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www.russland-heute.de

In die Ferne

Auf nach Moskau

Von einem Russen, der um die Welt segeln will.

Von einem Deutschen, den Russland nicht loslässt.

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© RIA NOVOSTI

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

© ALEXANDER SEMENOV

Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 6. November 2013

Russland HEUTE fürs iPad®

Wortkünstler Pelewin. Babuschkin am Baikalsee. gibt es jetzt in einer App.

Klassiker Tolstoi oder Metropole Moskau oder Ganz Russland HEUTE

Otto steuert auf die Milliarde zu

Greenpeace in schwerer See

Der Konsumhunger der Russen ist weiter ungestillt. Die Otto Group profitiert davon: Der Umsatz des Versandhauses liegt in Russland bei 550 Millionen Euro. Kopfzerbrechen bereitet dem Unternehmen die Logistik: Der Service der russischen Post „Potschta Rossii“ lässt zu wünschen übrig. Deshalb investiert Otto derzeit in eine eigene Logistik. „In nächster Zeit“, so der Aufsichtsratsvorsitzende Michael Otto, „werden wir eine Milliarde Umsatz erreichen.“ SEITE 3

H-Bahn gegen Moskauer Staus

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AP

„Rainbow Warrior“ durch den französischen Geheimdienst im Jahre 1985 verbindet, erklärt der Experte Fjodor Lukjanow.

In Dortmund und Düsseldorf gehört die „Hängebahn“ bereits zum Stadtbild, und schon bald könnte die H-Bahn auch Tausende Moskauer bewegen. Mit deutscher Technologie will der Baukonzern Morton mehrere Siedlungen im Süden der Stadt mit der Moskauer Metro verbinden. Gegenüber dem Bau einer neuen U-BahnLinie überzeugen vor allem die geringeren Kosten. „Wir sind natürlich daran interessiert, unsere Technologie zum Einsatz zu bringen“, sagt Rolf Schupp, Geschäftsführer der H-Bahn21.

Da lächeln sie noch, die Greenpeace-Aktivisten, die im September versucht hatten, eine russische Ölplattform in der Petschorasee zu besetzen. Einen Tag später wurde die „Arctic Sun-

rise“ von Truppen des russischen Inlandsgeheimdienstes geentert. Ein Gericht klagte die aus 30 Mitgliedern bestehende Besatzung der Piraterie an. Nach heftigen internationalen Protesten änderten

THEMA DES MONATS

die Ermittler die Anklage zuletzt auf „Hooliganismus“, was auf eine geringere Strafe hoffen lässt. Was Russland sich von der Aktion verspricht und was die „Arctic Sunrise“ mit der Versenkung der

Birjuljowo ist überall Was war da los in Moskau? Erst erstach ein Aserbaidschaner einen jungen Russen, einige Tage später stürmten Tausende Demonstranten durch den Stadtteil Birjuljowo, warfen Lieferwagen um, prügelten sich mit der Polizei und riefen fremdenfeindliche Parolen.

Effizienter soll sie werden, sagen die Reformer, an die Kremlkandare genommen, so die Gegner. Vor der „Zerstörung der Akademie“ warnten Wissenschaftler, als die Staatsduma die Reform der legendären Akademie der Wissenschaften diskutierte. Das Land will jedenfalls in der Wissenschaft wieder international mitmischen. Dazu lockt es ausländische Forscher mit großzügigen Stipendien und baut ein eigenes Silicon Valley. SEITEN 5, 6 UND 7

© SERGEJ PJATAKOW / RIA NOVOSTI

FORSCHUNG ZURÜCK IN DIE ERSTE WISSENSCHAFTSLIGA

„Derartige Proteste und Pogrome werden sich in den nächsten Monaten wiederholen“, prophezeit Lew Gudkow, einer der führenden Soziologen des Landes. Denn die Fremdenfeindlichkeit wächst. SEITEN 2 UND 9

Nicht auf Augenhöhe

4. Dezember

Nächste Ausgabe INTERNETPORTAL RUSSLAND-HEUTE.DE

Ausgeschäumt: der russische Biermarkt RUSSLAND-HEUTE.DE/26489

Derzeit lockt „Stalingrad“ die Russen in die Kinos, ein 30 Millionen Dollar teurer Blockbuster in Hollywoodmanier. Dass die tragischen Kapitel der Geschichte auch ganz anders erzählt werden können, beweist Konstantin Fam, Sohn eines Vietnamesen und einer

russischen Jüdin. Mit dem Kurzfilm „Schuhe“ setzt er den namenlosen Opfern des Holocaust ein Denkmal: Kein Gesicht ist zu sehen, die Hauptrolle spielen ein Paar rote Schuhe.

Was in Russland hinter Gittern wirklich passiert

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RUSSLAND-HEUTE.DE/26227


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Politik

WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU

AP

Einwanderung Nach dem Mord an einem Russen kommt es im Süden Moskaus zu fremdenfeindlichen Krawallen

Die Fremdenfeindlichkeit in Moskau hat ein neues Niveau erreicht: In einem Problembezirk kam es zu Straßenschlachten. Die Behörden wollen nun ihre Migrationspolitik ändern. JULIA PONOMARJOWA RUSSLAND HEUTE

Am Sonntag, dem 13. Oktober, konnte man auf den russischen Fernsehkanälen live verfolgen, wie eine große Menschenmenge wirbelsturmartig durch den Moskauer Randbezirk Birjuljowo zog. Sie randalierten auf dem Gemüsegroßmarkt des Viertels und in einem Einkaufszentrum, warfen Autos und Kioske um, die ihrer Meinung nach Einwanderern gehören. Die Menge bestand mehrheitlich aus nationalistisch eingestellten Jugendlichen, die aus ganz Moskau zusammengeströmt waren. Sie wollten nach eigenen Angaben die Bewohner von Birjuljowo unterstützen, die sich am Sonntag vor der örtlichen Polizeibehörde versammelt hatten, um die Aufklärung des Mordes an einem Mitbewohner des Viertels zu fordern, dem 25-jährigen Russen Jegor Schtscherbakow. Er war drei Tage zuvor bei dem Versuch, einer Passantin zu helfen, die von einem Fremden belästigt wurde, erstochen worden.

Visapflicht für Zentralasiaten? Über Jahre hatte sich die Unzufriedenheit der Bewohner mit der Polizei aufgestaut. Bei der Versammlung bezichtigten sie die Ordnungshüter der Gleichgültigkeit und Untätigkeit. Sie forderten strengere Kontrollen der Einwanderer und die Schließung des lokalen Gemüsegroßmarkts – dem größten Europas. In ihren Augen ist der Markt aufgrund der vielen dort arbeitenden Einwanderer eine Brutstätte der Kriminalität. Der mutmaßliche Mörder Schtscherbakows, dessen Gesicht von Sicherheitskameras aufge-

zeichnet wurde, stammt aus dem Südkaukasus wie so viele der Einwanderer, die auf dem Markt arbeiten. Die Unruhen am Sonntag endeten mit der Festnahme von 400 Menschen, und in den darauffolgenden Tagen entwickelten die Behörden eine hektische Aktivität: Nach zwei Tagen wurde der mutmaßliche Mörder gefasst und der Gemüsegroßmarkt wegen nicht eingehaltener Hygienestandards geschlossen. Die Ereignisse in Birjuljowo gaben der Diskussion über die Einführung von Visa für Einwanderer der südkaukasischen und zentralasiatischen Republiken neuen Zündstoff. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums vom Juni zeigt, dass 84 Prozent der Russen die Idee unterstützen. Gegner der Initiative ist hingegen Wladimir Putin, der befindet, Visa würden jene Länder, die früher zur UdSSR gehörten, noch stärker von Russland abgrenzen.

Russland braucht die Einwanderung Für die russische Bevölkerung hat das Thema der Migration an Gewicht gewonnen. In den letzten acht Jahren ist der Anteil derer, die die große Zahl der Migranten als ein dringliches Problem sehen, von sieben auf 27 Prozent gestiegen. In Moskau nimmt die Migration inzwischen den ersten Platz unter den Problemen ein, nicht zuletzt, weil in den jüngsten Wahlkampagnen um das Bürgermeisteramt die Auseinandersetzung mit illegaler Einwanderung bei allen Kandidaten eine zentrale Rolle spielte. Seit der zweiten Hälfte der 1990erJahre sei die Fremdenfeindlichkeit im Alltag angestiegen, sagen Soziologen wie Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums. „Nach den harten Reformen der 90er-Jahre, nach der Frustration, die durch die sozialen Umgestaltungen hervorgerufen wurde, be-

© MAKSIM BLINOW / RIA NOVOSTI

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

Ein Mord zwingt die Politik zum Handeln

Moskau brennt: Nach der Ermordung des Russen Jegor Schtscherbakow zogen randalierende Nationalisten durch die Stadt.

Was halten Sie von Einwanderung? Januar 2007

November 2008

November 2009

September 2012

August 2013

Einwanderung ist notwendig für die russische Wirtschaft

17 %

14 %

9%

7%

6%

Einwanderer sind verantwortlich für ein Ansteigen von Kriminalität und Korruption

34 %

41 %

44 %

52 %

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Einwanderer bringen neue Ideen und Kulturen nach Russland

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Einwanderung wird dabei helfen, die demografische Krise in Russland zu lösen

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Einwanderer schaffen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und nehmen der ansässigen Bevölkerung die Arbeitsplätze weg

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33 %

35 %

38 %

36 %

Antworten

QUELLE: SUPERJOB.RU

gann eine negative Selbstbehauptung, die Suche nach einer nationalen Identität. Und weil man nicht viel hatte, worauf man stolz sein konnte, vollzog sich diese Selbstbehauptung hauptsächlich mithilfe der Übertragung aller Komplexe und Antipathien auf ‚Fremde‘“, so Gudkow. „Dieser Prozess verstärkte sich im neuen Jahrtausend, als das Land einen Kurs in Richtung Wiederbelebung der nationalen Traditionen, Konservatismus und Stabilität einschlug.“ Für Demografen ist klar, dass Russland auf Einwanderer nicht verzichten kann, denn nur durch sie kann der massive Bevölkerungsrückgang kompensiert werden. „Seit 1992 haben wir ein negatives natürliches Wachstum: Laut Statistik ist die Bevölkerung in den letzten 20 Jahren um 13,4 Millionen Menschen geschrumpft, in Wirklichkeit aber nur um 5,3 Millionen. Der Rest sind Einwanderer“, sagt Anatolij Wischnewskij, Direktor des Demografischen Instituts an der Higher School of Economics in Moskau. Nach Gudkows Meinung sind die ethnischen Konflikte eine Folge der illegalen Migranten auf dem Arbeitsmarkt. Dahinter steckten die staatlich verordneten Mindestquoten für die Anstellung auslän-

discher Arbeitnehmer, deren Bedarf wesentlich höher sei als das zugelassene Kontingent: 2013 liegt die Quote bei 1,7 Millionen, dabei benötige Russland laut Gudkow bis zu fünf Millionen Fremdarbeiter im Jahr. Im September erklärte Innenminister Wladimir Kolokolzew, dass die Visafreiheit zwischen den Ländern der GUS von Kriminellen genutzt werde, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Laut Zahlen des Ermittlungskomitees ging in den ersten neun Monaten jeder sechste Mord und jede dritte Vergewaltigung in Moskau auf das Konto von Ausländern. Dabei beträgt ihr Bevölkerungsanteil nur um die fünf Prozent.

„Birjuljowo ist ein Bezirk, in dem sich Leute mit niedrigen Einkommen angesiedelt haben. Die Fremdenfeindlichkeit ist hier stärker als in anderen Vierteln, auch die Bereitschaft, aufgestaute Aggressionen gegen Fremde zu richten“, sagt Gudkow. „Eine solche soziale Atmosphäre wird indes auch auf andere Stadtviertel übertragen, deshalb können sich die Proteste in den nächsten Monaten wiederholen. Sie werden nicht frontal ausgetragen, sondern eher explosionsartig. – Dort, wo eine soziale Spannung existiert und ein Vorwand auftaucht, am wahrscheinlichsten irgendein krimineller Vorfall.“

Die Antwort der Politik Sozial explosive Stadtviertel Das alles schürt fremdenfeindliche Ressentiments, besonders in Bezirken wie Birjuljowo, die soziale Brennpunkte darstellen. Birjuljowo liegt am südlichen Stadtrand von Moskau und ist vom Rest der Stadt quasi abgeschnitten: Bis heute gibt es keine Metrostation. Daher die niedrigsten Mieten Moskaus und daher auch seine Beliebtheit unter den Einwanderern, die bislang auf dem Gemüsegroßmarkt, Haupteinnahmequelle des Bezirks, die Möglichkeit hatten, Arbeit zu finden.

Nach den Unruhen hat sich die Politik verstärkt des Problems angenommen. Das Parlament diskutiert plötzlich Gesetzesänderungen zu Kontroll- und Regelungsmöglichkeiten und Maßnahmen, die Einwanderer besser zu integrieren. Die Rede ist von einer elektronischen Datenbank mit Fingerabdrücken von Migranten und von der Etablierung eines Sonderkommandos zur Bekämpfung „ethnischer Kriminalität“. Diskutiert wird auch die Einführung obligatorischer Russischkurse für Migranten und eine entsprechende Prüfung.


Wirtschaft

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Einzelhandel Das Versandhaus Otto profitiert vom Konsum der Russen. Nur an der Logistik hapert es noch

Mit dem Ende der Sowjetunion kam der Katalog: Seit 1990 beliefert Otto die Russen mit allem, was ihr Herz begehrt. Jetzt bastelt der Konzern an einer Logistik in dem Riesenland.

DPA / AFP / EASTNEWS

Otto zieht die Russen warm an SOFJA INKISCHINOWA EXPERT MAGAZIN

Dazu haben die Deutschen 50 Millionen Euro in den Bau eines neuen Verteilungszentrums in der Stadt Twer, 160 Kilometer nordwestlich von Moskau, investiert. Dort sollen die Waren sortiert und eigene regionale Liefernetze entwickelt werden. Das ist nicht die erste Investition des Unternehmens in Russland – seit 2007 hat die Otto Group bereits ungefähr 250 Millionen Euro in ihr Geschäft im Osten gesteckt. „Die Geschichte unseres Unternehmens in Russland ist eine beispielhafte Erfolgsgeschichte für alle anderen Märkte“, meint der Aufsichtsratsvorsitzende der Otto Group, Michael Otto. „Stellen Sie sich vor, dass wir 1990 nach Russland gekommen sind und noch vor sieben Jahren unser Umsatz nicht einmal eine Million Euro betragen hat. Heute sind es 550 Millionen! Wenn wir dieses Tempo weiterhin beibehalten, werden wir in allernächster Zeit unser gesetztes Ziel erreichen – einen Umsatz von einer Milliarde Euro.“ Laut Michael Otto entwickeln sich beide Geschäftsmodelle, der Verkauf über Kataloge und der elektronische Handel, sehr erfolgreich. Schon bald könnte der Onlineeinzelhandel, der heute 50 Prozent des Umsatzes ausmacht, zum Kerngeschäft der Otto Group in Russland werden. Nach Angaben von Euromonitor International hat der elektronische Handel 2012 in Russland insgesamt 8,2 Milliarden Euro umgesetzt – in fünf Jahren könnte das Volumen bei 19 Milliarden Euro liegen.

Umsatz der Otto Group in Russland 600 500 400 300 200 100 Michael Otto will mit der Otto Group in Russland bald die Schallmauer von einer Milliarde Euro Umsatz durchbrechen.

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2012

zusammen – nur sie ist in der Lage, die entferntesten Regionen zu beliefern, da sie über Filialen im ganzen Land verfügt. Gegenwärtig liefert der föderale Zustellungsdienst 85 Prozent der Warensendungen von Otto aus, wobei diese im vergangenen Jahr um vier Prozent wuchsen. Aber der Service der russischen Post lässt zu wünschen übrig: Die Pakete kommen zu spät an, die Verpackungen sind häufig eingerissen oder die Lieferungen verschwinden ganz einfach auf dem Weg zum Kunden. Inzwischen arbeitet Otto deshalb am Aufbau eines alternativen Zustellungssystems. „Wir wollen ein eigenes Logistiknetz schaffen“, sagt Schierer. Dazu wurde bereits die Firma Hermes-DPD gegründet. „Unterschiedlichen Einzelhandelsunternehmen wird angeboten“, so Schierer, „in ihren Ladengeschäften nach dem Prinzip ‚Shop-im-Shop‘ Stände mit OttoProdukten zu platzieren. Die Käufer, die Waren aus unseren Kata-

logen oder über die Internetseite bestellt haben, müssen dann nicht zu Hause auf das Paket warten, sondern können die Artikel persönlich an diesen Ausgabepunkten abholen – in der Konditorei, an Zeitungskiosken, in chemischen Reinigungen oder an der Tankstelle.“ Bis zum heutigen Tag sind unter der Marke Hermes-DPD bereits mehr als 300 Servicepunkte in 83 größeren Städten zur Betreuung der Internetshop-Kunden eröffnet worden. Laut Hanjo Schneider, Otto-Vorstandsmitglied und Chef der Hermes Europe, gibt es in Moskau drei zusätzliche Servicepunkte, bei denen man die Waren nicht nur abholen, sondern auch kostenlos an den Versandhändler zurückschicken kann (normalerweise fallen für diesen Service fünf bis sieben Euro an). Zukünftig soll auch das Tempo bei Eilzustellungen gesteigert werden: In entfernte Regionen kann die schnelle Lieferung bis zu einer Woche dauern, demnächst werden es nur noch 24 Stunden sein.

GESCHÄFTSREISE BIOENERGIE IN RUSSLAND

KONFERENZ WIRTSCHAFTSTAG OSTEUROPA

2. BIS 7. DEZEMBER, MOSKAU, INDIVIDUELLE TERMINE IM LAND

10. DEZEMBER, BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFT UND TECHNOLOGIE, BERLIN

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

Der bayerische Exministerpräsident Edmund Stoiber und der SberbankPräsident German Gref diskutieren über Status quo und Perspektiven.

Produktionsstandorte in Russland aufbauen – dabei gibt es große Chancen und einige Stolpersteine. Experten berichten über rechtliche Änderungen, Geschäftsleute über Dos and Dont’s im Umgang mit Tochterunternehmen.

625 Millionen Tonnen organische Abfälle fallen jedes Jahr in Russland an. In Zukunft sollen mit Biogasanlagen vor allem große Agrarbetriebe mit Strom und Wärme versorgt werden. Für die Hersteller von Biogasanlagen bieten sich hier gute Chancen.

Ost- und Mitteleuropa, Zentralasien und der Südkaukasus bleiben weiterhin wichtig für die deutsche Wirtschaft. In diesem Jahr legt der Ostund Mitteleuropa Verein den Fokus auf Gesundheitswesen, Logistik sowie Recht und Steuern.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› veranstaltungen.drforum.de

› rn-rus.de

› exportinitiative.bmwi.de

› osteuropa-wirtschaftstag.de

Die russische Frau kleidet sich eleganter als die europäische Im Wesentlichen unterscheidet sich das russische Sortiment kaum von dem in anderen Ländern. Es umfasst 100 000 Artikel, in erster Linie im unteren und mittleren Preissegment. Mehr als 70 Prozent des Sortiments sind Artikel aus dem Bereich Bekleidung, gefolgt von Haushaltswaren und Spielsachen. „Wir beabsichtigen, in Zukunft in Russland auch noch mit Möbeln zu handeln, haben aber feststellen müssen, dass es auf dem Land bei der Zustellung von Sperrgut Probleme gibt. Deshalb arbeiten wir zurzeit ein neues

WIRTSCHAFTSKALENDER

Mio. Euro QUELLE: OTTO GROUP RUSSIA

Konzept aus“, erzählt der Generaldirektor der Otto Group Russia, Martin Schierer. Für einige Handelsmarken wie Quelle bietet Otto eine marktspezifische Produktpalette an. „Die russische Frau kleidet sich eleganter als die europäische. Sie möchte sehr attraktiv aussehen und wählt leuchtende Farben und offene Modelle“, bemerkt Martin Schierer. „Inzwischen planen wir, russische Modeschöpfer heranzuziehen, die die Spezifika ihres Landes besser kennen“, fügt Michael Otto hinzu. Als Absatzmarkt betrachtet Otto auch die Großstädte in den Regionen. Wesentlicher Wettbewerbsvorteil ist nach Meinung der Deutschen das umfangreiche Sortiment und die europäische Qualität. Auch wenn das Unternehmen eingestehen muss, dass seine Preise zum Teil über dem russischen Einzelhandelsniveau liegen.

Otto verfügt bereits über zwei Verteilungszentren in Twer. Im Moment baut der Konzern ein neues Lager, das es ermöglichen soll, den Warenumsatz zu verdoppeln. Seine Fertigstellung ist schon für Ende nächsten Jahres vorgesehen. „Die Investitionen fl ießen unter anderem auch in ein modernes, automatisiertes Sortierungssystem, das die Zeit für die Bearbeitung der Bestellungen noch einmal verkürzen wird“, erklärt Martin Schierer.

VORTRAG IM FLUSS: DIE DEUTSCHRUSSISCHEN BEZIEHUNGEN IN DEN BEREICHEN ROHSTOFFUND FINANZWIRTSCHAFT

KONFERENZ XIV. WIRTSCHAFTSTAG RUSSLAND

12. NOVEMBER, MOSKAU, HOTEL BALTSCHUG KEMPINSKI

Zusammenarbeit mit der russischen Post Das größte Problem von Otto sind die Auslieferungen. „In Russland braucht man aufgrund der Landesgröße ein vollkommen anderes Logistiksystem, als wir es aus anderen Ländern kennen“, gesteht Schierer ein. Der Konzern arbeitete von Anfang an mit der russischen Post als Logistikpartner

13. NOVEMBER, MANNHEIM, CONGRESS CENTER ROSENGARTEN

Kleider aus der Konditorei


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Wirtschaft

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Transport Die einst von Siemens entwickelte Technologie „H-Bahn“ könnte bald in Moskau zum Einsatz kommen

Deutsche Hängebahn für die Stadt im Stau also deutlich überlegen. Bei ihrer Realisierung könnten aber noch offene Fragen auftauchen, die sich aus den besonderen Rahmenbedingungen in Russland ergeben. Zum einen muss man die für eine Hängebahn nötige Infrastruktur von null an entwickeln. Das erfordert langfristige Investitionen und macht das Vorhaben auch in Zukunft abhängig von öffentlichen Geldern.

Eine Reihe Wohnsiedlungen im südlichen Moskauer Umland sollen durch eine Hängebahn wie in Dortmund und Düsseldorf an das Metronetz der Hauptstadt angebunden werden. MARIA PRICHODINA FÜR RUSSLAND HEUTE

Westliche Investoren für den Moskauer Süden

ZAHLEN PRESSEBILD

Der Baukonzern Morton will mit Unterstützung der deutschen H-Bahn21 eine Hängebahn bauen, wie sie schon heute in Dortmund und Düsseldorf existiert. Morton hat südlich der Hauptstadt mehrere Wohnviertel mit 2,5 Millionen Quadratmetern Wohnfläche errichtet. Ziel des Projekts ist es, die bislang nur mit dem Auto erreichbaren Viertel an das Metronetz anzuschließen. Man habe sich über die Details schon mit der Moskauer Stadtregierung besprochen und die nötigen Unterlagen für die Anbindung des neuen Hängebahnnetzes an die Moskauer Metro erhalten, so Igor Ladytschuk, Unternehmenssprecher von Morton. Gibt die Moskauer Regierung bald ihr endgültiges Plazet, könnte mit dem Bau 2014 begonnen werden. „Wir sind natürlich daran interessiert, unsere Technologie zum Einsatz zu bringen“, erklärt Rolf Schupp, Geschäftsführer der H-Bahn21 das Verkehrsprojekt im Moskauer Süden. „In der nächsten Etappe müssen wir detailliertere Untersuchungen anstellen

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bis 13 Millionen Euro kostet ein Kilometer der Hängebahn. Zum Vergleich: Ein Kilometer Moskauer Metro wird auf 36,5 Millionen Euro geschätzt. Müssen die Streckenabschnitte unterirdisch gebaut werden, sind es 50 bis 58 Millionen Euro.

Die H-Bahn erfordert eine völlig neue Infrastruktur.

und den Streckenverlauf konkretisieren“, sagt er. Die Kosten pro Kilometer der gemeinsamen Hängebahn von Morton und H-Bahn21 werden sich auf zwölf bis 13 Millionen Euro belaufen.

Schljapnikow, Generaldirektor des Transportunternehmens Sowtransawtoekspedizija, liegen die Baukosten pro Kilometer einer oberirdisch laufenden Metrostrecke bei 36,5 Millionen Euro. Legte man die Streckenabschnitte unter die Erde, hätte man mit Kosten in Höhe von 50 bis 58 Millionen Euro zu rechnen, die bei Tieftunneln sogar 110 Millionen erreichen könnten. Die Hängebahn ist der unterirdischen Metro in der Kostenfrage

H-Bahn ist billiger als Metro Für eine standardmäßige Metrolinie ins Moskauer Umland müssten die Bauträger mit erheblich größeren Summen kalkulieren. Nach Berechnungen von Leonid

2,5

Millionen Quadratmeter Wohnfläche hat der Bauinvestor Morton in der südlichen Moskauer Vorstadt zur Verfügung gestellt. Bislang sind die Häuser jedoch nur über die völlig überlasteten Straßen zu erreichen.

Auch gilt es noch eine Reihe anderer Faktoren zu berücksichtigen. „Man muss das Verkehrsaufkommen und die potenzielle Auslastung solcher Trassen richtig berechnen. Als Negativbeispiel ließe sich hier die verlustbringende Moskauer Monorail von der Station Timirjasewskaja zum Allrussischen Ausstellungszentrum und zum Fernsehturm Ostankino nennen“, bemerkt Schljapnikow. Probleme wirft auch die Integration der neuen Beförderungssysteme über größere Distanzen in das bereits bestehende Verkehrsnetz auf. Über die Perspektiven einer internationalen Zusammenarbeit sagt Andrej Schenk, Analyst bei Investcafe: „Jetzt ist es Aufgabe der Regierung, Bedingungen zu schaffen, die einen westlichen Investor überzeugen, dass sich ein langfristiges Engagement auf dem russischen Markt lohnt.“

Bauen Der russisch-deutsche Unternehmer Igor Rothmann ist Mitinitiator einer „deutschen Siedlung“ in Krasnodar

JURIJ GENJ ROSSIJSKAJA GASETA

„Es ist jenes Stück Deutschland, das Krasnodar am nächsten liegt!“, schmunzeln die Bewohner von „Nemjezkaja Derewnja“. Das „Deutsche Dorf“ ist ein neues Stadtviertel in der südrussischen Stadt Krasnodar mit Wohnhäusern, Schulen, Kindergärten und einem eigenen Krankenhaus ganz nach deutschem Vorbild. „Die Konzeption des Dorfes wurde bis ins kleinste Detail durchdacht und nach dem Prinzip des maximalen Komforts für seine Bewohner gestaltet“, erzählt der Bürgermeister von Krasnodar, Wladimir Jewlanow. „Verantwortlich für das Projekt zeichnet das Architekturbüro Kohlbecker Architekten & Ingenieure aus Gaggenau im Schwarzwald. Die Arbeit in Russland war für sie nach eigenen Angaben sehr interessant und

stellte eine singuläre Erfahrung in ihrer bisherigen Arbeit dar.“ Die Geschichte des deutschen Dorfes begann vor acht Jahren, als Premier Wladimir Putin dem Projekt im September 2006 auf dem fünften Internationalen Wirtschaftsforum in Sotschi seine Zustimmung gab. In der Anfangsphase wurden die Kosten mit 110 Millionen Euro bemessen. 2013 schließlich konnte das Mammutunternehmen abgeschlossen werden. Im September wurde der in der Region größte niedrigstöckige Wohnkomplex eingeweiht, auf dessen Territorium sich auch ein breit aufgefächertes medizinisches Zentrum befindet. Die deutsche Klinik konnte nach langen Verhandlungen zwischen der lokalen Verwaltung und Vertretern der Wirtschaft aus der Taufe gehoben werden. Die Idee fand von Anfang an die Unterstützung des Gouverneurs der Region, Alexander Tkatschew. „Wir möchten in Krasnodar ein Zentrum für alle Richtungen der Medizin schaffen, von der Chirurgie bis zur Neurologie“, erklärt Igor Rothmann, Mitinitiator der

IGOR KURASCHOW / RG

Nach sechs Jahren Bauarbeiten wurde im südrussischen Krasnodar nun ein Wohnkomplex nach dem Vorbild Baden-Baden eingeweiht. Bald soll es hier auch eine deutsche Klinik geben.

IGOR KURASCHOW / RG

Neu Baden-Baden liegt am Fuße des Kaukasus

Igor Rothmann (links); die Einweihungsfeierlichkeiten des deutschen Dorfes im September

deutschen Klinik. Der Russe lebt seit Langem in Baden-Baden und betreibt dort seine Firma Rothmann GmbH. „Fürs Erste ist geplant, Patienten einige Dutzend Betten bereitzu-

Der Arzt für eine dringende OP kann jederzeit aus Deutschland in die Regionshauptstadt eingeflogen werden. stellen. Außerdem können die nicht so schweren Fälle auch ambulant behandelt werden. Ich denke, dass später mehreren Tausend Patienten im Jahr unser Krankenhaus offen steht. Wir sehen hier sehr gute Zukunfts-

perspektiven und planen eine vielfach spezialisierte, moderne Klinik.“ Das Krankenhaus wird seinen Betrieb im nächsten Frühjahr aufnehmen, wenn alle medizinischen Gerätschaften installiert und geprüft sind. Die Baukosten belaufen sich auf 15 Millionen Euro. Hinzu kommen weitere Kosten für Personalschulungen: Geplant ist eine halbjährliche Weiterbildung von einheimischen Ärzten und Krankenpflegern im Ausland. Die ersten 16 werden demnächst starten. Umgekehrt sollen hier auch Spezialisten aus Deutschland nach dem Bereitschaftsprinzip arbeiten. Bei Bedarf kann ein konkreter Arzt für eine dringende Operation jederzeit in die Regionshauptstadt eingeflogen

werden, in äußersten Notfällen soll auch eine Behandlung in Deutschland möglich sein. Ergänzend zu den medizinischen Einrichtungen wird in der deutschen Klinik ein Trainingszentrum für Ärzte aus Krasnodar und Umgebung etabliert. Man erhofft sich einen Erfahrungsaustausch zwischen den Medizinern und eine Angleichung der Niveaus an westlichen Standard. Der Aufbau des Trainingszentrums hat bereits begonnen. Und während die deutschen Ärzte Kontakte zu den ansässigen Kollegen knüpfen und sich ihr Unterstützungsteam zusammenstellen, meldet die Verwaltung des Wohnkomplexes „Nemjezkaja Derewnja“ die ersten Häuserverkäufe an deutsche Staatsbürger.


Wissenschaft

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IM GESPRÄCH

die sich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. Wir haben herausgefunden, dass diese ultrarelativistischen Elektronen durch sehr unterschiedliche physikalische Prozesse bewegt werden. Für die Erforschung der Strahlungsgürtel um die Erde, die sogenannten Van-Allen-Gürtel, bedeutet das, dass man sie nicht als einheitlich betrachten kann, sondern dass hier verschiedene Teilchen unterschiedliche Strukturen aufweisen. PRESSEBILD

Der Physiker Jurij Schpriz vom Institut für Wissenschaft und Technologie Skolkowo (Skoltech) hat mit einem internationalen Team das mysteriöse dritte Elektronenband um die Erde untersucht. Die Ergebnisse erlauben es, Satelliten besser zu schützen. Bietet das eingeführte Modell eine neue Sicht auf die Strahlungsgürtel der Erde? Unsere Forschung beschäftigt sich mit äußerst schnellen Teilchen,

Wie kann der dritte Strahlungsgürtel Satelliten und andere Weltraumobjekte beeinflussen? Energieteilchen können fast jede Schutzabschirmung durchdringen. Sie können die Miniaturelektronik der Satelliten beschädigen und Anomalien verursachen oder den Ausfall maßgeblicher Satellitenkomponenten herbeiführen. Früher sind wir davon ausgegangen, dass sich alle Energie, die über ein bestimmtes Niveau hinausgeht, auf die gleiche Weise auswirkt. Jetzt wissen wir, dass sich ultrarelativistische Teilchen unterschiedlich verhalten können. Diese Kenntnisse werden uns hel-

PRESSEBILD

„In der Arktis geht’s auch ohne Klimaanlage“ fen, bessere Modelle zu entwickeln und die Satelliten zu schützen. Hier ein Beispiel: Wenn Sie ein Fahrzeug für die Antarktis bauen, wird es nicht so aussehen, wie ein Auto für das milde Klima in Kalifornien – Geländewagen für die Antarktis werden für vollkommen andere Bedingungen gebaut als ein Cabrio für Los Angeles. Solche Fahrzeuge benötigen eine sehr hohe Bodenfreiheit, eine leistungsstarke Batterie, eine Standheizung, ihr Dach muss sich nicht einfahren lassen und der Innenraum vermutlich auch nicht gekühlt werden können. Welche praktischen Anwendungen können diese Forschungsarbeiten bieten? Unsere Studie kann dabei helfen, Kosmonauten im Weltraum zu schützen. Ein anderes mögliches Einsatzgebiet ist die Kernenergie. Die Magnetosphäre der Erde ist ein natürliches Labor, das es uns

Meeresforschung Russische Biologen planen eine Weltumseglung

35 000 Meilen übers Meer „Aquatilis“ gesammelt werden, will das Wissenschaftsteam über Blogs und die großen sozialen Netzwerke in der ganzen Welt verbreiten. Dokumentiert werden sollen das Leben unter Wasser und die Arbeit der Forscher, Fotos und Videos werden ins Netz gestellt und dort mit der Online-Community diskutiert. Während der Expedition soll außerdem ein bislang einzigartiges Archiv von Foto- und Videomaterial über die Weltmeere entstehen, das hochwertige farbige Aufnahmen wertvoller und für die Forschung vielleicht neuartiger Organismen umfasst.

Der Meeresbiologe Alexander Semjonow hat einen Traum: Mit dem Segelschiff „Aquatilis“ will er die Welt umrunden. Und dabei die Menschen für den Unterwasserkosmos sensibilisieren. NADJESCHDA MARKINA

Hauptberuflich ist der erst 28-jährige Wissenschaftler Alexander Semjonow Leiter des Taucherdienstes der Biologischen Forschungsstation am Weißen Meer, dazu ein bekannter Unterwasserfotograf, dessen populärwissenschaftlichen Blog zur Meeresforschung seit sieben Jahren Zehntausende Menschen lesen. „Das Meer ist eine Art Paralleluniversum, eine andere Welt, die von den erstaunlichsten Lebewesen bevölkert ist. Wir sind der Meinung, dass man den Menschen zeigen muss, wie interessant und farbenfroh Forschung sein kann“, ist Semjonow überzeugt. Das Budget von etwa drei Millionen Euro will der Biologe durch Sponsoring und eine Crowdfunding-Kampagne akquirieren. Und wenn es klappt, wird er ab 2015 für drei Jahre über die Weltmeere schippern und dabei insgesamt 35 000 Seemeilen zurücklegen. Je nach Etappe sind ein gutes Dutzend Experten mit an Bord. Neue Forschungsergebnisse, die auf der

© ALEXANDER SEMENOV

GAZETA.RU

Gelbe Haarqualle

„Solche Bilder ergänzen die gegenwärtige Forschung um sehr viel klassisch-biologisches Wissen. Wir beobachten Tiere, vergleichen unsere Erfahrungen mit dem Wissen aus der Literatur und begreifen, dass die Bücher keine erschöpfenden Informationen liefern können“, sagt Semjonow. Während Biologen früher alles unter einem Mikroskop oder Binokular studierten und anhand ihrer Beobachtungen Abbildungen zeichneten, die gelegentlich manche Details ausließen, könne man heute die kleinsten Organismen in einer Größe von zwei, drei oder vier Millimetern auf eine Art fotografieren, dass jedes Beinchen und jeder Fühler zu erkennen seien. „Die naturgetreue Abbildung solcher Organismen ist ein immenser Fortschritt“, betont Semjonow. Das Projekt möchte außerdem die Bevölkerung für die ökologischen Probleme der Meere sensibilisieren. Die Reise geht etwa zu den „Müllinseln“ – gigantischen Ansammlungen schwimmender Abfälle und fein verteilter Kunststoffe, die so groß sind wie kleine Länder. Die Teilnehmer der Expedition wollen sie in ihren Videos festhalten und darüber aufklären, was mit dem Meer und seinen Bewohnern unter solchen Bedingungen passiert.

erlaubt, verschiedene physikalische Prozesse zu studieren. Prozesse dieser Art werden wahrscheinlich in Laboratorien auf der Erde ein Thema sein und so jenen Wissenschaftlern helfen, die Plasma im Labor untersuchen und die Möglichkeiten erforschen, Energie aus der Kernfusion zu gewinnen. Ähnliche Prozesse können auch auf dem Jupiter und dem Saturn vorkommen und ein Problem bei zukünftigen Raumfahrtmissionen zu den entferntesten Winkeln unseres Sonnensystems darstellen. Wer hat an dem von Ihnen geleiteten internationalen Forschungsprojekt teilgenommen? Wir haben ein sehr breit gefächertes Team. Ich denke, dass alle beteiligten Einrichtungen einen Anteil an dieser Studie haben. In meinem Fall nenne ich zuerst das Skoltech, da ich zu diesem Institut die engste Beziehung habe.

Aber auch am Massachusetts Institute of Technology und der University of California Los Angeles ist sehr viel Arbeit geleistet worden. Neben meinem Institut wurde in Russland auch an der Moskauer Lomonossow-Universität geforscht. Wissenschaftler der Universitäten Alberta sowie Colorado haben maßgebliche Daten für die Untersuchungen geliefert. Der Forscher eines koreanischen Instituts wirkte ebenfalls mit. Wie dies deutlich zeigt, verlangt der Umfang heutiger Forschungsprojekte eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern über Institutsoder Landesgrenzen hinweg. Wir können all das nicht an einer einzelnen Einrichtung bewältigen. Die internationale Zusammenarbeit wird daher auch in Zukunft eine sehr wichtige Rolle am Skoltech spielen. Das Interview führte Jekaterina Turyschewa


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Thema des Monats

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Forschung Die Regierung will die Akademie der Wissenschaften reformieren. Und trifft auf verbissenen Widerstand

Ende der Wissenschaft oder notwendige Reformen Das Hauptgebäude der Akademie der Wissenschaften in Moskau

ZITATE

Dmitri Liwanow MINISTER FÜR WISSENSCHAFT UND BILDUNG, INITIATOR DER REFORM

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Unsere vorrangige Aufgabe bestand darin, die Funktion der wissenschaftlichen Arbeit von der Funktion der Finanzverwaltung zu trennen, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Gegenwärtig haben wir die Situation, dass ein und dieselben Leute die Forschungsschwerpunkte festlegen, Wettbewerbe ausschreiben, die Gewinner küren und nur sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen.

Wladimir Fortow SEIT MAI 2013 PRÄSIDENT DER RUSSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

Eine Reform der Akademie der Wissenschaften treibt Wissenschaftler auf die Barrikaden.

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Ich teile diese Untergangsstimmung nicht. Ich bin der Überzeugung, dass, egal welche Entscheidung auch immer getroffen wird, die Akademie der Wissenschaften nicht nur erhalten bleibt, sondern sich weiterentwickelt. Außerdem bin ich mir sicher, dass die Wissenschaftler einen Ausweg aus dieser höchst komplizierten Lage finden werden. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass die Akademie vor größeren Problemen steht.

ANDREJ WAGANOW FÜR RUSSLAND HEUTE

ITAR-TASS (2)

Kundgebung der Reformgegner in Moskau. „Keine Wissenschaft – kein Land“, heißt es auf dem rechten Plakat.

Schores Alfjorow NOBELPREISTRÄGER FÜR PHYSIK UND VIZEPRÄSIDENT DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

für die freie Entwicklung der Wissenschaft ist. Das Eigentum der Akademien – noch ein Erbe aus der Sowjetunion – ist beträchtlich: Zur Russischen Akademie der Wissenschaften gehören 436 Institute und Organisationen, in denen insgesamt 48 000 Mitarbeiter beschäftigt sind. Die Agrarakademie umfasst 198 Einrichtungen und über 300 Organisationen mit wissenschaftlichem Profil. Die RussischeAkademie der Medizinischen Wissenschaften schließ-

lich hält 33 Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen. Genau betrachtet wurde der Akademie nicht der Geldhahn zugedreht, aber sie ist nunmehr gezwungen, alle für die Grundlagenforschung ausgegebenen Mittel gegenüber einer speziellen Behörde abzurechnen und zu rechtfertigen. Die Mehrheit der Akademiemitglieder sieht dies jedoch als eine Einmischung der Beamten in die Hoheit wissenschaftlicher Forschung. Im letzten Augenblick wurde ein von den Akademikern

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Unser Jahresbudget beträgt 62 Milliarden Rubel, umgerechnet etwa zwei Milliarden US-Dollar, die unter 450 Einrichtungen aufgeteilt werden müssen. Der Stadt Sotschi wurde für die Olympischen Spiele elfmal mehr Geld zur Verfügung gestellt. Als diese Gesetzesvorlage ausgearbeitet wurde, als man beschloss, das wenige, was der Akademie geblieben ist, auch noch wegzunehmen, habe ich begriffen, dass ich in diesem Land nicht mehr gebraucht werde.

Budget für Forschung und Wissenschaft

QUELLE: AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

Russische Akademie der Wissenschaften

ALJONA REPKINA

Da s G e s et z , d a s die russische Regierung da am 28. Juni ohne Vorwarnung dem Parlament vorlegte, brachte die akademische Welt ins Wanken: Es sah nichts weniger als die Auflösung der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) vor, jenem Goliath der russischen Forschung mit 48 000 Mitarbeitern und 300 Jahren Geschichte. Über Wochen gingen die Akademiker auf die Straße und erwirkten bis zur Unterzeichnung des Gesetzes am 27. September immerhin den formalen Erhalt der Akademie. Aber in ihrem Kern könnte die Reform radikaler nicht sein. Die zwei wichtigsten Punkte des Gesetzes beinhalten die Zusammenlegung der RAN zum einen mit den Akademie für Medizin und zum anderen mit der Akademie für Agrarwissenschaften. Unterstellt sind die Wissenschaftler künftig der Föderalen Agentur für Wissenschaft und Innovationen, also einer Art Forschungsministerium. Damit erreichten die Initiatoren, allen voran Bildungsminister Dmitri Liwanow, ihr Hauptziel: Die Direktion der Akademie kann nun nicht mehr selbst darüber bestimmen, wie die staatlichen Gelder verteilt werden. Laut Ministerium bestand das Ziel der Reform in der Trennung der wissenschaftlichen Arbeit von der Verwaltung des Akademieeigentums. Die Wissenschaftler ihrerseits waren jedoch davon überzeugt, dass es nur um die Errichtung einer Machtvertikalen in der Wissenschaft geht: Sie sahen die Unabhängigkeit der Wissenschaft vom Staat gefährdet, die ihrer Meinung nach eine Voraussetzung

eingebrachter Gesetzesänderungsantrag abgelehnt, der für die Akademiemitglieder spürbar sein wird: Das Gesetz sieht nämlich ein dreijähriges Moratorium für die Aufnahme weiterer Mitglieder in die neu geschaffene Akademie der Wissenschaften vor. Noch bevor die Gesetzesvorlage in die Staatsduma eingebracht worden war, hatte die Akademie die turnusmäßige Wahl für die Aufnahme neuer Mitglieder für den kommenden Dezember angesetzt. Die Wissenschaftler baten deshalb darum, vor der dreijährigen Pause ein letztes Mal selbst neue Mitglieder in ihre Reihen aufnehmen zu dürfen. Aber vergebens – der Gesetzgeber kam zu dem Schluss, dass es keine Ausnahme von der Regel geben dürfe. Der Protest gegen das Gesetz bestand vor allem aus drei inhaltlichen Punkten: Die Akademie verliert ihre Eigenständigkeit bei der Ausrichtung der wissenschaftlichen Forschung; die staatlichen Beamten werden niemals in der Lage sein, das akademische Eigentum effizient zu verwalten, ihr eigentliches Ziel bestünde vielmehr in der „Enteignung“ des akademischen Eigentums, vor allem der Immobilien und Grundstücke; die Vorbereitung der Reform sei skandalös gewesen – sie erfolgte im Geheimen und unter Ausschluss der akademischen Gemeinschaft. Am Vorabend der Gesetzesverabschiedung veröffentlichte die Versammlung der Akademiker deshalb einen offenen Brief, in dem sie prophezeite, das Gesetz werde die „Zerstörung der Akademie“ zur Folge haben und „dem Land einen nicht wieder gut zu machenden Schaden zufügen“. Der etwas gelassenere Teil der akademischen Gemeinschaft ist dagegen zurzeit damit beschäftigt, die Statuten der Föderalen Agentur für Wissenschaft und Innovationen, die fortan das akademische Eigentum verwalten wird, auszuarbeiten. Hier wird gegenwärtig eine intensive – wenn auch den Augen der Öffentlichkeit verborgene – Arbeit geleistet. Laut Gesetz soll der Leiter dieser Agentur seine Entscheidungen „ausschließlich im Einvernehmen mit dem wissenschaftlichen Koordinationsrat“ treffen dürfen. Der Rat seinerseits soll zu seinem größten Teil aus Akademiemitgliedern, anderen Wissenschaftlern und innovativen Geschäftsleuten bestehen. Und wenn es nach dem Willen der Akademie geht, so ließ sie Ende Oktober verlauten, wird er natürlich von einem der Ihren geleitet.

Die Russische Akademie der Wissenschaften wurde 1724 von Peter dem Großen gegründet und ist die bedeutendste Forschungseinrichtung Russlands mit elf Fachabteilungen, drei regionalen Abteilungen, 15 regionalen Wissenschaftszentren und zahlreichen Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen. Die Akademie ist eine nicht kommerzielle staatliche Organisation, die ihren eigenen Statuten folgt. Die akademischen Mitglieder (auf Russisch auch „Akademiker“ genannt) und korrespondierende Mitglieder

werden von einer Generalversammlung der Akademie auf Lebenszeit gewählt. Nach den letzten Wahlen im Dezember 2011 waren es 531 Akademiker und 769 korrespondierende Mitglieder. Das Durchschnittsalter der Akademiemitglieder beträgt heute 74 Jahre, was einer der wichtigsten Kritikpunkte an die Akademie ist. Der in den Niederlanden und in Großbritannien lebende russische Wissenschaftler und Physik-Nobelpreisträger Andre Geim (55) bezeichnete die Akademie als „Altersheim“.


Thema des Monats

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Megaprojekt Bei Moskau entsteht ein russisches Silicon Valley

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INTERVIEW JÜRGEN OBERST

„In Russland hat man ganz andere Perspektiven“

Das russische Innovationszentrum Skolkowo wurde anfangs eher belächelt. Tatsächlich lief das Projekt holprig an, inzwischen kann es aber erste Erfolge vorweisen. MAXIM KIREEV FÜR RUSSLAND HEUTE

Ein fliegender Traktor mit Senkrechtstart, ein PC-Gehäuse als Schaschlikgrill und ein „Experimentelles Schwarzes Loch“, das verdächtig an eine heruntergekommene Toilette erinnert, dazu die Überschrift: „Das sind Erfindungen, die wir unseren Wissenschaftlern zutrauen“. Wenige Wochen, nachdem in Skolkowo, einem Dorf vor den Toren Moskaus, der Grundstein für das „russische Silicon Valley“ gelegt wurde, war das Projekt ein Renner. Zumindest, wenn es nach der Anzahl der hämischen Witze ging, die im Internet kursierten. Tatsächlich klang „Skolkowo“ anfangs wenig realistisch. Den Startschuss im Jahr 2010 gab der damalige Präsident Dmitri Medwedew. Der Mann im Kreml galt als Technikfan, sein Lieblingsthema: die Modernisierung des Landes. Den Prozess in Gang bringen sollte eine Innovationsstadt nach dem Vorbild von Silicon Valley, in der sich Start-ups, Labore und eine Universität ansiedeln. Allein bis 2015 waren rund 2,5 Milliarden Euro für Gebäude, Infrastruktur und zur Unterstützung von Firmengründern eingeplant. Skolkowo sollte das Riesenreich Russland von seiner Abhängigkeit von Öl und Gas wegbringen.

Ein Hypercube auf weiter Flur Skeptiker kritisierten, das Geld könnte versickern wie so oft bei staatlich vorangetriebenen Projekten. Drei Jahre später könnte man meinen, sie hätten nur allzu recht behalten. Auf der grünen Wiese kurz hinter Moskaus Ringautobahn steht ein einziges fertiges Gebäude, der Hypercube, ein Würfel aus Stahl und Beton. Direkt daneben ziehen Investoren den Bürokomplex „Matrjoschka“ in die Höhe, wo kommendes

Jahr Ausstellungsräume, ein Fitnesscenter mit Schwimmbad und neue Büroflächen entstehen. Weit intensiver wird an einem luxuriösen Wohnkomplex gebaut, etwas außerhalb der künftigen Innovationsstadt. Zudem kommt Skolkowo in diesem Jahr nicht aus den Negativschlagzeilen. Laut Rechnungshof hat die Skolkowo-Stiftung unerlaubt 150 Millionen Euro an Startups überwiesen. Und zwei Mitarbeiter sollen rund eine halbe Million Euro veruntreut haben. Im Sommer kamen dann Gerüchte auf, dass das Budget 2014 um ein Drittel gekürzt werden könnte. Was erreicht wurde, erschließt sich

2015 will Siemens hier eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung mit 150 Mitarbeitern eröffnen. Zu den Geburtshelfern von Skoltech zählen Experten des Massachusetts Institute of Technology (MIT). nicht auf den ersten Blick. Alexander Tschernow, Vizechef der Skolkowo-Stiftung, vergleicht das Projekt mit einer Fußballmannschaft, die sich durch alle Ligen hocharbeiten muss, um in der Champions League zu landen. Der Großteil der bisher investierten 600 Millionen Euro sei in kaum sichtbare Infrastruktur geflossen, etwa in Strom- und Wasserversorgung. Doch in dem fertiggestellten Hypercube haben schon Größen wie Cisco oder Siemens eigene Büros bezogen. 2015 sollen hier 150 Wissenschaftler für Siemens forschen. Zu den bisherigen Mietern gehören auch 16 junge Unternehmen, die in einem Wettbewerb ausgewählt wurden und als Erste nach Skolkowo ziehen durften. Bisher haben sich rund 1000 Unternehmen erfolgreich als „Resi-

dents“ beworben. Den Start-ups winken umfangreiche Steuerbefreiungen im Gegenzug zu ihrer Verpflichtung, irgendwann in Skolkowo einzuziehen, wenn die Räume fertiggestellt sind. Einer der „Residenten“ ist die Firma Zingaya. Das Unternehmen wurde kürzlich vom Technikmagazin Wired als eines der zehn besten Start-ups aus Russland gelistet. Zingaya hat eine Software entwickelt, die ähnlich wie Skype funktioniert und mit der Kunden bei einem Unternehmen kostenlos und direkt von dessen Website anrufen können, ohne ein Programm zu installieren. „Skolkowo ermöglicht es uns nicht nur, Steuervorteile zu nutzen und Investitionen zu bekommen“, erklärt Sergej Poroschin, bei Zingaya zuständig für die Geschäftsentwicklung. Eine Ansiedlung in dem Innovationszentrum sei auch aus Imagegründen interessant. Auch wenn der Hauptsitz momentan in den USA liegt, wo sich die meisten Kunden befinden, soll in Skolkowo später die Entwicklungsabteilung von Zingaya einziehen.

Unterstützung vom MIT Genau wie die meisten Start-ups arbeitet auch die Universität Skoltech, einer der wichtigsten Bausteine des Zentrums, nicht direkt an Ort und Stelle. Die 65 Magisterabsolventen studieren in der benachbarten Moscow School of Management. Doch ein eigener Campus befindet sich bereits im Bau und soll im kommenden Sommer fertig sein. 2020 könnten 1200 Studenten und Doktoranden an der Uni eingeschrieben sein und dort zu Spitzeningenieuren und hervorragenden Wissenschaftlern heranreifen. Zu den Geburtshelfern von Skoltech zählen Experten des Massachusetts Institute of Technology (MIT), das einen Kooperationsvertrag mit Skolkowo unterschrieben hat. Die Amerikaner helfen bei den Lehrplänen und der Organisation der neuen Uni, außerdem sind für SkoltechStudenten Auslandssemester am MIT vorgesehen.

Herr Oberst, zum Forschen nach Russland – warum tut sich ein deutscher Professor das an? Das hat mein Chef vom DLR damals auch gefragt. Die Antwort ist einfach: So etwas wie die Mega-Grants gibt es in Deutschland nicht. Sie bieten gerade jüngeren Wissenschaftlern eine einmalige Erfahrung. Man fängt praktisch bei null an und gründet eine Forschungsgruppe mit 50 Mitarbeitern und kann im Rahmen des enormen Budgets weitgehend eigene Forschungsideen realisieren. Die Zusammenarbeit mit den russischen Kollegen ist hervorragend. Die Anwesenheit in Russland gibt Gelegenheit, Kontakte und Netzwerke zu knüpfen. In Deutschland gibt es zwar auch Fördermöglichkeiten für Großprojekte, aber die haben meist feste Rahmenbedingungen, es sind immer viele Parteien involviert. Und der Aufwand ist sehr groß. Und im Falle der Mega-Grants? Der Antrag war erstaunlich formlos gehalten. Ich habe auf etwa 20 Seiten mein Projekt beschrieben und mit meinen russischen Partnern besprochen. Die Ausschreibungen waren neu und die Erfolgsaussichten schwer abzuschätzen, deshalb war ich überrascht, dass es geklappt hat. 2012 lief die Förderung aus. Haben Sie Ihr Ziel erreicht? Wir haben ein Labor mit modernster Rechentechnik aufgebaut, in dem auf höchstem Niveau geforscht werden kann. Zudem haben wir ein hoch qualifiziertes Team aus Doktoranden und anderen Wissenschaftlern zusammengestellt. Das Problem: Der Mega-Grant wurde nicht verlängert, und die Universität kann das Projekt aus eigenen Mitteln nicht weiterführen. Deshalb sind jetzt viele Wissenschaftler abgesprungen. Die Doktoranden, die geblieben sind, müssen sich mit Nebenjobs über Wasser halten. Ist das Programm also ein Strohfeuer? Viel Geld verbrannt, aber ohne langfristigen Effekt? Nein. Etwa zwei Drittel der Mega-Grant-Empfänger erhielten eine Verlängerung, wir leider nicht. Das Labor funktioniert weiter, wenn auch nicht in dem Umfang, in dem es möglich wäre.

PRESSEBILD

© SERGEJ PJATAKOW /RIA NOVOSTI

Skolkowo trotzt Spott und Häme

Jürgen Oberst ist Leiter der Abteilung Planetengeodäsie am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und Leiter des Fachgebiets Planetengeodäsie an der TU Berlin. 2010 war er unter den ersten Gewinnern eines „Mega-Grants“ für ausländische Forscher in Russland. Mit einem Budget von 3,5 Millionen Euro war er verantwortlich für den Aufbau eines Labors an der Moskauer Universität für Geodäsie und Kartografie (MIIGAiK).

Zudem lernt das russische Bildungsministerium dazu: Die Mega-Grants werden heute für drei Jahre ausgegeben, dafür mit einer geringeren Summe pro Jahr. Gab es Sprachprobleme? Ich spreche nur wenig Russisch, die tägliche Konversation lief auf Englisch. Leider sprechen viele ältere Professoren, aber auch die jüngeren Studenten kaum Englisch. Daraus folgt, dass sie keine internationale Fachliteratur lesen können und sich damit isolieren. Eine unserer ersten Maßnahmen waren deshalb Englischkurse. Wenn es um wichtige Dinge ging, hatten wir einen Simultandolmetscher. Das lief sehr gut. Wie steht es denn um den wissenschaftlichen Nachwuchs? Das ist ein großes Problem. Es gibt dort eine Elite aus Professoren, die oft noch im hohen Alter an den Lehrstühlen in verantwortlichen Positionen tätig sind. Sie verfügen über einen wertvollen Erfahrungsschatz, erschweren aber die Entwicklung der Institute. Andererseits fehlt der Nachwuchs: Die russischen Unis sind voll mit jungen Studenten, aber weil es kaum Mittel für Doktoranden gibt, gehen die Absolventen meist in die Wirtschaft. Deshalb fehlt an den Instituten praktisch der komplette „Mittelbau“, den man von deutschen Unis gewohnt ist. Wir haben eine ordentliche Bezahlung der Doktoranden eingeführt – aber eben leider nur für zwei Jahre. Würden Sie also anderen deutschen Wissenschaftlern eine Bewerbung empfehlen? Zweifellos. Insbesondere in Bereichen wie meinem: Russland hat ein komplettes Raumfahrtprogramm, will zum Mond, zur Venus und zum Mars fliegen. Da hat man ganz andere Möglichkeiten als in Europa. Gerade bewerben wir uns übrigens mit mehreren Partnern für ein Projekt in Skolkowo. Die ersten Bewerbungsrunden haben wir überstanden. Bis Ende des Jahres wissen wir, ob es klappt. Das Interview führte Moritz Gathmann


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Gesellschaft

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Moskau Wirtschaftlich geht es Russland gut. Aber die Straßen der Hauptstadt sind noch immer voll von Obdachlosen Weg von der Straße Bis Ende des Jahres will das Moskauer Ministerium für Sozialen Schutz der Bevölkerung ein Gesetz zum Kampf gegen Landstreicherei und zur soziales Reintegration von Menschen ohne festen Wohnsitz verabschieden. Es sieht eine obligatorische behördliche Registrierung von Obdachlosen vor und schafft die Möglichkeit, sie im Rahmen einer Ordnungsmaßnahme auch gegen ihren Willen für einen Zeitraum von 60 Tagen in einer geschlossenen sozialen Einrichtung unterzubringen, im Falle eines wiederholten Verstoßes sogar für zwei Jahre. Die Obdachlosen können sich allerdings auch freiwillig registrieren lassen und dadurch den Status eines Bürgers mit festem Wohnsitz erlangen. Gegen das Gesetz engagieren sich unter anderem die RussischOrthodoxe Kirche und diverse gemeinnützige Organisationen, die Obdachlose unterstützen. Nach Meinung von Experten hat der Gesetzesentwurf einen repressiven Charakter und verletzt das Recht der Bürger auf Niederlassungsfreiheit. Die Moskauer Behörden dagegen sind sich sicher, dass das Gesetz den Obdachlosen die Chance auf eine Rückkehr in die Gesellschaft bietet.

Vier Tage, die über ein ganzes Leben entscheiden ROMAN SOLOWJOW FÜR RUSSLAND HEUTE

Juri ist schon seit 15 Jahren obdachlos. Seine erste Nacht auf der Straße verbrachte der heute 45-Jährige mit 29. Vorher hatte er in der Wohnung seiner Eltern gelebt und als Verkäufer gearbeitet. Als sie starben, verkaufte seine Schwester die Wohnung, und er musste schauen, wo er blieb. „Ich hatte ihr den Verkauf der Wohnung, ohne zu fragen, überlassen. Dann zahlte sie mir nur einen kleinen Teil des Geldes aus, und ich begann, mit ihr zu streiten, drohte ihr sogar damit, sie umzubringen.“ Irgendwann sagte er sich: „Zum Teufel mit ihr, ich kann mich auch so durchschlagen.“ Es blieb ihm ein wenig Geld, von dem er sich ein kleines Zimmer mieten konnte. Von da an lebte er allein. Doch der Tod der Eltern, die Auseinandersetzung mit der Schwester und die neuen Lebensumstände trafen Juri schwer. Eins führte zum anderen: Alkohol, Schulden und Streit mit seinen Freunden. Schließlich reichte das Geld nicht mehr für die Miete: Juri zog in die Einfahrt seines Wohnhauses. Heute schläft Juri im Kursker Bahnhof und bettelt tagsüber vor einer Moskauer Kirche. Das Geld reicht zum Leben, sagt er: Im Schnitt erbettelt er sich umgerechnet zwischen zwölf und 20 Euro am Tag. Sein Freundeskreis besteht aus Menschen, die ebenfalls obdachlos sind. Sie treffen sich

oft, gehen zusammen Lebensmittel und Alkohol einkaufen und suchen gemeinsam einen Schlafplatz. Juri hat sich an das Leben auf der Straße gewöhnt. „Ich kann mir nicht vorstellen, wieder in die Normalität zurückzukehren“, sagt er. „Das Leben da draußen ist natürlich kein Zuckerschlecken. Am Bahnhof werden wir oft vertrieben und müssen dann auf einer Müllhalde schlafen. Dort müssen wir aber auch auf der Hut sein, denn Ausländer streifen herum und stehlen Geld. Ich gehe jeden Tag in die Kirche, um zu beten, ich glaube, dass Gott mich beschützt. Und ich kann ohnehin nirgendwohin – soll mein Leben ruhig so verlaufen, wie Gott es will.“

ELENA POTSCHJOTOWA (3)

Das Chaos der 90er-Jahre trieb Hunderttausende auf die Straße. Heute ist die wirtschaftliche Lage besser, doch Studien zufolge sind immer noch 1,5 bis drei Millionen Russen obdachlos.

Die Moskauer Obdachlosenstatistik

Keine Papiere, keine Zukunft

Nach Angaben des Moskauer Ministeriums für Sozialen Schutz der Bevölkerung sind 65 bis 68 Prozent der Obdachlosen in der Hauptstadt Menschen im Alter zwischen 20 und 45 Jahren. 54 Prozent haben Verwandte und wissen, wie sie sich mit ihnen in Verbindung setzen könnten, 44 Prozent verfügen über eigenen Wohnraum. Auf die Frage „Warum wohnen

Sie auf der Straße?“ sagten 13 Prozent der Befragten, dass es ihnen gefiele, 32 Prozent erklärten, sie seien zum Geldverdienen in die Hauptstadt gekommen, hätten aber keine Arbeit gefunden, und 25 Prozent gaben an, sie seinen aufgrund familiärer Auseinandersetzungen obdachlos geworden. Der Großteil der Obdachlosen stammt aus den Regionen.

Swetlana ist etwa 50 Jahre alt und trägt eine alte Polyesterjacke und abgetragene Sportschuhe. Sie stammt aus der Ukraine und ist nach Moskau gekommen, weil man ihr dort Arbeit angeboten hatte: „In meiner Heimatstadt war ich in einer Käsefabrik beschäftigt. Aber die Bezahlung war so miserabel, dass ich mich entschied, woanders hinzugehen. Über Bekannte erfuhr ich, dass man in Moskau Näherinnen suchte – ich bin ja gelernte Schneiderin. Ich dachte damals: Besser, als für einen Hungerlohn zu arbeiten, ist es allemal.“ In Moskau war dann alles ganz anders: Sie konnte nicht als Näherin anfangen und landete bei einer kriminellen Bande, die sie zwang, in der Metro betteln zu gehen. Swetlana gelang die Flucht, aber nach Hause wollte sie nach diesen schrecklichen Erlebnissen nicht mehr.

Zu Hause in Wosnessensk ist ihr Mann inzwischen gestorben, ihr Sohn ist Alkoholiker. „Es gibt dort kein Geld“, erzählt sie, „und obwohl ich hier in Moskau obdachlos bin, habe ich etwas zu essen und Kleidung. Ich stehe den ganzen Tag in der Vorhalle einer Kirche, und was ich erbettle, reicht für Brot, Milch und Alkohol.“ Als Schlafplatz dient ihr ein Innenhof, den sie sich mit zwei weiteren Obdachlosen teilt. Swetlana hat gute Beziehungen zu den Obdachlosen in ihrer Umgebung. „Sie sind die einzigen, die mich wirklich verstehen“, sagt sie. „Wir sind eine große Familie, in der jeder jedem hilft zu überleben und durchzukommen.“ Swetlana würde jede Art von Arbeit annehmen, solange diese nur bezahlt wird. Das Problem: Die gebürtige Ukrainerin besitzt keine

Papiere. Die hatte ihr der Chef der Bande damals weggenommen. Die Zukunft ist für Swetlana eher nebensächlich. Hin und wieder muss sie jedoch an den bevorstehenden harten Winter denken: Das Wichtigste sei es, die eisige Kälte zu überleben.

Obdachlosigkeit ist ein schleichender Prozess Studien zufolge leben zwischen 10 000 und 50 000 Obdachlose in Moskau, Tendenz steigend. Laut Jelena Kowalenko, Projektleiterin der Stiftung „Institut für Städtewirtschaft“, liegen die Gründe für die hohe Zahl in der ineffizienten Sozialpolitik Russlands und der Einstellung der Obdachlosen selbst. „Der Weg in die Obdachlosigkeit ist kein harter Bruch mit dem früheren Leben, sondern in der Regel

ein schleichender Prozess, der durch eine Anhäufung von Problemen gekennzeichnet ist“, sagt sie. „Nehmen wir an, ein Mensch lebt seit Jahren ohne Meldebescheinigung, Obdachlosigkeit ist für ihn kein Thema. Plötzlich erkrankt er aber und verliert seine Arbeit. Ohne Meldebescheinigung und ohne Geld kann er keine Wohnung mieten.“

Die gute Mutter Walentina vom Kasaner Bahnhof Die staatlichen Behörden bieten keine Programme an, um Obdachlosigkeit zu verhindern. Und die Hilfe, die Obdachlosen zugedacht ist, kommt oft bei ihnen nicht an: Da ist die Bürokratie und die schlechte Zusammenarbeit der Behörden, da ist der Mangel an Anlaufstellen. Außerdem richten sich bestehende Einrichtungen nur an Menschen, die noch mehr oder weniger im Leben stehen. Jene, die wirklich auf der Straße leben, wissen zum Teil nicht einmal, dass es diese Anlaufstellen gibt. Die Moskauerin Walentina Surkowa glaubt, dass man diesen Menschen helfen könnte, wenn man es nur wollte. Sie widmet all ihre Kraft den Obdachlosen und verwendet einen Großteil ihrer Rente für sie. Regelmäßig geht sie zu den Bahnhöfen und verteilt Einladungen für ein kostenloses Mittagessen bei sich zu Hause. „Ein Obdachloser kann nur in sein normales Leben zurückfinden, wenn man ihn in den ersten vier Tagen von der Straße holt“, sagt sie. „Ich gehe zu den Bahnhöfen und suche gezielt nach solchen Menschen. Sie sind leicht zu erkennen unter den Langzeitobdachlosen mit den leeren Blicken. Wenn ich einen solchen Menschen finde, helfe ich ihm, neue Papiere zu beantragen, und kaufe ihm eine Fahrkarte, damit er zu seinen Verwandten fahren kann.“ Am Kasaner Bahnhof, so erzählt sie, habe sie einen Spitznamen bekommen: „Die Obdachlosen nennen mich nur ‚Mutter Walentina‘.“


Meinung

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GREENPEACE GEGEN DAS WESTFÄLISCHE SYSTEM Fjodor Lukjanow POLITOLOGE

SERGEJ JOLKIN

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ie Verhaftung der Greenpeace-Aktivisten in der Petschorasee hat sich zu einem großen internationalen Skandal ausgeweitet. Es geht dabei weder um die Reaktionen der beteiligten Regierungen noch um die geopolitische Bedeutung der Arktis. Der Eisbrecher unter holländischer Flagge ist in ein „heißes“ Konfliktfeld hineingesteuert, und zwar jenes zwischen dem Staat, der das Grundelement des Staatensystems darstellt, mit jener Kraft, die man üblicherweise als Weltöffentlichkeit bezeichnet und die die Rolle und die Rechte des Staates infrage stellt. Die zerschmetternde Antwort Moskaus auf die extravagante, aber für Greenpeace übliche Aktion kann als Durchsetzung desselben Prinzips gewertet werden, das Russland für eine internationale Stabilitätsgarantie hält: Die Souveränität eines Staates darf nicht angetastet werden. Andernfalls wird statt Normen und Regeln Chaos herrschen, das Staatensystem wird gefährlich und nicht mehr steuerbar. Die Umweltschützer gehen vom gegenteiligen Prinzip aus: Es gibt ein Gemeinwohl und eine gemeinsame Verantwortung, die nicht den Regeln der Staatsgrenzen und der staatlichen Gerichte unterliegen und die jede Bürokratie der Welt zu akzeptieren hat. Greenpeace

lässt sich von einem Ansatz leiten, der in der Politik als „Schutzverantwortung“ (engl. responsibility to protect) bezeichnet wird: Wenn die Regierung nicht den Schutz und das Wohlergehen der Bürger sicherstellt, haben äußere Kräfte, insbesondere die internationale Staatengemeinschaft, das Recht zur Einmischung, um den Staat zu zwingen, seine Aufgaben zu erfüllen. Das kann bis hin zur Absetzung der Staatschefs gehen. Greenpeace hatte die „Schutzverantwortung“ lange vor dem Aufkommen der Diskussion über den Begriff auf den Umweltschutz als Gemeingut angewandt.

Die Logik Moskaus ist verständlich. Indem man bewusst übertriebene Anklagen erhebt, wollen die Politiker verkünden: Hände weg! Russland ist bereit, den kampfbereiten Verfechtern des Umweltschutzes zu demonstrieren, dass der Preis einer solchen Aktion äußerst hoch sein kann, dass das kein Spiel ist, sondern das Herzstück der Politik. Greenpeace hat schon einmal so etwas erfahren: 1985 versenkte der französische Geheimdienst das Schiff „Rainbow Warrior“. Seitdem, so hatte man geglaubt, haben sich die Umgangsformen gemildert. Die westlichen Regie-

rungen und Großkonzerne, die wohl kaum eine große Liebe zu den Umweltschützern verspüren, gehen nicht mehr auf direkte Konfrontation. Weil sie verlieren würden: Das Bild von Greenpeace als selbstlosem Schützer des öffentlichen Interesses, ob nun berechtigt oder nicht, stellt die Reg ier u ngen jedes Landes als gierige Egoisten dar. Das oft beklagte negative Image Russlands in der Welt wird durch die Causa Greenpeace nicht besser. Doch tendieren die russischen Politiker immer mehr dazu, die Meinung des Westens und die Meinung der Welt als nicht deckungsgleich anzusehen. Denn die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in Ländern, deren Regierungen die „Schutzverantwortung“ als ein Instrument der Einmischung in ihre eigenen Angelegenheiten ansehen. An diese Mehrheit appelliert Russland, wenn es als Hüter der guten, alten Prinzipien auftritt. – Nicht jener Werte, die man in den USA und in Europa als wichtigstes Bewertungskriterium der Verfahren und Entscheidungen ansieht, sondern eben der vereinbarten Prinzipien des internationalen Staatensystems. Der Plan der russischen Gerichte gegenüber Greenpeace bestand anscheinend darin, ihnen mit harten Anschuldigungen einen

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Schreck einzujagen, um danach als Geste des guten Willens das Verfahren versanden zu lassen. Doch die Causa hat sich zu einem völkerrechtlichen und politischen Konflikt ausgeweitet, und der entstandene Gegendruck engt den Spielraum für dieses Kunststück ein. Je mehr der schrecklichen Erklärungen abgegeben werden, desto schwieriger wird das Nachgeben. Dabei ist es kaum möglich, Greenpeace zu besiegen: Ausgesprochene Haftstrafen für die Aktivisten werden die westlichen Regierungen dazu zwingen, als Garanten offener Gesellschaften aufzutreten, unabhängig davon, was die Beamten in Holland selbst von aggressiven Umweltschützern halten. Der Konfl ikt eines Staates, der bestrebt ist, die traditionellen Steuerungsformen beizubehalten, und der Naturgewalt der Weltöffentlichkeit, die diese Formen negiert, wird zum Haupt-„Nerv“ der globalen Entwicklung. Ein Kompromiss ist nicht in Sicht, denn die Weltöffentlichkeit, die mit attraktiven Parolen hantiert, stellt keine Alternativprinzipien, nach denen das globale System funktionieren könnte. Genaue und anerkannte Kriterien der „Schutzverantwortung“ wurden immer noch nicht aufgestellt, und wahrscheinlich kann es sie auch so nicht geben, denn der Begriff des Wertes ist viel verschwommener als die Formalität der Regeln, die die Basis des Westfälischen Systems darstellten. Deshalb werden Staaten ihre Souveränität als einzige Möglichkeit verteidigen, wie ihre Gesellschaften zu ordnen sind. Und dabei werden sie immer stärker unter den Druck eben dieser sich frei entwickelnden Gesellschaften geraten. Dieser Beitrag erschien zuerst bei gazeta.ru

SCHLAPPE IN DER MIGRATIONSPOLITIK Redaktion von gazeta.ru

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ie Reaktion der russischen Behörden auf die Pogrome in Birjuljowo zeigt, dass die Politiker immer noch nicht klar wissen, wie sie das Problem der Migranten und der russischen Staatsbürger aus den Republiken des Nordkaukasus (Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien), die in den Köpfen der Bevölkerung ein und dieselben sind, angehen sollen. Der Leiter des Föderalen Migrationsdienstes FMS Konstantin Romodanowski räumte in einem Interview das Versagen der Politik bei der Legalisierung von Einwanderung ein. Laut FMS stieg die Zahl der Einwanderer in den letzten vier Jahren um 37 Prozent, doch die 2010 eingeführten „Pa-

tente“, die Migranten erhalten, die sich von Privatpersonen anstellen lassen, haben faktisch nicht gegriffen. Nach Einschätzung von Romodanowski gibt es zwei- bis dreimal weniger Einwanderer, die sich „legalisieren“ lassen wollen, als solche, die es nicht einmal versuchen. Romodanowski wiederholte die in russischen Regierungskreisen verbreitete Meinung, dass man die Qualität der Migration steuern könne. „Das Problem ist, dass nicht jene nach Russland kommen, die wir hier benötigen, sondern etwa junge Menschen aus Zentralasien mit wenig Bildung. Sie stoßen bei der Bevölkerung auf Widerstand, und diese Verärgerung dehnt sich auf Einwanderer aus, die den Arbeitsmarkt bereichern würden, qualifizierte Fachkräfte unserer Nachbarländer.“

Sagen Sie uns die Meinung: leserbriefe@russland-heute.de

Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redaktion dar.

Russland habe sich zu lange an der Nutzung kurzfristiger Arbeitsmigration orientiert. „Man sollte aber ein Einwandererkontingent anstreben, das gefragt, qualifiziert und diversifiziert ist.“

Die „Kaukasier“, die Schießereien veranstalten und Mädchen in der Metro belästigen, sind gar keine Migranten. Die qualifizierten Fachkräfte der Nachbarn Ukraine und Weißrussland wollen aber nicht unbedingt nach Russland, sondern streben eher in die EU, die USA oder nach Israel. Außerdem zeigt ein Blick auf die Wirtschaftszahlen, dass es für qualifi zierte Arbeitsmig-

ranten wenig sinnvol ist, nach Russland zu kommen: Es gibt schlicht keine Arbeitsplätze, nicht einmal für einheimische Fachkräfte. Insofern beeinträchtigt ein illegal arbeitender Straßenfeger aus Tadschikistan die Arbeitsrechte der Russen sicherlich nicht mehr als ein Wissenschaftler aus Weißrussland, dessen legale Bewerbung auf eine Professur keinen Erfolg hat. Es liegt auf der Hand, dass die „nationale Frage“ in Russland ohne ein radikales Vorgehen gegen die Korruption in den Staatsorganen und eine durchdachte Kaukasuspolitik nicht lösbar ist. Denn die sogenannten Nordkaukasier, die Schießereien auf Hochzeiten im Zentrum Moskaus veranstalten, Lesginka auf dem Manegeplatz tanzen oder Mädchen in der Metro belästigen, sind gar

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-Mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow, Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Commercial Director: Julia Golikova, Anzeigen: sales@rbth.ru Artdirector: Andrej Schimarskiy Produktionsleitung: Milla Domogatskaja, Layout: Maria Oschepkowa

keine Migranten. Alle Verbrecher müssen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft und ethnischen Volkszugehörigkeit bestraft werden, die Bürgerrechte haben Vorrang gegenüber Nationalrechten. Gleichzeitig sollte man die Migranten im Land unabhängig von Staatsbürgerschaft und Ethnie zu integrieren suchen. Auch gilt es eines zu bedenken: Nach der Attraktivität eines Landes für Migranten bemisst sich sein momentaner Entwicklungsstand. Russland ist immer noch interessanter als Tadschikistan und Usbekistan, ja sogar als die Ukraine und Weißrussland, verliert aber klar gegenüber der EU und den USA an Attraktivität. Würden die Migranten nicht mehr nach Russland kommen, wäre das ein deutliches Zeichen seines Niedergangs.

Leiter Bildredaktion: Andrej Sajzew, Bildredaktion: Nikolaj Koroljow Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Karelsky, zu erreichen über MBMS, Hauptstraße 41A, 82327 Tutzing Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2013. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko, Geschäftsführer: Pawel Negojza, Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion


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Kultur

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INTERVIEW SWETLANA ALEXIJEWITSCH

„Das Schweigen der Intellektuellen muss beendet werden“ UND DIE HERAUSFORDERUNGEN DES NEUEN ZEITALTERS Am 13. Oktober wurde die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch auf der Frankf u r ter Buch messe m it dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Alexijewitsch zeichnet mit ihrem Buch „Secondhand-Zeit“ eine dramatische Geschichte des modernen Russlands und seiner kommunistischen Vergangenheit. In Ihrem neuen Buch erforschen Sie die Welt des Sozialismus in der Seele des Menschen. Wie viel ist davon heute noch übrig? Mich interessiert der „häusliche“ Sozialismus, weil der von außen einwirkende, offizielle Sozialismus verschwunden ist. Aber tief in uns drin ist alles geblieben. Vor 20 bis 25 Jahren hatten wir mutig und naiv angenommen, dass uns ein Abschied von dieser schrecklichen, fast unmenschlichen Erfahrung leichtfallen würde. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der „rote Mensch“ in uns lebt noch. Dieser innere „rote Mensch“ ist, wenn man nach den Bekenntnissen in Ihrem Buch urteilt, ein schwieriges Geschöpf. Ich verteidige ihn nicht. Ich finde nur, dass wir mit unserer Vergangenheit grob umgegangen sind. Wir haben alles zerstört ohne ernsthafte Gedanken oder Pläne für die Zukunft. Ich verteidige auch nicht die Sowjetzeit, aber ich finde, dass wir zu Unrecht nicht die Wichtigkeit dessen analysiert haben, wofür so viel Blut geflossen ist. Mir persönlich ist die sozialdemokratische Gesellschaftsordnung näher. Ich habe einige Jahre in Schweden gelebt und

habe die Zugänglichkeit vieler Güter, die Kontrolle des Staates und die Gleichheit der Menschen gesehen. Wäre denn so ein Szenario nicht natürlicher als das, was mit uns passiert ist? Aber warum ist in Russland aus der Erfahrung des „roten Menschen“ heraus eine so große Selbstherrlichkeit entstanden? Ich denke, dass bei uns die Menschen kulturell nicht ausreichend geprägt wurden. Alle unsere kulturellen Bestrebungen haben sich darum gedreht, wie man, wenn man an die Macht kommt, etwas erreichen kann. Aber es wurde nie die Frage nach dem Zustand der eigenen Seele gestellt. Die hohen Werte „Für die Heimat sterben und sie vor dem Feind beschützen“ haben den Alltag nie betroffen. Worin mündet denn unsere zivilgesellschaftliche Energie heute? In den Schutz der Gefühle Gläubiger? – Niemand hat doch vor, die Gotteshäuser zu stürmen. In die Diskussion über Homosexuelle? – Keiner hat einen erwachsenen Menschen seines Rechts beraubt, selbst über sein Leben zu bestimmen. Vielleicht sollte man die zivilgesellschaftliche Energie darauf richten, zu lernen, wie man gute Nachbarschaft pflegt und Freude am Leben hat? In Ihrem Buch schreiben Sie, wir würden momentan eine „Secondhand-Zeit“ durchleben. Was meinen Sie damit? Ich schreibe schon 35 Jahre lang an „Der rote Mensch. Stimmen der Utopie“, einem Zyklus aus fünf Büchern. „Secondhand-Zeit“ ist nun der Abschluss. Es ist eine Me-

tapher, die unsere Zukunftsunfähigkeit beschreibt. Wir haben uns als untauglich für ein neues Leben erwiesen, haben dafür weder Kraft noch Ideen, Wünsche oder Erfahrung. Während der Perestroika schien uns, dass es genug sei, ein wenig zu reden – und schon tritt die Freiheit ein. Aber es hat sich herausgestellt, dass die Freiheit eigentlich eine Höllenarbeit bedeutet. Aus irgendeinem Grund denken wir immer, dass für ein hohes Ideal Blut fließen muss, und dann stellt sich eine gewisse Wahrheit ein und ein neues Leben. Es gibt viele solcher Erwartungen in der russischen Literatur. Aber dieses „neue Leben“ ist in Wirklichkeit eine langwierige und langweilige Arbeit. Man muss nicht nach Afghanistan fahren oder aufs Dach klettern, um einen Reaktor zu löschen. Nein, stattdessen muss man lernen, mit seinem Kind zu reden, sich auf den Mikrokosmos des menschlichen Lebens konzentrieren, das so lange nicht Mittelpunkt des staatlichen, aber auch nicht des persönlichen Interesses war. Und es wurde klar, dass wir keine Ideen haben. Wenn Russland ein schwieriges Erbe hat und es uns in die gewohnten Muster der Wahrnehmung und des Handelns hineindrängt, wie kann dann ein anderer, „innerer Mensch“ entstehen? Russland ist groß, und es ist hier unmöglich, alles unter Kontrolle zu bringen und die Erfahrung der Freiheit einfach so auszulöschen. Es kommen neue Menschen zur Welt. Sie haben Zivilcourage. Die neue Generation hat bereits ganz

© BORIS BABANOW / RIA NOVOSTI

ÜBER DIE ÜBERWINDUNG DES SOWJETISCHEN ERBES

BIOGRAFIE GEBURTSORT: STANISLAW ALTER: 65 BERUF: SCHRIFTSTELLERIN

Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 im westukrainischen Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk) geboren und zog später nach Weißrussland. In Minsk studierte sie Journalismus, nach dem Abschluss war sie für eine Lokalzei-

eigene Vorstellungen von allem. Aber damit diese neue Generation mit der harten Arbeit der Freiheitserschließung beginnen kann, muss die Elite, müssen die Intellektuellen anfangen, mit ihnen zu reden. Richtig, heute hören wir die Stimmen von Ulitzkaja oder Akunin. Ich bin überzeugt, dass es von ihnen mehr gibt, als wir für gewöhnlich annehmen. Aber sie schweigen. Damit sich das Leben aber verändert, müssen sie sprechen. Ein Nawalny wird unseren „inneren Menschen“ nicht verändern. Und sind die Menschen bereit für ein solches Gespräch? Ja. Die Hoffnungen auf ein leichtes Auftauchen eines neuen Lebens, wie in einem Märchen, sind vorbei. Alle haben begriffen, dass Freiheit nicht wie Schweizer Schokolade importiert werden kann, dass eine Wiederbelebung durch uns selbst beginnen muss.

EXPERTEN-MEINUNG

Eine Brücke von der Vergangenheit ins Heute Martin Schult REFERENT

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ie Jury des Stiftungsrats hat aus über 100 Vorschlägen Swetlana Alexijewitsch herausgefiltert und entschieden, dass sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt. Wie die Jury das macht, kann ich nicht verraten. Das ist eine diskrete Angelegenheit. Man beschäftigt sich intensiv mit den vorgeschlagenen Schriftstellern und ihren Büchern, man vergleicht sie unter-

einander. Am Ende ist sie übrig geblieben. Genau wie beim Nobelpreis ist es nicht möglich, die Namen der Favoriten öffentlich zu nennen. Man kann ja nicht sagen, wer der bessere Friedenspreisträger wäre. Man kann vergleichen, was das bessere Buch ist, oder, wie beim Deutschen Buchpreis, das beste deutschsprachige Buch auswählen. Aber bei Menschen, die sich auch für den Frieden engagieren, kann man ja im Grunde genommen keine Nominierungsliste machen und sagen, der eine sei besser als der andere.

tung sowie als Lehrerin tätig. Ein Jahr später arbeitete sie für die Minsker Land-Zeitung. Im Jahr 1976 wechselte sie als Korrespondentin zum Literaturmagazin Neman. Swetlana Alexijewitsch ist Autorin der Bücher „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, „Zinkjungen“, „Im Banne des Todes“, „Die letzten Zeugen“, „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ und „Secondhand-Zeit“. 2013 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Viele Helden aus meinem Buch dachten, es sei das Wichtigste, die Tür zur Freiheit zu öffnen, als ihre Freunde für ihre Schriften ins Gefängnis geworfen wurden. Und jetzt, wo diese Tür offen steht, laufen die Menschen in eine andere Richtung: Sie wollen mit Schuhen und Kleidung versorgt sein, in fremden Ländern Urlaub machen. Und wir, ein wenig verdutzt, sehen, dass wir für diesen Wechsel noch gar nicht bereit sind. Es ist das eine, mit einem Riesenungetüm zu kämpfen und zu siegen, aber etwas anderes, Hunderte seiner Auswüchse aufzuspüren. Das ist in gewisser Weise weitaus erschreckender gewesen. Und wir haben nicht die kulturellen Fertigkeiten, damit umzugehen. Doch es sind 20 Jahre vergangen, und das Schweigen der Intellektuellen muss beendet werden. Das Interview führte Jelena Jakowlewa

Natürlich geht es beim Friedenspreis immer auch um Politisches. Das konnte man letztes Jahr an der Wahl des Chinesen Liao Yiwu sehen, 2011 beim Algerier Boualem Sansal. Bei Alexijewitsch war das Entscheidende, dass in diesem Jahr ihr Buch „SecondhandZeit“ erschienen ist. Es ist für ihr Gesamtwerk sehr wichtig, weil sie damit die Brücke aus der Vergangenheit ins Heute schlägt. Damit meine ich ihre vorherigen Bücher, etwa ihr erstes Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ über die sowjetischen Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg. Martin Schult ist stellvertretender Leiter des Berliner und Leipziger Büros des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und zuständig für den Friedenspreis.


Kultur

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Film Der Regisseur Konstantin Fam hat einen Kurzfilm über den Holocaust gedreht. In der Hauptrolle: ein paar Schuhe

Denkmal für das unbekannte Opfer Konstantin Fam kannte bis vor Kurzem nur ein kleiner Kreis von Cineasten: Der Regisseur ist ein Neuling in der Welt des Kinos. Nun ist sein Film „Schuhe“ auf dem Weg zum Oscar. JAN SCHENKMAN RUSSLAND HEUTE

Für den Oscar werden aus Russland in diesem Jahr vermutlich zwei Nominierungen kommen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Einmal ist da der 30 Millionen Dollar teure Blockbuster „Stalingrad“ des Actionregisseurs Fjodor Bondartschuk, inklusive wilder Schießereien und ultramoderner Spezialeffekte. Und dann ist da noch eine tragische, nur 18 Minuten lange Geschichte über den Holocaust, die keine Gesichter zeigt und auf einen einheitlich gesprochenen Text verzichtet, roter Faden des Films ist ein Paar Stöckelschuhe. Über den Krieg lässt sich auch auf diese Weise erzählen: mit gedämpfter Stimme, reduziert und tiefgründig. Fam versteht es, einfache Geschichten zu erzählen. Dabei ist die eigene Geschichte des 41-Jährigen kompliziert: Seine Mutter ist Jüdin, sein Vater stammt aus Vietnam. Einer seiner Großväter ist in Vietnam umgekommen, der andere im Zweiten Weltkrieg spurlos verschwunden. „Meine Mutter erzählte mir davon, wie sie auf den Feldern nach gefrorenen Kartoffeln suchten, wie sie an Hunger litten und an Türen klopften. Die Menschen bezeichneten sie als jüdischen Abschaum und ließen sie draußen in der Kälte stehen. Der Krieg war für alle eine Tragödie, doch für die Juden war er eine besonders große.“

PRESSEBILD (3)

Die Anonymität ist Konzept: Während des gesamten Films bleibt die Kamera auf die Füße der Menschen gerichtet.

düsteren Umrisse der Lagerbaracken und einen Berg Schuhe, die niemand mehr tragen wird. Einige Zuschauer zucken mit den Achseln, aber den meisten, die Fams Meisterwerk sehen, stehen die Tränen in den Augen. „Vor acht Jahren bin ich nach Auschwitz gefahren“, erinnert sich der Regisseur. „Dort ergriff mich eine Art Hysterie, mich, einen erwachsenen Mann. Es dauerte zwei Stunden. Ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Wenn man einmal die kleinen Kinderstiefel gesehen hat, dann ist man einfach nicht mehr imstande zu begreifen, wie so etwas passieren konnte. Ich habe fünf Kinder und fahre mit ihnen jedes Jahr nach Auschwitz, wo ich ihnen Dinge zeige und darüber erzähle. Ich weiß, dass dies kein positiver Ort für Kinder ist, doch man muss das einfach sehen. Sonst wird man etwas Wichtiges im Leben nicht verstehen können und falsche Akzente setzen.“

Schuhen gesehen habe. So entstand die Idee zum Film. Einen Monat später war Konstantin Fam bereits in Polen, um die Dreherlaubnis einzuholen. Zuerst fuhr er ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, dann ins KZ Majdanek und anschließend ins Krakauer Ghetto, wobei er alle Filmszenen in einem kleinen Motel niederschrieb, das direkt an Auschwitz-Birkenau angrenzt und von dessen Fenster aus man unmittelbar auf die Leichenhalle blicken kann. Fam drehte auch in Prag, Paris und Weißrussland, aber nie weiß der Zuschauer so recht, wo er ge-

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rade ist. „Die vielen Orte waren mir wichtig. Es ist die Geschichte ganz Europas und nicht die eines bestimmten Landes.“ Eben aus diesem Grund werden auch keine Gesichter gezeigt. Fam hat den unbekannten Opfern des Holocaust mit seinem Film ein Denkmal gesetzt.

FAKTEN ÜBER DEN FILM „SCHUHE“

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„Schuhe“ ist der erste Teil der geplanten Holocaust-Trilogie „Die Zeugen“. Für den zweiten Teil möchten die Produzenten den Hollywoodstar Natalie Portman als Hauptdarstellerin verpflichten.

Premiere in Nürnberg

Konstantin Fam fährt jedes Jahr mit seinen Kindern nach Auschwitz.

„Als ich ‚Schuhe‘ meinen deutschen Partnern, die Kontakte zu den schulischen Einrichtungen haben, zeigte, meinten sie, der Film sei sehr gut geeignet, um mit Schülern in einen Dialog zum Thema Holocaust zu treten. Sie regten an, zu dem Film passendes Unterrichtsmaterial zu entwickeln. Es entstand auch die Idee, die Premiere in der Nürnberger Luitpoldarena zu feiern, an jenem Ort, wo Hitler im September 1935 die Nürnberger Rassengesetze verkündete. Für mich ist das wichtiger, als möglichst viele Filme zu verkaufen. Eine solche Resonanz habe ich mir gewünscht.“ In Russland stieß Fams Projekt auf Zurückhaltung. In den letzten Jahren schaffte es nur ein einziger weiterer Film zum Holocaust auf die Leinwand: „Holocaust – ist das nicht ein Tapetenkleister?“ von Mumin Schakirow. „Sie haben Angst vor diesem Thema“, meint Fam. „Weil es die Menschen nicht gerade im besten Licht zeigt. Denn um mehrere Millionen Juden zu töten, reicht die Gestapo allein nicht aus, es gab andere Helfer. Klar ist es erhebend, der Enkel eines Helden zu sein – die Menschen empfi nden auch Mitleid für die Familien der Opfer –, doch der Nachfahre eines moralisch verkommenen Menschen?“

AUSSTELLUNG IM GLANZ DER ZAREN – DIE ROMANOWS, WÜRTTEMBERG UND EUROPA

KINO FILMFESTIVAL COTTBUS

FILM „SCHERBENPARK“

5. OKTOBER 2013 BIS 23. MÄRZ 2014, ALTES SCHLOSS, STUTTGART

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

In der Landesausstellung stehen die fünf Frauen im Mittelpunkt, deren Ehen die Basis für die gemeinsame Geschichte des Hauses Württemberg und der Romanows legten.

Das „Festival des osteuropäischen Films“ hat sich etabliert: Alle Jahre wieder zeigt es Schätze aus Osteuropa, die sonst in Deutschland nicht zu sehen sind. Aus Russland unter anderem dabei: die Verfilmung des Kultbuchs „Der Geograf hat den Globus versoffen“.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› landesmuseum-stuttgart.de

› filmfestivalcottbus.de

Hysterisch in Auschwitz

KULTURKALENDER

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Die europäische Premiere wird am 5. Dezember das Monaco International Film Festival vor der Premiere von David Lynchs „Meditation Creativity Peace“ eröffnen.

Die Geschichte ganz Europas Konstantin Fam empfiehlt auch seinen Freunden, sich Auschwitz anzuschauen. Einer von ihnen rief ihn direkt nach dem Besuch des Konzentrationslagers an und erzählte, er sei gerade vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäfts. Darin stünden rote Stöckelschuhe – die gleichen, die er gerade in dem riesigen Berg aus

PRIVAT

Konstantin Fam hat sein ganzes Leben lang Filme gemacht. Darunter waren Kurzfilme, Fernsehserien, Werbespots. Sein Leben war das eines gewöhnlichen Regisseurs. Nichts ließ den Erfolg vorhersehen, den er mit „Schuhe“ haben sollte. Der Film zeigt, wie sich eine junge Frau lang ersehnte Stöckelschuhe kauft. Sie verliebt sich, heiratet und bekommt Kinder. Erzählt wird die Geschichte eines gewöhnlichen, aber ungewöhnlich glücklichen Ehepaars. Dann bricht der Krieg aus, und das Glück wird mit einem Schlag zerschmettert. Es sind die gewöhnlichen Leute, die in diesem Krieg vernichtet werden. Die letzten Filmszenen zeigen, wie die Türen der Gasöfen zufallen, draußen sieht man die

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Es wurde in Polen, Tschechien, Frankreich, Weißrussland und Russland gedreht. An der Produktion waren mehr als 400 Menschen beteiligt.

5. BIS 10. NOVEMBER, COTTBUS

FESTIVAL RUSSISCHE FILMWOCHE IN BERLIN 2013 27. NOVEMBER BIS 4. DEZEMBER, VERSCHIEDENE SPIELORTE IN BERLIN

Auf dem Festival werden die neuesten russischen Filme präsentiert, so der Blockbuster „Legende Nummer 17“ über den Eishockeyspieler Walerij Charlamow oder „Durst“ über einen Veteranen des Tschetschenienkriegs. › russische-filmwoche.de

AB 21. NOVEMBER, DEUTSCHLANDWEIT

2008 feierte die russlandstämmige Alina Bronsky mit ihrem Debütroman „Scherbenpark“ literarische Erfolge. Es geht um die junge Russlanddeutsche Sascha, die sich an ihrem Stiefvater für den Mord an ihrer Mutter rächen will. Nun wurde das Buch von Bettina Blümner („Prinzessinnenbad“) verfilmt. Mit dabei: Ulrich Noethen.


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Porträt

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Theater Georg Genoux über seinen Weg vom Straßenfeger zum bekanntesten internationalen Regisseur Moskaus

Die Dramen unter der Oberfläche Vor 16 Jahren kam der gebürtige Hamburger nach Russland. Mit Off-Theatern wie Teatr.Doc hat er Moskaus Theaterszene kräftig aufgemischt. OLGA FUCHS

BIOGRAFIE

Georg Genoux

ITI-INFO

ALTER: 37 BERUF: REGISSEUR GEBOREN: HAMBURG

Georg Genoux kam nach dem Abitur erstmals nach Russland: In einem Moskauer Vorort leistete er seinen Zivildienst. Ab 1999 studierte er Theaterregie an der Russischen Akademie für Theaterkunst (GITIS). Genoux gründete mehrere Theater in Moskau. Heute lebt er in Hamburg, Sofia und Moskau und leitet unter anderem das internationale Theaterprojekt NEDRAma.

aterstücke zu inszenieren. Mit vielen ehemaligen Schülern bin ich bis heute befreundet. Nach meiner Rückkehr bekam ich einen Studienplatz für Regie an der Hochschule für Musik und

© KIRILL KALINNIKOW/ RIA NOVOSTI

Meine Eltern sind Künstler, als Kind habe ich gegen sie rebelliert. Wenn man so will, habe ich Antikunst betrieben – Fußball und Basketball. Als ich 13 wurde, sagte mein Trainer, mich plötzlich siezend: „Sie haben bald Ihr Interesse am Fußball verloren. Sie werden sich mit Literatur und Theater befassen.“ Er war ein guter Psychologe, nach einem Jahr spielte ich bereits in „Romeo und Julia“. Statt Militär wählte ich den Zivildienst im Ausland. Als ich von meiner Russischlehrerin hörte, dass in einer Schule in Schukowski bei Moskau ein Hoffeger gebraucht werde, bin ich nach Russland gefahren. In dieser Schule wurde plötzlich die Deutschlehrerin krank, und ich sollte sie vertreten. Mein Russisch war schlecht, mit den Kindern habe ich mich nur auf Deutsch unterhalten, und ich war wohl kaum ein guter Lehrer. Besser gelang es mir, mit ihnen The-

Theater in Hamburg. Aber ich habe mich entsetzlich gelangweilt: kein Praxisbezug, die ganze Zeit nur Theorie. Dann kehrte ich nach Russland zurück. Im selben Jahr nahm Mark Sacharow neue

Studenten auf, und ich konnte bei ihm anfangen. Bald hatte ich gewichtige Gründe, hier zu bleiben: Ich lernte ein Mädchen kennen, mit dem ich dann lange zusammen war; Pjotr Todorowski besetzte mich für die Hauptrolle in seinem Film „Im Zeichen des Stiers“; und dann lernte ich noch Leute kennen, die das Festival für junge Dramatik „Ljubimowka“ organisierten. Ich gründete das dokumentarische Theater Teatr.Doc. Meine Mitstudenten konnten nicht verstehen, warum ich mich mit irgendwelchen sozialen Fragen beschäftigte, die auf den ersten Blick keinerlei Bezug zum Theater haben, und dazu noch ohne Geld und in einem schmutzigen Keller. Meine Diplomarbeit hatte das Stück „Zeitnot“ zum Thema. Ich habe zwei Jahre lang Material gesammelt, indem ich mit Leuten sprach, die den Tschetschenienkrieg mitgemacht haben. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die 18-jährigen Jungs, die von dort zurückkehrten, um einiges älter als ich 23-Jähriger waren. Und ich fühlte mich ihnen gegenüber so hilflos, ich wusste nicht, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Ein ähn-

liches Gefühl hatte ich später, als ich mit Bewohnern der Norilsker Kommune für HIV-Infizierte sprach. Ich war immer stolz, dass meine beiden Großväter Deserteure waren und nicht für die Nazitruppen gekämpft haben. Ich war 17, als der Vater meines Vaters starb. Ich sah seine Papiere durch und fand auf einmal das Foto eines Offiziers in SS-Uniform. So erfuhren wir, dass der Mann, der meinen Vater großgezogen hatte, nicht sein leiblicher Vater war. Mein Vater wurde schwer krank, als er von dieser Nachricht erfuhr. Es gibt eine gewisse Realität, die man nicht dokumentarisch mit der Kamera festhalten kann, sondern die viel mächtiger ist als die, die sich an der Oberfläche zeigt. Aber gerade sie lenkt uns. Ein russischer Theaterkritiker hat sie sehr genau als Gedächtnisdrama bezeichnet. Bei all meiner Liebe zu Moskau sehe ich, wie diese Stadt die Menschen zum Schlechteren verändert. Und mit Schrecken stelle ich fest, dass ich selbst immer zynischer werde. Jetzt scheint mir, dass es wichtiger ist, sich selbst zu bewahren, als das Theater voranzubringen.

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oskauer Theater mit Aufführungen auf Deutsch und in anderen Sprachen

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THEATRE DE LANGUE FRANCAISE Das Théâtre de Langue Française wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von der Übersetzerin Alexandra Oranowskaja gegründet. Sie war Mitglied des Schriftstellerverbands der UdSSR und wurde unter ihrem Künstlernamen Alice Oron bekannt. Alle Inszenierungen des Theaters sind bis zum heutigen Tag ausschließlich auf Französisch, das Repertoire enthält sowohl französische als auch russische Klassiker. Zurzeit leitet das Théâtre de Langue Française Jelena Oranowskaja, der Tochter der Gründerin. Der Eintritt ist für alle Aufführungen frei.

D I E F L E D E R M AU S AU F D E U T S C H I M B O L S C H O I

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26.–31. Dezember

Der Nachwuchsregisseur Wassilij Barchatow wählte ein weithin bekanntes Sujet aus und änderte für seine Inszenierung rigoros Ort und Zeit der Handlung. Jetzt finden aller Ereignisse der „Fledermaus“ auf dem Kreuzfahrtschiff „Strauß“ in der Epoche des Art déco statt – und natürlich geht der Luxusliner am Ende mit Pauken und Trompeten unter. Während sich das Orchester unter der Leitung von Christoph-Mathias Mueller vorsichtig mit den Schnörkeln der berühmten Ouvertüre auseinandersetzt, gehen auf der Bühne die Passagiere an Bord der „Strauß“. Es versteht sich von

selbst, dass die Menschen nicht zu den Ärmsten gehören: In die Schlange an der Schiffsrampe reihen sich eine glamouröse junge Dame mit ihren beiden Hunden, ausgemergelte, aber grell geschminkte Ladys, bepackt mit Einkaufstüten von Louis Vuitton, und ein selbstgefälliger Invalide im Rollstuhl. Zwischen den Matrosen, die die Tickets kontrollieren, versucht sich Alfred mit seinem Rucksack durchzudrängeln, wird aber zurückgewiesen – man sieht, dass er nicht zu der illustren Gesellschaft gehört; letztlich gelingt es ihm aber doch, sich an Bord zu schleichen, wo er sich in einem Rettungsboot versteckt hält. Dies ist der erste Versuch, die „Fledermaus“ im BolschoiTheater zu inszenieren.

DAS PUPPENTHEATER IM DEUTSCH-RUSSISCHEN HAUS Das Deutsch-Russische Haus in Moskau bietet eine breite Palette an Veranstaltungen. Zu den beliebtesten gehören die Aufführungen des Puppentheaters Puppenhaus. Die virtuose Führung der unterschiedlichen Puppen, ihre kunstvolle Fertigung und die Aufführungen mit klassischer Musik von Beethoven oder Mozart schlagen die Zuschauer in ihren Bann und erinnern die älteren vielleicht an die glücklichen Tage ihrer Kindheit. Schauspieler aus dem Publikum sind erwünscht!

TA N N H ÄU S E R I M S TA N I S L AW S K I-M U S I K T H E AT E R

F L E D E R M A U S

Dirigat: C h r i s t o p h Mat h ias Muel ler

Die Awtorskoje Teatralnoje objedinenije (Theatervereinigung der Autoren) ist ein Moskauer Laientheater. Es wurde nicht als Bildungsstätte, sondern als ein Ort für kurzweilige Unterhaltung geschaffen und ist darauf ausgerichtet, das kreative Potenzial von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Die Nachwuchsschauspieler lernen unter Anleitung die Praktiken des Theaterspiels und können ihren großen „Kollegen“ nacheifern. Und das in komplett fremdsprachigen Bühnenfassungen.

T A N N H Ä U S E R Re g ie: A nd rejs Ž a ga rs 12 ./14. November, 15. Dezember

Anlässlich des 200. Geburtstags von Richard Wagner nahm das Moskauer Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater die Oper „Tannhäuser“ in seinen Spielplan auf. Der „Tannhäuser“ ist überhaupt die erste Wagner-Oper an diesem Haus. Regisseur ist Andrejs Žagars, ehemaliger Direktor der Lettischen Nationaloper und Filmschauspieler, der in den letzten Jahren durch seine frischen Operninszenierungen auffiel. Nach Moskau reiste er mit seiner eigenen Bühnenmannschaft. Als Grundlage für sein Konzept diente ihm die Biografie des Komponisten.

Die Uraufführung des „Tannhäuser“ fand 1845 in der Dresdner Semperoper statt, doch Žagars beschloss, die verschiedenen musikalischen Fassungen miteina nder zu kombinieren. Zur Dresdner Variante fügte er harmonisch die Pariser hinzu. Mit dieser versuchte Wagner erfolglos, die französische Hauptstadt zu erobern und ergänzte deshalb den ersten Akt um einige Ballettszenen. Gesungen wird in diesem „Tannhäuser“ in zwei Sprachen: auf Deutsch und auf Französisch. Ja, und auch die Handlung wurde auf zwei Länder verteilt: Nach dem Konzept des Bühnenbildners Andris Freibergs verwandelte sich die Venusgrotte in eine Orangerie mit Palmen, in der zwischen wild entfesselten Ju-

gendlichen die göttliche Kurtisane in einem schreiend rosafarbenen Negligé herumstolziert. Die ehrwürdige Wartburg, auf der der Sängerkrieg ausgetragen wird, ist hier eine Bibliothek, die vom Boden bis zur Decke mit verschlissenen Büchern angereichert ist: Diese werden von ehrwürdigen Bürgern in dunklen Anzügen gelesen. Darüber hinaus hielt sich Andrejs Žagars mit radikalen Ideen zurück – was in der russischen Opernlandschaft als konservativ gilt. Žagars hat darauf verzichtet, die Handlung in unsere Zeit zu übertragen, doch beließ er die Figuren auch nicht im Mittelalter: Sie agieren in einem Deutschland der Gehröcke und Krinolinen ganz wie zu Wagners Zeiten.


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