jablozkij (links) und der Präsident der Fanvereinigung Alexander Schprygin (rechts)

von drei homosexuellen Spitzensportlern bei Olympia 2014, aber sie behalten das lieber für sich“, so Jablozkij. „Die Spitzensportler ziehen es vor, ihre sexuelle Orientierung zu verschweigen, weil sie Probleme in den Beziehungen zu ihren Mannschaftskollegen befürchten. Solche Sportler haben sich kein einziges Mal an mich gewandt und um Rat gebeten“, berichtet der stellvertretende Leiter des Lehrstuhls für Psychologie der Russischen Staatlichen Universität für Körperkultur, Sport und Tourismus, Albert Rodionow.

Sexuelle Orientierung spielt im Wettkampf keine Rolle Eine Sportlerin, ehemals Mitglied der russischen Nationalmannschaft in einer Ausdauersportart, die seinerzeit die Gründung der Föderation des Lesben- und Schwulensports unterstützt hat, erklärte sich anfangs bereit, ihren Namen veröffentlichen zu lassen, bat dann aber im letzten Moment per SMS darum, dies doch nicht zu tun.

Der LGBT-Sportverband Russlands Die russische Föderation des LGBTSports existiert seit 2011 und hat heute in 46 Regionen 850 Mitglieder. Inspiriert wurde ihr Begründer, der 51-jährige Jurist Wiktor Romanow, durch seine Teilnahme an den Gay Games 2010 in Deutschland. Seit 2011 organisierte der Verband 20 Turniere.

Homophobie, Genderbeschränkungen und Vorurteile sind im Sport sehr stark ausgeprägt. Das Coming-out eines Sportlers in Russland würde das sofortige Ende seiner Karriere bedeuten.

Wie im September bekannt wurde, plant der LGBT-Sportverband nach den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi die ersten Gay Games in der russischen Hauptstadt. Ein entsprechender Antrag wurde der städtischen Sportbehörde übergeben, wie Romanow mitteilte.

„Niemand von uns Profisportlern wird laut kundtun, dass er zu einer sexuellen Minderheit gehört. Im Trainingslager und bei Wettkämpfen steht keinem der Sinn danach, über zwischenmenschliche Beziehungen nachzudenken. Man konzentriert sich ganz auf den Wettkampf, am Verhalten lässt sich nicht erkennen, ob du lesbisch bist oder nicht. Auch auf die Beziehungen in der Mannschaft und zu den Sportfunktionären hat das keine Auswirkungen, selbst wenn jemand diesbezüglich etwas ahnen sollte. Wenn du dich allerdings demons-

„Eine solche Aufsplitterung in Wettkämpfe für lesbische und schwule Sportler einerseits und alle anderen ist ein Unding. Schließlich hat die sexuelle Orientierung eines Sportlers aber auch gar nichts mit seinen sportlichen Leistungen zu tun“, sagt Galina Sawjalowa. Konstantin Jablozkij betont, dass eine solche Trennung das Hauptproblem der heutigen Gesellschaft ist. „Statt der Segregation sollte es Integration geben. Dass überhaupt eine Trennung der Wettkämpfe für homosexuelle und andere Sportler stattfindet, hat damit zu tun, dass im Sport Homophobie, Genderbeschränkungen und Vorurteile stark ausgeprägt sind. So gibt es zum Beispiel beim Synchronschwimmen keine Wettkämpfe für Männer – weder in der Solo- noch in der Duett- und Gruppendisziplin. Auch im Formationstanz dürfen keine gleichgeschlechtlichen Paare antreten“, kritisiert Jablozkij. Medienwirksame Coming-outs darf man schon aus rein fi nanziellen Gründen nicht erwarten: Die russischen Teilnehmer an den Olympischen Spielen erhalten zum Teil sehr hohe Prämien. Sie werden vom Sportministerium ebenso wie von ihren Heimatregionen gefördert.


Sport

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Fußball Den russischen Profiklubs machen die neuen Finanzrichtlinien der UEFA zu schaffen

Premjer-Liga auf dem Weg der finanziellen Besserung Russische Fußballvereine verdienen wenig Geld, generieren aber hohe Ausgaben. Nach den Regeln des Financial Fairplay muss sich das ändern – sonst drohen Sanktionen. TIMUR GANEJEW FÜR RUSSLAND HEUTE

Der Generalsekretär und Präsident der UEFA arbeiten mit der Premjer-Liga eng zusammen.

waren jedoch deutlich höher. Allein für die Transfers des Brasilianers Hulk und des Belgiers Axel Witsel zahlte der Verein 95 Millionen Euro.

Anschi Machatschkala verkaufte in diesem Sommer Topspieler für insgesamt 134 Millionen Euro.

Jenseits der Topvereine ist die Situation angespannt

Nach den Prinzipien des Financial Fairplay sollen Klubs nicht mehr ausgeben, als sie verdienen. Es gibt jedoch Ausnahmen. So ist es dem Eigentümer des Vereins gestattet, Verluste von bis zu 45 Millionen Euro aus seinem Privatvermögen zu decken, allerdings nur in den ersten Jahren. Danach verringert sich die von einem Besitzer investierbare Summe auf 30 Millionen Euro. Zum Ende des Jahrzehnts sollen diese Klubs kostendeckend wirtschaften. Zenit, der Klub der Fünf-Millionen-Metropole St. Petersburg, erzielte 2012 Einnahmen in Höhe von 81 Millionen Euro. Diese Summe lässt sich im russischen Vergleich sehen. Die Ausgaben

„Seit 2012 gelten die Regeln des Financial Fairplay für russische Klubs in vollem Umfang“, sagt der Geschäftsführer von Zenit, Dmitri Mankin. „Jeder weiß, dass für Zenit das Kriterium einer positiven Bilanz ein Problem ist. Wir sind sehr beunruhigt angesichts dieser Situation, schließlich ist der wirtschaftliche Erfolg der russischen Fußballliga infolge einiger nicht kontrollierbarer äußerer Faktoren deutlich geringer als bei den führenden Ländern des europäischen Fußballs.“ Zu den ungünstigen Rahmenbedingungen zählten die niedrigeren Einkommen der Bevölkerung, der Zustand der Sportinfrastruktur, das Ausmaß der Merchandi-

ZAHLEN

Top-10-Ausgaben 2013/14

20 Millionen Euro im Jahr hat der Kameruner Samuel Eto’o bei Anschi Machatschkala verdient.

50 Millionen Euro kostete der Brasilianer Hulk, der 2012 von Porto zu Zenit St. Petersburg wechselte.

Verein

Immerhin gab es bei der Vermarktung der Übertragungsrechte Fortschritte. Sie sind aber so unbedeutend, dass sie angesichts der strengen UEFA-Vorgaben kaum ins Gewicht fallen. Die einzigen Möglichkeiten, Sanktionen seitens der UEFA zu vermeiden, sind eine kluge Transferpolitik oder erfolgreiche Nachwuchsarbeit – Investitionen im Jugendbereich werden nicht als Ausgaben gezählt. Der russische Meister ZSKA Moskau hat sich für die erste Variante entschieden: Hier wickelt man

sing-Piraterie und einige gesetzliche Einschränkungen. Zenit steht weitaus besser da als die meisten anderen Klubs: Der Verein hat hohe Einnahmen durch Merchandising (allein in St. Petersburg 13 Klubgeschäfte), volle Stadien (die Ticketpreise liegen bei Ligaspielen zwischen 15 und 40 Euro), ist international erfolgreich und hat mit Gazprom einen finanzstarken Sponsor.

Bescheidener sieht die Situation der Vereine in der unteren Tabellenhälfte aus, die von staatlicher Finanzierung abhängen und mit dem Verkauf von Fanartikeln im Durchschnitt nur 30 000 Euro im Jahr verdienen. Auch die Einnahmen der russischen Klubs aus Übertragungsrechten sind geringer: Sie liegen zwischen drei und fünf Millionen Euro pro Saison, während in England selbst Klubs, die aus der Premier League abgestiegen sind, 40 Millionen Euro an den Rechten verdienen. In Italien sind es 16 Millionen, in Spanien zwölf und in Deutschland sieben Millionen Euro.

Es überrascht heute niemanden mehr, wenn Topspieler wie Hulk nicht nach England, sondern nach Russland wechseln. bereits seit sechs Spielzeiten sehr erfolgreiche Transfers ab und bleibt nach Abschluss praktisch jeder Transferperiode im Plus. Diesen Sommer kaufte der Verein drei vielversprechende Spieler: den Bulgaren Georgi Milanov (3,6 Millionen Euro), den Schweizer Steven Zuber (3,6 Millionen) und den Brasilianer Vitinho (zehn

„Die Leitung der Russischen Premjer-Liga erarbeitet mit den Vereinen und der UEFA zurzeit ein Konzept, das den russischen Fußball an die Fairplay-Kriterien heranführen soll“, erklärt der Vizepräsident der Liga, Sergej Tscheban. „Viele Fußballklubs kürzen bereits ihre Ausgaben. Wir werden in Europa spielen und die Regeln der UEFA einhalten, daher sind wir an einem optimalen Modell interessiert, das den Besonderheiten unseres Landes gerecht wird.“ Das bedeutet laut Tscheban auch, dass russische Klubs unter den neuen Bedingungen bei den Einkäufen nicht mehr mit Vereinen wie Real Madrid mithalten können. „Real Madrid kann Transfergeschäfte in dreistelliger Millionenhöhe abschließen. Der Verein gehört zu den beliebtesten Klubs der Welt mit einer beispiellosen Zahl an Fans“, so Tscheban. „Madrid hat ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell. Seine Transfersumme spielte Cristiano Ronaldo innerhalb von drei Jahren wieder ein.“ Die aktuellen Entwicklungen lassen Tscheban positiv in die Zukunft blicken: „Die ‚Galaktischen‘ liegen für unsere Klubs wirklich Lichtjahre entfernt. Nach den schweren 1990er-Jahren und einem nicht einfachen Start in das neue Jahrtausend erzielt unser Fußball erstmals nennenswerte Einnahmen und gewinnt an Reputation. Hatten wir früher nur Chancen auf zweitklassige Spieler, überrascht es heute niemanden mehr, wenn Hulk, wichtigster Stürmer von Brasiliens Nationalmannschaft, zu uns statt nach England wechselt. Wenn wir unseren Kurs halten, können wir in fünf bis sechs Jahren auf Augenhöhe mit den führenden Ligen der Welt spielen, auch finanziell.“

Top-10-Einnahmen 2013/14 Ausgaben

Verein

Einnahmen

Real Madrid

172 500 000 €

Anschi Machatschkala

133 850 000 €

Monaco

166 200 000 €

Tottenham

127 020 000 €

Tottenham

121 875 000 €

Real Madrid

114 500 000 €

Man City

116 000 000 €

AS Rom

104 900 000 €

Paris

110 900 000 €

FC Sevilla

90 400 000 €

SSC Neapel

86 920 000 €

Atlético Madrid

78 000 000 €

Chelsea

75 350 000 €

FC Porto

74 600 000 €

FC Barcelona

70 000 000 €

Dynamo Moskau

67 900 000 €

Shakhtar Donetsk

67 000 000 €

QUELLE: TRANSFERMARKT.DE

Ausgaben sollen Einnahmen nicht übersteigen

Auf Augenhöhe mit Topligen?

AP

Die Sommertransfers im Fußball sind abgeschlossen, und das internationale Fußballpublikum konnte eine Menge beeindruckender Wechsel verfolgen, darunter den wahrscheinlich teuersten in der Geschichte des Fußballs: Für eine Ablösesumme von 100 Millionen Euro trägt der Waliser Gareth Bale fortan das Trikot von Real Madrid. Auch die Moskauer Klubs ließen den Rubel rollen, um ihre Teams zu stärken. Dynamo ließ sich die Transfers 67,9 Millionen Euro kosten, Spartak gab 32 Millionen und Lokomotive 31 Millionen aus. Angesichts der Financial-FairplayRegelungen (FFP) der UEFA entbehrt das nicht einer gewissen Komik: Die Klubs geben nicht weniger Geld aus, die Gehälter der Fußballer steigen weiter und die Zahl der Transfers nimmt zu. Die Fußballklubs der englischen Premier League investierten in die Verstärkung ihrer Mannschaften während der Sommertransferperiode eine Rekordsumme von 745 Millionen Euro, was den Rekord von 2008 um 145 Millionen überstieg.

Millionen). Gleichzeitig konnte der Klub Vágner Love für zwölf Millionen Euro an den chinesischen Verein Shandong Luneng verkaufen und Pawel Mamajew, Sekou Oliseh und Tomáš Necid für eine Summe von insgesamt 3,5 Millionen Euro verleihen. Auf eigene Kräfte setzt das derzeit schillerndste Projekt des europäischen Fußballs Anschi Machatschkala. Der Klub entschloss sich zu einer radikalen Umkehr in der Vereinspolitik und trennte sich von teuren Stars wie Samuel Eto’o und Mbark Boussoufa. Damit erzielte Anschi im Sommer mit knapp 134 Millionen Euro weltweit die höchsten Einnahmen aus dem Verkauf von Spielern.

SSC Neapel

70 700 000 €

Santos

70 200 000 €

Shakhtar Donetsk

67 500 000 €


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Porträt

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

Revolutionär wie der erste Flug ins Weltall Kunden aus aller Welt begehren das geschmeidige Leder, das Achmed Schadijew aus Störund Forellenhäuten gerbt. Der Ingusche sagt: „Nur wenn mein Name draufsteht.“

JEWGENIJ KONDAKOW / RR (6)

Innovation Ein Ingusche und sein Traum

Achmed Schadijew will Russland mit Fischleder berühmt machen.

guschetische hingegen sorgte für Begeisterung. „Woher haben Sie das? Gibt es einen Katalog dazu?“, hieß es. Nun bestellten die deutschen Käufer nochmals 500 Störhäute. Und kündigten an, in Zukunft die Bestellmenge weiter hochzufahren.

WLADIMIR JEMELJANENKO RUSSKIJ REPORTER

In seinem Atelier tippt Achmed Schadijew stolz auf seine Kundenliste: Namen von Auftraggebern aus China, Deutschland, Kanada, Israel und Spanien stehen darauf. Sie alle hat Schadijew von hier in Nasran, einer Stadt in der nordkaukasischen Teilrepublik Inguschetien, mit Fischleder beliefert. Fischleder? Von jeher wird in dieser Gegend am Fuße des Kaukasus aus Fischhaut Leder hergestellt. Das Problem: Das Material nützt sich schnell ab, insbesondere Stör- und Forellenleder. Schadijew hat in jahrelangen Experimenten eine neue Methode entwickelt, die die Fischhaut elastisch, widerstandsfähig und wasserundurchlässig macht. Sein wichtigstes Geheimnis ist die Lösung, in die er die Haut gibt, bevor er sie gerbt und färbt.

Achmed gerbt Leder, seit er zehn Jahre alt war „Ich antwortete: ‚Ich werde sie Ihnen gerne verkaufen‘“, erklärt Schadijew mit einem ironischen Lächeln, „‚aber damit ich meine Produktion erweitern kann, braucht es Investitionen. Ich lade Sie ein, sich an meinem Geschäft zu beteiligen.‘“ Darauf gingen die Kunden nicht ein. Achmed kennt das Ledergeschäft von klein auf: Schon in der neunten Klasse fi ng er an, Häute zu gerben. Später, als er in Wladikawkas Wirtschaft studierte, fuhr er in den Ferien über 700 Kilometer nach Rostow am Don, um dort die Geheimnisse der Lederherstellung zu erfahren. In den Jahren der Perestroika spezialisierte er sich auf den Verkauf von selbst gemachten Schaffellmänteln, experimentierte aber weiter mit der Herstellung von Fischleder.

Ein Fischledercluster in Nasran „Hier, sehen Sie“, meint Galina Kotowitsch, Achmeds Ehefrau, die zwei Stück Gold- und Silberstörleder auseinanderzieht. Die Schuppenmuster dehnen sich und ziehen sich wieder zusammen. „Das Leder atmet“, fügt Achmed mit Begeisterung hinzu. Aus dem Ausland gibt es zwar Anfragen von großen Kunden wie Hermès und Audi. „Doch ich kann das Leder in den geforderten Mengen nicht liefern“, erzählt er. Ihm fehlt das Geld für neue Produktionskapazitäten, und erst in letzter Zeit beginnt er, in der armen Kaukasusrepublik Investoren zu finden. Lange hielten ihn die Behörden für einen Spinner, erkannten nicht, welche Chancen in seiner Idee stecken. Nach seinem Vorschlag, in Nasran nach dem Vor-

Die Designerin Swetlana Zoj hält Schadijews Wissen für revolutionär.

Elastisch wie Schlangenhaut bild des italienischen Ancona ein ganzes Cluster aus 135 Werkstätten zur Fischlederherstellung aufzubauen, duckten sich die Beamten und potenziellen Investoren noch mehr vor dem vermeintlich Größenwahnsinnigen weg.

Besuch aus Bayern Und dann ist da noch Achmeds Stolz: „Oft fragen Firmen aus dem Ausland nach Mustern. Ich sage: ‚Gerne, aber unter einer Bedingung. Machen Sie mit dem Leder, was Sie wollen, aber der Hersteller muss draufstehen: Schadi aus Russland.‘“

Vor einiger Zeit bekam Achmed Besuch von Kunden aus Deutschland. Er verkaufte ihnen 200 Störfelle, die „begutachtet“ werden sollten. Die Käufer hinterließen ihre Skype-Daten – riefen aber nicht zurück. Schadijew meldete sich selbst bei ihnen und bekam zu hören: „Bei uns in Bayern wird auch Fischleder produziert.“ Nach einem Monat kamen die Kunden dann wieder vorbei. Sie hatten das bayerische und inguschetische Leder zur Begutachtung nach Italien geschickt. Das Ergebnis: Dort wies man das Leder aus Bayern zurück, das in-

Vor vier Jahren beschloss er dann, aus dem Hobby einen Beruf zu machen. „Ich dachte mir, dass ich in ein paar Monaten eine Produktion auf die Beine stellen könnte“, erinnert sich Achmed an seine damalige Naivität. „Fischleder kann zwar jeder gerben. Schauen Sie nur einmal ins Internet: Dort gibt es eine Million Herstellungsweisen, die alle funktionieren! Aber ich habe eine Technik entwickelt, mit der das Leder alle Funktionalitäten von Stoff erhält.“ 27 industrielle Herstellungsweisen für Fischleder hat Schadijew über die Jahre entwickelt. Die Oberfläche

des Materials gleicht dann Schlangenleder, besitzt aber die Eigenschaften von Fischhaut: Es saugt sich kaum mit Wasser voll und lässt es nicht durch. Achmed ist besorgt, dass man ihm das Rezept seines Gerbmittels stehlen könnte, weshalb er auch auf die Frage nach dessen Patentierung erzürnt reagiert. „Ich könnte 54 Patente einreichen, aber wozu?“, fragt er. „Wenn ich meine Techniken patentieren lassen würde, müsste ich die wichtigsten Details offenlegen. Diese würden dann im Internet veröffentlicht, und ich könnte niemandem mehr beweisen, dass diese Leder mit meiner Technik hergestellt wurden.“

Angst vor Nachahmern Achmed Schadijew hat Angebote erhalten, in Kanada, China oder Spanien Werke zur Fischlederherstellung zu eröffnen. Und immer wieder findet er Weiterverkäufer, die seine Produkte als die ihren ausgeben: In St. Petersburg etwa entdeckte er im Laden „Fischleder aus Israel“ seine Materialien, die er einige Jahre zuvor an die israelische Firma Andre Fish verkauft hatte. „Man müsste hier Milliarden investieren“, sagt die Designerin Swetlana Zoj, die schon bei der Haute Couture Fashion Week in Paris und New York dabei war und gerade auf Arbeitsbesuch in Achmeds Werkstatt ist. „Doch die Behörden halten diese Erfindung für nichts als ein normales Handwerk, obwohl Achmeds Wissen eine Revolution in der Modeindustrie hervorrufen könnte – genauso wie damals Gagarins Weltraumflug in der Astronomie.“ Der Erfinder gibt sich optimistisch und hält an seinem Glauben fest. Dass die Marke „Inguschetisches Leder“ einmal Russland berühmt machen wird.

Das Entscheidende beim Gerben von Stör- und Forellenhäuten ist die Zusammensetzung der Gerbmittel. Achmed Schadijew hält diese streng geheim.


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