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Im Konflikt
An der Gasröhre
Von vielen bewundert, von einigen kritisiert: Russland-Expertin Gabriele Krone-Schmalz
Witalij Manskij folgt in seinem Film „Pipeline“ den Menschen von Sibirien bis Köln.
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Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.
Mittwoch, 4. Dezember 2013
Per Billigflieger nach Sotschi
Deutsches Know-how unter russischen Palmen
Die russische Fluggesellschaft Aeroflot startet eine eigene Billigfluglinie fürs Inland: Dobrolet fliegt ab dem kommenden Frühjahr von Moskau aus andere Großstädte wie Sotschi, St. Petersburg und Jekaterinburg an. Die Preise sollen 40 Prozent unter dem Markt liegen. Gespart wird beim Sitzkomfort und Bordservice, die Flugzeuge hingegen sind nagelneu. Aeroflot reagiert damit auf Billigflieger wie Easyjet und Wizz Air, die in letzter Zeit auf den russischen Markt drängen. SEITE 5
Moskau öffnet die Schatztruhe
THEMA DES MONATS
REUTERS
JAHRESRÜCKBLICK OBAMA IN ST. PETERSBURG, SNOWDEN IN MOSKAU
Das Jahr 2013 war für Russland reich an Paukenschlägen, an positiven wie negativen. Lauter als alles andere war Edward Snowdens Ankunft in Moskau. Die Causa Snowden belastet seitdem die amerikanisch-russischen Beziehungen, trug jedoch gleichzeitig dazu bei, dass das Wirtschaftsmagazin Forbes Wladimir Putin im Oktober zum mächtigsten Mann der Welt erklärte. Das jedoch ändert wenig am schlechten Image Russlands und seines Präsidenten, für das etwa das Pussy-RiotMitglied Nadeschda Tolokonnikowa mit einem offenen Brief über ihre Haftbedingungen sorgte. SEITEN 6 UND 7
turbüro GMP. Überhaupt glänzt die Olympiastadt Sotschi mit deutschem Know-how. SEITE 3
ITAR-TASS
Die Schwarzmeerstadt Adler hat mit ihrem gerade eröffneten Bahnhof ein neues Wahrzeichen. Planerisch beteiligt war das deutsche Architek-
Quo vadis Ukraine? Es war für die Europäer ein diplomatischer Schlag: Wiktor Janukowitsch hat das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet. Es folgten die größten Demonstrationen in Kiew seit der „Orangen Revolution“. Hinter der plötzlichen Absage an die EU stecken handfeste wirtschaftliche Interessen. Die Causa Timoschenko war zweitrangig.
„Alrosa“ – schon mal gehört? Dabei ist der russische Konzern der zweitgrößte Diamantenproduzent der Welt. Im Oktober ist das staatliche Unternehmen, dessen Minen im fernen Jakutien liegen, nun an die Börse gegangen. Mit Erfolg: Für 16 Prozent der Anteile konnte Alrosa 1,3 Milliarden Dollar einnehmen. Der Börsengang ist Teil einer angekündigten Privatisierung von russischem Staatsbesitz. Diese war allerdings in den letzten Monaten ins Stocken geraten. SEITE 4
Nächste Ausgabe
5.
ruar b e F
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OB ATHLET, FAN ODER HELFER – SOTSCHI IST EIN ABENTEUER FÜR ALLE! Alles über Sotschi auf RUSSLAND-HEUTE.DE/SOTSCHI_2014
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Politik
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Syrien Russland fordert eine Lösung der gewaltsamen Auseinandersetzungen, anstatt die Symptome zu bekämpfen © RIA NOVOSTI
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Sergej Lawrow hofft, dass es den westlichen Partnern Russlands gelingt, die syrische Opposition unter Führung von Ahmad Jarba an den Verhandlungstisch zu bringen.
Westliche Partner sollen ihre Hausaufgaben machen Nun steht es fest: Am 22. Januar 2014 findet die zweite Syrienkonferenz in Genf statt. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ist verhalten optimistisch, was ihren Erfolg betrifft. NIKOLAI SURKOW RUSSLAND HEUTE
Vor Journalisten der Rossijskaja Gaseta berichtete der russische Außenminister Sergej Lawrow Mitte November über die Vorbereitungen zur zweiten SyrienFriedenskonferenz in Genf. Der Minister äußerte sich positiv über die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Kollegen und zum Stand der Vorbereitungen zu Genf II. Gleichzeitig bezeichnete er die Forderungen der syrischen Opposition nach einem „geschützten humanitären Korridor“ als problematisch. „Das erinnert alles stark an die schon seit Langem bestehenden Überlegungen zu solchen Korridoren oder zu Flugverbotszonen ohne die Zustimmung der syrischen Regierung, um über diese Korridore von außen humanitäre Hilfe leisten zu können“, so Lawrow. Er hält das für eine Phantomdiskussion: „Ich habe eine sehr einfache Frage an die Befürworter solcher Korridore: ‚Ihr schickt doch Waffen und Munition, und gleichzeitig jammert ihr, dass keine humanitäre Hilfe in den von den Rebellen besetzten Gebieten ankommt und die Zivilbevölkerung leidet. Warum schickt ihr dann nicht einfach über dieselben Korridore humanitäre Hilfe?‘“ Der Außenminister erinnerte daran, dass nach Aussagen internationaler Hilfsorganisationen „gerade die Rebellen derzeit die größten Probleme bereiten“. Auch manche Eingaben westlicher Beteiligter seien in dieser
Frage nicht sehr hilfreich. Lawrow kritisierte die Versuche einiger Staaten, „die Reaktion auf die Symptome des Konflikts als oberste Priorität in den Raum zu stellen“. So diskutiere man über sexuelle Gewalt, ohne nach Wegen zur Lösung des Konflikts selbst zu suchen. Seiner Ansicht nach „bedeutet das, dass die Weltgemeinschaft eine Fortsetzung äußerst blutiger Konflikte zulässt und lediglich die humanitären Folgen mildern möchte“.
„Die Probleme der Zivilbevölkerung müssen bei einer Konfliktlösung immer an allererster Stelle stehen.“ Die Forderungen nach geschützten humanitären Korridoren hält Lawrow für eine „Phantomdiskussion“. Internationale Normen für die Konfliktlösung vereinbaren Russland habe bereits 2005 vorgeschlagen, einen Kriterienkatalog auszuarbeiten, der in Bezug auf jeden beliebigen Konflikt beachtet werden müsste: „Unser Vorschlag enthielt Prinzipien wie den Grundsatz, dass jede Krise ausschließlich auf Basis eines nationalen Dialogs aller politischen, ethnischen und religiösen Gruppen des entsprechenden Landes gelöst werden kann. Ein Eingreifen von außen darf es nicht geben, die territoriale Integrität und die Souveränität des Staates müssen gewahrt bleiben. Und die Probleme der Zivilbevölkerung müs-
sen immer an allererster Stelle stehen.“ Lawrow zeigte sich überzeugt, dass der bevorstehende G-8-Vorsitz Russlands „eine weitere Möglichkeit bietet, um bei den bedeutendsten Akteuren weltweit auf die Akzeptanz der wichtigsten Normen für eine Konfliktlösung hinzuwirken“. Insbesondere gehe es darum, mit Terroristen keine gemeinsame Sache zu machen. Genau dagegen hätten einige Staaten während des Arabischen Frühlings jedoch verstoßen, „indem sie, anstatt im Interesse der globalen und regionalen Sicherheit zu handeln, ihre eigenen geopolitischen Erwägungen in den Vordergrund gestellt haben. Nehmen Sie Libyen als Beispiel, wo sich die NATO eingemischt und die Gegner Gaddafis bewaffnet hat. Und genau diese Gegner Gaddafis bereiten jetzt, nachdem man auf unmenschliche Weise mit ihm abgerechnet hat, in Mali, im Tschad und in Zentralafrika Probleme“, betonte der Minister.
Die Positionen nähern sich langsam an Bezüglich einer Beteiligung der syrischen Opposition an den Verhandlungen ist Lawrow verhalten optimistisch: „Wir haben das Gefühl, dass die Positionen derer, die anfangs die Idee einer politischen Regulierung torpedierten und ausschließlich auf eine militärische Lösung setzten, immer realitätsnäher werden. Zumindest wird beim Vergleich der heutigen Positionen mit jenen vom letzten Jahr ein himmelweiter Unterschied deutlich.“ Im Übrigen beklagte der Minister, dass die Nationale Koalition noch über kein „konstruktives Programm für Syrien verfügt, auf dessen Grundlage sie ihre Wahlkampagnen aufbauen kann“, und sich stattdessen auf Aufrufe beschränkt, Baschar al-Assad zu stürzen. Laut Lawrow bestehen Chancen, die Konferenz am 22. Januar zum Erfolg zu führen, jedoch hänge viel davon ab, inwieweit die westlichen Partner „ihre ‚Hausaufgaben‘ erledigen und die Opposition davon überzeugen, auf Vorbedingungen zu verzichten“.
Wirtschaft
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Sotschi Deutsche Firmen haben einen großen Anteil an den Vorbereitungen der Olympischen Spiele in Sotschi
Olympia made in Germany
Großprojekte gingen an russische Bewerber
Wie das deutsche Team bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi abschneidet, steht in den Sternen. Klar ist aber schon jetzt: Die deutsche Wirtschaft ist Sieger im Olympiageschäft. SERGEJ SUMLENNY FÜR RUSSLAND HEUTE
ZAHLEN PRESSEBILD
Deutsche Unternehmen glänzen in Sotschi mit „Milliardenumsätzen“, berichtete unlängst die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Germany Trade and Invest (GTAI). Die Olympischen Winterspiele 2014 könnten ein Triumph des deutschen Know-how werden – und das gleich in mehreren Bereichen. „Diese Unternehmen sind vor allem in den Segmenten Tunnelbau, Planung und Sicherheitslösungen aktiv. Sie statten Hotels aus und sind an der Konzeption von Sportanlagen beteiligt. Auch die mediale und technische Ausstattung der Stadien kommt häufig aus deutscher Hand“, sagt Rainer Lindner, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Schon seit Herbst 2007 bündelt der Ost-Ausschuss die Interessen der betreffenden Unternehmen in der eigens dafür gegründeten Arbeitsgruppe „Sotschi 2014“. „Hier haben sich über 50 Firmen und Verbandsvertreter zusammengeschlossen. Vor allem als Subunternehmer konnten die deutschen Unternehmen punkten“, so Lindner.
beitsvisum. Deshalb brauche ich keine weiteren Papiere, wenn ich nach Sotschi fliege. In Adler lande ich nach knapp zweieinhalb Stunden.“
Besucherhotel im „Sotschi Park“: Drees & Sommer fungiert als Projektmanager für das Erlebniszentrum.
Projektmanager für einen Erlebnispark aktiv. Ein weiteres Paradebeispiel ist die Firma Kannegiesser aus Vlotho bei Bielefeld. In Sotschi baut der Weltmarktführer im Bereich industrieller Waschmaschinen eine Waschstraße, in der es möglich sein wird, täglich 100 Tonnen Textilien zu bewältigen. Das wäre genug für 25000 Hotelgäste. Ein anderes Unternehmen, die Röder Zeltsysteme und Service AG, liefert Festzelte mit kompletter Innenausstattung. Der Mindestauftragswert beträgt 30 Millionen Euro. „Ich weiß von über 70 Unternehmen, die bislang zum Zuge gekommen sind. Viele von ihnen machen ihre in Sotschi ausgeführten Aufträge allerdings erst nach der Abschlussfeier bekannt“, sagt Michael Harms, Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK). Die AHK ist mit der Auftragslage deutscher Firmen in Sotschi zufrieden – und weist auf die hohe Qualität der Zulieferer hin: „Ein Vorteil ist die
Starker deutscher Mittelstand Es sind nicht nur die Großkonzerne, die auf der Riesenbaustelle erfolgreich auftreten, darunter Volkswagen, einer der wichtigsten Sponsoren der Spiele. „Es sind gerade die Mittelständler, die als Subunternehmen an zahlreichen Projekten beteiligt sind“, erklärt Lindner. Einer der ersten Großaufträge im Zusammenhang mit der Olympiavergabe sei im März 2008 an die süddeutsche Firma Herrenknecht gegangen, die für Straßenund Schienenbauprojekte einen Tunnelbohrer lieferte. Das Unternehmen Drees & Sommer sei als
große Anzahl der Unternehmen hierzulande, die sich auf hochkarätige Sportevents spezialisiert haben. Die Erfahrung der Deutschen ist bei Großereignissen wie den Olympischen Spielen sehr gefragt, ihr Know-how quasi unverzichtbar.“ Auch der Mittelständler ebm-papst wird bei den Olympischen Winterspielen 2014 mit dabei sein. Der weltweit führende Hersteller von energiesparenden Ventilatoren und Motoren erzielt in Deutschland, China und in den USA einen Jahresumsatz von anderthalb Milliarden Euro. Nach Sotschi hat das Unternehmen 400 riesige Ventilatoren für Klimageräte geliefert. Sie bilden das Herzstück in den Arenen, die für den Wintersport genutzt werden. „Für uns ist es das größte Projekt mit RadiPac EC-Radialventilatoren, das jemals in Russland realisiert werden konnte“, so Andrei Honstein, Geschäftsführer von ebm-papst Rus. „Es ist für uns von sehr großem Vorteil, dass
50
Milliarden US-Dollar werden die Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen in Sotschi laut den letzten Berechnungen der Regierung kosten.
70
deutsche Firmen sind bislang an den Vorbereitungen zu den Spielen beteiligt. Die meisten von ihnen sind hoch spezialisierte Mittelständler.
unsere Ventilatoren nicht nur das Label ‚made in Germany‘ tragen, sondern auch tatsächlich in Deutschland hergestellt werden. Das hat dazu geführt, dass Gespräche über Qualität und Zuverlässigkeit unserer Produkte gar nicht erst aufkommen, weil man das als selbstverständlich erachtet“, erklärt er nicht ohne Stolz. Der Manager zeigt sich auch mit den Anreisemöglichkeiten zufrieden: „In Sotschi bin ich alle drei Monate für ein paar Tage. Ich habe in Moskau meinen ständigen Sitz und besitze ein dreijähriges Ar-
Während deutsche Unternehmen hauptsächlich als Zulieferer erfolgreich sind, wurden staatliche Bauaufträge überwiegend russischen Großkonzernen überlassen. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. „Ich kenne zwei deutsche Unternehmen, die ihre Aufträge durch die Bewerbung im direkten Ausschreibungsverfahren bei Olympstroi und dem Organisationskomitee gewonnen haben. Also, manches ist machbar“, sagt Michael Harms. Die Dominanz russischer Großkonzerne bei den staatlich ausgeschriebenen Aufträgen stört den deutschen Wirtschaftsvertreter nicht. „Diese Konzerne sind mit dem ganzen Prozedere besser vertraut, sie haben das notwendige Personal und Erfahrung im russischen Ausschreibungswesen“, meint er. Wie andere Großbauprojekte von internationalem Rang ist auch Sotschi von Korruptionsvorwürfen nicht verschont geblieben. „Vor allem in der internationalen Öffentlichkeit spielten die bekannt gewordenen Korruptionsfälle eine große Rolle. Kritisiert werden auch immer wieder die immensen Baukosten und die ungünstigen Auswirkungen der Baumaßnahmen auf die Natur. Das umstrittene Gesetz gegen das öffentliche Auftreten von Homosexuellen ist ebenfalls in die Schlagzeilen geraten. All dies hat das Bild der Spiele negativ beeinflusst“, meint Rainer Lindner vom Ost-Ausschuss. Er ist sich aber sicher, dass sich am Ende alles in Wohlgefallen auflösen wird: „Russland kann die Winterspiele nutzen, um sich der Welt von seiner besten Seite zu zeigen und sich als herzlicher Gastgeber zu präsentieren. Auch die Winter-Paralympics 2014 sind eine gute Gelegenheit, sich in ein positives Licht zu rücken und gleichzeitig auf die Verbesserung der Lage von behinderten Menschen in Russland hinzuarbeiten“, so Lindner.
IM GESPRÄCH
„Wir können Sotschi und Rio einen guten Rat geben“
War Tatarstan vor der Universiade im Ausland bekannt? Wir arbeiten schon lange daran, Kasan und Tatarstan in der Welt einen Erkennungswert zu geben. Das ist lebensnotwendig, wenn man Investoren in die Republik locken will. Noch vor Kurzem kannten Ausländer nur zwei Städte in Russland: Moskau und St. Petersburg. Ich denke, dass wir
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Im Juli fanden in Kasan, Tatarstans Hauptstadt, die studentischen Sommerspiele Universiade statt. Tatarstans Präsident Rustam Minnichanow glaubt, dass große Sportevents die Attraktivität und Lebensqualität ganzer Regionen fördern.
unser Ziel mit der Universiade erreicht haben.
die studentischen Spiele noch in 20 Jahren nicht gelöst hätten.
Kritiker sagen, dass solche Sportevents ein zu großer Luxus für Städte und Länder sind. Diese Auffassung teile ich nicht. Große Sportereignisse sind zwar kostenintensiv in ihrer Durchführung und erfordern schon im Vorfeld hohe Ausgaben für Infrastruktur und Sportanlagen. Doch nach den Wettkämpfen verschwinden die Arenen, Straßen oder Autobahnkreuze ja nicht. Die Menschen nutzen sie. Nach der Universiade hat sich Kasan verändert. Das Leben ist viel komfortabler geworden. Es wurden viele Fragen angegangen, die wir ohne
Was empfehlen Sie Sotschi und Rio? In erster Linie würde ich empfehlen, nicht allzu sehr auf kritische Stimmen zu hören und konsequent an den Vorbereitungen zu arbeiten. Bei uns zweifelten viele am Zeitplan. Ich antwortete stets, dass zu Beginn der Spiele alles fertig sein würde. So war es dann auch. Und ich bin sicher, dass es auch den Organisatoren von Sotschi und Rio nicht anders ergeht. Wir sind gern bereit, unsere Erfahrung in der Vorbereitung solch groß angelegter Sportereignisse zur Verfügung zu stellen.
Was lockt ausländische Investoren nach Tatarstan? Insbesondere das Hotelgeschäft ist für ausländische Firmen attraktiv. Wir sind offen für Vorschläge, und Investoren können sicher sein, dass jedes ihrer Projekte in Tatarstan positiv von der politischen Führung aufgenommen wird. Dieses Gespräch fand noch vor der Flugkatastrophe in Kasan am 17. November 2013 statt. Dabei kamen 50 Menschen ums Leben, unter ihnen war auch Irek Minnichanow, der Sohn von Tatarstans Präsident Rustam Minnichanow. Die Redaktion von Russland HEUTE drückt den Familien der Opfer ihr tiefes Mitgefühl aus.
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Wirtschaft
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Privatisierung Mit dem Börsengang von Alrosa nimmt die Regierung ihre Privatisierungsstrategie wieder auf
Brillanter Einstieg an der Moskauer Börse Russlands Diamantenmonopolist Alrosa hat 16 Prozent seiner Anteile verkauft und damit ausländischen Anlegern erstmals einen Zugang zu diesem Sektor ermöglicht. ARTJOM SAGORODNOW
2012 schloss Alrosa das Geschäftsjahr als weltweit zweitgrößter Produzent von Diamanten ab, 26 Prozent beträgt sein Anteil an der Weltproduktion. Ende Oktober 2013 ging der Konzern dann an die Moskauer Börse. Die Aktie lag mit 35 Rubel (etwa 0,80 Euro) am unteren Limit des prognostizierten Preisrahmens. Die Gesellschaft verkaufte für knapp 1,3 Milliarden Euro insgesamt 16 Prozent ihrer Anteile. Die russische Regierung und die Republik Jakutien veräußerten jeweils sieben Prozent der Aktien, während die Wargan Holdings, eine Tochtergesellschaft des Konzerns, weitere zwei Prozent zum Kauf anbot. Die Vermögensverwaltungsgesellschaft Lazard und andere Kapitalanleger mit Sitz in den Vereinigten Staaten kauften knapp 60 Prozent der Anteile, berichtete Reuters. Unter den anderen Kapitalanlegern sind die Oppenheimer Funds und der Russian Direct Investment Fund (RDIF). „Die Qualität der Kapitalanleger und die Tatsache, dass die Emission überzeichnet war, zeigen, dass der Verkauf erfolgreich verlief“, kommentierte Vizepremierminister Igor Schuwalow. Das sei nicht überraschend, meint Chris Weafer, Seniorchef der auf Osteuropa spezialisierten Beratungsfirma Macro Advisory. „Die Emission ist ein einzigartiger Aktivposten, und obwohl der Staat noch die Mehrheit an der Gesellschaft hält, zerstreut die relativ geringe Bewertung alle Befürchtungen über eine mögliche Regie-
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Die Mine „Mir“ in Jakutien ist 1200 Meter breit, 525 Meter tief und damit eine der größten der Welt.
Die größten Diamantenförderer der Welt 26% Alrosa
22%
10%
De Beers
RioTinto
2% Dominion Diamond
1% BHP Billiton
39% Andere rungseinmischung oder die Gefahr einer niedrigen Liquidität an der einheimischen Börse.“ Alrosas Börsengang ist der größte Verkauf russischer Aktien, seit die staatliche Sberbank im letzten Jahr sieben Prozent ihrer An-
teile abstieß. Es scheint eine günstige Zeit für russische Aktienemittenten zu sein: Alrosa ging dem Finanzdienstleister Tinkoff Credit Systems (TCS) voraus, der Anfang November beim Börsengang in London mehr als eine Mil-
liarde Dollar eingenommen hat. Allerdings ist TCS eine privat geführte Gesellschaft in einem Bereich, der auf den Aktienmärkten noch unterrepräsentiert ist. Alrosa dagegen gehört mehrheitlich föderalen und regionalen staatlichen Institutionen; die russische Regierung hält 43,9 Prozent, die Republik Jakutien verfügt mit 25 Prozent über eine Sperrminorität. Diverse Kommunalverwaltungen halten weitere 15 Prozent. „Der Börsengang im Oktober war nur der Anfang. Ich gehe davon aus, dass es zu weiteren Verkäufen staatlicher Anteile kommen wird, da die Emission äußerst erfolgreich war. Sie wird das Interesse der internationalen Kapitalanleger an russischen RisikoAssets und einzigartigen Vermögenswerten, wie sie Diamanten nun einmal darstellen, wachsen lassen“, schätzt Weafer. Der Börsengang ist aber auch die etwas enttäuschende Wiederauflage von Privatisierungsbemü-
hungen der Regierung. Ursprünglich war angedacht, Staatseigentum im Wert von bis zu 50 Milliarden Dollar zu veräußern. Doch das Programm wurde wegen der schlechten Performance russischer Aktien in diesem Jahr auf Eis gelegt. Allein durch Aktienverkäufe sollten 2013 Einnahmen von über 13 Milliarden Dollar in die Staatskasse sprudeln. Realisiert wurden dann tatsächlich nur zehn Prozent des prognostizierten Gewinns. Die Nachrichten über schlechte Performances russischer Aktien kommen zu einer Zeit düsterer makroökonomischer Prognosen, die auf die Notwendigkeit hinweisen, dass die russische Wirtschaft modernisiert werden muss. Im November gab der stellvertretende Wirtschaftsminister Andrej Klepatsch bekannt, das Wachstum für das dritte Quartal 2013 liege bei 1,3 Prozent. Nicht besser sah seine Prognose für das ganze Jahr aus, die sich auf unter 1,5 Prozent belief. Noch kurz zuvor hatte Premierminister Dmitrij Medwedjew von einem Jahreswachstum von zwei Prozent gesprochen. Mittlerweile stagniert nicht nur das Tempo der Investitionsmarks, auch die Verbraucher konsumieren weniger. Einige Analysten hoffen allerdings auch weiterhin auf eine Erholung des Investitionsklimas bis zum Ende des Jahres. „Jeder Verkauf staatlicher Beteiligungen führt uns ein Stück von diesen Problemen weg. Die 1,3 Milliarden Dollar für die AlrosaAnteile sind ein kleiner Schritt angesichts des staatlichen Gesamtvermögens von 100 Milliarden Dollar, das privatisiert werden muss. Aber der Börsengang trägt dazu bei zu zeigen, dass es ein Interesse an russischem Staatsvermögen gibt, und ist eine Unterstützung für die Reformer in der Regierung“, so Weafer.
Investitionen Russlands zweitgrößte Stadt läuft Moskau den Rang ab
Die russische Kulturmetropole ist dabei, auch wirtschaftlich eine Spitzenposition einzunehmen. Rankingagenturen stellen ihr ein hervorragendes Zeugnis aus. Investoren willkommen! ARKADI IWANOW FÜR RUSSLAND HEUTE
St. Petersburg, größtes industrielles Ballungszentrum der Russischen Föderation, verdiente sich 2013 den Ruf als „beste Innovationsregion Russlands“. Internationale Agenturen bescheinigten der Stadt ein positives Investitionsklima. 2012 kamen über zehn Milliarden US-Dollar aus dem Ausland und damit doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Auch deutsche Firmen sind an zahlreichen Innovationsprojekten
beteiligt. Die Statistik der bilateralen Zusammenarbeit ist beeindruckend. Innerhalb von neun Monaten stieg 2013 der Umfang des Außenhandels mit Deutschland um mehr als das Zweifache im Vergleich zum Vorjahr. Ende 2012 waren die Investitionen deutscher Unternehmen über die Milliardengrenze gesprungen. 2013 setzte sich die St. Petersburger Stadtverwaltung zusammen, um die Bedingungen für Investitionen aus dem Ausland weiterhin zu verbessern. Eine sinnvolle Neueinführung war die Eröffnung einer Agentur, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Investoren anzulocken und das bürokratische Prozedere aufzulockern. Die Agentur legt die eingereichten Projekte einem Expertenrat
der Stadtverwaltung zur Durchsicht vor. Umgekehrt hat sie eine ganze Palette möglicher Projekte zusammengestellt, die für ausländische Investoren von Interesse sein könnten. Betroffen sind vor allem die Segmente Transportwesen, Sportindustrie und die Infrastruktur für Ausstellungen und Tagungen. St. Petersburg und Deutschland kooperieren in den Bereichen Schiffsbau, Automobilindustrie und -zulieferer, Radioelektronik und IT. Großes Interesse zeigt die Metropole an neuen Technologien für den Straßenbau und zur Verkehrssteuerung angesichts des ständig anwachsenden PkwStroms. Investitionsmagnet ist auch das Gesundheitswesen, angefangen bei der Medizintechnik
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St. Petersburg will zu einem Investitionszentrum werden Die Isaakskathedrale ist die größte Kirche St. Petersburgs.
über Biotechnologie bis zur Pharmazeutik. Die Lebensmittel- und Leichtindustrie sowie die Immobilienbranche bieten ebenfalls ein hohes Potenzial. Heute steht St. Petersburg, was seine Attraktivität für den Tourismus anbelangt, europaweit an zehnter Stelle. 2012 besuchte eine Rekordmenge von sechs Millionen Menschen die Stadt, das sind zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Im Dezember wird am Flughafen Pulkowo ein neues Terminal eröffnet. Die Testphase läuft
bereits. Betrieben wird es von einem Konsortium aus der deutschen Firma Fraport (Frankfurt Airport Services Worldwide) und der russische VTB-Bank. Über problemlosere Einreisebedingungen führt Russland seit Jahren Gespräche mit der Europäischen Union. Und bereits heute können sich Transitreisende, die in St. Petersburg an dem neuen Seehafen ankommen, die Stadt innerhalb von drei Tagen oder 72 Stunden auch ohne Visum in Ruhe anschauen.
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Zivile Luftfahrt Mit einer neuen Low Cost Airline reagiert Aeroflot auf die Konkurrenz aus Europa
Aeroflot startet einen eigenen Billigflieger
IVAN BARTOW FÜR RUSSLAND HEUTE
Die neue Luftfahrtgesellschaft mit dem Namen Dobrolet (Guter Flug) soll ihren Flugbetrieb im kommenden Frühjahr aufnehmen und vor allem Großstädte im westlichen Teil Russlands anfliegen. In näherer Zukunft kommen Kiew und Istanbul dazu. Der Schritt erfolgt just zu einer Zeit, in der europäische Billiglinien wie Easyjet und die bulgarische Wizz Air in Russland Fuß gefasst haben. Beide bieten seit diesem Jahr erstmals Flüge nach Moskau an. Aeroflot hofft, dass seine Überlegenheit auf dem russischen Markt helfen wird, dem Schicksal der zwei ersten Billigflieger zu entgehen: Sky Express und Avia Nova gingen Pleite, noch bevor sie sich auf dem Markt etablieren konnten. Als Aeroflot-Chef Witalij Saweljew die neue Luftfahrtgesellschaft
ankündigte, forderte er zugleich von der Regierung, entsprechende Gesetzesänderungen vorzunehmen, damit sich der Betrieb eines Billigfl iegers in Russland überhaupt erst rentieren könnten. Dazu zählt ein Verkauf nicht erstattungsfähiger Tickets, die Abschaffung des Freilimits beim Transport von Gepäck und die Möglichkeit, Piloten aus anderen Ländern anzustellen. „Ein russischer Billigflieger wird nicht überleben können, solange wir unsere Gesetze nicht an die internationalen Standards angepasst haben“, erläutert Saweljew seine Forderung. Experten zufolge sind die gesetzlichen Hindernisse die Hauptgründe dafür, dass die Low-CostFluglinien bisher gescheitert sind. Denn der Markt an sich bietet gute Chancen: Laut der russischen Behörde für Zivile Luftfahrt ist die Zahl der Passagiere von 15 Millionen im Jahr 1998 auf mehr als 70 Millionen im letzten Jahr angestiegen. Ein weiterer Grund für das Scheitern der Billigflieger war, dass alte Maschinen verwendet wurden und deren Instandhaltung
Dobrolet startet mit acht neuen Boeing 737.
ITAR-TASS
Aeroflot will in den nächsten zwei Jahren 100 Millionen US-Dollar in die erste russische Billigfluglinie investieren. Flüge innerhalb des Landes werden dann um 40 Prozent günstiger.
Ein Wochenende Moskau ohne Visum Aeroflot hat die kürzeste Route und den bequemsten Transit zwischen Europa und Asien über den Moskauer Flughafen Scheremetjewo eingerichtet. Mit seinem modernen, 2009 fertiggestellten D-Terminal avancierte der Flughafen zum ersten voll funktionsfähigen internationalen Anschluss-
punkt für die Airline und die Mitglieder des globalen „SkyTeam“. Vor Kurzem hat die Regierung einen Gesetzesentwurf bestätigt, der Reisenden mit der Aeroflot aus einigen Ländern (u. a. Deutschland) einen Aufenthalt im Land von bis zu drei Tagen auch ohne Visum ermöglicht.
viel Zeit kostete. Dobrolet hingegen will mit acht neuen Boeing 737 Next Generation starten. „Die Einführung eines Low-CostMarkts kann den Fluggesellschaften helfen, ihre Premiumdienste dann auch besser zu vermarkten“, glaubt Oleg Pantelejew, Leiter der Analyseabteilung des Branchendienstes Aviaport. „Sobald
der Unterschied zwischen einem preiswerten und einem teureren Flugticket offensichtlich wird, nimmt der Wert der hochpreisigen Angebote durch die Premiumlinien, wie zum Beispiel Aeroflot, zu.“ Aeroflots Entscheidung, einen Billigflieger in einem Land zu starten, in dem kleine Regionalluft-
fahrtgesellschaften über einen dubiosen Ruf bezüglich ihrer Sicherheit verfügen, konnte nur nach einer mühsamen, aber offenbar erfolgreichen Korrektur des eigenen Images erfolgen. 2013 wurde Aeroflot bei einer weltweiten Passagierumfrage zur besten Luftfahrtgesellschaft Osteuropas gewählt und bekam auf der Internationalen Pariser Luftfahrtschau 2013 von Skytrax den World Airline Award verliehen. Die Fluggesellschaft, die früher eher für ihre überalterte Flotte und den ruppigen Service bekannt war, hat ihren Flugpark von sowjetischen Tupolews und Iljuschins auf Boeing und Airbus umgestellt und besitzt heute eine der weltweit jüngsten Flotten. 2006 gab es ein Rebranding, außerdem schloss sich Aeroflot der SkyTeam Alliance an.
Ukraine Die Nachteile bei einer EU-Integration haben sich für die Ukraine größer als ihre Chancen erwiesen
Kiew hatte gute Gründe, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Sie sind wirtschaftlicher Natur. Die Causa Timoschenko steht erst an zweiter Stelle. ARTJOM SAGORODNOW RUSSLAND HEUTE
Premierminister Nikolai Asarow hatte die Kosten für eine Umstellung auf EU-Standards zuletzt auf 100 bis 160 Milliarden Euro beziffert. Gleichzeitig war der Handel eingebrochen. Der Exportumfang aus der Ukraine nach Russland sank seit Beginn des aktiven Prozesses der EU-Integration um 25 Prozent, sagte der Direktor der ukrainischen Vereinigung „Exporteure in die Zollunion“, Oleg Noginskij, gegenüber der gazeta.ru. Grund dafür waren verschiedene Handelsbeschränkungen, die Russland über die letzten Monate eingeführt hatte. „Alle Unternehmen des ukrainischen Südostens haben Schaden genommen“, meinte der Parlamentsabgeordnete der Partei der Regionen, Wadim Kolesnitschenko. Seit August dieses Jahres verliere die Ukraine 15 000 bis 20 000 Arbeitsplätze monatlich. In dieser Zeitspanne sank auch der Handelsumsatz um etwa 30 bis 40 Milliarden Hrywnja (gut drei Milliarden Euro), bestätigte der
ukrainische Vizepremierminister Jurij Bojko. Moskau steht auf dem Standpunkt, die Freihandelszone zwischen der EU und der Ukraine könnte der russischen Wirtschaft schaden. So wäre Russland gezwungen, einen einheitlichen Zolltarif einzuführen und die Regeln der Zollabfertigung zu verschärfen, um seinen Markt vor der Einfuhr von Waren aus der EU und der Türkei zu schützen. Im Moment wird auf die gesamte Produktion der Ukraine (mit Ausnahme von Weißzucker) ein Nulltarif bei der Zollabgabe sowie eine vereinfachte Warendeklaration angewendet.
AFP/EASTNEWS
Kiew fürchtet Verluste und Timoschenko
Zweigleisig fahren Putins Argumente konnten Wiktor Janukowitsch überzeugen.
Gretchenfrage Gaspreis In den ukrainischen Medien waren zuvor Zahlen über einen Gewinn von 487 Millionen Euro kursiert, sollte die Ukraine das Assoziierungsabkommen unterzeichnen. Allerdings stammten diese Zahlen aus einer von der EU fi nanzierten PR-Kampagne. Auch die Anhänger einer Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan präsentierten Zahlen. „Die Einsparungen im Haushalt nach dem Eintritt in die Zollunion könnten zwischen sechs und neun Milliarden Dollar liegen, wenn man allein die Abschaffung der Importzölle bei Öl und
sit durch ihr Gebiet fortgesetzt werden.“ Oleg Noginskij glaubt, dass für die ukrainische Wirtschaft auch russische Militäraufträge eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Bis 2020 wird hier ein Auftragsvolumen von 500 Milliarden Euro erwartet. Doch hängt das Scheitern des Assoziierungsabkommens nicht nur an der Wirtschaft. Ende 2011 beschloss das EU-Parlament, das Abkommen von der Freilassung Julia Timoschenkos abhängig zu machen, und der Möglichkeit, wieder für die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Dabei sind weder die regierende Partei noch die Opposition an einer Rückkehr Timoschenkos in die Politik interessiert.
ZAHLEN
170
bis 180 Dollar kosten 1000 Kubikmeter Gas in Russland. Diesen Preis würde auch die Ukraine gerne für russisches Gas bezahlen.
25
Prozent weniger Waren führte die Ukraine seit dem Beginn der aktiven Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen nach Russland ein.
Gas bedenkt. Eine Erleichterung der Einfuhr von ukrainischen Waren in die Zollunion würde der ukrainischen Wirtschaft weitere zwei bis drei Milliarden bringen“, glaubt Noginskij. Die brennendste Frage für Kiew ist die des Gases. „Eine deutliche Senkung der Gaspreise kann die Ukraine nur bei einer Annäherung an Russland erwarten. In diesem Fall würde sie nicht mehr den Marktpreis von etwa 400 Dollar pro 1000 Kubikmeter bezahlen, sondern wie Weißrussland den ‚inländischen‘ Preis von 170 bis 180 Dollar, auch würde der Tran-
Konstantin Satulin, Direktor des Moskauer GUS-Instituts meint, Europa sei mit dem Versuch gescheitert, zweigleisig zu fahren: zum einen die Ukraine von Russland zu separieren, eine Teilnahme des Landes an der Zollunion zu verhindern und sich gleichzeitig für das Ideal der Menschenrechte einzusetzen. Nun erwartet Satulin eine „Rückkehr der Ukraine zu ihrer traditionellen ‚Schaukelpolitik‘, also keinen schnellen Beitritt zur russisch dominierten Zollunion. Das ist typisch für die ukrainische Elite, die keine Bevormundung dulden will, weder aus Moskau noch aus Brüssel.“
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Thema des Monats
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RÜCKBLICK 2013 WÄHREND ES IN EUROPA KRISELTE, BRACHTE RUSSLAND EINIGE UMSTRITTENE GESETZE AUF DEN WEG, GEWÄHRTE EDWARD SNOWDEN POLITISCHES ASYL UND ÜBERNAHM DEN VORSITZ DER G20
EIN JAHR DER PAUKENSCHLÄGE 17. JANUAR DER LEITER DES BOLSCHOI-BALLETTS SERGEJ FILIN WIRD DURCH EINE SÄUREATTACKE VERLETZT
ITAR-TASS
Ein maskierter Mann attackierte Sergej Filin vor seiner Moskauer Wohnung mit Säure. Dabei erlitt der bekannte Balletttänzer schwere Verätzungen an Kopf, Hals und Augen. Als Auftraggeber gilt der inzwischen inhaftierte BolschoiSolotänzer Pawel Dmitritschenko. Nach mehreren Operationen in Deutschland kehrte der fast erblindete Filin im September nach Moskau zurück, um seine Arbeit wieder aufzunehmen.
15. FEBRUAR PHOTOXPRESS
ÜBER DER STADT TSCHELJABINSK IM URAL EXPLODIERT UM 9.20 UHR WEITHIN SICHTBAR EIN METEORIT
Es handelt sich um den größten Meteor seit dem Eintritt des Sikhote-Alin-Meteoriten am 12. Februar 1947 in die Erdatmosphäre. Er wog 12 000 Tonnen und hatte einen Durchmesser von etwa
19 Metern. Rund 1500 Menschen wurden verletzt, 3700 Gebäude beschädigt. Im Oktober wurde aus Seeablagerungen ein Bruchstück mit einem Gewicht von mehr als 570 Kilogramm geborgen.
Diese Bedingung soll Snowden dem Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zufolge zunächst nicht akzeptiert haben. Nachdem jedoch seine Asylgesuche von mehreren Ländern abgelehnt wurden, macht Snowden am 12. Juli in einer auf WikiLeaks veröffentlichten Pressemitteilung publik, dass er Russlands Angebot annehmen werde. Am 1. August wird bekannt, dass Snowden von Russland für ein Jahr Asyl erhalten hat, mit der Option, jeweils um ein weiteres Jahr zu verlängern. Nach fünf Jahren sei ein Antrag auf russische Staatsangehörigkeit möglich. Seinem russischen Anwalt Anatoli Kutscherena zufolge befindet sich Snowden aus Sicherheitsgründen an einem unbekannten Ort. Er lerne Russisch und zeige großes Interesse an der russischen Literatur. Seit dem 1. November soll sein Mandant außerdem für eine große russische Website als Programmierer tätig sein.
10.–18. AUGUST
Teilnehmer der Kundgebung „Schutz für unsere Kinder“ in Moskau. Sie zeigen Bilder von russischen Adoptivkindern, wie rechts auf dem Plakat Dima, die in den USA zu Tode gekommen sind.
Das „Dima-Jakowlew-Gesetz“ wurde von Wladimir Putin am 28. Dezember 2012 unterzeichnet. Es ist nach dem Adoptivkind Dima Jakowlew benannt, das in den USA umgekommen war. Der Zweijährige war im Juli 2008 gestorben, nachdem sein Adoptivvater ihn bei 50 Grad Hitze für neun Stunden im Auto eingesperrt hatte. Ein amerikanisches Gericht sprach den Mann später vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung
23. JUNI DER EHEMALIGE MITARBEITER DER US-AMERIKANISCHEN GEHEIMDIENSTE TRIFFT IN MOSKAU EIN
Edward Snowden landet von Hongkong kommend überraschend auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo. Begleitet
wird er in der Aeroflot-Maschine von Sarah Harrison, Mitarbeiterin von WikiLeaks. Snowden hat kein russisches Visum, sein Rei-
standen, etwas mit dem Tod des 2009 in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis gestorbenen Anwalts Sergej Magnitskij zu tun zu haben. Später erklärte Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew, dass das Gesetz „auf der Welle der Empörung im Zusammenhang mit der entsprechenden Entscheidung des amerikanischen Senats verabschiedet“ worden sei, aber weder juristisch noch inhaltlich mit dem „Magnitskij-Gesetz“ in Verbindung stehe. Mehr über Adoption in Russland › http://russland-heute.de/24861
sepass wurde von US-Behörden annulliert, noch bevor der Geheimdienstenthüller seine Reise in Hongkong angetreten hat, so ein US-Regierungsvertreter. Am 25. Juni bestätigt der russische Präsident Wladimir Putin, dass Snowden sich im Transitbereich des Flughafens Scheremetjewo aufhalte. Jedoch betont er, dass der ehemalige Mitarbeiter der NSA kein russisches Staatsgebiet betreten und auf russischem Boden kein Verbrechen begangen habe. Deshalb gebe es keine Gründe, ihn festnehmen zu lassen und an die Vereinigten Staaten auszuliefern. Am 30. Juni beantragt Snowden in Russland politisches Asyl. Einen Tag später gibt Putin bekannt: „Wenn er hier bleiben möchte, gibt es eine Bedingung: Er muss mit seiner Arbeit aufhören, die darauf gerichtet ist, unseren amerikanischen Partnern zu schaden – so merkwürdig sich das aus meinem Mund anhören mag.“
LEICHTATHLETIK-WM IN MOSKAU
Die russische Stabhochspringerin Jelena Isinbajewa holt bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft ihr drittes Gold. Später wurde die 31-Jährige für homophobe Äußerungen, die sie am Rande der WM abgab, von der Öffentlichkeit heftig kritisiert.
PHOTOXPRESS
DAS „DIMA-JAKOWLEW-GESETZ“ TRITT IN KRAFT
frei. Darauf und auf ähnliche Fälle nimmt das Gesetz Bezug, das die Adoption russischer Waisenkinder durch Amerikaner untersagt. Es richtet sich auch gegen US-Bürger, die gegen Menschenrechte verstoßen oder sich an russische Staatsbürger schuldig gemacht haben. Sie dürfen künftig nicht mehr in die Russische Föderation einreisen. Das „Dima-Jakowlew-Gesetz“ wird von Analysten als Antwort auf das kurz zuvor in den USA verabschiedete „Magnitskij-Gesetz“ gewertet. Die Vereinigten Staaten erteilten damit 60 russischen Staatsbürgern ein Einreiseverbot, die im Verdacht
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1. JANUAR
Thema des Monats
RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU
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9. SEPTEMBER RUSSLAND SCHLÄGT INTERNATIONALE KONTROLLE VON SYRIENS C-WAFFEN VOR
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5.–6. SEPTEMBER
8. SEPTEMBER
Der achte Gipfel der 20 wichtigsten Industrieländer ist von der US-amerikanischen Geheimdienstaffäre überschattet. Ein offizielles Treffen zwischen Barack Obama und Wladimir Putin wird kurz vorher abgesagt – wegen der Causa Edward Snowden. Dann treffen sich die Präsidenten aber doch am Rande des Gipfels in St. Petersburg, und zwar zum Thema Syrien. „Jeder ist bei sei-
ner Meinung geblieben, aber der Dialog ist nicht abgerissen“, resümiert Putin. Am Ende des Gipfels veröffentlicht das Weiße Haus eine Erklärung, in der elf der G-20-Länder die US-Pläne für ein militärisches Eingreifen in Syrien auch ohne UN-Mandat befürworten. Deutschland unterzeichnete die Erklärung erst einen Tag später.
einem von vielen Beobachtern als politisch eingestuften Prozess wegen Unterschlagung zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Daraufhin kann er seine Kandidatur nur aufrechterhalten, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Seine Anwälte waren in Revision gegangen. Im Oktober wird die Strafe dann zur Bewährung ausgesetzt.
Der amtierende kremltreue Oberbürgermeister Sergej Sobjanin kann seine Position mit 51,37 Prozent der Stimmen behaupten. Sein Herausforderer, Oppositionspolitiker, Anwalt und Blogger Alexej Nawalny, sorgt dennoch für eine Sensation in der Hauptstadt: Er kommt auf 27,24 Prozent – das ist fast doppelt so viel wie nach Umfragen erwartet. Im Juli wurde Nawalny in
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DER OPPOSITIONSPOLITIKER ALEXEJ NAWALNY BELEGT DEN ZWEITEN PLATZ BEI DER OBERBÜRGERMEISTERWAHL IN MOSKAU
ERSTMALS FINDET DER G-20-GIPFEL UNTER DEM VORSITZ RUSSLANDS STATT. ER IST ÜBERSCHATTET VON SNOWDEN UND SYRIEN
16. NOVEMBER
12. OKTOBER
Greenpeace-Aktivisten protestieren auf der Erdölbohrinsel Priraslomnaja in der Petschorasee gegen die Förderung von Öl und Gas in der Arktis. Russische Sondereinheiten nehmen zwei der Aktivisten vor Ort fest. Am 19. September wird deren Schiff „Arctic Sunrise“, das unter holländischer Flagge fährt, von russischen Grenzern konfisziert und nach Murmansk gebracht. Die 30 Besatzungsmitglieder sollen sich der „Piraterie“ schuldig gemacht haben und kommen in Untersuchungshaft. Ihnen droht bis zu 15 Jahre Gefängnis. Doch die Rechtslage ist
Lesen Sie ONLINE: Abkommen mit dem Iran: neues Kräftegleichgewicht im Nahen Osten russland-heute.de/27025 Deutsche Unternehmen: Der russische he Arbeitsmarkt ist leergefegt russland-heute.de/27033 Kreml-Koch: Wie Staatsoberhäupter speisen russland-heute.de/26935
13. OKTOBER FREMDENFEINDLICHE RANDALE IM BEZIRK BIRJULJOWO
An einem Sonntag zieht eine große Menschenmenge durch den Moskauer Randbezirk Birjuljowo. Ein Teil der Demonstranten randaliert auf dem Gemüsegroßmarkt und in einem Einkaufszentrum, wirft Autos und Kioske um. Die Menge besteht mehrheitlich aus nationalistisch eingestellten Jugendlichen, die nach eigenen Angaben gekommen sind, um die Bewohner von Birjuljowo zu unterstützen. Diese haben sich vor der örtlichen Polizeibehörde versammelt und fordern dort die Aufklärung des Mordes an einem jungen Russen. Der 25-jährige Jegor Schtscherbakow ist drei Tage zuvor erstochen worden. Er war einer Passantin zur Hilfe geeilt, die von einem Mann belästigt wurde. Am 15. Oktober wird ein Aserbaidschaner festgenommen, der den Mord gesteht.
PRESSEBILD
GREENPEACE PROTESTIERT GEGEN GAZPROM-BOHRINSEL
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18. SEPTEMBER
nicht einfach. Die Anwälte der Festgesetzten argumentieren, die „Arctic Sunrise“ habe sich nicht in der Dreimeilenzone der Bohrinsel befunden und damit auch nicht in russischen Hoheitsgewässern. Am 23. Oktober wird der Vorwurf der „Piraterie“ zu „Rowdytum“ mit einer maximalen Gefängnisstrafe von sieben Jahren umgewandelt. Die abgelegene Lage von Murmansk erschwert diplomatischen Vertretern und Anwälten den Zugang zu den Festgenommenen, die aus insgesamt 18 verschiedenen Ländern stammen. Am 11. November werden sie schließlich nach St. Petersburg gebracht. Gegen eine Kaution von umgerechnet 45 000 Euro kommen alle Greenpeace-Aktivisten Ende November auf freien Fuß.
RUSSLAND ÜBERGIBT DEN FLUGZEUGTRÄGER „ADMIRAL GORSCHKOW“ AN INDIEN
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NADESCHDA TOLOKONNIKOWA SCHREIBT EINEN OFFENEN BRIEF
In einem offenen Brief, den unter anderem der Guardian veröffentlicht, beschreibt die Pussy-RiotSängerin Nadeschda Tolokonnikowa unmenschliche Haftbedingungen im mordowischen Straflager IK-14, wo sie ihre zweijährige Strafe absitzt. Laut der 24-Jährigen werden die Frauen gezwungen, täglich 17 Stunden zu arbeiten, der Monatslohn beträgt umgerechnet weniger als 70 Euro. Außerdem sei sie vom Gefängnisleiter mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Die Lagerverwaltung weist alle Anschuldigungen zurück. Am 12. November wird Tolokonnikowa in ein Straflager in der Region Krasnojarsk verlegt.
Während des Besuchs von Walid al-Muallim in Moskau rät der russische Außenminister Sergej Lawrow seinem syrischen Amtskollegen, die Chemiewaffen des Landes unter internationale Kontrolle zu stellen. Der syrische Minister lobt „die Weisheit der russischen Führung, die mit allen Kräften versucht, die amerikanische Aggression gegen Syrien zu verhindern“. Am selben Tag gibt Barack Obama eine Erklärung ab, dass die russische Initiative die geplante Militäraktion in Syrien verhindern könnte.
Zehn Jahre nach Auftragserteilung übergibt Russland die „Admiral Gorschkow“ in der Werft Sewerodwinsk an die indische Marine, die damit über insgesamt zwei Flugzeugträger verfügt. 1982 lief das Schiff vom Stapel und wurde seitdem mehrfach umbenannt, sein zukünftiger Name lautet „Vikramaditya“. Die Kosten für die Modernisierung betrugen 2,3 Milliarden US-Dollar. Der Flugzeugträger hat Kapazitäten für 30 Flugzeuge und 2000 Besatzungsmitglieder.
Chefredakteur von Russland HEUTE Alexej Karelsky
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Gesellschaft
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Blinde Von der sowjetischen Infrastruktur für Sehbehinderte ist wenig übrig. Hoffnung machen private Initiativen
Wie ein Sprung aus vier Kilometern Höhe
Pawel hat die Blindheit zu seiner Stärke gemacht. Er ist ein aufmerksamer und einfühlsamer Mensch, der nicht nur hinhört, sondern seinen Mitmenschen auch zuhört. Als Pädagoge, Jurist und Manager arbeitet er in dem international tätigen Unternehmen „Dialog im Dunkeln“, das seit 25 Jahren besteht, Business-Trainings in 30 Ländern abhält und seit knapp zwei Jahren auch in Russland aktiv ist. Pawel leitet eine Gruppe blinder BusinessTrainer, die sich damit beschäftigen, die sozialen Kompetenzen sehender Menschen zu stärken. Zu den Firmen, deren Mitarbeiter er coacht, zählen der Stahlkonzern Severstal, Coca-Cola und mehrere Ölkonzerne. Der Unterricht wird in völliger Dunkelheit abgehalten. Denn es gilt als erwiesen, dass man sich auf diese Weise besser auf seinen Gesprächspartner konzentrieren kann. Geht es beispielsweise um die Lösung einer Aufgabe, fokussiert man das Gespräch stärker aufs eigentliche Thema, hört seine Partner akustisch besser und hört ihnen gleichzeitig besser zu: „Wenn jemand insgeheim anderen das Wort verbieten möchte, wird das innerhalb von zehn Minuten ersichtlich“, erklärt Pawel. „Bei manchen kommen auch versteckte Führungsqualitäten zum Vorschein.“
Leben jenseits der Schranken
Pawel Obiuch arbeitete früher in einem Betrieb des Blindenverbands, jetzt ist er Business-Trainer beim Projekt „Dialog im Dunkeln“.
WLADIMIR RUWINSKI FÜR RUSSLAND HEUTE
Das Dorf Rusinowo eine gute Stunde südwestlich von Moskau galt zu Sowjetzeiten als Vorzeigewohnort für Blinde. In den letzten Jahren geriet es aber mehr und mehr in Vergessenheit, heute leben dort vorwiegend ältere Leute – jene, die den Umzug in eine andere Stadt nicht geschafft haben. Einer von ihnen ist der 55-jährige Sergej Mullojew, ein grauhaariger Mann mit schwerer Brille. Seine Sehkraft liegt bei zwei Prozent, was ihn nicht daran hindert, täglich mit dem Zug nach Moskau zur Arbeit zu fahren.
Eigene Dörfer für Blinde „Meine Lebensumstände zwingen mich dazu: Ich tue es nur für meine vier Kinder“, erklärt Sergej. Derzeit ist er in einem Betrieb des Blindenverbands für Schreibwaren beschäftigt und stellt Knete, Filzstifte und Kugelschreiber her. Für seine Arbeit bekommt er 340 Euro, was im Vergleich zum Moskauer Durchschnittslohn, der bei 1300 Euro liegt, nicht gerade üppig ist. Doch ist sein Lohn um ein Vielfaches höher als das, was er in Rusinowo verdienen würde. Laut Schätzungen des Russischen Blindenverbands leben in Russland etwa eine Million sehbehinderte Menschen. Genaue Angaben dazu existieren nicht, da keine
offiziellen Statistiken zu blinden und sehbehinderten Menschen geführt werden. Eines steht jedoch fest: Der Großteil von ihnen ist im arbeitsfähigen Alter und wird durch das System, das lediglich auf die Bedürfnisse von gesunden Menschen ohne physische Einschränkungen ausgelegt ist, an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Ursprünge von Rusinowo liegen in den Anfangsjahren der Sowjetunion, als die Idee aufkam, sehbehinderte Menschen an einem Ort zusammenzubringen. Man baute für sie Siedlungen, in denen Wohnungen, Arbeit, Schulen und Rehabilitationszentren zur Verfügung gestellt wurden. Doch mit dem Zerfall des alten Systems brach auch diese Hilfe weg, und die sehbehinderten Menschen hatten keine Möglichkeit mehr, in die Gesellschaft zurückzufinden. Sie blieben in „Reservaten“ wie Rusinowo zurück.
Pawel wagte den Schritt in die Selbstständigkeit Im Gegensatz zu Sergej ist der 34-jährige Pawel Obiuch vollkommen blind. Dennoch verlässt er jeden Morgen wie viele andere Moskauer das Haus und fährt mit der Metro zur Arbeit. Als einzige Hilfe dient ihm sein Stab – und sein ungewöhnlich feines Gehör. Viele Mitmenschen drehen sich nach ihm um, ist es doch eine Seltenheit auf Moskaus Straßen, einen Menschen mit Blindenstock anzutreffen. Wie Sergej hat auch Pawel früher in einem Betrieb des Blindenverbands gearbeitet. Doch Pawel
Blinde lehren Managern das Zuhören Das Projekt „Dialog im Dunkeln“ wurde von dem Deutschen Andreas Heinecke ins Leben gerufen. Er half schon vor 25 Jahren einem blinden Arbeitskollegen, sich zurechtzufinden. Damals begriff er, dass Blinde ihren eigenen Beitrag in der Gesellschaft leisten können und Sehende nur wenig über ihre blinden Mitmenschen
wissen. Zu Beginn des Projekts organisierte Andreas Heinecke in Hamburg eine interaktive Ausstellung, bei der die Besucher in vollkommener Dunkelheit verschiedene Alltagssituationen zu bewältigen hatten. In Russland startete „Dialog im Dunkeln“ im Februar 2012 und veranstaltet unter anderem Trainings für Manager.
ITAR-TASS
Früher baute man Städte für sie, heute müssen sie ohne staatliche Hilfe auskommen: Manche Blinde in Russland kämpfen um ihre Existenz, andere haben sich integriert.
Betriebe des Russischen Blindenverbands gibt es in 74 Regionen.
wagte nach einiger Zeit den mutigen Schritt in ein neues Leben: „Ich wollte sehende Freunde haben und dorthin gehen, wo alle anderen auch hingehen“, sagt er. Er stellte sich selbst vor die Entscheidung: „Entweder schotte ich mich ab und bleibe mein Leben lang zu Hause oder ich überwinde mich.“ Er entschied sich für den mutigen Schritt – jedoch nicht ohne Angst.
Heute unterscheidet sich Pawel mit seinem selbstsicheren Auftreten und dem stolzen und geraden Gang sehr von anderen Blinden in Russland. Sein monatliches Gehalt ist ihm eine wichtige Stütze. „Ich kann für mich selbst sorgen. Ich verdiene vielleicht nicht so gut wie andere Moskauer, aber es reicht, um eine Wohnung zu mieten und nicht hungern zu müssen“, meint er.
„Barrieren existieren nur in unseren Köpfen“ VIVIAN DEL RIO
Im Dezember 2010 erklärte der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin in einer Regierungssitzung, dass in Russland seit Langem die Probleme körperlich behinderter Menschen in öffentlichen Debatten keine Erwähnung fänden, „als gäbe es solche Probleme überhaupt nicht“. Darauf reagierte das 2012 gestartete Staatsprogramm „Lebensraum ohne Beschränkungen“. Für die nächsten zwei Jahre sind umgerechnet 200 Millionen Euro bereitgestellt, um die städtische Infrastruktur den Bedürfnissen körperlich behinderter Menschen anzupassen. Experten kritisieren allerdings, dass diese Summe bei Weitem nicht ausreiche.
Pawels Leben ist voll von aufregenden Ereignissen, die das Leben eines sehenden Menschen langweilig erscheinen lassen. Er ist schon dreimal im Tandem mit dem Fallschirm aus einer Höhe von 4000 Metern gesprungen und will den Sprung demnächst allein wagen. Er fährt regelmäßig Ski und liest viel, genauer gesagt: hört viele Bücher. Fast scheint es, als sei die Blindenschrift überholt. Genauso zeitgemäß sind sein iPhone, dessen Menü sprachgesteuert ist, und sein Facebook-Profil. Es zählt mehr als 300 Freunde, mit denen Pawel regelmäßig im Kontakt steht. Als er sein Leben als Blinder selbst in die Hand nahm, sagt er, habe ihm vor allem seine Ansicht geholfen, „dass es den Menschen egal ist, wer du bist und wie du aussiehst, ob du siehst oder nicht. Barrieren existieren nur in den Köpfen.“ Seinen Schritt hinaus aus der Welt der Blinden vergleicht er mit einem Fallschirmsprung: „Der unangenehmste Moment ist jener, wenn man aus dem Flugzeug springt und begreift, dass unter einem vier Kilometer Leere sind, das Flugzeug aber schon weit weg ist. Das Schwierigste ist, genau diesen Schritt zu wagen. Danach setzt die Euphorie ein.“ Ob Pawel in Russland einen neuen Trend setzt, ist fraglich, denn ein staatliches Programm zur gesellschaftlichen Integration von Blinden gibt es nicht. „Deswegen werden blinde Menschen auch weiterhin in halb verfallenen Werkstätten arbeiten, um wenigstens das Allernötigste zum Leben zu verdienen“, erklärt Aleksandr Rakowitsch, Vorsitzender des Blindenverbands in Rusinowo. Heute gibt es in 74 Regionen Russlands Betriebe des Russischen Blindenverbands, in denen mehr als 10 000 Menschen arbeiten.
Meinung
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AFGHANISTAN VOR DER WAHL Andrej Iljaschenko JOURNALIST
A
NIYAZ KARIM
m 1. Januar 2015 soll Afghanistan wieder zu einem souveränen Staat werden. Begleitet wird der Countdown zu diesem historischen Ereignis jedoch von drohenden Worten. Im Oktober dieses Jahres gab einer der Taliban-Führer, Kari Nasrullah, bekannt, dass die Taliban dort bis 2015 ein „islamisches Emirat“ errichten werden. „Sobald die westlichen Armeen Afghanistan verlassen haben, werden die alten Ordnungen im Land wiederhergestellt“, kündigte er an. Das scheinen keine leeren Drohungen zu sein. Der Abzug der internationalen Schutztruppe ISAF ist damit begründet, dass bis Ende des nächsten Jahres afghanische Sicherheitskräfte und die Armee in der Lage sein werden, selbst die Kontrolle im Land zu übernehmen. Daran hat aber etwa der russische Außenminister Sergej Lawrow seine Zweifel: „Bislang ist die Tendenz gegenläufig“, sagte er vor Kurzem im russischen Fernsehen. „Je näher das Abzugsdatum rückt, desto mehr Belege gibt es, dass die afghanischen Sicherheitskräfte dieser Aufgabe nicht gewachsen sind.“ Das ist auch den USA bewusst. Sonst gäbe es keine Gespräche mit Kabul über eine militärische und strategische Zusammenarbeit. Das Abkommen sieht vor, dass die USA und die NATO neun Militärstützpunkte in Afghanistan belassen, auf denen voraussichtlich 10 000 Soldaten stationiert sein werden. Zu ihren Aufgaben wird die weitere Ausbildung des afghanischen
Russische Experten halten in Afghanistan eine „informelle Teilung der Einflusssphären“ für wahrscheinlich. Militärs und der Sicherheitskräfte gehören sowie punktuelle Angriffe auf Terroristenstützpunkte in der Region. Die USA wollen die Kabuler Regierung weiterhin stützen. Doch gibt es keine Klarheit darüber, wer dann an der Spitze Afghanistans steht. Einerseits haben die geheimen und offenen Kontakte mit
EIN GRENZLAND ZWISCHEN DEN FRONTEN Der Ulenspiegel ZEITZEUGE
W
ie lautete die offizielle Version über die politischen Lager in der Ukraine? Den demokratisch gesinnten, prowestlichen Politikern Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko steht der von Moskau gesteuerte Viktor Janukowitsch gegenüber – ein vorbestrafter Feind der Demokratie. Diese im Westen verbreitete Lesart ist heute etwas veraltet, was aber nie-
mandem aufzufallen scheint. Der Name „Ukraine“ lässt sich mit „Grenzland“ übersetzen. Und manche Kommentatoren sprechen von einem Ringen zwischen Himmel und Hölle um die arme ukrainische Seele – oder sind es derer zwei? – am Grenzverlauf zwischen „Gut“ und „Böse“. Welche Position die EU und Russland dabei einnehmen, hängt vom Standpunkt des Beobachters ab. Manche sprechen vom Kampf zwischen dem lateinischen Westen und dem griechischen Osten um ein Gebiet, das in der Geschichte
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den Taliban zu keinem Ergebnis geführt. Zur Afghanistankonferenz nach Bonn und Tokio wurden sie erst gar nicht eingeladen, und es scheint, als habe man die Idee ihrer Einbindung in den politischen Prozess verworfen. Andererseits finden am 5. April 2014 Präsidentschaftswahlen im Land statt, und das Einzige, was die mehr als ein Dutzend registrierten Kandidaten verbindet, ist deren ablehnende Haltung gegenüber den Taliban. Hamid Karzai wird den Präsidentenposten verlassen, nachdem er die maximal mögliche Regierungsdauer ausgeschöpft hat. Allerdings ist er daran interessiert, dass an die Spitze ein Kandidat
aus seinen eigenen Reihen tritt, genauer gesagt sein älterer Bruder Kajum Karzai. Seine Chancen, gestärkt durch enge Kontakte zur aktuellen Regierung, stehen gut. Doch das Problem ist, dass viele Afghanen Karzai ablehnen. Er wird als Marionette des Westens angesehen. Einer der ernst zu nehmenden Gegenkandidaten ist der ehemalige Außenminister Abdullah Abdullah. Er ist nicht durch Korruptionsskandale befleckt und stützt sich auf die tadschikische Elite, die der „Nördlichen Allianz“ nahesteht. Unter seinen Verbündeten ist Muhammed Khan aus der Islamischen Partei, die jede ausländische Militärpräsenz im Land
mal unter dem Einfluss der einen, mal der anderen Seite stand. Auch heute liegt die Ukraine zwischen den beiden Einflusssphären und kann sich nicht recht entscheiden, wohin sie gehört. Muss sie denn überhaupt wählen? „Ja“, sagen beide Seiten und legen überzeugend dar, dass eine Bindung ans eigene Lager Wohlstand, ein Favorisieren des anderen Armut und Abhängigkeit bedeute. Die heutige Ukraine hat wenig mit ihren westlichen Nachbarn, viel aber mit Russland gemein. Das beginnt mit der Sprache und endet bei den typischen Krankheiten postsowjetischer Staaten: Korruption und ein verkümmertes politisches System. In der Ukraine finden nur deshalb politische Wechsel statt, weil sich dort mehrere gleich starke Oligarchencliquen um die Macht streiten. Mal gewinnt die eine die Oberhand, mal die andere. Dabei benutzen die einen Politiker, die sich als „prowestlich“ positionie-
ren, die anderen geben sich „prorussisch“. In Wirklichkeit ist das alles Folklore für die Wählerschaft und für ausländische Sponsoren. So echt wie Timoschenkos Zopf. Tatsächlich ist das Land gespalten in einen Westteil, der sich kulturell dem Westen zugehörig fühlt,
Die heutige Ukraine hat wenig mit ihren westlichen Nachbarn, aber viel mit Russland gemein. und einen Ostteil, der an Russland anknüpft. Manche Gebiete wie die Krim kamen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ukraine dazu und waren jahrhundertelang russisch. Die Politik spielt mit diesen Gegensätzen. Wähler des westlichen Blocks sind gleichzeitig auch ukrainische Nationalisten, die dem Osten Zugeneigten sind
Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-Mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow, Chefredakteur von RBTH: Pavel Golub Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Commercial Director: Julia Golikova, Anzeigen: sales@rbth.ru Artdirector: Andrej Schimarskiy
ablehnt. Ein weiterer Favorit ist Abdul Rasul Sayyaf. Die USA nehmen an, dass er es war, der 1996 Osama bin Laden ins Land geholt hat. Doch in seinem Team ist einer der im Westen einflussreichsten Politiker Afghanistans, der frühere Mudschaheddin-Feldkommandeur Ismail Khan. Die Amerikaner haben nun eine „Winterkampagne“ gegen die Taliban angekündigt, bevor im Februar 30 000 ihrer 50 000 Soldaten abziehen. Die Taliban werden versuchen, den Süden des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen oder zumindest die Wahlen platzen zu lassen. Die schwache Legitimität der Kabuler Regierung könnte endgültig schwinden. Wem würden die amerikanischen Kräfte dann helfen? Eine russische Expertenkommission hat drei mögliche Szenarien für die Zukunft Afghanistans entworfen: eine Regierungsübernahme durch die Taliban, ein langwieriger Bürgerkrieg oder eine Teilung der Einflussgebiete zwischen den Taliban und der Regierung. Die „informelle Teilung der Einflusssphären“ scheint am wahrscheinlichsten, „doch die Position der Taliban wird stärker werden“, heißt es in dem Bericht. Bei einer Verschlechterung der Lage schließen die Experten einen Bürgerkrieg nicht aus. Im Grunde wird ein Zerfall des Landes prophezeit, der an den Irak erinnert: eine schwache Zentralregierung, ein Abdriften der Provinzen und ein Partisanenkampf der Sunniten gegen die schiitische Regierung. Der Autor ist als Korrespondent beim Radiosender Stimme Russlands tätig.
Sowjetnostalgiker, die immer noch nicht akzeptieren, dass sie ins „Ausland“ reisen müssen, wenn sie ihre russischen Verwandten besuchen wollen. Beide Fraktionen haben jedoch bewiesen, dass sie die Gretchenfrage nach der politischen Ausrichtung ausweichend beantworten, wenn sie die Regierungsverantwortung übernommen haben. Weder wollten die Westler es sich mit Russland verscherzen, noch die Russophilen mit dem Westen. Die ukrainischen Politiker können kaum anders handeln. Wer sich alle Optionen offen lässt, hat in der Politik meist bessere Chancen. Das gilt nicht nur für die Außenpolitik. Auch nach innen wäre eine Marginalisierung der einen oder anderen Seite fatal. Dann könnte passieren, wovor Skeptiker warnen: Das Land zerbricht, der industrialisierte Osten schließt sich Russland an, der strukturschwache Westen wird ein Sorgenkind der EU.
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Regionen
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Naturschutz Freiwillige säubern die Insel Bely vom Sowjetschrott. Gleichzeitig laufen riesige Industrieprojekte an
Die Weiße Insel soll wieder weiß werden Auf der Jamal-Insel Bely – die Weiße – im russischen Norden gehen die Aufräumarbeiten weiter: Auch Deutsche helfen dabei, die Spuren von Militär und Wissenschaft zu beseitigen. JELENA MILJAJEWA
1900 Quadratkilometer ist sie groß, die Insel Bely in der Karasee, und praktisch menschenleer. Das war jedoch nicht immer so: Ab 1935 gab es hier eine sowjetische Polarforschungsstation, später eine Militärbasis. Und die Präsenz des Menschen hat Spuren hinterlassen: verfallene Häuser, Dieseltanks, verrostete Fässer. In diesem Sommer machten sich 33 Freiwillige aus Russland, der Ukraine und Deutschland daran, die „weiße Insel“ aufzuräumen.
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FÜR RUSSLAND HEUTE
„Wir haben uns sehr gut vorbereitet, denn die Arbeitsbedingungen sind extrem: niedrige Temperaturen auch im Sommer, harte körperliche Arbeit und – das wich-
tigste – viele Eisbären“, erzählt der russische Teilnehmer der Expedition Dmitrij Golikow. Die Freiwilligen bauten auf der Insel acht baufällige Häuser und
zwei große Treibstoffreservoirs ab, sammelten fast 300 Tonnen Metallschrott und verluden ihn auf Lastschiffe. Die 400 000 Rubel (knapp 10 000 Euro), die aus seinem Verkauf erwirtschaftet wurden, gingen an die Stiftung „Jamine“, die die Behandlung schwer erkrankter Kinder auf der JamalHalbinsel organisiert. 2012 und 2013 säuberten die Freiwilligen 20 Hektar Land vom Müll. Die Arbeit soll fortgeführt werden, denn im Norden der Insel warten noch 500 Hektar. Die Aufräumarbeiten gehören zu einem staatlichen Programm im arktischen Gebiet. Gleichzeitig werden gigantische Summen in die Erdöl- und Erdgasförderung
gesteckt, große Transport- und Energieerzeugungsobjekte gebaut und die Nordostpassage wiederbelebt. Gouverneur Dmitrij Kobilkin zufolge bekommt kein einziges Industrievorhaben grünes Licht, ohne dass eine Expertise auf seine Umweltverträglichkeit durchgeführt worden ist und eine öffentliche Anhörung von Vertretern der indigenen Völker. „Aufgrund unserer Forderung wurde die Straße SalechardNadym den Bedürfnissen dieser Volksgruppen angepasst“, berichtet Chabetscha Jaungad, Redakteur einer Regionalzeitung. „Um die Routen der Nomaden, die mit ihren Rentieren umherziehen, nicht zu unterbrechen, soll auf der 330 Kilometer langen Straße alle vier Kilometer ein Übergang eingerichtet werden.“ Heute gehören zehn Prozent der Jamal-Halbinsel zu Umweltschutzzonen. „Wir haben nicht vor, die komplette Arktis einzuzäunen“, erklärt Kobilkin. „Unser Ziel ist ein Kompromiss zwischen Wirtschaftlichkeit und der Erhaltung der Umwelt.“
Tourismus Genau zwischen Moskau und St. Petersburg liegt die „Wiege Russlands“
Der Gouverneur des Oblast Nowgorod hat angekündigt, den Tourismus weiter auszubauen. Mit Recht: Es gibt noch viel in der Region zu entdecken. ALEXEJ POPOWITSCH FÜR RUSSLAND HEUTE
„Jedes Jahr kommen 350 000 Touristen in unsere Region – und über 800 000 Tagesausflügler“, sagt Sergej Mitin, Gouverneur des Oblast Nowgorod. „Mit dem Tourismus belegen wir den dritten Platz im russischen Nordwesten, Tendenz steigend – um 15 Prozent jährlich. Die meisten Gäste sind Einheimische, die Ausländer kommen aus Deutschland, gefolgt von China, den USA, Australien und Holland.“ In den letzten Jahren entwickelte sich der Tourismus zu einem der Schlüsselbereiche für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Region Nowgorod,
für den Ausbau der touristischen Infrastruktur wurden fast 300 000 Euro zur Verfügung gestellt. Größte Attraktion ist sicher die Stadt Weliki Nowgorod. Seit 1992 gehört sie zum UNESCO-Weltkulturerbe. Schon 859 ist Weliki Nowgorod urkundlich erwähnt, ihr Kreml ist die älteste Festungsanlage auf dem Gebiet der Rus. Darin befi ndet sich die Sophienkathedrale aus dem 11. Jahrhundert, erstes steinernes Gotteshaus in Russland, und das monumentale Denkmal „Russlands Jahrtausend“ von 1862. Im städtischen Museum ist eine der größten Ikonensammlungen ausgestellt. Auch sonst verfügt der Oblast Nowgorod über alle Voraussetzungen, unterschiedene Arten des Tourismus zu etablieren, für Kulturreisende ist ebenso etwas dabei wie für Gesundheitsfreaks oder Naturfreunde. Schon jetzt sind einige der touristischen Zentren gut
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Reise in die russische Vergangenheit
Sophienkathedrale im Kreml
ausgebaut: Im Bäderkurort Staraja Russa gibt es bereits seit dem 19. Jahrhundert ein Moorbad und Salinen, zu besichtigen ist das Wohnhaus von Fjodor Dostojewski. Naturliebhaber können sich
im Waldai-Nationalpark mit seinen riesigen Wäldern, Seen und Sumpfgebieten austoben. Im Iwerski-Kloster ist das einzige Glockenmuseum Russlands untergebracht. In der zweitgrößten Stadt des Oblast, Borowitschi, ist das Gehöft des Generals und genialen Strategen Alexander Suworow sehenswert, in Ljubytino ist ein slawisches Dorf aus dem 10. Jahrhundert erhalten, heute ein archäologisches Freilichtmuseum. Gouverneur Sergej Mitin hat angekündigt, zwei Tourismus-Cluster einzurichten, um gezielt Investoren anzulocken, und zwar in Weliki Nowgorod und in Staraja Russa. Im Gebiet um Okulowka auf den Waldai-Höhen soll noch dazu eine Sonderwirtschaftszone für Sanften Tourismus eingerichtet werden.
Im August 2013 wurde im Kreis Ljubytino der Grundstein für den Bau des Skizentrums „LjubytinoSlalom“ gelegt. Alexander Muntjan, Leiter dieses Mammutprojekts, ist optimistisch, dass es hier schon bald möglich sein wird, auch internationale Wettkämpfe auszutragen, da das Gebiet alle nötigen Parameter erfülle. Zur Verfügung stand ihm ein Budget von 23 Millionen Euro. Im März 2013 gewann das Nowgoroder Tourismus-Informationsportal visitnovgorod.com, das auch in deutscher Sprache abzurufen ist, zum zweiten Mal den jährlich vergebenen Tourismuspreis „Stars of Travel.ru“.
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Film Ein russischer Dokumentarfilmer ist dem Leben entlang der Pipeline von Sibirien bis Deutschland gefolgt
Jeder ist auf seine Art unglücklich Witalij Manskij porträtiert mit „Pipeline“ Menschen von Sibirien bis Köln. Dafür hat er gerade in Leipzig den Preis für den besten osteuropäischen Dokumentarfilm bekommen. JAN SCHENKMAN
„Pipeline“ hat in den letzten Monaten bereits mehrere Preise gewonnen und erinnert an all die Menschen, die entlang der gigantischen Gaspipeline leben, die von Sibirien nach Westeuropa führt. Vor 40 Jahren floss im Zuge des sowjetisch-deutschen Abkommens das erste sowjetische Gas in den Westen. Und fließt bis heute. 104 Tage lang folgte das Filmteam der Pipeline vom Anfang bis zu ihrem Ende, von Urengoi bis nach Köln. Man sieht viel Lustiges, aber noch mehr Trauriges. Die Szenen sind hintereinander abgespult, aufgereiht wie an einer Kette. Nordural. Ein Pope betritt Holzschuppen und Wohnwagen entlang der Strecke. Er schlägt vor, ein Neugeborenes zu taufen, aber die Menschen lehnen ab, sie glauben nicht an Gott. Was brauchen sie zum Glücklichsein? Die Ansprüche sind nicht hoch: ein nahes Geschäft zum Einkaufen und Strom zu Hause. Es gibt beides nicht. Am anderen Ende der Pipeline sind die Läden brechend voll mit Kleidern und Essen, es ist Karneval. Kölns Straßen und Häuser sind hell erleuchtet. Aber auch hier scheint kein Glück in der Luft zu liegen, so seltsam es klingen mag. Es herrscht eine merkwürdig „unfreudige“, aufgesetzte Ausgelassenheit. Gläserne Augen, die nichts erkennen, das Unvermögen, seine Kräfte einzusetzen. „Die Nacht ist überstanden und der Tod ist wieder etwas näher“, sagt eine alte Frau in Sibirien. Und man hat das gleiche Gefühl in Köln.
Kein Gas fürs Ewige Feuer „Ich denke, den westlichen Zuschauer stört an dem Film, dass es kein enthusiastisches Lob des westlichen Lebensstils im Vergleich zu Russland gibt“, sagt Manskij. „Dennoch ist der Film bei westlichen Kritikern gut aufgenommen worden. Sie sprachen allerdings mehr über visuelle Lösungen und die Regiearbeit. Bei den russischen Zuschauern sind die Reaktionen sehr emotional und reichen von völliger Ablehnung bis zu uneingeschränkter Bewunderung, Tränen des Mitleids gegenüber den Protagonisten und Verbitterung über die Zustände im eigenen Land. In Europa ist
KULTURKALENDER
PRESSEBILD (4)
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1. Witalij Manskij 2. Denkmal für die Entdecker des Gasfelds Urengoi in Nowy Urengoi 3. Das Filmteam bei der Arbeit 4. Jubiläum: Gefeiert wird die 30-jährige Verbindung des DDR-Abschnitts mit dem sowjetischen Teil der Erdgastrasse Urengoi Ushgorod.
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die Wahrnehmung des Films eher abstrakt.“ Stellenweise meint man, Manskij habe nicht 2013, sondern 1983 gedreht. Die seit der Sowjetzeit immer gleichen Beamten versprechen den Menschen in verschwommener Rhetorik, das Gas werde auch sie irgendwann einmal wärmen. Man sieht eine ausgehende Ewige Flamme für die Opfer des Zweiten Weltkriegs auf dem Platz einer Provinzstadt. Man will sie mit dem Feuerzeug anzünden, aber es gibt kein Gas. Alkoholismus, Armut und eine erstaunliche Demut vor allem wie vor einer unüberwindbaren Kraft. Das Leben scheint begrenzt und unendlich zerbrechlich, zieht sich aber endlos hin.
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nicht als Werte angesehen werden. Eine der schlimmsten Szenen mag für den westlichen Betrachter eine Beerdigung in Wologda sein. Die Hinterbliebenen hacken roh mit Äxten die gefrorene Erde auf, um den Sarg dann hinabzulassen. Die Europäer sehen das mit Schrecken, doch für
Wer ist schuld? Doch der Regisseur sucht keine Schuldigen. Und er sieht seine Protagonisten nicht als Opfer.
Je weiter die Kamera nach Westen zieht, desto ordentlicher werden die Landstriche und Ansiedlungen, desto wohlgenährter sind Kühe und Ziegen. Und die Menschen machen einen ruhigeren und selbstbewussteren Eindruck. „Die Besonderheit Russlands besteht darin“, sagt der Regisseur, „dass die europäischen Werte hier
uns ist es völlig normal. Mehr noch, vielleicht ist es auch die einzige Möglichkeit, sein Beileid und Mitgefühl für den Verstorbenen auszudrücken. Umgekehrt staunen die Russen über Begräbnisse in Europa, und es gibt durchaus etwas zu staunen. Einen Menschen aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und des Umweltschutzes in einer Pappbox zu begraben, ist für sie unvorstellbar. Ein Russe würde sein letztes Hemd hergeben, um von seinem Nächsten so Abschied zu
KONZERT HERMLIN & SWING DANCE ORCHESTRA
THEATER AUTORENGESPRÄCH MIT ZAKHAR PRILEPIN
23. DEZEMBER, KONZERTHAUS BERLIN
12. DEZEMBER, LANDESTHEATER TÜBINGEN
Was sind europäische Werte?
nehmen, wie es sich für ihn gehört. Menschen sparen für die Beerdigung ihr Leben lang, sind mit ganzer Seele dabei. Nicht wie in Europa, wo man mit Lackschuhen ins Krematorium kommt, fünf Minuten lang ‚Ave Maria‘ hört und den Verstorbenen nicht einmal sieht, weil der geschlossene Sarg auf Rollen herein- und sofort wieder hinausgeschoben wird. Für uns wäre es nicht akzeptabel, vor einem für immer verschwindenden Menschen nicht zu weinen. In der Geburt, auch im Tod, im ganzen Lebenszyklus sind wir verschieden. – Die Pipeline verbindet uns nicht, wie es die Politiker und Wirtschaftsleute gern hätten, sie bringt uns eher weiter auseinander.“
Keiner will was ändern Viele Kritiker und Zuschauer sahen in „Pipeline“ eine zugespitzte Sichtweise der gesellschaftlichen Verhältnisse, auch Kritik an der russischen Regierung. In der Tat: Hier verläuft eine Goldader, Gas, das Milliardengewinne verspricht, und gleich nebenan verhungern die Leute im wahrsten Sinne des Wortes. Wer
KULTURFESTIVAL DIE ROMANOWS UND BAYERN 14. UND 15. DEZEMBER, SEIDLVILLA MÜNCHEN
ist daran schuld? Doch Manskij sucht keine Schuldigen. Und er sieht seine Protagonisten nicht als Opfer. Das eigentlich Irritierende ist, dass es in seinem Film keine Unglücklichen gibt. Keiner will etwas ändern.
Sein Leben verbrennen „Für eine Veränderung“, sagt Manskij, „müsste es einen starken Willen geben, nicht von oben, sondern von unten. Der ist aber nicht vorhanden. Hätte es ihn gegeben, hätte sich schon vor dreihundert Jahren was geändert. Russland will sich nicht ändern, das ist angeboren. Für einen Europäer sieht das hoffnungslos aus. Für einen europäisch geprägten Russen auch. Aber für den Rest gibt es hier kein Problem. Der Russe leidet nicht, sein Leben ist in gewisser Weise organisch. Es gibt einen Ausdruck: ‚sein Leben verbrennen‘. Wir verbrennen alle unsere Leben, manche in Russland, andere in Europa. Nur auf unterschiedliche Art. Und jeder sieht in den Augen des jeweils anderen unglücklich aus. Aber in diesem Unglück liegt auch unser Glück.“
KLASSIK BALTIC YOUTH PHILHARMONIC – GERMAN-RUSSIAN VOYAGE 22. JANUAR, BERLINER PHILHARMONIE
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Einen Tag vor Heilig Abend swingt und groovt das Swing Dance Orchestra mit seinem deutsch-russischen Leader Andrej Hermlin weihnachtliche Melodien. Mit dabei sind die Solisten Bettina Labeau und David Rose. Vorstellungen: nachmittags und abends.
Das Landestheater Tübingen hat Mut bewiesen und den Roman „Sankya“ des Kultautors Zakhar Prilepin auf die Bühne gebracht. Mitte Dezember kommt der Autor nach Tübingen und stellt sich den Fragen der Zuschauer.
Nikolaus I. war so begeistert von der Münchner Pinakothek, dass er ihren Architekten Leo Klenze darum bat, die Neue Eremitage in St. Petersburg zu bauen. Beim Festival wird unter anderem aus Klenzes Tagebuch gelesen, dazu gibt es Musik und Vorträge.
Unter der Leitung des estnischstämmigen Dirigenten Kristjan Järvi ist das deutsch-russische Orchester „Baltic Youth Philharmonic“ erstmals in der Berliner Philharmonie zu hören. Auf dem Programm stehen Werke von Prokofjew, Bach, Strauss und Skrjabin.
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Porträt
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Journalismus Gabriele Krone-Schmalz bleibt Russland auch 22 Jahre nach dem Ende ihrer Korrespondentenzeit treu 2
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1. Signierstunde am 21.8.1991 im KaDeWe für das Buch „An Rußland muß man einfach glauben“ 2. Beim Petersburger Dialog in Hamburg 3. Mit ihrem Ehemann Lothar
Keine Alibi-Tante für Russland Seit Jahren plädiert sie für eine differenzierte Darstellung Russlands. Dass manche sie deshalb beschuldigen, vom Kreml bezahlt zu werden, verletzt Gabriele Krone-Schmalz zutiefst. DARIA BOLL-PALIEVSKAYA FÜR RUSSLAND HEUTE
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Kaum ein deutscher Fernsehzuschauer, der sich nicht erinnert: Zwischen 1987 und 1991, in dieser spannenden Zeit, war die Journalistin mit der markanten Frisur fast täglich in der ARD mit Berichten aus Moskau zu sehen. Doch nach dem Ende ihrer Korrespondentenzeit ging Gabriele Krone-Schmalz einen ungewöhnlichen Weg. Sie trat nicht eine neue Stelle in Washington an, um danach einen netten Führungsposten bei der ARD zu beziehen. Nein, Krone-Schmalz nahm sich eine Auszeit, und … kündigte. Viele haben ihr das übel genommen – man tut so was nicht bei öffentlich-rechtlichen Sendern, man bleibt im Betrieb und steht zur Verfügung. „Ich habe eine historische Zeit in der Sowjetunion erlebt und fand es damals schade, sich sofort auf ein anderes Thema zu schmeißen. Ich habe mich fast verpflichtet gefühlt, mich weiter um Russland zu ‚kümmern‘“, erklärt die Journalistin ihre Entscheidung. Die sie im Übrigen nie bereute. Seitdem „tingelt“ sie durch die Republik, hält Vorträge, nimmt an Konferenzen teil, macht Filme, schreibt Bücher und moderiert Sendungen. Schon immer ist die 1949 im bayrischen Lam geborene Journalistin ihren eigenen Weg gegangen. Als sie 1997 das Bundesverdienstkreuz für ihre journalistische Arbeit bekam, entschied sie sich für die männliche Variante des Ordens. „Der Orden für Frauen hatte so eine Riesenschleife, das war mir zu aufdringlich.“ Heute sind Frauen in politischen Talkshows keine Seltenheit. Doch damals war das anders. „Wenn unser Kamerateam irgendwo ankam, hörte ich immer schon die Frage: ‚Wer ist denn der Zuständige der Herren?‘“ Sie war auch die erste Frau auf dem Korrespondentenposten in Moskau. Womit die Russen nie ein Problem gehabt haben. In der letzten Zeit hat sich Krone-Schmalz in der deutschen Medienlandschaft rar gemacht. Mit Absicht? „Bestimmte Positionen
sind heute nicht gefragt und unbequem. Ein Beispiel: Während der Syrienkriese war eine Talkshow zu diesem Thema geplant, in der ich die russische Position erklären sollte. Über Nacht kam dann der Vorschlag des russischen Außenministers Lawrow, und die Verhandlungslösung war auf einmal greifbar nah. Am nächsten Morgen rief mich der Sender an, das Thema sei geändert worden, weil die Luft raus sei. Natürlich, denn bei der Sendung hätten die Russen gut aussehen können, und das passte nicht ins Konzept.“ Von den Medien als unbequem empfunden und fast gemieden, wird Krone-Schmalz von vielen Menschen vermisst. Dank ihrer
Als Krone-Schmalz für ihr Buch „Was passiert in Russland?“ von den Rezensenten vernichtend kritisiert wurde, schrieb Michail Gorbatschow einen offenen Brief an die deutsche Öffentlichkeit. markanten Frisur wird sie überall erkannt, die Leute gehen auf sie zu, fragen, warum sie im Fernsehen so selten zu sehen sei. „Ich habe keine Lust, als Alibi-Tante in Talkshows zu sitzen, um die Pro-Russland-Facette abzudecken“, sagt sie. „Und dann muss ich mir noch anhören, dass ich mich an Russland verkauft habe.“ Es gibt Dinge, die die 64-Jährige gelassen sieht. Etwa die Frage nach ihrer Frisur. „Da ist diese Erwartungshaltung, dass die Menschen das wissen wollen, und wenn man als Interviewer nicht danach fragt, hat man journalistisch was falsch gemacht“, antwortet sie mit einem Schmunzeln. „Die Frisur hat mein Mann entwickelt, und er schneidet mir noch immer die Haare. Ich traue keinem Friseur.“ Es gibt aber auch Dinge, die sie verletzen. Als das Buch „Was passiert in Russland?“ 2007 erschien, wurde sie mit dankbaren Leserbriefen überschüttet. In den Medien jedoch wurde das Buch entweder totgeschwiegen oder vernichtend rezensiert: Insbesondere warf man Krone-Schmalz eine Beschönigung der Lage in Russland vor. Michail Gorbatschow fühlte sich menschlich verpflich-
tet, einen offenen Brief an die deutsche Öffentlichkeit zu schreiben: Die Autorin werde mit Anschuldigungen angegriffen, „die an die Kritik aus der Zeit des Kalten Krieges erinnern“. „Mir wurde vorgeworfen, ich stünde auf der Gehaltsliste des Kremls. Das geht schon tief unter die Gürtellinie. Manchmal frage ich mich, warum tue ich mir das an? Aber ich bin so erzogen, dass man sich einmischt, wenn irgendwas falsch läuft.“ Es gab auch „Demokraten“ in Deutschland, die die unbequeme Journalistin für immer nach Russland wünschten. „Nee, minus 45 Grad brauche ich nicht mehr“, lacht Krone-Schmalz. Zusammen mit ihrem Mann hat sie ein zweites Domizil in Spanien aufgebaut, eine kleine Ferienanlage, in der beide die Sonne und das Meer genießen. Doch man kann sich die Journalistin nicht so recht mit einem Buch am Strand vorstellen. „Warum nicht? Vor dem Hintergrund, dass das Leben endlich ist, kann man schon kürzer treten und andere Schwerpunkte setzen“, antwortet sie. „Manchmal fahre ich an der Küste entlang und denke, mein Gott, es ist so schön hier. Und ich bin nicht im Urlaub, ich lebe hier! Aber natürlich liege ich nicht pausenlos in der Sonne.“ Krone-Schmalz ist im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs, und seit 2011 hat sie eine Professur für TV und Medienwissenschaften an der privaten Fachhochschule BiTS in Iserlohn. „Ich denke, ich habe eine Menge verstanden, was Russland und die journalistische Arbeit betrifft. Das will ich den jungen Leuten vermitteln.“ 2008 erhielt Krone-Schmalz die russische Puschkin-Medaille „zur Annäherung und zur wechselseitigen kulturellen Bereicherung der Nationen und Völker“. Sie ist sehr stolz darauf. „Bei offiziellen Anlässen würde ich gern beides tragen – das Verdienstkreuz und die Puschkin-Medaille. Das wäre wohl eine Provokation, aber die Medaille ist leider zu groß.“ Bis heute verbinden sie und ihren Mann mit Russland sehr viel. „Wir haben da echte Freunde. Sie würden sich in den ersten Flieger setzen und kommen, wenn ich ihre Hilfe bräuchte.“ Wird es noch ein Buch über Russland geben? „Ich habe schon so oft erklärt, was in Russland läuft. Noch so ein Buch zu schreiben, wäre langweilig.“