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Siegen helfen Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Olympisches Gold

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Das erwarten die Russen von ihrem Eishockeyteam.

8-9 SEITEN

Trainer aus Deutschland, Italien und Kanada haben die russischen Sportler fit gemacht.

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Mitmachen Michael Burger ist freiwillig in Sotschi.

Mittwoch, 5. Februar 2014

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Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Es kann losgehen: Am Freitag beginnen in Sotschi die XXII. Olympischen Winterspiele. Rekordsummen hat die Vorbereitung verschlungen, Rekorde erwarten die Russen von ihren Athleten. Vor allem sollen die Spiele aber eines werden: ein friedliches Fest des Sports.

Die Spiele mögen beginnen AUSSENPOLITIK UKRAINE UND KEIN ENDE

GESCHICHTE SCHWÄBISCH-RUSSISCHE LIAISON

In der Ukraine stehen sich Opposition und Regierung weiter unversöhnlich gegenüber, und es scheint, als würden die unterschiedlichen Weltsichten von EU und Russland gerade hier unvereinbar aufeinanderprallen. Doch Russland glaubt an eine Einigung zum Vorteil aller. Und setzt große Hoffnungen in den neuen deutschen Außenminister. Seiten 2, 3, 12, 13

Fast 150 Jahre währten die engen Beziehungen zwischen den Romanows und dem württembergischen Königshaus, der Erste Weltkrieg setzte ihnen ein Ende. In Stuttgart sind die „goldenen Zeiten“ nicht vergessen. Ein Beispiel: das im Volksmund liebevoll „Olgäle“ genannte Krankenhaus. Eine Ausstellung widmet sich nun der gemeinsamen Geschichte. Seite 15

Der Countdown läuft die letzten Neuigkeiten vor der Eröffnung der Olympischen Spiele, nur hier auf sotschi2014.russland-heute.de


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POLITIK Einen solchen Gegenpol zu schaffen, scheint zurzeit nicht so einfach: Putins Besuch in Südkorea im vergangenen Jahr hat zu keinem Durchbruch geführt, die Beziehungen zu Japan bleiben aufgrund der territorialen Ansprüche auf die Inselgruppe Kurilen angespannt. Andere asiatische Partner wie Indien und Vietnam sind eher als Absatzmärkte für russische Maschinenbauer von Interesse, spielen jedoch als Investoren heute noch keine Rolle.

3. Die Wiederherstellung der Kontakte zu Europa

REUTERS

Der Dialog soll wieder besser werden Wladimir Putin und Angela Merkel auf der Hannover Messe 2013

Nach Europa via Berlin AUSSENPOLITIK 2014 muss Russland seine Beziehungen zur EU wieder verbessern Alexander Gabujew/Kommersant Ukraine, Syrien, Iran – auf den ersten Blick erscheint das Jahr 2013 für die russische Außenpolitik außerordentlich erfolgreich. Aber die wichtigsten Fragen bleiben offen.

1. Der Ausbau der eurasischen Integration

China Anzahlung über 60 Milliarden Dollar für russisches Öl

2. Erschließung neuer Märkte für Gas und Öl

ITAR-TASS

Das neue Jahr wird entscheidend sein für die Herausbildung einer Eurasischen Union, die in Regierungskreisen zu einem wichtigen außenpolitischen Ziel erklärt wurde. In der dritten Amtszeit Wladimir Putins genießt sie höchste Priorität. Schon bis März 2014 soll der Wortlaut des Vertrags zu einer Eurasischen Union ausgearbeitet sein, die Staatsoberhäupter der drei Mitgliedsländer, bisher sind es Russland, Weißrussland und Kasachstan, wollen das Dokument im Sommer unterzeichnen. Im Herbst soll der Vertrag dann durch das jeweilige Parlament ratifiziert werden, damit die Union bereits am 1. Januar 2015 ihre Arbeit aufnehmen kann. Der Integrationsprozess förderte im vergangenen Jahr jedoch eine Reihe von Problemen zutage, von denen das größte die unterschiedliche Sichtweise auf den zukünftigen Bund zwischen Russland und Kasachstan ist. Verschiedenen Quellen zufolge, die über den Verlauf der Verhandlungen informiert sind, beabsichtigt Russland, die Zusammenarbeit innerhalb der Eurasischen

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

Das vergangene Jahr wird von offiziellen Vertretern nur noch als Jahr des Triumphs für die russische Diplomatie bezeichnet. Auf seine wichtigsten außenpolitischenHerausforderungen hat Russland 2013 jedoch keine Antworten finden können. Dies soll sich im gerade angebrochenen Jahr 2014 ändern.

Zollunion Aus ihr soll 2015 die Eurasische Union entstehen.

Die Eurasische Union Schon im Jahr 2000 haben sich Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zu einer Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammengeschlossen. 2011 beschlossen Russland, Weißrussland und Kasachstan dann die Bildung einer Eurasischen Union (EAU). Diese soll 2015 gegründet werden und wirtschaftliche wie politische Integrationsprozesse einschließen. Tadschikistan, Kirgisistan und Armenien werden als Mitglieder folgen. Seit Juli 2010 besteht als Vorstufe der Eurasischen Union eine Zollunion zwischen den drei Mitgliedsstaaten, ab 2022 ist eine Währungsunion geplant.

Union auf ein maximales Niveau zu stellen, das es erlaubt, praktisch alle Lebensbereiche zu koordinieren. Die Mitgliedsstaaten sollen nicht nur einen gemeinsamen Markt mit freiem Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen bilden, sondern sich auch im Rahmen der Migrations-, Bildungs-, und sogar Informationspolitik zusammenschließen. Die politischen Führungen von Kasachstan und in letzter Zeit zunehmend auch von Weißrussland sehen das als Angriff auf ihre Souveränität. Angesichts der Widersprüche muss Moskau diplomatisches Feingefühl an den Tag legen.

Von allen Herausforderungen hat Russland 2013 die Suche nach neuen Absatzmärkten für seine fossilen Brennstoffe am besten gemeistert. Der staatliche Ölkonzern Rosneft unterzeichnete ein Abkommen mit chinesischen Erdölkonzernen über eine Anzahlung in Höhe von 60 Milliarden Dollar auf zukünftige Erdöllieferungen. Dieses Geld soll in erster Linie für den Kauf von Aktiva in Russland verwendet werden. Die erfolgreiche Erschließung neuer Absatzmärkte für russisches Öl und Gas rief sogleich ein neues Problem auf den Plan: die übermäßige Abhängigkeit von einem einzigen Abnehmer. Peking ist dabei, sich zu einem Monopolisten beim Kauf des nach Osten exportierten russischen Erdöls zu entwickeln. Deshalb stellt die Diversifizierung der Kontakte im asiatischen Raum eine der wichtigsten Aufgaben im Jahr 2014 dar. Die Volksrepublik China wird zweifellos auch weiterhin größter Abnehmer russischer Ressourcen bleiben, doch Moskau benötigt ein Gegengewicht, um den chinesischen Einfluss zu kompensieren.

Die Neuausrichtung der Rohstoffpolitik in Richtung China erfordert gleichzeitig die Wiederaufnahme eines intensiven Dialogs mit Europa. In den letzten zwei Jahren haben sich die Beziehungen zur EU dramatisch verschlechtert, obwohl Moskau und seine europäischen Partner bemüht sind, das nicht zu zeigen. Deutlichstes Anzeichen dafür ist die Tatsache, dass 2013 zwischen Russland und der EU nur ein einziges Gipfeltreffen stattfand, obwohl man sich traditionell zweimal im Jahr traf: einmal in Russland und ein weiteres Mal in Europa. Laut einer Quelle der EU-Kommission ist dies damit zu erklären, dass das Jekaterinburger Gipfeltreffen ohne nennenswerte Ergebnisse blieb. Ein weiteres erfolgloses Treffen im Dezember wollte man nicht riskieren. Das Fass zum Überlaufen brachte das Zerwürfnis beim Thema Ukraine, als europäische Beamte Moskau eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates vorwarfen. Russlands Politiker waren etwas zurückhaltender, konnten es sich aber nicht verkneifen, auf jene Europäer zu verweisen, die nach Kiew gereist waren, um die Demonstranten auf dem Maidan zu unterstützen. Der schmerzhafteste Verlust für Russland ist die Verschlechterung seiner Beziehungen zu Deutschland. Nach den Worten eines Gesprächspartners in Berlin war der Grund dafür die strafrechtliche Verfolgung der Sängerinnen von Pussy Riot und der Teilnehmer der Anti-Regierungs-Demonstration am 6. Mai 2012. Der wahre Grund jedoch ist die steigende Unabhängigkeit deutscher Konzerne von Rohstoffen aus Russland und dem russischen Markt. „Geht es um die chinesische Wirtschaft, die jährlich um sieben Prozent wächst, sind alle bereit, die Augen gegenüber Menschenrechtsverletzungen zu verschließen. Wenn es um Russland mit seinem schwächeren Wirtschaftswachstum und den unklaren Zukunftsaussichten geht, ist der Enthusiasmus eher gedämpft“, erklärt ein Beamter. Auch russische Diplomaten räumen ein, dass sich die guten Beziehungen zu Deutschland merklich abgekühlt haben. Ohne deutsche Unterstützung sei es jedoch wesentlich komplizierter, mit anderen Ländern der Europäischen Union zusammenzuarbeiten. Deshalb sei es notwendig, die Beziehungen zu Berlin wieder aufzufrischen. Die gute Zusammenarbeit bei der Freilassung Michail Chodorkowskijs, bei der Deutschland eine wichtige Rolle spielte, kann als positives Signal gewertet werden. Der Text erschien zuerst im Magazin Kommersant Wlast.


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POLITIK

Mehr Verständnis

Sergej Sumlenny/für Russland HEUTE Der neue Chef im deutschen Auswärtigen Amt ist erfahren und gilt als Russlandfreund. Wird er für einen Neuanfang in den deutsch-russischen Beziehungen sorgen?

sinkenden Umfragewerten der eigenen Partei beschäftigt war, kommt nun ein Mann, der für festere deutsch-russische Bande steht. Kurz vor Silvester begrüßte der russische Außenminister Sergej Lawrow die mögliche Wende in der deutschen Ostpolitik. „Die deutsche Regierung – sowohl Frau Bundeskanzlerin Merkel als auch Herr Außenminister Steinmeier – sagen, man müsse die Realität respektieren und nach Wegen zur Kooperation suchen, die für alle Seiten akzeptabel und profitabel wären. Solche Äußerungen kann ich nur begrüßen“, erklärte Lawrow in einem Interview mit dem russischen staatlichen Auslandssender RT. Man müsse sich „von Phobien befreien“, so Lawrow. Der russische Außenminister fügte hinzu, die verantwortlichen europäischen Politiker (gemeint war offensichtlich Steinmeier) werden

Das Zitat Frank-Walter Steinmeier AUSSENMINISTER FRANK-WALTER STEINMEIER BEI SEINER AMTSEINFÜHRUNG AM 17. DEZEMBER 2013 IN BERLIN

’’ Alte Bekannte: Von 2005 bis 2009 war Steinmeier schon einmal Außenminister. die „berechtigten Interessen Russlands“ in den ehemaligen Sowjetrepubliken respektieren. Diese Hoffnungen sind nicht unbegründet. Sogar während des Georgienkonfliktes im August 2008, in der Zeit der schwersten Krise zwischen Russland und der EU, warb Steinmeier für das Offenbleiben der Gesprächskanäle mit Moskau. Zudem gilt er als einer der Väter der sogenannten Modernisierungspartnerschaft, einer außenpolitischen Konstruktion, die nicht nur eine politische Annäherung durch Handel, sondern auch eine massive Beteiligung deutscher Unternehmen an der Modernisierung der russischen Wirtschaft vorsieht.

Steinmeier wirbt für eine engere Kooperation Auch in der umstrittenen Frage der Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Europa zeigte Steinmeier viel Verständnis für russische Befindlichkeiten. „Da die Stationierungsorte näher an Russland heranrücken, hätte man vorher auch mit Russland reden sollen“, kritisierte er das US-amerikanische Verhalten gegenüber Russland in einem HandelsblattInterview 2007. „Deutschland braucht Russland in internationalen Konflikten“, fügte er hinzu und sagte, dass Europa „wegen seiner geografischen Nähe eine gesteigerte Pflicht und Verantwortung hat, ein vernünftiges Nachbarschaftsverhältnis zu Russland zu unterhalten“. Schon im Januar kam es zu ersten Schritten der Annäherung. Der ehemalige Russlandbeauftragte der Bundesregierung, An-

Der neue Russlandbeauftragte Erler: „Die andere Seite richtig begreifen.“ „Ich halte nichts von der Einteilung in Russland-Versteher und Russland-Kritiker. Ich glaube, man muss die andere Seite zuerst einmal richtig begreifen.“ (Gernot Erler in einem Interview mit der Zeitung Die Welt) Der SPD-Politiker Erler wurde 1944 in Meißen geboren und ist seit 1987 Mitglied des Bundestags. Soeben wurde er zum „Koordinator für Russland, Zentralasien und die Länder der Östlichen Partnerschaft“ im Auswärtigen Amt ernannt.

DPA/VOSTOCK-PHOTO

Steinmeier gilt als einer der Väter der „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland.

AUSSENPOLITIK Die Neubesetzung im Auswärtigen Amt lässt auf Entspannung hoffen

AFP/EASTNEWS

Nicht mehr Vizekanzler, aber immer noch Außenminister: Frank-Walter Steinmeier, der von 2005 bis 2009 Angela Merkels Vize war und dazu Chef des Auswärtigen Amts, ist in die erste Garde der Bundespolitik zurückgekehrt. Seit Dezember ist er wieder Außenminister der Bundesrepublik. Der erfahrene Politiker kehrt in stürmischen Zeiten in sein Amt zurück: In Syrien tobt ein unübersichtlicher Bürgerkrieg, das Verhältnis zu den USA ist durch die sich hinziehende Spähaffäre belastet, und die Russlandpolitik scheint komplett außer Kontrolle geraten. Doch Steinmeiers Rückkehr weckt insbesondere im Osten viele Hoffnungen. Frank-Walter Steinmeier ist ein Politiker, den Moskau sehr gerne in dieser Position sieht. Nicht nur weil sein Amtskollege Lawrow den neuen alten Außenminister gut kennt. Die Sozialdemokraten waren immer Anhänger einer verständnisvollen Russlandpolitik, und Frank-Walter Steinmeier ist ein großer Verfechter einer Annäherung an Moskau. Der demonstrative Verzicht von Bundespräsident Joachim Gauck auf einen Besuch der Olympischen Spiele in Sotschi sowie der ebenso demonstrative Auftritt des ehemaligen Außenministers Guido Westerwelle auf dem ukrainischen Maidan hatten die ohnehin schon problematischen Verhältnisse weiter belastet. Nach vier Jahren Amtszeit von Westerwelle, der offensichtlich keine ausgeprägte Russlandpolitik verfolgte und mehr mit den

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dreas Schockenhoff, der als einer der schärfsten Kritiker Russlands galt und vom russischen Außenministerium praktisch als „persona non grata“ bezeichnet wurde, ist durch den Sozialdemokraten Gernot Erler ersetzt worden. Der neue Beauftragte war schon Staatsminister im Auswärtigen Amt während Steinmeiers erster Amtszeit als Außenminister. In ersten Interviews setzte der neue Koordinator ganz andere Prioritäten als sein Vorgänger: Nicht mehr die Kritik des Kremls, sondern ein besseres Verständnis für die Motive der russischen Polit-elite sollen im Mittelpunkt stehen. Von einer „Frustration“ Russlands ist die Rede, die durch eine Reihe von ignoranten Fehlschritten des Westens hervorgerufen worden sein soll, zum Beispiel durch die Osterweiterung von

Nato und EU, durch das Beiseiteschieben Russlands bei der Bewältigung des Kosovokonflikts und die amerikanischen Raketenabwehrpläne. Die Ausnutzung der Schwäche Russlands sei ein Fehler gewesen, der zu der heutigen

Deutschlands neue Russlandpolitik könnte zu einem Prüfstein der großen Koalition werden. Konfrontation geführt habe, so der neue Beauftragte. Diesen Fehler will Erler jetzt beheben, ohne dabei als „Russlandversteher“ verunglimpft zu werden – eine schwierige Aufgabe. Russische Experten sehen Erlers Ernennung positiv. „Berlins Interessen waren immer stark

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„Ich habe mit Blick auf Russland vor fünf Jahren eine ‚Modernisierungspartnerschaft‘ vorgeschlagen, deren Entwicklung ich nüchtern und ohne Verklärung verfolge. Das ist ein Konzept, das Investitionen von beiden Seiten verlangt, dafür fehlt es bisher ausreichend an Mut, Kreativität und Bereitschaft. Die brauchen wir aber, wenn das Gepflanzte bessere Ernte tragen soll. Mir ist der Name des Konzepts egal, weil entscheidend ist, ob wir Formen der Kooperation entwickeln, die uns nicht zurückfallen lassen in unselige Zeiten der Sprachlosigkeit ...“

durch osteuropäische Themen gefärbt“, meint Andrej Lewtschenkow, Direktor des Zentrums für Deutschlandforschung an der Kant-Universität Kaliningrad. Erlers Ernennung führe zu einer Stabilisierung des Verhältnisses. „Hinter einer scheinbar einfachen Personalfrage verbirgt sich eine große Wende in der Außenpolitik“, so Lewtschenkow.

Prüfstein für die Koalition In Deutschland wird eine Annäherung mit Russland jedoch skeptisch gesehen. Der Grünenpolitiker Cem Özdemir warnte den neuen Beauftragten davor, „russische Regime schönzureden“. Er sieht dazu eine „Tendenz“ bei den Sozialdemokraten. „Frank-Walter Steinmeier ist ein hervorragender Politiker und für fast alle Posten geeignet. Nur in der Außenpolitik hat er sich verrannt“, schrieb der russlandkritische Journalist Jörg Lau in einem ZEIT-Kommentar. Frank-Walter Steinmeier sei zu russlandfreundlich und „reduziert die sozialdemokratische Entspannungspolitik von Egon Bahr auf die Pflege von ‚Gesprächskanälen‘ um jeden Preis“, so Lau. Eine Verschärfung der Krise in der Ukraine und die Olympischen Spiele werden Steinmeier und Erler auf eine harte Probe stellen. Danach wird klar sein, ob Steinmeier die in Moskau gehegten Erwartungen erfüllen kann, ob er die von der Kanzlerin eingeforderte Kontinuität in der Außenpolitik aufrechterhält. Deutschlands neue Russlandpolitik könnte zu einem Prüfstein der großen Koalition werden.


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WIRTSCHAFT

Coke mit russischem Akzent ERFRISCHUNGSGETRÄNKE Kwas kannten schon die alten Slawen, nun erobert das Getränk auch Deutschland Sergej Sumlenny / für Russland HEUTE Ein hessischer Unternehmer hat sich getraut, ein russisches Nationalgetränk in Deutschland zu produzieren und zu verkaufen. Nein, es geht nicht um Wodka.

Die Rückkehr des weißen Kwas Jener Kwas, der an heißen Tagen die Tische auf Russlands Plätzen und Straßen dominiert, unterscheidet sich rein äußerlich kaum von Cola: Er ist dunkel, leicht durchsichtig und süß. Ein Erfrischungsgetränk, das die Brauerei Otschakowo vor Kurzem auf den Markt brachte, sieht da ganz anders aus – der neue Kwas PRESSEBILD ist weiß. Er wird nach einer tausend Jahre alten Rezeptur gebraut, die man noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nutzte. Dann wurde Kwas dunkel. – Was damit zu tun haben kann, dass plötzlich das Schwarzbier so populär wurde. Eine gute Zeit später, in den 60er-Jahren, erklärte Nikita Chruschtschow die dunkle Farbe zum Standard: als Antwort auf Coca-Cola. Der weiße Kwas basiert auf Wasser, Weizenmalz, Roggen, Zucker und Salz. Welche Mikroorganismen verwendet werden, bleibt Unternehmensgeheimnis. Das Getränk ist seit 2013 im Verkauf. Wer es probieren möchte: selber brauen oder nach Russland reisen.

Die Webseite des Herstellers KBAC GmbH lässt keinen Zweifel: Hier spielt man gerne mit Klischees. Iwan der Schreckliche, Kosaken und Nikita Chruschtschow – alle Bilder, die mit Russland in Verbindung gebracht werden können, hat man hier zusammengetragen. Schon der Name der Firma rekurriert auf Russland: Liest man ihn nämlich, als wären die Buchstaben in kyrillischer Schrift, wird aus dem sperrigen KBAC – „Kwas“. Das klingt schon besser. Der Kwas ist eine Art Nationalgetränk in Russland – dafür aber außerhalb des Landes so gut wie unbekannt.

Das Zitat Christian Dörner

Russian Soda aus dem hessischen Bad Homburg

RUSSISCHE START-UPS Hightech

Russische Start-ups 2013 Die besten und Bio & Medizin innovativsten Erfindungen aus Russland in einem Ranking

russland-heute.de/startups

GESCHÄFTSFÜHRER VON KBAC

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„Ich bin auf Kwas in Kiew aufmerksam geworden, wo ich das Büro der Kreditanstalt für Wiederaufbau leitete. Im Sommer gibt es nichts Besseres als einen frischen Kwas. Unsere Vision ist es, die Deutschen – mit vielen Jahrhunderten Verspätung – ihre Liebe zu Kwas entdecken zu lassen.“

Zahlen PRESSEBILD

„Ich selber bin auf Kwas in Kiew aufmerksam geworden, wo ich drei Jahre das Büro der Kreditanstalt für Wiederaufbau geleitet habe. Im Sommer gibt es schlichtweg nichts Besseres als einen frischen Kwas!“, sagt Christian Dörner, Geschäftsführer der KBAC GmbH, dem Getränkeproduzenten aus dem hessischen Bad Homburg. Nach seiner Rückkehr hat Dörner beschlossen, die KwasProduktion für den deutschen Markt selber in die Hand zu nehmen. „Warum Kwas nicht schon früher nach Deutschland rübergeschwappt ist, ist mir bis heute unerklärlich. Tatsache ist jedoch, dass wir die ersten Produzenten auf dem deutschen Markt sind – abgesehen von den für die russischen Läden bestimmten Ausmischungen“, sagt der Unternehmer, der das russische Urgetränk seit Mitte 2012 in Deutschland braut. In Russland hat das braune, prickelnde Erfrischungsgetränk, das leicht an Malzbier mit zitronigem Beigeschmack erinnert, eine jahrhundertalte Tradition. Kwas wurde erstmals im Jahr 989 urkundlich erwähnt als „sau-

Christian Dörner schenkt Kwas in Deutschland ein. rer Trank“ oder „Gegorenes“. Die Slawen bereiteten das leicht alkoholische Getränk aus Malz und Roggenmehl zu, das man gerne während der Festtage genoss. Bis heute bedeutet daher in der sorbischen Sprache Kwas nichts anderes als „Festmahlzeit“. In der Sowjetunion produzierte man meistens alkoholfreien Kwas, der im Sommer aus unzähligen mobilen Tankwagen direkt auf den Straßen verkauft wurde. Zu Hause kann man das Getränk selbst brauen – mithilfe von fertigem Kwas-Gärstoff und einfachen Zutaten: Roggenbrot, Wasser und Zucker. Einige Liebhaber geben Rosinen dazu, die angeblich die Konsistenz etwas prickelnder machten, obwohl diese Zutat den Altslawen offensichtlich nicht bekannt war. In Coca-Cola-freien Sowjetzeiten war Kwas mit seinem Geschmack des prickelnden Roggenbrots ein erfrischender Ersatz für industrielle Softdrinks. Sogar eine kalte Suppe lässt sich aus Kwas herstellen: Dazu werden fein gehackte, frische Gurken, ein gekochtes Ei, Radieschen, eine Frühlingszwiebel und Dill in eine Schale mit kaltem Kwas gegeben. Diese Okroschka (wörtlich „das Gehackte“) schreckt Ausländer mit ihrer braun-grünen Farbe ab,

Tausend Flaschen Kwas hat Christian Dörner 2013 in Deutschland verkauft. 2014 möchte er die Millionengrenze sprengen.

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ist aber im russischen Sommer bis zum heutigen Tag genauso beliebt und erfrischend wie Gazpacho in Spanien. In Russland gibt es noch immer Dutzende Großhersteller von Kwas, die das Getränk zumeist alkoholfrei herstellen. Kleineren Brauereien produzieren es auch mit Alkohol.

Im Winter wird Kwas nicht über den Großhandel vertrieben, sondern kistenweise über Amazon. Kein Wunder, dass die in Europa lebenden Russen das seit ihrer Kindheit genossene Getränk vermissen. Nur in den „Russischen Läden“ konnte man bisher Kwas kaufen – neben traditionellem Gebäck oder Fertigwaren. Die an andere Softdrinks gewöhnten Deutschen haben noch keinen Geschmack für das „kommunistische Cola“ entwickelt. „Unsere Vision ist es, den deutschen Konsumenten endlich – mit vielen Jahrhunderten Verspätung – seine Liebe zu Kwas entdecken zu lassen. Insofern verkaufen wir unseren Kwas bislang auch überhaupt nicht in russischen Geschäften, sondern haben Design und Vetrieb auf eine deutsche Klien-

tel ausgerichtet. Aber natürlich freuen wir uns umso mehr über jeden russischen Konsumenten, der zu unserem Kwas greift“, sagt Christian Dörner. Fast ausschließlich wird Dörners Kwas – oder KVASS, wie das Unternehmen sein Produkt nennt – im Moment noch über die großstädtische Szenegastronomie in Berlin, Hamburg und Köln verkauft. „Auf diese Weise können wir innovative Kundensegmente erreichen, die gerne auch einmal neue Geschmacksrichtungen ausprobieren und damit aktuelle Trends setzen“, sagt Dörner. Der Geschmack des in Deutschland gebrauten Kwas unterscheidet sich leicht von dem russischen Original. Die Roggennote ist nicht so stark ausgeprägt, sogar die Farbe ist heller. „Für den ‚deutschen‘ Kwas habe ich zusammen mit der Brauuniversität in Weihenstephan eine eigene Rezeptur entwickelt und lasse in einer kleinen Familienbrauerei bei Nürnberg produzieren“, erklärt Dörner. „Unser Kwas schmeckt sicherlich etwas anders als das russische Original. Es ist deutlich weniger süß und auch weniger ‚brotig‘ aufgrund des geringeren Anteils an Roggenmalz. Insofern sind viele Russen im ersten Augenblick überrascht, wenn sie es probieren. Manche erinnert es auch an ein echt hausgemachtes Getränk. Das ist insofern nicht verwunderlich, als unser Kwas noch handwerklich gebraut wird“, so Dörner. Viele andere KwasProduzenten verwendeten hingegen lediglich ein vorgefertigtes Konzentrat, das mit Wasser verdünnt werde, bedauert der Unternehmer. Ob die deutschen Kunden das russische Getränk auf Dauer konsumieren werden, ist noch nicht klar. Im letzten Jahr hat das Unternehmen 100 000 Flaschen verkauft, „aber das war nur ein Testlauf“, so Dörner. Für das Jahr 2014 wünscht sich das Unternehmen einen Absatz von einer Million, was vielleicht ein allzu ehrgeiziges Ziel ist. Denn das Geschäft bleibt sehr saisonal: Jetzt im Winter vertreibt die KBAC GmbH ihr Kwas nicht über den Getränkegroßhandel, sondern vor allem über Amazon, kistenweise und mit der Lieferung direkt an die Haustür.


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Zahlen

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Prozent weniger Bier tranken die Russen in den ersten elf Monaten des Jahres 2013. Auch für 2014 sind die Prognosen nicht eben günstig.

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Prozent des in Russland verkauften Biers wird von westlichen Brauereien produziert. Kleinere russische Brauer kommen auf 15,5 Prozent.

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Liter Bier trinken die Russen pro Jahr. Zum Verleich: In Deutschland lag der Pro-KopfVerbrauch im Jahr 2012 bei knapp unter 100 Litern. ITAR-TASS

Wiktor Kusmin / für Russland HEUTE Steigende Alkoholsteuer, demografischer Wandel und Wirtschaftskrise. Vom rückläufigen Bierkonsum profitieren vor allem kleinere russische Brauereien. „Aus irgendeinem Grund wird das ausländische Bier dem heimischen immer ähnlicher“, scherzt Igor Arnautow, Analytiker bei Investcafe. Doch eine solche Metamorphose sollte keinesfalls erstaunen. Denn ausländische Konzerne haben lange schon die wichtigsten Brauereien Russlands aufgekauft und produzieren vor Ort nun einen Großteil ihres eigenen Biers. Nun haben die Biergiganten allen Grund zur Sorge, denn der Umsatz ist in den vergangenen neun Monaten um mehr als zehn Prozent eingebrochen. Der russische Brauerbund rechnet sogar damit, dass der Markt bis Ende 2014 weiterhin schrumpft. Die besorgniserregende Prognose hängt auch damit zusammen, dass die Brauereien ab dem 1. Januar den Vertrieb von 2,5-Literflaschen gewöhnlichen Biers und Zwei-Literflaschen-Starkbier eingestellt haben. Zu dieser freiwilligen Maßnahme entschieden sie sich wegen des zunehmenden Alkoholmissbrauchs und wollen nun gemeinsam mit der Regierung weitere Möglichkeiten und Maßnahmen im Bereich der Selbstregulierung diskutieren.

Kein Bier in Zeiten der Wirtschaftskrise Der ständig schrumpfende Markt ist allerdings nichts Neues. Deshalb sind die Gründe dafür nicht nur in der aktuellen Anti-Alkohol-Kampagne der Regierung zu suchen. Angaben des russischen Brauerbunds zufolge nimmt Russland heute weltweit den 29. Platz beim Bierkonsum ein. Der ProKopf-Verbrauch liegt bei etwa 65 Litern pro Jahr, so Wadim Drobis, Direktor des Marktforschungszentrums für Staatliche und Regionale Alkoholmärkte. Mitte der 1990er-Jahre trank jeder russische Bürger im Schnitt nur 15 Liter Bier pro Jahr, 2007 erreichte der Bierkonsum dann mit der fünfeinhalbfachen Menge seinen vorläufigen Höhepunkt.

Es hat sich ausgeschäumt BRAUEREIWESEN Der Bierkonsum in Russland ist drastisch zurückgegangen. Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer? „Diese extreme Steigerung hat es in keinem anderen Land gegeben“, erklärt Drobis. „Die Bierbranche hat sich auf eine einzigartige Weise entwickelt.Indem große ausländische Brauereien

Als eine weitere Wachstumsbremse erwies sich das Verkaufsverbot von Bier an Kiosken. am russischen Markt Fuß fassten, fand eine Konsolidierung des einheimischen Marktes statt. Die Firmen erhielten uneingeschränkte Werberechte und konnten sich hervorragend entwickeln. So hatten sie bis 2007 bereits 92 Prozent des Marktes eingenommen. Die russische Brauerei Otschakowo hielt dagegen nur vier Prozent Anteil, der Rest war auf kleine und mittlere Brauereien verteilt“, erklärt Drobis. Die Euphorie wurde erstmals angesichts der demografischen Entwicklung in Russland getrübt. Von 1992 bis 1999 war die Geburtenrate beträchtlich gesunken. Das führte dazu, dass 2007 zwei Drittel weniger Jugendliche als Konsumenten zur Verfügung standen. Die Verkaufszahlen der Großbrauereien gingen zurück. Verschärft wurde die Lage noch durch die Wirtschaftskrise 2008 und 2009. „Harter Alkohol ist ein klassisches Antidepressivum“, meint Drobis. Als die Wirtschaftskrise überall Einzug hielt, verzeichnete man weltweit zwar einen Rückgang von Getränken mit niedrigem Alkoholgehalt, dafür wuchs der Konsum von zunächst günstigem und später dann auch teu-

rem Hochprozentigen. Dies hatte zur Folge, dass der Pro-Kopf-Verbrauch von Bier bis 2010 auf 72 Liter sank.“

Das Bier beschert dem Staat höhere Steuereinnahmen Im selben Jahr hatte auch die Regierung ihr Augenmerk auf den florierenden Wirtschaftszweig gelenkt. Bislang hatte die Produktion von Bier der Staatskasse fast keine Einnahmen beschert, nun wurden die Steuern kräftig angehoben. Bis dato hatte der Staat von den zehn bis elf Milliarden Litern Bier, die man in Russland das ganze Jahr über trank, lediglich 680 Millionen Euro an Steuern abgezweigt. Durch die Erhöhung sprudelten im Folgejahr bereits zwei Milliarden Euro in die Staatskasse. Seitdem verzeichnet der Staat Jahr für Jahr steigende Einnahmen durch den Bierkonsum. Die Anhebung der Alkoholsteuer wirkte sich jedoch kaum auf den Produktionsumfang der Großbrauereien aus, im Gegenteil, in den Jahren 2011 und 2012 stieg er sogar an. Anzumerken ist hier allerdings, dass vermehrt illegal vertriebenes Bier auf dem Markt auftauchte. Laut Schätzungen von Drobis hat dieses immerhin einen Anteil von acht Prozent, was 800 Millionen Litern entspricht. Als Wachstumsbremse für den Biermarkt erwies sich im letzten Jahr auch das Verkaufsverbot von Bier an Kiosken, das am 1. Januar 2013 in Kraft getreten war. Die Bierindustrie verlor in ganz Russland auf einen Schlag 200 000 Verkaufsstellen. Laut Andrej Altunin, Leiter der Brauerei Piwnaja kompanija, haben große Bierbrauereien durch das Verkaufsverbot

von Bier nicht nur an Kiosken, sondern auch an Verkaufsständen und in Großmärkten ihre Produktion im Durchschnitt um 20 Prozent senken müssen. „Der Föderale Dienst zur Regulierung des Alkoholmarktes hat es sich zur Aufgabe gemacht, bis 2020 den Alkoholkonsum in Russland auf 50 Prozent, also um die Hälfte, zu senken. Das bedeutet, dass in Zukunft noch weitere Restriktionen, was den Verkauf von Bier betrifft, auf uns zukommen werden“, so der Experte. Gleichzeitig lässt sich in Russland eine neue Tendenz ausmachen: Viele kleine und mittlere Betriebe haben sich auf das Bierbrauen spezialisiert und werden dabei

Inzwischen gibt es viele kleine und mittlere Brauereien, die vom Staat unterstützt werden. vom Staat unterstützt. Auch einige neu eröffnete Großbrauereien, die seit zwei bis drei Jahren bestehen und noch Kapazitäten zur Erweiterung haben, verzeichnen steigende Wachstumszahlen. Dies spiegelt sich auch in den Marktanalysen für das Jahr 2012: Der Anteil der westlichen Großbrauereien sank auf 82 Prozent und die russische Großbrauerei Otschakowo landete bei 2,5 Prozent, wohingegen kleinere und mittlere russische Brauereien auf 15,5 Prozent kamen. Drobis glaubt in diesem Zusammenhang, dass die westlichen Großbrauereien in den nächsten Jahren ihren Anteil noch auf bis zu 75 Prozent senken werden, was zur Folge hätte, dass russische

Bierbrauer dann 25 Prozent des Marktes einnehmen würden. In diesem Verhältnis werde sich die Marktsituation dann wohl stabilisieren, so Drobis.

Russisches Bier, gebraut nach dem bayerischen Reinheitsgebot Doch woher bezieht Russland sein ausländisches Bier? Als Hauptimporteur trat im Jahr 2012 mit 73,3 Prozent die Ukraine auf. Tschechien lag mit acht Prozent auf Platz zwei, Deutschland mit 6,9 Prozent auf Platz drei, Japan mit etwa drei Prozent auf Platz vier und Frankreich mit weniger als einem Prozent auf Platz fünf. In den kommenden fünf Jahren könnten sich diese Angaben jedoch noch nach oben entwickeln, da die Importzölle auf Bier bis 2018 praktisch auf Null sinken werden. Derzeit betragen sie noch knapp 50 Eurocent pro Liter. Obwohl Deutschland unter den Importländern nur an dritter Stelle rangiert, ist das deutsche Bier in Russland das Maß aller Dinge. „Wir brauen unser Bier nach deutschem beziehungsweise nach dem bayerischen Reinheitsgebot von 1516. Einzig und allein am Geschmack haben wir nach Braubeginn noch ein wenig feilen müssen, damit dieser den Vorlieben der russischen Konsumenten entspricht“, erklärt Altunin. Seiner Meinung nach ist Nachahmung in der Welt des Bieres eine gängige Praxis. Sogar Brauereien in Japan oder Frankreich stellten eindeutig Kopien des deutschen „Flüssiggoldes“ her, jedoch jeweils mit den entsprechenden Anpassungen an die Geschmäcker und Gewohnheiten im eigenen Land. „Braumeister aus aller Welt kommen an das Forschungszentrum Weihenstephan für Brauund Lebensmittelqualität der Technischen Universität München und an die Berlin Beer Academy, um ihre Kenntnisse im Bierbrauen zu vertiefen oder Qualitätskontrollen durchführen zu lassen. Doch bessere Brauanlagen als die Deutschen hat niemand, weshalb überall auf der Welt nur im deutschen Sinne gebraut werden kann, aber niemals ein deutsches Bier dabei herauskommt“, schließt Altunin schmunzelnd.


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SOTSCHI SPEZIAL

Schutzwall um Sotschi SICHERHEIT Nach den Anschlägen in Wolgograd gilt für Sotschi Sichterheitsstufe eins

Nikolai Gorschkow / für Russland HEUTE

© RIA NOVOSTI

Wahrscheinlich ist in diesen Tagen Sotschi eine der sichersten Städte der Welt. Die Behörden haben einiges für einen entspannten Besuch der Spiele getan.

Das tägliche Leben geht weiter. Und Sotschi ist so sicher wie nie zuvor.

Read in Special issue - Sochi 2014: Two trials for Russia - The scale and score of Sochi`s modernization program - Security threats & policy recomendations - The Paralympics as a model for success - Top10 Twitter accounts for #Sochi

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NATALIA MIKHAYLENKO

Nach den drei Selbstmordattentaten in Wolgograd vom Oktober und Dezember vergangenen Jahres, bei denen 41 Menschen ums Leben kamen, ist die internationale Aufmerksamkeit in der Folge auf Sotschi gerichtet. Es wurde vermutet, dass das eigentliche Ziel der Anschläge, die islamistische Extremisten aus dem Nordkaukasus verübt hatten, die Olympischen Winterspiele waren. In ihrer brutalen Art sind die Selbstmordanschläge ein Signal an die russischen Behörden, die Sicherheitsvorkehrungen im ganzen Land und nicht nur in und um Sotschi zu verstärken. Stichtag für Sotschi war der 7. Januar, genau ein Monat vor den Spielen, und mit den eingeleiteten Maßnahmen scheint es sehr unwahrscheinlich, dass sich Wolgograd wiederholen wird. Laut Steven Eke, Senioranalyst für Russland bei Control Risks, einer weltweit tätigen Sicherheits-, Politik- und Risikoberatungsgesellschaft mit Sitz in London, „ist der Sicherheitsplan für Sotschi der umfassendste, der jemals für ein öffentliches Ereignis in Russland ins Leben gerufen wurde, und schließt einen noch nie dagewesenen Einsatz menschicher Ressourcen sowie technischen Know-hows ein.“ Die Skala der Sicherheitsmaßnahmen vor Ort verringert nach Ansicht von Eke die Wahrscheinlichkeit eines Zugriffs auf die Sportstätten ganz erheblich.

„Seit dem 7. Januar greift in Sotschi ein mehrfacher Sicherheitsgürtel. Es wurden zwei Zonen eingerichtet: eine Sperrbeziehungsweise kontrollierte Zone und eine für den normalen Besucher verbotene Zone. Um die kontrollierte Zone betreten zu können, muss der Besucher die Eintrittskarte und seinen Ausweis vorzeigen. Schon die Tickets können nur unter Angabe der Identität gekauft werden. In die verbotene Zone kommen nur autorisierte Personen, die beruflich mit den Spielen zu tun haben.“ Auch der Verkehr ist neu geregelt. Eine betreffende Sonderzone erstreckt sich über eine Länge von 100 Kilometern vom einen Ende Groß-Sotschis zum anderen und lässt nur Verkehrsmittel mit Sondergenehmigung zu – in erster Linie ist das der Öffentliche Nahverkehr. Autos, deren Halter in Sotschi nicht gemeldet sind, können an Park-and-ride-Plätzen vor der Stadt abgestellt werden. Außerdem richtete man eine spezielle Olympiatrasse ein, um die pünktliche An- und Abfahrt der Athleten und des olympischen Personals zu gewährleisten. Selbst Einheimische dürfen die Trasse nicht benutzen. Die Zonen werden durch Einheiten der Polizei, des Innenministeriums und des Ministeriums für Katastrophenschutz abgesichert. „Jede Einrichtung wurde unter Schutz gestellt und mit weltraumgestützten Überwachungssystemen ausgestattet“, sagte der

Minister für Katastrophenschutz, Wladimir Puchkow. Blogger aus Sotschi berichten, dass bereits während der Neujahrsfeiertage vom 1. bis 8. Januar die Polizeipatrouillen im Zentrum so zahlreich waren, dass sie praktisch an jeder Ecke ihre Präsenz zeigten. Fußgänger wurden angehalten und mussten ihre Personalien vorzeigen. Die Polizei ging von Haus zu Haus und überprüfte, ob die Bewohner gültige Ausweise haben und ordnungsgemäß unter dieser Anschrift gemeldet sind. Ausländische Besucher, die während der Spiele in Hotels absteigen, werden automatisch von ihren Gastgebern registriert, Besucher – ausländische oder russische – mit privater Unterkunft müssen sich innerhalb von drei Tagen anmelden. Seit dem 7. Januar, so die Blogger, habe es weniger Polizei auf den Straßen gegeben, dafür verstärkte Kontrollen an Verkehrsknotenpunkten und belebten Plätzen. Aber das alltägliche Leben geht weiter. Die Besucher können sich in Sotschi erholen, ohne das Gefühl haben zu müssen, unter ständiger Überwachung zu stehen. Tatsächlich haben diese Sicherheitsmaßnahmen einen großen Vorteil: Die Stadt kann als eine der sichersten der Welt gelten. Völlig ungestört lässt es sich durchs Zentrum schlendern oder in einer der vielen Bars und in einem Restaurant pausieren. „Natürlich“, sagt Steven Eke von Control Risks, „ist es unmög-

lich, eventuelle Anschläge vorauszusehen und genau einzuschätzen. Sotschi ist normalerweise eine friedliche und vollkommen sichere Stadt, in der es früher nie irgendwelche terroristischen Aktivitäten gab. Die Sorge ist berechtigt in Anbetracht seiner Nähe zum Nordkaukasus und des besonderen internationalen Status, den die Olympischen Spiele innehaben. Außerdem bedeutet das politische Privileg, das einem solchen Ereignis anhaftet, dass die Behörden alles in ihrer Macht stehende tun werden, um den friedlichen Verlauf der Spiele zu gewährleisten. Die Sicherheitsmaßnahmen sind beispiellos für Russland.“ Die Behörden ihrerseits scheinen von den Sicherheitsmaßnahmen überzeugt zu sein. Der Vorsitzende des Russischen Olympischen Komitees, Alexander Schukow, betonte nach den Selbstmordanschlägen von Wolgograd, dass keine Notwendigkeit bestünde, irgendwelche zusätzlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Sotschi sicherer zu machen. „Alles Notwendige“ sei bereits getan. Entgegen mancher Erwartungen, dass der Sicherheitsgürtel nach den Bombenanschlägen noch einmal erweitert werde, hat Präsident Putin einige Beschränkungen sogar gelockert. So können nun während der Spiele mit der entsprechenden Genehmigung öffentliche Versammlungen in einem bezeichneten Gebiet ungefähr zwölf Kilometer von der nächsten olympischen Wettkampfstätte abgehalten werden. Die Nachfrage hat sich bisher allerdings als gering erwiesen. Am 17. Januar äußerte Putin gegenüber russischen und ausländischen Journalisten, dass Moskau entschlossen sei, alles im Bereich des Möglichen zu tun, um die Sicherheit der Athleten und Zuschauer bei den Spielen zu gewährleisten. „Wir sind bemüht, die Umsetzung der Sicherheitsmaßnahmen ‚in Ihren Augen‘ nicht aufdringlich erscheinen zu lassen, so dass die Teilnehmer und die Gäste kein bedrückendes Gefühl verspüren“, sagte er. Es wird geschätzt, dass bis zu 37 000 Angehörige der Polizei aus dem Innenministerium zum Schutz der Athleten, Besucher und Einheimischen vor Ort sein werden, wenn die Spiele beginnen. Zum Einsatz kommen auch Luftabwehrraketen, Ultraschallwaffen und Hochleistungsboote. Ein mit Sorm bezeichnetes Computerkontrollsystem wird verwendet, um Internet und Telefonverkehr in und aus Sotschi zu kontrollieren und jede geplante Straftat aufzudecken. Alexsej Lawrischtschew, Beamter des russischen Geheimdienstes FSB und verantwortlich für die Sicherheit in Sotschi, erklärte, dass Russland mit den Staatssicherheitsbehörden von mehr als achtzig Ländern, einschließlich Großbritannien und den Vereinigten Staaten, zusammengearbeitet habe. Um das Zusammenspiel zwischen russischen und ausländischen Sicherheitsbeamten sowie mit den Athleten und den Besuchern zu erleichtern, hat das russisches Personal einen Crashkurs in mehreren Fremdsprachen absolviert. In einem eigens dafür eingerichteten Callcenter können sich die russischen Ordnungskräften Hilfe holen, wenn sie an Ort und Stelle einen Dolmetscher benötigen, um den ausländischen Gästen zur Seite zu stehen.


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PRESSEBILD

Die guten Seelen von Olympia VOLONTÄRE 114 Freiwillige aus Deutschland sind in Sotschi am Start

Es kommt nicht oft vor, dass jemand auf drei Olympiateilnahmen verweisen kann. Kati Wilhelm gehört beispielsweise zu diesem erlesenen Kreis, jene Ausnahmesportlerin, die mehr als ein Jahrzehnt den Ton im Biathlon angab. Und auch bei Michael Burger ist es in wenigen Tagen soweit. Nach Athen 2004 und Turin 2006 sind Sotschi seine dritten Olympischen Spiele. Als freiwilliger Helfer. Der Software-Ingenieur aus Riemerling bei München ist diesmal dem Pressebereich im Biathlon und Skilanglauf zugeteilt, wird also dafür zu sorgen haben, dass Journalisten und Fotografen funktionsfähige Arbeitsplätze vorfinden. Dass er selbst gern Ski fährt, hat als Qualifikation wohl eher eine untergeordnete Rolle gespielt, und auch sonst seien keine speziellen Vorkenntnisse vonnöten, meint der 41-Jährige: „Wichtig ist, dass man seine Aufgaben zuverlässig erledigt, pünktlich erscheint und freundlich ist.“

Unbezahlbare Erfahrung

glaube, Sotschi Burger hat diese Gewird in diesen Einsatz von Ausmeinschaft immer Wochen sogar ländern zu erwieder gesucht. ziemlich leichtern. Zur VorErstmals als Volunbereitung für den teer tätig war er 2002 sicher russischen Helferstab bei der Leichtathletiksein.“ wurden landesweit 26 EM in München. Es folg-

Noch zwei Tage: Der Countdown ist fast abgelaufen Volontär Michael Burger aus Riemerling bei München vor dem Official Time Keeper in Sotschi

Ein Gesetz für Freiwillige

ten zwei Olympiaden, die Fußball-WM 2006, die Leichtathletik-WM 2009, das Champions-League-Finale 2012. Und das ist nur eine Auswahl der Großereignisse, bei denen er sich engagiert hat. „Alles Veranstaltungen, die ich mir sonst als Zuschauer angesehen hätte“, erklärt Burger, der Dauerkartenbesitzer bei Bayern München ist, seine Sportkarriere der besonderen Art. Als Helfer war er stets näher dran als nur auf der Tribüne. Russland hat 2007 ein Gesetz verabschiedet, um den Status von Freiwilligen zu regeln und den

Zentren eröffnet, in denen die Ausgewählten 36 Stunden lang Schulungen durchliefen. 5000 junge Leute konnten bereits bei einigen Testwettkämpfen in Sotschi Erfahrungen sammeln. Ausländer mussten lediglich ein Onlinetraining und einen Englischsprachtest absolvieren. Keineswegs selbstverständlich: In Sotschi werden die Freiwilligen nicht nur verpflegt, ihnen wird auch kostenlos Wohnraum zur Verfügung gestellt. Sonst habe er sich seine Unterkunft immer selbst organisieren und auch fi-

nanzieren müssen, erzählt Michael Burger. Nur Anreise und Visum seien da nicht eingeschlossen. Die russischen Veranstalter kleiden die Freiwilligen von Kopf bis Fuß neu ein: Skijacke, Sweatshirt, drei Poloshirts, Skihose, Schuhe, Mütze und Handschuhe, dazu Tasche und Rucksack. Die Ausrüstung, die so nirgends zu kaufen ist, dürfen sie behalten. Dass es für ihn nach Russland geht, war für Burger zunächst zweitrangig. Nach den Terroranschlägen in Wolgograd habe er in letzter Zeit von Freunden und Bekannten öfter mal ein „Pass auf dich auf“ zu hören bekommen. Unsicher fühle er sich jedoch nicht. „Im Gegenteil, ich glaube, Sotschi wird in diesen Wochen sogar ziemlich sicher sein. In London hat das 2012 sehr gut funktioniert.“

Geschichte der olympischen Freiwilligenbewegung Alles nahm seinen Anfang bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm. Junge Menschen aus dem Umfeld der Pfadfinderbewegung hatten sich als Volontäre einteilen lassen. Sie leisteten leichte, aber für die Durchführung der Spiele sehr wichtige Dienste, indem sie kleine Botschaften überbrachten und für Sauberkeit und Ordnung sorgten. In der Nachkriegszeit nahm die Popularität des Freiwilligendienstes rasant zu. Waren es bei den Olympischen Spielen in Helsinki 1952 noch

2191 Volontäre, halfen vier Jahre später in Melbourne bereits 3500. Mit zunehmender Popularität der Wettkämpfe wuchs auch die Zahl der freiwilligen Helfer. Und auch ihr Aufgabengebiet weitete sich mit den Jahren aus. 1960 in Squaw Valley und in Rom wurden die Volontäre als Dolmetscher und Fahrer für die Olympiateilnehmer eingesetzt. Seit 1980 setzt das IOC auf ihre obligatorische Einbindung. Mittlerweise nehmen sie eine Schlüsselfunktion bei den Spielen ein.

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FAKTEN ÜBER VOLONTÄRE IN SOTSCHI

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25 000 Freiwillige werden eingesetzt: 67 Prozent bei den Olympischen Spielen, 33 Prozent bei den Paralympics.

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60 Prozent der Volontäre sind weiblich, 40 Prozent männlich.

40 Prozent kommen in den Bergen und 60 Prozent in der Küstenregion zum Einsatz. Der größte Teil der Freiwilligen sind mit über 80 Prozent junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren. Die 31- bis 54-Jährigen stellen 14 Prozent der Helfer. Nur drei Prozent sind 55 Jahre alt oder älter.

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Aus folgenden Ländern kommen (neben Russland) die meisten Volontäre: USA (161), Ukraine (157), Kanada (159), Kasachstan (138), Vereinigtes Königreich (136), Deutschland (114) und Frankreich (65).

RE UT ER S

RE UT ER S

Burger ist einer von den mehr als 25 000 Freiwilligen, deren Bewerbung vom Organisationskomitee in Russland ausgewählt wurde. Darunter sind auch 2000 Ausländer aus 66 Ländern. Mit 114 Freiwilligen stellt Deutschland das sechstgrößte Kontingent nach den USA, der Ukraine, Kanada, Kasachstan und Großbritannien. Die Helfer stehen selbst nicht im Rampenlicht, tragen aber zum Gelingen der Spiele bei, indem sie etwa Wettkampfanlagen in Schuss halten, Zuschauern zur Hand gehen oder Dolmetscherdienste leisten. Ihr praktischer Nutzen ist erheblich, doch das Ganze hat auch eine ideelle Dimension. Wenn sich nämlich die Jugend der Welt zu

Olympia trifft, so gilt das nicht nur für die Sportler, von denen rund 8000 in Sotschi um Medaillen kämpfen. Der Einsatz von Freiwilligen lässt erheblich mehr Leute an dem Erlebnis teilhaben. Das ist es auch, was auf Michael Burger den größten Eindruck macht: „Wenn man sieht, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Berufe und Altersgruppen eine gemeinsame Sprache finden, weil sie ähnliche Interessen und Einstellungen teilen, wird aus unbezahlter Arbeit eine unbezahlbare „Ich Erfahrung.“

PR ES SE BIL D

Tino Künzel / für Russland HEUTE Stell dir vor, es ist Olympia und das Organisationskomitee schickt dir eine Mail mit der Überschrift „Sotschi-DA“, also „JA“. So ist es Michael Burger aus Bayern ergangen.

25 000 Freiwillige aus Russland und aller Welt werden in Sotschi für die Besucher und Sportler übersetzen und bei der Orientierung helfen.


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Dominic Basulto / für Russland HEUTE

In wenigen Jahren wurde die Infrastruktur für die Olympischen Winterspiele in Sotschi aus dem Boden gestampft. Ihre Extravaganz bringt viele Besucher zum Staunen. Wenn die 22. Olympischen Winterspiele am 8. Februar starten, könnten so manche Sportfans überrascht sein: futuristische, hypermoderne Stadien direkt am Meer, ein atemberaubendes Panorama inmitten der schneebedeckten Berge des Kaukasus und ein von subtropischen Palmen eingerahmter Olympischer Park. Die Entwicklung des Bade- und Kurorts Sotschi zur Olympiagastgeberstadt war ein gewaltiges Unterfangen, das für ein „neues Russland“ stehen soll, einer Großmacht mit einer modernen Wirtschaft. Noch vor ein paar Jahren existierte praktisch nichts von der heutigen Infrastruktur. Die letzten Arbeiten an vielen olympischen Stätten – einschließlich des Stadions, in dem die Eröff-

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RUSSLAND BRICHT REKORDE OLYMPIA 2014 Aufwendig gestaltete, internationale Großereignisse nutzen viele Nationen für ihr Debüt auf der Weltbühne. Russland macht da keine Ausnahme. Was in Sotschi alles getan werden musste und was den Besucher erwartet nungs- und die Abschlussveranstaltung stattfinden sollen – wurden erst zu Neujahr fertiggestellt. Für die russischen Sportler werden also die Wettkampfstätten ebenso neu sein wie für ihre ausländischen Kollegen. Russland hat, als seine Wahl auf Sotschi als Austragungsort der Winterspiele fiel, ein altgedientes Modell auf den Kopf gestellt.

Russland bricht bewährte Traditionen Dieses existierte so lange, wie Olympische Spiele lediglich in den USA, in Kanada und in Europa stattfanden, und bestand darin, ein altbewährtes Wintersportgebiet auszuwählen, es aufzupolieren und paar moderne Elemente hinzuzufügen.

Russland dagegen schlug vor, in einer Stadt ohne große Alpinsporttradition, die eher als Sommerferienort an der „Russischen Riviera“ bekannt ist, die Wettkampfstätten förmlich aus dem Boden zu stampfen. Weltweit spekuliert man darüber, ob es in Anbetracht des subtropischen Klimas am Schwaren Meer zu Olympia 2014 wirklich schneien wird. Vor einem Jahrzehnt verfügte Sotschi über ein einziges Skigebiet. Damals ließ nichts vermuten, dass die Stadt einmal Austragungsort der Olympischen Spiele werden könnte. Alles hatte sich geändert, als Präsident Putin die Berge von Krasnaja Poljana zum Skifahren entdeckte und seitdem regelmäßig seinen Urlaub dort verbrachte.

Um die wohlhabenden Russen zu überzeugen, sich in den Skigebieten bei Sotschi statt im Ausland zu erholen, wurden keine Kosten gescheut. Rosa Chutor ist das Kronjuwel unter den Skigebieten und zeichnet sich durch eine Abfahrtslänge von dreieinhalb Kilometern aus. Bei den Wettkämpfen müssen die Teilnehmer einen Höhenunterschied von 1075 Metern überwinden. Die Infrastruktur wurde mithilfe westeuropäischer und amerikanischer Experten gebaut. Blickt man vom Gipfel, könnte man meinen, man sei in den Schweizer oder österreichischen Alpen. Olympische Skiläufer aus den USA, die von einem Besuch in Sotschi zurückkehrten, berichteten von einem „winterlichen Disneyland“.

Kritiker – und derer gibt es viele – monieren, dass Sotschi Putins persönliches Prestigeprojekt sei, der großangelegte Versuch, Russland wieder ins internationale Rampenlicht zu rücken. Andere weisen auf die explodierenden Kosten hin – derzeit 40 Milliarden Euro –, die Sotschi zu den teuersten Spielen in der olympischen Geschichte werden lassen. Auch für die Bewohner stellte die emsige Bautätigkeit eine Belastung dar: Über die letzten Jahre war die Stadt eine der größten Baustellen Europas.

Was kommt danach? Sotschi – das werden die größten und extravagantesten Olympischen Spiele der jüngsten Geschichte. 123 Tage dauerte schon der Fackellauf, in dessen Zuge

Die russischen Anwärter auf olympisches Gold

Jewgeni Pljuschtschenko

Nikita Krjukow

EISKUNSTLÄUFER

LANGLÄUFER

Für den 31-jährigen Pljuschtschenko ist Sotschi die vierte Olympiateilnahme. 2006 holte er in Turin Gold. Und nachdem er sich von einer Rückenverletzung erholt hat, ist Gold auch das, was seine Fans von ihm in Russland erwarten.

Der Langläufer Nikita Krjukow wurde vor allem mit seinem spektakulären Sprint auf der Zielgeraden bei Olympia 2010 in Vancouver bekannt. Damals hatte er den Favoriten Peter Northug aus Norwegen hinter sich gelassen. Nun ist Krjukow selbst Favorit.

Jekaterina Tudegeschewa SNOWBOARDERIN

Die beste russische Snowboarderin Jekaterina Tudegeschewa begann ihre Karriere als Skifahrerin. Doch der Wechsel von Ski auf Snowboard kam der in Sibirien geborenen Wintersportlerin sehr zugute. Nun hofft sie auf ihr erstes olympisches Gold.

Iwan Skobrew EISSCHNELLLÄUFER

Iwan Skobrew ist der am häufigsten ausgezeichnete russische Eisschnellläufer in der Geschichte des modernen Eisschnelllaufs. Doch die Bronze- und Silbermedaille von Vancouver will er nun toppen: Skobrew ist sowohl auf Lang- wie auf Kurzstrecken gut.

Aleksander Tretjakow SKELETONFAHRER

2013 ging Tretjakow als Sieger aus der Skeletonweltmeisterschaft hervor. In Sotschi wird der größte Konkurrent des 28-Jährigen aus Sibirien der Lette Martins Dukurs sein. Und wie immer beim Skeleton werden Hundertstel über den Sieg entscheiden.


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Russlands Eishockeyteam: große Namen, markante Neulinge für Russland HEUTE

Das Aufgebot des russischen Eishockeykaders für die Olympischen Spiele wird von großen Namen beherrscht – doch einer der Topangreifer ist nicht dabei.

Bord der Internationalen Raumstation ISS gebracht und in einem aktiven Vulkan und den Tiefen des Baikalsees versenkt wurde. Nie wurden so viele Medaillen verliehen, wie es für diesen Februar in Sotschi geplant ist. Aber die echte Bewährungsprobe steht an, wenn die Spiele vorbei sind. Dann stellt sich die Frage, ob sich die Region auch für den internationalen Tourismus als tauglich erweist. Schon jetzt gibt es für jedes olympische Bauobjekt Pläne für seine Nutzung danach. Erst kürzlich war das Eishockeystadion Veranstaltungsort des International Investment Forum. Das Olympische Dorf an der Küste soll ein exklusiver Wohnkomplex werden. Einige Anlagen werden demontiert und an anderer Stelle als „Geschenk an die Nation“ wieder aufgebaut.

Peking, Sotschi, Rio de Janeiro Und auf Sotschi warten schon die nächsten großen Ereignisse:

ein Formel-1-Rennen statt, im Juni 2014 der G8-Gipfel der wichtigsten Industrienationen. 2018 ist das Olympiastadion einer der Austragungsorte der Fußball-WM. Die Winterspiele in Sotschi sind Teil einer geopolitischen Tendenz, die der amerikanische Journalist und Globalisierungsexperte Thomas Friedman als „Flattening“, als ein Abflachen der Welt bezeichnet hat: Die neuen, aufstrebenden Mächte nutzen internationale Großereignisse im eigenen Land, um ihr Debüt auf der Weltbühne zu verkünden. Die Liste wächst ständig: Peking (Olympische Sommerspiele 2008), Südafrika (Fußball-WM 2010), Brasilien (Fußball-WM 2014 und Olympische Sommerspiele 2016), Pyeongchang (Olympische Winterspiele 2018) sowie Qatar (Fußball-WM 2022). Von dieser Warte aus betrachtet sind die Olympischen Winterspiele 2014 in Russland ein weiters Zeichen dafür, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln werden.

Tatjana Wolososchar und Maksim Trankow EISKUNSTLÄUFER

Bei den Olympischen Spielen in Vancouver 2010 konnten die russischen Eiskunstläufer keine einzige Goldmedaille ergattern. Umso mehr erwartet man von den Russen, die lange Jahre die Richtung im Eiskunstlauf vorgaben, wieder Siege. Die größten Hoffnungen ruhen auf dem Tanzpaar Tatjana Wolososchar und Maksim Trankow. Die Welt- und Europameister legten einen ausgezeichneten Start in die neue Saison hin, siegten bei Turnieren in Deutschland, den USA und in Japan. Werden sie auch in Sotschi siegen?

PHOTOSHOT/VOSTOCK-PHOTO

Hypermoderne Stadien direkt am Meer und ein von subtropischen Palmen eingerahmter Olympischer Park. Im Frühjahr fi ndet hier das Olympische Feuer an

Wie Kinder auf den Nikolaus warteten die russischen Eishockeyspieler mit angehaltenem Atem auf den großen Tag: die Verkündung des Mannschaftsaufgebots für die Winterspiele in Sotschi. Für den 20-jährigen Wladimir Tarassenko von den St. Louis Blues ließ die Veröffentlichung der Liste einen Kindheitstraum in Erfüllung gehen. Für Altstar Sergej Gontschar, der für die Dallas Stars spielt, war es eine Ernüchterung.

Die Stars sind (fast) alle dabei Russlands große Namen beherrschen die Liste der 25 nominierten Spieler und verleihen dem gastgebenden Team ein beeindruckendes Potenzial. In der ersten Angriffsreihe stehen wahrscheinlich der Mittelstürmer Jewgeni Malkin von den Pittsburgh Penguins und der Flügelspieler Alexander Owetschkin von den Washington Capitals. Die leistungsstärksten Spieler der Nationalen Hockey Liga (NHL) kommen also zusammen. Ihr Tausch gegen die zweite Reihe, für die Pawel Dazjuk und Ilja Kowaltschuk vorgesehen sind, wird kaum Tempo herausnehmen. Es sind schließlich nur 1,583 NHL-Punkte, die die beiden von der ersten Stürmerreihe trennen. Diese Männer haben eindeutig beste Chancen, wenn sie auf ihre Gegner treffen. „Ich denke, Kanadas Angreifer spielen tiefer, die beiden ersten russischen Linien aber sind ebenso schlagkräftig wie die des kanadischen Teams, übertreffen diese vielleicht sogar in der Offensive“, sagt der kanadische Hockeyexperte Mike Ambrogio ge-

genüber RBTH. „Jede Mannschaft mit Owetschkin, Malkin, Dazjuk und Kowaltschuk ist gefährlich.“ Ein Name fehlt jedoch in diesem Topaufgebot an Talenten: der des für seine Eskapaden auf dem Eis wie auch abseits bekannten Flügelspielers der Carolina Hurricanes Alexander Semin. Er ist der einzige russische Top-SixAngreifer der NHL, der nicht nominiert wurde.

Favoritentreffen in der Vorrunde Es ist 34 Jahre her, dass die USA die Sowjetunion während der Olympischen Winterspiele 1980 in Lake Placid mit dem historischen „Miracle on Ice“ fassungslos zurückließen. Dieses eine Spiel begründete die besondere Rivalität zwischen Russland und den USA. Ein weiteres Kapitel aber wird im Februar in Sotschi geschrieben. Russland und die USA spielen in der Vorrunde in Gruppe A und werden am 15. Februar im Bolschoi-Eispalast, angefeuert von zahlreichen angereisten Fans, aufeinandertreffen. Für eine besondere Würze sorgt die sensationelle 8:3-Niederlage Russlands im Viertelfinale der letzten WM gegen die USA. Das lässt den-

IMAGO/LEGION MEDIA

James Ellingworth /

noch keine zuverlässigen Prognosen zu. Die Russen hatten zwar damals keinen Malkin, Kowaltschuk oder Dazjuk in ihrem Kader, den USA aber traute man mit ihrem jungen Team auch keinen Weltmeistertitel zu. Bereits einen Monat vor Eröffnung der Winterspiele sind Spannungen im russischen Nationalteam zutage getreten. Grund ist der 18-jährige Angriffsspieler Waleri Nitschuschkin, der für Dallas spielt. Trainer Sinetula Biljaletdinow hatte dem Neuling erklärt, er müsse nun seine Nominierung „rechtfertigen“, sie sei lediglich ein „Vorschuss“ gewesen. Manager Alexei Jaschin widersprach öffentlich. „Mit Waleri Nitschuschkin hat sich Russland frischen Wind in die Mannschaft geholt. Er ist jung, hat aber in der NHL mit Dallas bewiesen, dass er es mit den Besten aufnehmen kann“, sagt Ambrogio.

Die KHL ist erwachsen geworden Die NHL ist lang nicht mehr die einzige Profiliga. Zwar steht die um Russland zentrierte Kontinentale Hockey Liga KHL kräftemäßig eindeutig auf Rang zwei. Sie zeigt aber unübersehbar Präsenz im Eishockeykader des olympischen Gastgeberlandes. Von den 25 Russen des Teams sind zehn bei KHL-Vereinen unter Vertrag. Die Tage, als die KHL nur Ersatzspieler und Männer der vierten Reihe hervorbrachte, sind vorbei. Der frühere Starspieler der New Jersey Devils Kowaltschuk und Alexander Radulow, der für die Nashville Predators spielte, gehören zur Weltspitze des Hockeys. Außerdem dürfte Dynamo-MoskauTorwart Alexander Jerjomenko den Vorzug vor den bekannteren NHL-Torhütern im Team bekommen – Semjon Warlamow von Colorado und Sergei Bobrowski von Columbus.

Gold, was sonst Kapitän Pawel Dazjuk soll die russische „Sbornaja“ zum Sieg führen.

Olga Sajzewa BIATHLETIN

Die Deutsche Miriam Gössner und die Norwegerin Tora Berger sind Favoritinnen in Sotschi. Doch sollte man die russischen Biathletinnen nicht unterschätzen, insbesondere nicht Olga Sajzewa, die es mit ihren 35 Jahren als Nummer eins noch mal wissen will.

rbth.ru/nhl


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SOTSCHI SPEZIAL

Sportler auf dem Laufsteg

Verspielte Muster, Pelzumrandung: So werden die russischen Olympioniken in Sotschi auflaufen.

OUTFIT Das russische Olympiateam legt Wert auf seine Außenwirkung – die Kleider kreierten italienische Designer

© RIA NOVOSTI

russland-heute.de/27811

Inna Fedorowa/ für Russland HEUTE Zu Sowjetzeiten kämpften Modeschöpfer mit der Zensur. Heute dürfen auch italienische Designer Hand an die Kleidung der russischen Olympiadelegationen legen.

1964: die Sportler im Schapka-Look

REUTERS

1960: sowjetische Eisläuferinnen in Squaw Valley

AP

AP

2006: nüchterne Uniformen zu den Olympischen Spielen in Turin Für die Kollektionen der Franzosen sorgten bereits Pierre Cardin und Yves Saint Laurent, das italienische Team ließ sich von Giorgio Armani einkleiden. Der Olympia-Dress hatte für die sowjetische Regierung besondere Brisanz, sollte doch das Erscheinungsbild der heimischen Delegation Auskunft über den Lebensstandard hinter dem Eisernen Vorhang geben. Der Beschluss über die Uniformierung durchlief eine Vielzahl von Instanzen, die die Vorschläge auf Tragekomfort und ideologische Standards zu prüfen hatten, und wurde schließlich auf höchster staatlicher Ebene abgesegnet.

Zensur macht erfinderisch An den Entwürfen arbeiteten führende Designer des „Allsowjetischen Hauses der Modeschöpfer“. Die Athleten sollten modern gekleidet sein, besonders gewagte und avantgardistische Schnitte waren jedoch nicht zugelassen. Trotzdem gelang es den Modemachern, die Welt hin und wieder in Staunen zu

GAIA RUSSO

Kürzlich eröffnete am Moskauer Roten Platz der erste von landesweit 8000 Olympia-Fanshops. Der Verkaufsschlager: leuchtende Handschuhe mit Fingern in den Farben der olympischen Ringe und Stulpen, auf denen die Flaggen der teilnehmenden Nationen zu sehen sind. In Sotschi wird das russische Team traditionsbewusst in Erscheinung treten, ohne auf die Effekte einer rot-blau-weißen Farbskala zu verzichten. Das Design geht auf russisch-traditionelle Motive zurück und berücksichtigt gleichzeitig die modischen Trends der aktuellen Saison. Auf der Eröffnungsfeier etwa werden die Sportlerinnen in Pullovern und Samthosen über das Parkett stolzieren, die mit ethnischen Motiven verziert sind, darüber tragen sie weiße, blaue und rote Daunenmäntel mit wirkungsvoller Pelzeinfassung. Auf den offiziellen Veranstaltungen hüllen sich die Mitglieder der russischen Delegation in modisches Königsblau, in Grau und edles Bordeaux. Für die Sportlerdelegation wurden insgesamt 750 Garnituren angefertigt, bestehend aus 56 Ausstattungsstücken und 45 Accessoires – Kleidung und Schuhe „für alle Lebenslagen“. Dazu gehören die Paradeuniformen, einfache T-Shirts, Sporthosen oder Jacken. Jeden Auftritt ergänzten die Designer mit einem eigenen Accessoire. Zur Paradeuniform passt ein Seidentuch für die Männer und ein Halstuch mit kleiner Damenhandtasche für die Frauen. Strickmützen und effektvolle, mit Ornamenten versehene Uschanki runden das Bild ab. Seit 1936, als die olympische Uniform eingeführt wurde, entwickelte sich das Outfit der Sportler zunehmend zu einer Frage des staatlichen Images. Besonders „modebewusste“ Länder zogen für die Ausstaffierung ihrer Athleten berühmte Designer heran.

versetzen. 1960, bei den Winterspielen im kalifornischen Squaw Valley, standen die sowjetischen Sportler aller offiziellen Missbilligung von Sex-Appeal zum Trotz in taillierten Jäckchen und eleganten blauen Hosen auf den Siegertreppchen. Bei den Winterspielen in Innsbruck 1976 verließ das sowjetische Team in edlen Pelzen aus seltenem Robbenfell das Flugzeug. Die besondere Liebe zur olympischen Uniform wurde in der Sowjetunion genährt. Von einer Garnitur aus Hose und Trikot mit dem stolzen Schriftzug „CCCP“ auf dem Rücken träumten alle.

Aristokratische Polos aus italienischer Wolle Die Perestroika festigte die russische Vorliebe für „modischen“ Sport nur noch mehr. Die Olympischen Spiele spiegelten den Boom der westlichen Kultur und Mode in der postsowjetischen Gesellschaft wider. Die langjährigen Beschränkungen hatten ein Verlangen ausgelöst, sich farbenfroh und nach internationalen Modetrends zu kleiden. Für die Entwürfe wurden nun junge, rebellische Modemacher zugelassen. 1994 und 1996 verwirklichte der Stardesigner Walentin Judaschkin seine künstlerischen Ideen. Und so ging es weiter. Jedes Jahr sahen die russischen Athleten, ungeachtet ihrer sportlichen Leistungen, prachtvoller aus. Innerhalb eines guten Jahrzehnts wuchs die russische Mannschaft aus ihren Olympiatrikots heraus und vollzog einen modischen Aufstieg zu aristokratischen Polos und Pullovern aus feinster italienischer Wolle. Deren Design besorgen mittlerweile Unternehmen von Weltrang. 2004 reiste das Team in einer Paradeuniform nach Athen, die Bosco di Ciliegi, Imagebeauftragter der Olympioniken, und das italienische Modehaus Etro gemeinsam entworfen hatten. 2006 schloss sich dem Team von Bosco und Etro das Modehaus Ermanno Scervino an. Bei der Eröffnungsfeier der Winterspiele in Turin betraten die russischen Sportler das Stadion in eleganten Anzügen mit klassischem rot-weißem Flechtmuster.


SOTSCHI SPEZIAL Timur Ganejew / für Russland HEUTE

Bei den Olympischen Spielen in Vancouver 2010 holte die russische Nationalmannschaft nur drei Goldmedaillen. Jetzt lässt sie sich von ausländischen Profisportlern beraten.

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Medaillenjäger aus aller Welt

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Im vorolympischen Zyklus wurden sechs von 15 russischen Teams von solchen Profis gecoacht, Russland HEUTE stellt fünf davon vor.

COACHING Internationale Trainer bringen die russischen Sportler auf Trab

Wolfgang Pichler Biathlon, Deutschland 2

Wolfgang Pichler, ehemaliger Trainer der Biathleten des bundesdeutschen Zolls, ist die widersprüchlichste Figur im russischen Nationalteam, für das er schon seit zweieinhalb Jahren arbeitet. Unter Pichlers Führung haben die russischen Biathletinnen nur einmal Bronze bei der Weltmeisterschaft geholt. Trotzdem ver- Wolfgang Pichler: längerte man „Ich möchte Medaillen Pichlers Vertrag in Sotschi sehen, alles und stellte ihm den Weißrussen andere scheint mir Wladimir Ko- unerheblich.“ rotkewitsch an 3 die Seite.

O OT -PH CK O ST VO A/ DP S AS R-T ITA

RI A NO VO ST I

Pierre Lueders Bobfahren, Kanada

Kräften für seinen Erfolg einsetzt. Ich möchte nicht von der Olympiade zurückkehren und denken müssen, dass wir nicht alles gegeben haben.“ Im Bobfahren geht es um drei Medaillensätze.

Walter Plaikner Rennrodeln, Italien

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Die größte Herausforderung sind für Wolfgang Pichler die Olympischen Spiele. In seiner Karriere hat der Deutsche schon mehrfach bewiesen, dass er es vermag, Sportler auf die entscheidenden Starts vorzubereiten. Bei der Olympiade in Turin 2006 gewann die von Pichler trainierte Schwedin Anna Carin Olofsson Silber im Sprint und Gold im Massenstart. Vier Jahre zuvor war sie vom Skilanglauf zum Biathlon gewechselt. Es war der größte Erfolg des schwedischen Teams bei Olympischen Spielen seit 1960. „Die Einschränkung meines Aufgabengebiets hat nicht an meinem Selbstwertgefühl gekratzt. Für mich ist die Arbeit ‚auf dem Feld‘ mit den Sportlerinnen wichtig. Ich möchte Medaillen in Sotschi sehen, alles andere ist unerheblich. Ich hoffe, es gelingt uns, die Erwartungen der russischen Fans zu erfüllen.“ Im Biathlon der Frauen wird um fünf Medaillensätze gekämpft.

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Zweifacher Europameister, Weltmeister im Rennrodeln, Olympiasieger im Zweisitzer, Walter Plaikners Wettkampfkarriere kann sich sehen lassen. Noch größere Erfolge jedoch erzielte er als Trainer. So coachte er den weltbekannten Rennfahrer Armin Zöggeler. Von Plaikner trainiert, gewann der italienische Polizeioffizier fünf Olympiamedaillen, darunter zweimal Gold. Die Ernennung des neuen Mentors für die russischen Rennrodler geht auf die Initiative von Sportminister Witali Mutko zurück. Nach der NieSébastien Cros: derlage bei „Die letzen Ergebnisse der Weltmeis2013 zeigen, dass unser Team terschaft brauchte das zu Spitzenleistungen Team einen fähig ist.“ so erfahrenen Trainer wie Plaikner, 2013 holte die Mann4 schaft nicht eine einzige Medaille. Plaikner beschloss, ein neues Team aufzustellen und gleichzeitig die Konstruktion der Schlitten zu erneuern. Sie sind heute ausgestattet wie zu den „goldenen Zeiten“ von Arnim Zöggeler. Um an die Erfolge seines Schülers heranzukommen, muss nach den Worten Plaikners noch viel gearbeitet werden. Skeptiker bezweifelten aber, dass der Experte den Russen innerhalb von sieben Monaten Siegesgewissheit einimpfen kann – vor allem angesichts der Tatsache, dass der russische Mannschaftsführer seine besten Zeiten wahrscheinlich hinter sich hat, er ist 42 Jahre alt. Noch weniger Hoffnungen knüpfen sich an das Frauenteam, das es bestenfalls unter die zehn Ersten schafft. „Ich schaue unserer Zukunft sehr positiv entgegen. Ich bin sicher, dass die Fans in Sotschi unsere Sportler so bedingungslos unterstützen, dass die einfach nicht klein beigeben können.“ Im Rennrodeln werden vier Medaillensätze vergeben.

1 Wolfgang Pichler, Frauenbiathlon-Team, Deutschland 2 Pierre Lueders, Bobfahren, Kanada 3 Walter Plaikner, Rennrodeln, Italien

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Vielfacher Weltmeister, Olympiasieger. Pierre Lueders beendete seine Karriere im Jahr 2010. Bis zum Schluss kämpfte er hart gegen seinen Rivalen, den Teamleiter der russischen Mannschaft Alexander Subkow. Jetzt stehen die beiden auf derselben Seite und träumen gemeinsam vom ersten Gold in der Geschichte des russischen Bobsports. Der Kanadier ist mit allen Raffinessen des Bobfahrens vertraut, mit technischen Feinheiten und mit der Psychologie. Vor allem der psychologische Faktor stellte sich über die Jahre als Problem des russischen Nationalteams dar. Außerhalb seines Trainings der Nationalmannschaft arbeitet Lueders engagiert mit dem jugendlichen Nachwuchs. Nach seiner Überzeugung wächst in Russland eine neue Generation heran, die 2018 in Korea für Furore sorgen könnte. Derzeit hängt der Coach die Latten etwas tiefer. „Mit Prognosen über Medaillengewinne halte ich mich lieber zurück. Es geht vor allem darum, dass unser Team sich in Sotschi sehen lassen kann und sich mit allen

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4 Sébastien Cros, Shorttrack, Frankreich 5 Thomas Lips, Frauencurling-Nationalteam, Schweiz

Sébastien Cros Shorttrack, Frankreich Der 36-jährige Franzose Sébastien Cros coacht das russische Shorttrack-Team seit Mai 2012. Zuvor arbeitete der frühere Vizeweltmeister mit der nationalen Auswahl seines Heimatlandes sowie mit dem kanadischen Team zusammen. Die beiden Mannschaften erzielten unter seiner Leitung bemerkenswerte Erfolge. So gewannen die „Ahornblätter“ während der heimischen Winterolympiade 2010 nach zuvor eher mittelmäßigen Ergebnissen gleich

zwei Silbermedaillen. In der russischen Mannschaft setzte der Trainer seine Ideen sehr zügig um. Der gebürtige Koreaner Wiktor Ahn, unbestrittener Star des Teams, fand wieder zur alten Form seiner besten Jahre zurück, Wladimir Grigorjew und Semjon Jelistratow holten ihre ersten Titel auf Einzeldistanzen des Weltcups. Die Frauen dagegen konnten bislang weniger überzeugen. Teamleiterin Tatjana Borodulina feierte ihren letzten großen Erfolg im Jahr 2005. Cros aber kündigte an, dass auch die Frauen um hohe Plätze kämpfen werden. „Die letzten Ergebnisse unseres Teams zeigen, dass wir in jeder Distanz zu Spitzenleistungen fähig sind. Die Olympischen Spiele sind sehr ungewöhnliche Wettkämpfe, ihre Ergebnisse lassen sich kaum vorhersagen. Nur eine einzige Medaille ist schon ein gutes Resultat.“ Im Shorttrack wird um acht Medaillensätze gekämpft.

Thomas Lips, FrauencurlingNationalteam, Schweiz Thomas Lips ist von Haus aus Banker. Der gebürtige Zürcher hat allerdings noch eine andere Leidenschaft – Curling. 1991 fing er an, in seiner Freizeit für das Schweizer Nationalteam zu spielen. Damals war die Mannschaft ein Grüppchen aus Enthusiasten. Das änderte sich, als Lips an ihre Spitze trat. Unter seiner Leitung gewann das Männerteam bei der Europameisterschaft 2009 erstmals Silber und bei Olympia 2010 Bronze. Die Frauen legten im gleichen Jahr einen sensationellen Sieg bei der Weltmeisterschaft hin. Im Jahr 2012 wurde Lips als Coach des russischen Nationalteams engagiert. In seinem ersten Jahr in Russland erreichte er Gold bei der Europameisterschaft und trennte sich in einem Skandal von der Mannschaftskapitänin, der langjährigen Teamleiterin Ljudmila Priwiwkowa. „Als ich Priwiwkowa entließ, war mir bewusst, dass ich mich in der Öffentlichkeit unbeliebt mache. Sie ist beim Publikum und bei der Presse sehr populär. Daher befragte ich alle Spielerinnen eingehend, ob sie bei der Olympiade unter allen Umständen mit Priwiwkowa zusammenspielen wollten. Wenn ja, kein Problem, dann hätte ich mich verabschiedet. Und ich wäre gegangen, ohne ein einziges schlechtes Wort über das russische Curling zu verlieren. Die Mädels aber antworteten mir: ‚Nein, wir vertrauen Ihnen, entscheiden Sie so, wie Sie es für richtig halten.‘ In der neuen Zusammensetzung haben wir hervorragende Chancen, Olympiamedaillen zu gewinnen. Wir sind ein geschlossenes Team. Ich habe den Spielerinnen beigebracht, auf eines zu schauen: Dass es nur eine einzige Olympiade gibt – die bevorstehende. Ein zweites Mal wird es nicht geben.“ Im Curling werden zwei Medaillensätze vergeben.


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MEINUNG

Die konservative Wende

AUSSENPOLITIK Die Erfolge der russischen Außenpolitik im vergangenen Jahr gründen in ihrem Pragmatismus

Politikwissenschaftler

„Ich bin gegen die Wiederbelebung einer staatlichen, offiziellen Ideologie in Russland, in welcher Form auch immer.“ Diese Erklärung gab Wladimir Putin im Juli 2000 ab, als er sich mit seiner ersten Rede an die Föderationsversammlung wandte. In seiner nunmehr zehnten Botschaft, die er im Dezember 2013 veröffentlichte, trat er dann für eine Ideologie ein, nach der der russische Staat sich im Inneren wie auch in seiner Außenpolitik richten sollte – den Konservatismus.

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KONSTANTIN MALER

» Fjodor Lukjanow /

Im Prinzip hatte Putin bereits im Jahr 2000 vor der Föderationsversammlung die gleichen Orientierungspunkte genannt, die er auch heutzutage verficht: die traditionellen Werte der Russen wie Patriotismus, staatliche Würde, Etatismus und soziale Solidarität. Allerdings waren diese Werte damals nicht ideologisch gemeint. Die explizite Proklamation konservativer Werte bedeutet eine Wende für die russische Außenpolitik. Denn seit Beginn des Milleniums galt Pragmatismus als deren größte Errungenschaft. In Putins erster Botschaft war die Rede von folgenden Grundsätzen: „Pragmatismus, wirtschaftliche Effizienz, Priorität der nationalen Aufgaben“. Der Erfolg der russischen Außenpolitik im vergangen Jahr liegt darin begründet, dass Moskau sich im Unterschied zu den USA und der EU weitaus weniger an Richtlinien klammerte, sei es die Notwendigkeit, bei allen Entscheidungen die „historisch richtige Seite“ einnehmen zu wollen, wie es die USA versuchen, oder sich von „europäischen Werten“ leiten zu lassen,

wie die EU es sich auf die Fahnen geschrieben hat. Ein anschauliches Beispiel ist der Nahe Osten. Gegen Ende 2013 ließ sich in dem, was dort vor sich ging, beim besten Willen nicht erkennen, wo sich denn nun diese „richtige Seite der Geschichte“ befindet, die die USA einzunehmen gedachten. Drei Jahre lang war Russlands Vorgehen in der Syrienfrage durch „Pragmatismus“, „wirtschaftliche Effektivität“ und die „Priorität nationaler Aufgaben“ bestimmt. Diese Position, die als aussichtslos eingeschätzt wurde, zeichnete sich durch ihre Konsequenz und Vorhersagbarkeit aus. Das hat die Liebe gegenüber Russland zwar nicht vergrößert, dem Land aber zweifelsohne Respekt und Aufmerksamkeit eingebracht. Ein anderes Phänomen ist die Causa Edward Snowden. Der flüchtige Wahrheitssucher stand plötzlich und vollkommen unerwartet auf der Schwelle, und Moskau wusste anfangs nicht, was mit ihm anzufangen sei. Der weltweite Skandal entfachte sich vor allem aufgrund der aggressiven Position Washingtons, da die Amerikaner begannen, auf alle möglichen Länder Druck auszuüben, und forderten, den Überläufer auszuliefern. Unterm Strich steht Russland nun praktisch als einzige Macht in der Welt da, die dazu fähig war, Amerika Paroli zu bieten (China erachtete es für besser, Snowden loszuwerden, und Kuba und Venezuela, die anfangs öffentlich laut herumtönten, beließen es bei Worten). Moskau ist offenbar einfach davon ausgegangen, dass es falsch wäre, einzuknicken, da dies seine Souveränität beschädigen würde. Am Ende hinterließ Russland den Eindruck moralischer Vorbildlichkeit – der Dissident wurde nicht den amerikanischen Geheimdiensten ausgeliefert. Das dritte Beispiel für Russlands Pragmatismus ist der Konflikt in puncto Ukraine. Moskau führte eine Reihe ökonomischer Kennzahlen auf und ließ den Worten Taten folgen wie zum Beispiel die vorübergehende Schließung der Zollgrenze. Da Brüssel auf die konkreten Zahlen zu den zu erwartenden Verlusten mit Ausführungen über die lichte, aber höchst unkonkrete europäische Zukunft antwortete, wurde es zunehmend unwahrscheinlicher, dass der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch das Assoziierungsabkommen unterzeichnen würde. Es ist paradox, aber eben gerade diese Erfolge, die das Resultat einer betont ideo-

logiefreien Außenpolitik waren, stärkten den Wunsch nach mehr Ideologie. Im Nahen Osten hinterlässt Amerikas Fehleinschätzung der Situation ein Vakuum, das von jemandem gefüllt werden muss. Die Akteure vor Ort erwarten möglicherweise, dass Russland wie zu Sowjetzeiten als eine Art integrative Alternative in die Region zurückkehren wird. Nicht nur als militärische und politische, sondern auch als weltanschauliche Größe. Die Konfrontation mit dem Westen im postsowjetischen Raum trägt ebenso zu einer verstärkten Ideologisierung bei. Und wenn EU und USA liberale Vorstellungen vertreten, so wird die Antwort logischerweise eine Ausrichtung auf konservative Werte sein. Der Konservatismus in der Außenpolitik kann zwei Formen annehmen. Erstens im Sinne von Besonnenheit, das heißt der Weigerung, abrupte Schritte zu unternehmen. Dies ist kennzeichnend für das russische Vorgehen – ungeachtet seiner offiziellen Verlautbarungen handelt Putin äußerst umsichtig und gestattet sich Barschheit nur in Antwort darauf, was ihm als illegitimes Vorgehen der Partner erscheint. Und dieser Konservatismus ist eindeutig nicht ideologischer Art. Hinter echtem, ideellen Konservatismus dagegen steht ein Wertekanon, nach dem zu handeln unter Umständen sogar kurzfristigen Interessen zuwider läuft. Mit der Zeit kann sich so etwas auszahlen – durch die Schaffung eines stabilen Systems von Bündnisbeziehungen, die auf gemeinsamen Werten basieren. Und echten Einfluss kann nur jener Staat entwickeln, der eine prinzipienstarke Position vertritt. Putin hat es so ausgedrückt: „Wir wissen, dass es in der Welt immer mehr Menschen gibt, die unsere Position zur Verteidigung traditioneller Werte vertreten, die über Jahrtausende hinweg die geistige und moralische Grundlage der Zivilisation gebildet haben.“ Fragt sich nur, welcher Zivilisation. Unlängst erklärte Putin den Fernen Osten und die pazifische Region zur höchsten Priorität für das 21. Jahrhundert. Das Schicksal Russlands als Großmacht hängt vor allem davon ab, inwieweit es Putin gelingen wird, seine Position dort zu festigen. Aber in diesem Teil der Welt legt man großen Wert auf Pragmatismus. Die ungekürzte Version dieses Textes erschien auf Russia in Global Affairs www.globalaffairs.ru.

Ukraine: mit Moskau und Europa

IN DER UKRAINE kreuzen sich die Interessen von Russland und der EU. Doch eine Lösung, die allen Seiten von Nutzen ist, scheint möglich

Wladimir Tschischow / Diplomat

Die Ukraine ist ein vereinigender Faktor in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland. Eine solche Behauptung scheint auf den ersten Blick paradox zu sein, man möchte ihr spontan nicht zustimmen: Die Entscheidung der Ukraine, die Vorbereitungen zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU auszusetzen, rief bei vielen Politikern und in Expertenkreisen stürmische Reaktionen hervor. Thesen über das

geopolitische „Nullsummenspiel“ und den großen Druck Russlands auf die Ukraine wurden geäußert und heizten die Stimmung noch weiter an. Die Schlussfolgerung, das Thema Ukraine übe einen negativen Einfluss auf die Beziehung Russlands zur EU aus, wurde für einige Experten zu einer sich selbst bewahrheitenden Prophezeiung. Eine solche Art „eiserner“ Logik ist hier jedoch nicht angebracht und kann sich wegen ihres Konfliktpotenzials verhängnisvoll auswirken. In Wirklichkeit besitzen die jeweiligen Beziehungen zwischen EU, Ukraine und Russland – ungeachtet der politischen Schwankungen – einen strategischen und partnerschaftlichen Charakter. Sie kommen den Interessen der Länder entgegen.

Die EU ist der wichtigste Partner Russlands, und wir sind daran interessiert, die Zusammenarbeit auf ein neues Niveau zu heben – durch Beseitigung der Visabeschränkungen, durch Stimulierung von Handel und Investitionen und durch einen Ausbau der politischen Kontakte. Die Intensität, das Spektrum und die Tiefe der russisch-ukrainischen Beziehungen bedürfen keines gesonderten Nachweises. Die Aussicht auf den Abschluss des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine wäre – zu unserem tiefsten Bedauern – kein qualitativ neuer Schritt nach vorn in den Beziehungen zwischen der EU, der Ukraine und Russland. Stattdessen führte dies zu einer Politisierung der Frage und zu dem Versuch, Kiew

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vor die abwegige Wahl „entweder mit Moskau oder mit Europa“ zu stellen. Vor diesem Hintergrund wäre die Initiierung trilateraler Gespräche zwischen der Ukraine, Russland und der EU die natürlichste und effektivste Option, um alle vorhandenen Fragen ehrlich, substanziell und respektvoll zu erörtern. Wir, wie auch die Ukrainer, sind zu diesem Schritt bereit. Nun ist es an der EU zu reagieren. Und noch eines: Die Tatsache, dass EU und Russland über gemeinsame Nachbarn verfügen, sehen wir als einen wichtigen und positiven Faktor in den Beziehungen zur EU. Ich bin überzeugt, dass die Zukunft den gemeinsamen Anstrengungen zur Verknüpfung der europäischen und eurasischen Integrationsprozesse gehört und dass sie einander nicht entgegenstehen, sondern ergänzen. Der Autor ist der Leiter der Ständigen Vertretung Russlands bei der EU.


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MEINUNG

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Russland in den Dialog einbeziehen

EU – RUSSLAND Der Osteuropaexperte Hans-Henning Schröder fordert trotz offensichtlicher Differenzen neue Wege der Zusammenarbeit

Hans-Henning Schröder /

Als die Regierung der Ukraine am 21. November 2013 beschloss, den Verhandlungsprozess über die Unterzeichnung eines Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU auszusetzen, war das nicht das Ende der Idee von einem Europa, das die Staaten im Osten des Kontinents mit einschließt. Doch es markierte das Scheitern einer EU-Politik, die situativ agierte, keine ausreichenden Mittel bereitstellte und keine Antwort auf die Frage hatte, welche Rolle Russland in einem größeren Europa spielen soll. Die neue Bundesregierung steht vor der Aufgabe, gemeinsam mit Partnern in der EU eine neue Osteuropastrategie zu entwerfen – und für deren Umsetzung ausreichende Finanzmittel bereitzustellen. Das Ziel der Strategie ist einfach zu umreißen: Es gilt, einen umfassenden europäischen Wirtschaftsraum zu schaffen, in ganz Europa Sicherheit und Vertrauen herzustellen und die postsowjetischen Staaten an EU-Europa heranzuführen. Und diese Politik muss alle Nachbarn der EU erreichen, die Ukraine, Georgien und Belarus ebenso wie Russland und Moldau.

Russland darf nicht ignoriert werden Die EU-Staaten können den Raum nicht einfach ignorieren, den man in der EU gern „östliche Nachbarschaft“ und in Russland „Eurasien“ nennt: jene zwölf mehr oder minder autoritär regierten Staaten, die den postsowjetischen Raum darstellen. Sicherheit in Europa kann man nur unter Einschluss dieser Region schaffen, sie hat Bedeutung für die Versorgung West- und Mitteleuropas mit Energie und Rohstoffen, und sie stellt einen interessanten Markt für Industriegüter und Dienstleistungen dar. In der Perspektive wird nur ein größeres Europa, das wenigstens einen Teil dieses Raums einschließt, international konkurrenzfähig sein. Das ist jedoch Zukunftsmusik. Gegenwärtig sind die Mehrzahl der Volkswirtschaften im postsowjetischen Raum wenig konkurrenzfähig, die Sozialsysteme ungerecht, die politischen Strukturen mit denen der EU-Staaten nicht kompatibel. Das gilt auch für Russland, das größte Land in der östlichen Nachbarschaft. Keine europäische Osteuropapolitik kann an Russland vorbei, doch Russland stellt sich in den letzten Jahren als sperriger Partner dar. Als vollgültiger Partner europäischer Politik ist das Land also gegenwärtig nur schwer vorstellbar. Auch außenpolitisch gibt es wenig Anlass, sich über russisches Handeln zu freuen. Die Führung der russischen Föderation hat stets Wert darauf gelegt, dass ihr Land in der Welt eine eigenständige Rolle spielt. Seit einigen Jahren ist daher eine Wendung in Richtung Asien erkennbar. Wirtschaftlich und politisch sucht man die Beziehungen zu China zu stärken. Seit Herbst 2011 legt die russische Führung

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KONSTANTIN MALER

Politikwissenschaftler

aber auch besonderes Gewicht auf den Ausbau der Beziehungen zu den Staaten des postsowjetischen Raums. Durch ein Geflecht von Regionalorganisationen versucht man, die Nachbarstaaten an Russland zu binden und so die eigene Interessensphäre zu konsolidieren. Aktivitäten der EU im postsowjetischen Raum versteht die Putin-Administration als gegen sie gerichtet: Ihr Nullsummendenken verhindert eine konstruktive Zusammenarbeit mit der EU in diesem Raum. Allerdings verfügt Russland weder über die Soft Power, noch über ausreichende Wirtschaftskraft, um den postsowjetischen Gesellschaften mittelfristig eine attraktive Perspektive bieten zu können.

Aktivitäten der EU im postsowjetischen Raum versteht die PutinAdministration als gegen sie gerichtet. Wie soll, fragt man sich, deutsche Politik in einer solchen Situation agieren? Grundstein muss naturgemäß die Überwindung der Krise des Euro und der EU sein. Nur eine wirtschaftlich erfolgreiche EU kann auf die Dauer in den osteuropäischen Raum ausstrahlen.

Die Russlandpolitik braucht einen langen Atem Nur geschlossenes Handeln der interessierten EU-Staaten (u. a. Polen, Deutschland und die baltischen Staaten) wird auf Dauer Erfolg haben. Bei der Entwicklung einer Strategie für den postsowjetischen Raum gilt es, sich eng abzustimmen und gemeinsam zu handeln.

In dieser Zusammenarbeit kommt Deutschland als größtem Partner – und als dem EU-Land, das mit Russland über lange Zeit gute Beziehungen aufgebaut hat – große Verantwortung zu. Die Bundesregierung muss die Zusammenarbeit mit Russland aufrechterhalten und ausbauen, ohne die Beziehungen zu anderen postsowjetischen Ländern zu vernachlässigen. Dabei sollte Berlin anstreben, die Putin-Administration in den Dialog über die Region einzubeziehen. Nur so wird es gelingen, das russische Nullsummenspieldenken auf Dauer zu überwinden. Man sollte sich dabei etwa vor Augen halten, dass weder Russland noch die EU allein in der Lage sind, die wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten in

Die Politik sollte nüchtern und interessengeleitet sein. Das erlaubt es, sie gegenüber der eigenen Öffentlichkeit sachlich zu vertreten. der Ukraine aufzufangen. Hier könnten Ansätze zu gemeinsamem Handeln entwickelt werden. Die Beziehungen zur russischen Regierung sollten erneuert, ausgebaut und verbreitert werden. Dabei ist es sinnvoll, ein oder zwei Themen zu identifizieren – das könnte z. B. konventionelle Sicherheit und Vertrauensbildung in Europa sein –, über die ein wirklich politischer Diskurs geführt werden kann. Die eigene Politik sollte nüchtern und interessengeleitet sein. Das erlaubt es, sie gegenüber der eigenen Öffentlichkeit sachlich zu vertreten. In Reaktion auf die autoritäre Wende in Russland hat sich in Deutschland und anderen EU-Staaten ein ausgesprochen negatives Russland-

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation, Tel. +7 495 775-3114, Fax +7 495 988-9213 E-Mail redaktion@russland-heute.de Herausgeber: Jewgenij Abow, Chefredakteur von RBTH: Pavel Golub Chefredakteurin deutsche Ausgabe: Jekaterina Iwanowa Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Redaktionsassistenz: Julia Schewelkina Commercial Director: Julia Golikova, Anzeigen: sales@rbth.ru

bild etabliert. Angesichts der kritischen Grundhaltung der Öffentlichkeit kann wohl Interessenpolitik verständlich gemacht werden, engere Beziehungen und Freundschaft müssen erst wieder wachsen. Beim Ausbau des Diskurses mit der russischen Führung sollte diesmal daran gedacht werden, wieder einen Back Channel einzurichten, der auch in Krisensituationen und bei Konflikten funktioniert und mit dessen Hilfe Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden können. Parallel zum Regierungsdialog ist es notwendig, den gesellschaftlichen Dialog breit auszubauen – Studentenaustausch, Visaerleichterung, Städtepartnerschaften. Zahlreiche Russen, die in Deutschland leben, bieten dafür gute Ansätze. Es ist dieser gesellschaftliche Dialog, der eigentlich die Zukunftsgarantie für eine enge Verbindung zwischen Russland und Europa ist. Dafür müssen ausreichende Mittel bereitstehen, und er muss politisch flankiert werden. Eine Politik, die ihr Ziel, ein demokratisches Europa unter Einschluss des postsowjetischen Raums zu schaffen, fest im Auge behält, die ihre Instrumente intelligent nutzt und sich an alle Staaten des postsowjetischen Raums richtet, wird nicht unmittelbar Erfolg haben – ein langer Atem ist notwendig –, doch sie entwickelt eine echte Perspektive für den Fortgang des europäischen Prozesses in den östlichen Nachbarstaaten. Hans-Henning Schröder leitete bis 2012 die Forschungsgruppe Russland/GUS im Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit (SWP) in Berlin. Die ungekürzte Version des Beitrags erschien auf www.ipg-journal.de.

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GASTRONOMIE

Mehr als nur Soljanka, Wodka und Kaviar

Maxim Syrnikow / für Russland HEUTE

Die Deutschen essen nur Sauerkraut und Würstl? Ähnliche Irrtümer sind über die russische Küche verbreitet. Was zeichnet diese aus, und wo gibt es sie heute noch? Die erste Erwähnung der russischen Küche stammt aus dem 10. Jahrhundert. Damals schrieb der persische Historiker und Geograf Ahmad ibn Rustah, die Ostslawen ernährten sich ausschließlich von Stutenmilch. Tausend Jahre später, im Kalten Krieg, war man immerhin einen halben Schritt weiter: Ein bekanntes europäisches Kochbuch erklärte, die russische Kwas-Suppe Okroschka sei ein Gemisch aus Bier und Wodka, der Borschtsch hingegen werde nur in verdorbenem Zustand serviert. Ein weiteres Bild pseudorussischer Essgewohnheiten entstand ebenfalls in dieser Zeit: Ohne Berge schwarzen Kaviars war eine Mahlzeit „russischen Stils“ undenkbar. Wanderten Köche nach Europa oder Amerika aus, mussten sie sich fortan bemühen, nicht typische Gerichte ihres Heimatlandes auf den Tisch zu bringen, sondern das, was von ihnen als „russisch“ erwartet wurde.

KÜCHE Echt russische Gerichte müssen vor allem eines: köcheln, köcheln, köcheln Es ist aufgedeckt: Zur deftigen Soljanka wird Brot (kleine Piroggen) und „Wässerchen“ (Wodka) gereicht.

Wo gibt’s die echte Küche? Russland ist ein Vielvölkerstaat. Die russische Küche besteht dort seit Jahrhunderten neben den Essgewohnheiten anderer Völker. Einige der als „russisch“ geltenden Gerichte kamen aus benachbarten Regionen, so etwa die finnougrischen Pelmeni und türkische Nudeln. Auch die Volksküchen der anderen, auf russischem Staatsgebiet siedelnden Nationalitäten wurden reicher, indem sie ursprünglich russische Speisen in ihre kulinarischen Traditionen aufnahmen. Traditionelle Gerichte auf der Speisekarte eines russischen Restaurants zu finden, ist heute gar nicht so einfach. Es überwiegen Imitate, die gut schmecken, aber weit vom Original entfernt sind. Zwei Empfehlungen: In der Altstadt von St. Petersburg hat sich das Restaurant „Russkaja rjumotschnaja No 1“ (vodkaroom. ru) einen Namen gemacht, in Moskau das Café „Lawkalawka“ (lavkalavka.com/lavkalavkakafe). Letzteres bezieht seine Zutaten ausschließlich von traditionell wirtschaftenden Bauern aus dem Moskauer Umland.

STOCK FOOD/FOTODOM

„Petschka“ – der Ofen Nie mangelte es in Russland an Waldflächen. Laubwälder in den gemäßigten Zonen und die Nadelwälder der Taiga im Norden lieferten Brennholz in ausreichender Menge, um die nationaltypische Art des Herdes zu befeuern: die Petschka. Der Innenraum dieses Ofens ist so groß, dass ein erwachsener Mensch hineinkriechen könnte. Sein Wirkungsgrad mit maximal 30 Prozent ist allerdings gering. Um einen solchen Ofen so zu beheizen, dass man Brot darin backen kann, braucht es mindestens zehn Holzscheite – das entspricht annähernd einem kleinen Baum. Dafür lassen sich in einer gut eingeheizten Peschka gleich

mehrere Gerichte zubereiten, die eine ausdauernde Hitze erfordern, nicht nur Brot und Kuchen für die Großfamilie. Die Abkühlungsphase zieht sich über acht bis zwölf Stunden nach dem Anheizen. Und diese lang anhaltende Hitze ist die eigentliche Basis der russischen Küche: Echte russische Speisen köcheln stundenlang, bis sie fertig sind.

Traditionen groß geschrieben Piroggen und Bliny

Ob Borschtsch, Kulitschk oder Bliny, ob im Alltag oder beim Feiern: ein kleiner Streifzug durch die russische Küche.

Borschtsch und Kascha

Manche festlichen Gerichte werden dagegen nur einmal im Jahr und zu einem besonderen Anlass gegessen: Gebäck und Kulitsch, „Frühlingslerchen“, zu Ostern oder bunte Lebkuchen aus Archangelsk zu Weihnachten.

Eingelegtes Gemüse

Die russische Küche besteht vor allem aus Gerichten, die über längere Zeit knapp unter 100 Grad leicht vor sich hinköcheln. Über Jahrhunderte hinweg und bis zum heutigen Tag sind in vielen Familien Kohlsuppe und Buchweizengrütze die beliebtesten Gerichte. Traditionell stehen auf dem Mittagstisch einer Bauernfamilie ein Topf Borschtsch in unterschiedlichen Varitationen und ein Topf körnig gekochter Kascha aus Buchweizen, Hirse, Roggen oder Weizen.

Kuchen (Piroggen) und andere Teigwaren sind das Aushängeschild der russischen Küche. Die Vielfalt der Füllungen, Teigarten und Kuchenformen ist überwältigend: Es gibt sie offen und geschlossen, gefüllt mit Quark, ungesalzen oder gesalzen und ebenso sauer oder süß. In der Butterwoche (Masleniza), dem russischen Karneval vor der großen Fastenzeit, wird noch einmal richtig gefeiert. Man isst traditionell Bliny. Diese Eierfladen sind mit Butter bestrichen, dazu gibt es verschiedene Beilagen. In den „Hafertagen“ nach Weihnachten bereitet man Bliny aus Hafermehl zu. Doch auch über das ganze Jahr hinweg sind sie beliebt.

Gerichte zubereitet: die Soljanka, Rassolnik und andere Fleisch- und Fischsuppen auf der Grundlage von Salzgurkensole. Ein solches Gericht erwähnte schon im 17. Jahrhundert der deutsche Gelehrte Adam Olearius: gebratenes Hammelfleisch in Salzgurkenlake. Er war durch das Großfürstentum Moskau gereist und hatte seine (kulinarischen) Erfahrungen aufgeschrieben.

Leben, werden zehn Techniken der Haltbarmachung von Fisch mit Salz beschrieben, darunter Trockenpökeln, Fermentation in Fässern und schichtenweises Einlegen. Fisch ist auch die Grundlage manch besonderen Gebäcks, das es nur in Russland gibt: mit Fisch gefüllte Teigtaschen oder Fischkuchen.

Schwarzer Kaviar

Fisch

Das traditionelle Einlegen von Gemüse und Pilzen durch natürliche Milchsäuregärung, auch Einsäuerung genannt, ist ein wichtiger Bestandteil der russischen Küche. Die Salzlake zum Einlegen von Gurken und Kohl hatte einst für die russische Nationalküche eine ähnlich Bedeutung wie die Sojasoße in den Ländern Südostasiens. Aus eingelegtem Gemüse werden außer der Kohlsuppe weitere

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Maxim Syrnikow / für Russland HEUTE

Basis der traditionellen Küche sind auch die vielen Arten von Flussfischen, die es in Russland immer in großer Fülle gegeben hat. In einem der wichtigsten überlieferten Texte des 16. Jahrhunderts, dem Kodex „Domostroi“ über das gesellschaftliche

Und schließlich ist da noch der berühmte schwarze Kaviar: jener Kaviar, den es heute leider kaum noch gibt. Vor 400 Jahren und in Hungerszeiten verwendete man den getrockneten Störkaviar in manchen russischen Regionen anstelle von Mehl. Der Grund: Er war ein günstigster Ersatz für das Grundnahrungsmittel.


KULTUR Nicole Bickhoff/ für Russland HEUTE Vier Generationen, fünf Heiratsverbindungen und drei Staatsoberhäupter: Wie die Zarenfamilie der Romanows dem Hause Württemberg zum Glanz verhalf.

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Vom Scheitel bis zur Zehe königlich

Als Königin Olga von Württemberg am 30. Oktober 1892 an ihrem Witwensitz in Friedrichshafen starb, notierte Baronin Hildegard von Spitzemberg, Gattin des württembergischen Gesandten am preußischen Königshof, in ihr Tagebuch: „Mir ist ihr Tod unendlich wehmütig: war sie doch für unser Geschlecht ‚die Königin‘, und wie königlich vom Scheitel bis zur Zehe in ihrem ganzen Wesen und Gebaren! Solche Frauen werden nicht mehr geboren noch aufgezogen an den Höfen; ein ganzer Typus der fürstlichen Frau, wie sie uns lieb und verehrungswürdig war, sinkt mit der Königin Olga ins Grab …“

Königin Olga (1822–1892), deren Tod hier so heftig betrauert wird, war die Tochter des Zaren Nikolaus I. und seiner Frau Alexandra Fjodorowna. Im Juli 1846 heiratete sie den württembergischen Kronprinzen Karl. Die schöne russische Großfürstin brachte „Glamour“ in das kleine Königreich Württemberg; sie beeindruckte ihre Zeitgenossen durch ihre glanzvolle Erscheinung und vornehme Ausstrahlung. Der legendäre Reichtum der Zarentochter zeigte sich in ihrer prachtvollen Aussteuer und reichen Mitgift, die es auch erlaubte, die Villa Berg als repräsentativen Sommersitz im Renaissancestil fertigzustellen. Olga ist bis heute in Stuttgart präsent, zumal noch viele Orte ihren Namen tragen. Schmerzlich empfand die Königin die Kinderlosigkeit ihrer Ehe, die sie durch ein besonders intensives soziales Engagement zu kompensieren suchte. Eine Vielzahl von Einrichtungen geht auf ihre Initiative zurück. Die Ehe zwischen Karl und Olga war bereits die vierte im engen Geflecht der dynastischen Beziehungen zwischen den Häusern Romanow und Württemberg im 18. und 19. Jahrhundert. In vier Generationen kamen fünf Heiratsverbindungen zwischen beiden Häusern zustande, und in drei Fällen waren Staatsoberhäupter die Ehepartner. Die Erste dieser Ehen geht auf Katharina die Große zurück, die im Jahre 1776 auf der Suche nach einer Braut für ihren Sohn Paul in Württemberg fündig wurde. Die Auserwählte war Prinzessin Sophie Dorothee (1759–1828), Nichte des regierenden Herzogs Carl Eugen. Die württembergische Prinzessin erfüllte alle Anforderungen, welche die Zarin an ihre zukünftige Schwiegertochter stellte: Sie entstammte einer uralten Reichsdynastie, war an einem kultivierten Hof aufgewachsen, war schön und gebildet. Als Großfürst Paul 1796 nach dem Tod seiner Mutter die Regierung übernahm, rückte Maria Fjodorowna – das war der Name, den sie nach ihrer Heirat und dem Übertritt zum orthodoxen Glauben angenommen hatte – in den Mittelpunkt der Petersburger Gesellschaft; weitreichende Anerkennung gewann sie durch ihre sozial-karitative Tätigkeit. Während Maria Fjodorowna den Weg von Württemberg nach

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Glamour für ein kleines Königreich

STUTTGART Die Ausstellung „Im Glanz der Zaren“ folgt den Spuren der Romanows in Baden Württemberg.

Großfürstin Katharina Pawlowna Russland angetreten hatte, ging ihre Tochter Katharina (1788– 1819) eine Generation später den Weg zurück nach Stuttgart. Nach dem Tod ihres ersten Mannes führten sie ausgedehnte Reisen nach Mittel- und Westeuropa. Dabei lernte sie ihren Cousin Wilhelm von Württemberg kennen. Im Januar 1816 fand in St. Petersburg die Hochzeit statt. Als ihr Mann wenige Monate später den Thron bestieg, steckte Würt-

Großfürstin Olga Romanowa

temberg in einer schweren wirtschaftlichen Krise; Missernten hatten zu akuter Not geführt. Die junge Königin stellte sich tatkräftig den Problemen und initiierte zahlreiche und nachhaltige Hilfsmaßnahmen: Sie rief den Wohltätigkeitsverein ins Leben, gründete die erste Sparkasse und das erste Mädchengymnasium des Landes. Auch die Einrichtung eines Hospitals und der Landwirtschaftlichen Schule in Ho-

henheim konnte sie in der kurzen Zeit realisieren. Ihr plötzlicher Tod im Januar 1819 löste große Trauer in der württembergischen Bevölkerung aus. Eine weitere Heirat in derselben Generation führte wiederum eine württembergische Prinzessin nach Russland: Friederike Charlotte Marie (1807–1873), ältestes Kind des Prinzen Paul von Württemberg, heiratete 1824 einen Bruder Katharinas, den

Großfürsten Michail. Großfürstin Elena Pawlowna, so ihr Name nach dem obligatorischen Übertritt zum orthodoxen Glauben, tat sich als engagierte Mäzenin und sozialpolitische Förderin hervor. Die Letzte im Reigen dieser Verbindungen war Wera Konstantinowna (1854–1912), Tochter des Großfürsten Konstantin und eine Nichte der Königin Olga. Sie kam im Dezember 1863 in die Obhut ihrer Tante. Aus dem zunächst vorübergehenden Aufenthalt wurde ein dauerhafter; 1871 nahmen König Karl und Königin Olga Wera an Kindestatt an. Durch die Heirat mit Herzog Eugen von Württemberg wurde Wera vollends zur Württembergerin. Nach dem Vorbild ihrer Großtante Katharina und ihrer Tante Olga war auch sie in großem Maß karitativ engagiert. Mit dem Tod der Herzogin 1912 enden nicht nur die dynastischen Beziehungen der beiden Adelshäuser. Bereits wenige Jahre später war auch das Ancien Régime nur noch Geschichte. Bildergalerie Jelisaweta Romanowa – die schönste Prinzessin Europas russland-heute.de/26123

„Im Glanz der Zaren“ Die Ausstellung „Im Glanz der Zaren. Die Romanows, Württemberg und Europa“ ist noch bis zum 23. März 2014 im Landesmuseum Stuttgart, Altes Schloss, zu sehen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10–17 Uhr, montags geschlossen. Mit keiner anderen Dynastie unterhielt das Haus Württemberg so enge verwandtschaftliche Beziehungen wie mit den Romanows. Erstmals stehen in einer großen Landesausstellung die fünf Frauen im Mittelpunkt, deren Ehen die Basis für den Austausch zwischen Russland und Württemberg in Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft bildeten. Erzählt wird in der Ausstellung von Prunk, Pracht und Herrlichkeit, aber auch von Heimweh und Alltag, von Glaube und Mythos.

1 Déjeuner Königin Katharinas von Württemberg 2 Schuhe zum Krönungskleid Maria Fjodorownas

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3 Porträtbüste Großfürstin Maria Fjodorownas


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Russland Heute Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

PORTRÄT

Küss den Breschnew! KÜNSTLER Der Maler Dmitri Wrubel über sein wichtigstes Bild und seine neue Heimat Jan Schenkman / Russland HEUTE Die Zahl der Kunstwerke von Dmitri Wrubel geht in die Tausende. Berühmt gemacht hat ihn jedoch ein einziges Bild: der Bruderkuss zwischen Honecker und Breschnew.

Biografie Dmitri Wrubel NATIONALITÄT: RUSSE ALTER: 53 BERUF: KÜNSTLER

Dmitri Wrubel, geboren 1960 in Moskau, stammt aus einer Ingenieursfamilie. Am Moskauer Pädagogischen Institut studierte er Kunst und Grafik. 1986 eröffnete er seine eigene Galerie in Moskau. Schon 1993 wurde er Mitglied des Berliner Künstlervereins, siedelte aber erst 2010 nach Berlin über. Seine Arbeiten sind in der Moskauer Tretjakow-Galerie, in der Berliner Nationalgalerie und in privaten Sammlungen zu sehen. Sein berühmtestes Bild, den „Bruderkuss“, malte er auf die Berliner Mauer, heute East Side Gallery. 2012 trat Wrubel der Piratenpartei bei. In der Berliner Kulturbrauerei (Knaackstraße 97) kann man den Künstler persönlich antreffen.

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Das Bild an der Berliner Mauer trägt die Unterschrift „Gospodi! Pomogi mnje wyschit sredi etoj smertelnoj ljubwi“ (Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben). Der heute 53 Jahre alte Dmitri Wrubel hat es 1989 gemalt. Inzwischen ist es an der East Side Gallery in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs die Attraktion schlechthin. Japaner, Amerikaner und natürlich Russen fotografieren sich davor. Wrubel errinert sich: „Mir kam zufällig ein Foto aus der Paris Match in die Hände, und ich begriff, dass das mein Sujet war. Ich werde oft gefragt, warum gerade der „Bruderkuss“ zu solch einem universellen Symbol geworden ist und seine Epoche überdauert hat. Zum einen handelt es von der Liebe. Immerhin ist es ein Kuss, sogar ein richtiger. Ein Zungenkuss – zwischen Männern. Alten Männern. Das kann man schon als Symbol einer Epoche bezeichnen.“ Auch der hohe Wiedererkennungswert der Abgebildeten spiele eine Rolle, sagt Wrubel. „Und es handelt sich um überdimensionale Gesichter. Es ist ein monumentales Fresko. Darin liegt sein künstlerischer Effekt.“

„Wenn ich Berlin verlasse, muss ich weinen.“ – Dmitri Wrubel in seiner Galerie

Auf einer Facebook-Auktion bietet Wrubel seine Stiche zu einem Startpreis von 50 Euro an. Bisher kann er davon leben. Im letzten Jahr wurde ihm zudem eine nebenerwerbliche Tätigkeit erlaubt. Wrubel kommentiert lachend: „Jetzt habe ich das Recht, Bratwürste zu verkaufen!“

73 000 Dollar bei Sotheby’s

Kunst, die schnell reagiert

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Neben dem Original gibt es mehrere Kopien. So hängt im MauerMuseum am Checkpoint Charlie ein auf Vinyl aufgetragenes Exemplar. Ein anderes befindet sich in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett in London. Und eine Kopie, die der Künstler auf eine Spanplatte gemalt hatte, wurde vor Kurzem bei Sotheby’s für 73 000 Dollar versteigert. Der „Bruderkuss“ hat Wrubels Leben verändert. Bis 1990 war er Konzeptkünstler, der seine Werke vor allem in Privatgalerien zeigte. Nach 1990 wurde er mit Einladungen überhäuft – in die Niederlande, nach Amerika und nach Israel. „In den Arbeiten, die ich von 1991 bis 1993 in Berlin schuf“, erinnert er sich, „überwiegen russische Themen. Alte Mütterchen, Arbeiter, Parteisekretäre, Pioniere, Kleinkriminelle. Manche nennen das Soz Art, aber in Wirklichkeit mag ich es einfach nur, ausdrucksstarke Gesichter zu malen.“ Nach der Jahrtausendwende wandte sich Wrubel dem neuen Präsidenten zu. „Ich las in einer Boulevardzeitung, dass der Künstler Nikas Safronow sein Putin-

Das Wrubel-Bild an der Berliner East Side Gallery – und sein Putin-Kalender von 2002 Porträt auf eine Million Dollar schätzte. Verdammter Mist! Wir sind zu spät gekommen!, dachte ich. Aber wir waren nicht zu spät“, erzählt Wrubel. Zu Putins 50. Geburtstag 2002 malte er einen Kalender mit dem Titel ‚Die zwölf Stimmungen des Präsidenten‘ (s. Bild oben rechts). Der wurde ein riesiger Erfolg.

Schwäche für Neo Rauch „Ich weiß noch“, führt Wrubel weiter aus, „wie ich mich mit einer Mitarbeiterin der Präsidentenverwaltung unterhielt und sich dabei schnell herausstellte, dass sie keine Ahnung von moderner Kunst hatte. Und ich begriff, dass es ähnlich wie mit dem Anthropologen Miklucho-Maklaj und seiner Reise nach Papua-Neuguinea ist: Einerseits wollte er die Ureinwohner missionieren und ihnen wichtige Dinge erzählen, andererseits konnte er auch in jedem Moment aus Versehen verspeist werden.“

Viele denken, Wrubel habe in Deutschland politisches Asyl beantragt. Was nicht der Fall ist. Obgleich seine Projekte oft provokant sind, hat er nie ernsthafte Probleme mit der Staatsmacht bekommen. „Ich will in Berlin ein-

Auf einer FacebookAuktion bietet Wrubel seine Stiche zu einem Startpreis von 50 Euro an. fach nur leben und arbeiten“, erklärt Wrubel. Er fahre gerne mit dem Fahrrad die Friedrichstraße entlang, gehe in chinesische Restaurants und habe ein Faible für deutsche Künstler, insbesondere für Neo Rauch. Wenn Wrubel beim Friseur oder in einem Laden seine Visitenkarte mit der Darstellung des Bruderkusses hervorholt, müssen alle grinsen. Der Umzug nach Deutschland zog sich allerdings

acht Monate hin. Die Behörden stellten harte Forderungen für die Einreise: Wrubel habe seinen Unterhalt ausschließlich durch seine Kunst zu bestreiten, Nebenverdienste seien nicht zulässig. Kaum nach Berlin gekommen, wurde er

Wrubels Projekte sind oft provokant. Aber nie hatte er ernsthafte Probleme mit der Staatsmacht. deshalb aktiv. Im Panda-Theater, in dem seit Jahren russische Konzerte und Abende stattfinden, richtete er sich ein öffentliches Atelier ein. Gegenüber ist das kleine Tourismusunternehmen Berlin on Bike, das Stadtführungen per Fahrrad anbietet. Täglich kommen dort ein paar hundert Berlin-Besucher vorbei. Auch deshalb finden seine Bilder immer wieder Käufer.

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Die Aktivitäten im Internet sind Teil seines Konzepts: „Das gab es vor zwanzig Jahren noch nicht. Das Internet ermöglicht es, ein Bild zu einem Thema zu malen, das gerade die Schlagzeilen beherrscht“, sagt er. Das erste Mal sei ihm das bewusst geworden, als der chilenische Diktator Augusto Pinochet starb. „Wir malten binnen einer Stunde sein Porträt und stellten es ins Netz. Der Leichnam war noch nicht kalt, aber sein Porträt schon veröffentlicht. Das ist beeindruckend.“ 2011 realisierte er mit Kollegen das Global Art Project, das die Demonstrationen in Weißrussland thematisierte. „Wir hatten weltweit Follower, von New York bis nach Tobolsk. Wir verschickten die Bilder, und die Leute hängten sie in ihren Städten an die Häuserwände. Dadurch kam die weltweite Ausstellung eines einzelnen Bildes zustande. Das ist wie Graffiti, verbreitet übers Internet.“ Zum Abschied erklärt Wrubel: „Wenn ich Berlin verlasse, muss ich weinen. Ich weiß nicht, was das Leben noch mit mir vorhat, aber hier fühle ich mich wirklich sehr wohl.“

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