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Freitag, 6. Februar 2015

Ausgabe für Luxemburg Diese Beilage erscheint exklusiv im Die monatlichen Beilagen erscheinen in verschiedenen Sprachen in führenden internationalen Tageszeitungen: The Daily Telegraph, Le Figaro, The New York Times, La Repubblica and El Pais.

F Ü R D E N I N H A LT I S T AU S S C H L I E S S L I C H D I E R E DA K T I O N VO N R U S S I A B E YO N D T H E H E A D L I N E S ( R U S S L A N D) V E R A N T WO R T L I C H .

TSCHETSCHENIEN: ZENTRUM DES MUSLIMISCHEN PROTESTS Auch in Russland ist die erneute Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen im Magazin Charlie Hebdo auf Kritik gestoßen. Russische Muslime, vor allem in Tschetschenien, fühlen sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt und gingen auf die Straße.

Der Rubel sinkt, die Wirtschaft wankt

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«SCHWANENSEE»: 120 JAHRE DES BERÜHMTESTEN BALLETTS

PRESS EBILD

1895 kam Peter Tschaikowskis «Schwanensee» erstmals auf die Bühne. RBTH erzählt, wie ein vorrevolutionäres Ballett zum Putsch-Symbol 1991 und zu einer der meist gespielten klassischen Tanzdarbietungen der Welt wurde. SEITE 7

OSKARNOMINIERT: «LEVIATHAN» VON ANDREJ SWJAGINZEW Die russische Filmindustrie stecke in einer Krise, sagen Kritiker – und auch die jüngsten Erfolge sorgen für Diskussionen. „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew hat gute Aussichten auf einen Oscar, „Unter Stromwolken“ von Aleksej German tritt bei der Berlinale an. SEITE 8

DPA/VOSTOCK-PHOTO

Die letzten Monate des vergangenen Jahres brachten vielen Russen die Gewissheit: Die Krise, von der seit Langem die Rede war, ist nun auch im eigenen Portemonnaie angekommen. Die Preise schnellten in die Höhe. Demnächst dürften bei vielen Unternehmen Lohnkürzungen und Entlassungen auf der Tagesordnung stehen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird im laufenden Jahr

WER WIR SIND RBTH IST EIN MEHRSPRACHIGES INFORMATIONSANGEBOT ÜBER RUSSLAND UND DESSEN ROLLE IN DER WELT. ES BIETET ARTIKEL ZU RUSSISCHER POLITIK, DEM GESCHÄFTSLEBEN, KULTUR UND WISSENSCHAFT, DARÜBER HINAUS ANALYTISCHE BEITRÄGE UND REVIEWS FÜR EINE BREITE LESERSCHAFT UND FÜR EXPERTEN.

spürbar sinken. Die größten Probleme des Landes, die sich bereits in der Krise 2008 offenbarten, etwa die fatale Abhängigkeit vom Ölpreis, wurden nicht gelöst. Zusätzlich verunsichern die Sanktionen ausländische Investoren. Nur eine merkliche Erholung des Ölpreises sowie eine geopolitische Entspannung könnten die Lage beruhigen. SEITEN 4–6

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Freitag, 6. Februar 2015

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

POLITIK

TSCHETSCHENIEN Rund eine Million Menschen demonstrierten gegen die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen „Ich liebe meinen Propheten“, heißt es auf dem vorderen Plakat, das eine Demonstrantin in Grosny in die Höhe hält. Andere Teilnehmer ließen Luftballons mit roten Herzen aufsteigen, um auf diese Weise Mohammed zu huldigen. Die Kundgebung richtete sich gegen die Mohammed-Karrikatur in der jüngsten Charlie-Hebdo-Ausgabe. Die Demonstration wurde vom russischen Fernsehen live übertragen.

WALERIJ MATITSIN / TASS

«Charlie» ruft auch in Grosny muslimische Proteste hervor MARINA OBRASKOWA RBTH

Nach Schätzungen von Polizei und Regierung waren es rund eine Million Menschen, die am 19. Januar in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny zu einer Protestkundgebung zusammenkamen. Sie demonstrierten gegen die neuerliche Veröffentlichung von Karikaturen

COMING UP IN FEBRUARY Ahead of the Munich Security Conference, which will be held from Feb. 6-8, we take a look at the implications of the Ukraine crisis for global security. How did it change Russia’s relations within the post-Soviet space? Can we predict what Russian actions in other parts of the world will be? And, most importantly, has the Ukraine crisis changed what wars will look like in the future?

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des Propheten Mohammed in der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, nachdem bei einem Anschlag auf die Redaktion des Blatts durch radikale Muslime zwölf Mitarbeiter ums Leben gekommen waren. Ramsan Kadyrow, Präsident Tschetscheniens und Initiator der Veranstaltung, sagte den Versammelten vom Podium aus, dass Beleidigungen des Propheten nicht hinnehmbar seien: „Wir werden es nicht ungestraft lassen, dass der Name des Propheten geschändet wird. Wir alle sehen, dass europäische Journalisten und Politiker unter der Losung der Meinungsfreiheit und Demokratie die Freiheit der Grobheit, der Kulturlosigkeit und die Verletzung religiöser Gefühle predigen.“

Seit dem Anschlag in Frankreich deuten alle Zeichen auf Experten sind sich uneins eine offene diskutieren nun die Frage, Konfrontation Experten welche Auswirkungen die große Emzwischen pörung der Muslime in Tschetschenien haben könnte. Der Mufti von Mosdem kau und Zentralrussland Albir Krgaeuropäischen now beispielsweise ist überzeugt, dass es in Russland keine gewalttätigen und geben werde. „Termuslimischen Ausschreitungen roranschläge sind schicht inakzeptaKulturkreis. bel. Aber gleichzeitig müssen auch Mei-

nungsfreiheit und das Recht auf Selbstverwirklichung in Einklang stehen“, findet er. „Das Gesetz zur Verletzung der Gefühle von Gläubigen hilft dem Land, Balance zu halten.“ Er hofft, dass die Ereignisse in Tschetschenien nicht als politische Handlung, sondern als großes Gebet angesehen werden. Dieser Einschätzung kann Nikolaj Schaburow, Direktor des Zentrums für Religionsforschung der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, nicht folgen. Wenn es nur um religiöse Diskussionen gegangen wäre, hätten alle Gespräche in Moscheen stattgefunden, glaubt er. „Man muss sich bewusst sein, dass Religion hier in Politik übergeht und man die Bereiche nicht getrennt voneinander betrachten kann“, erläutert Schaburow. „Die große Teilnehmerzahl erklärt sich durch eine Anweisung Kadyrows. Er verfügt in der Republik über absolute Macht.“ In anderen russischen muslimisch gepräg-

ten Regionen wäre eine so große Demonstration undenkbar gewesen. Politikwissenschaftler Georgij Mirskij merkt an, dass islamische Traditionen in den einzelnen Regionen Russlands ganz unterschiedlich gelebt werden. Im Kaukasus spiele der Islam eine große Rolle im Alltag, während in Tatarstan die Menschen sehr europakonform seien und ihre Religion weniger auslebten. „Ganz allgemein und überall auf der Welt ist die muslimische Gemeinschaft empört, aber dies zu unterschiedlichen Graden. Alles hängt von den Traditionen des Landes, dem Temperament und dem Bildungsniveau ab“, glaubt Mirskij. „In der Mehrzahl der arabischen Länder gab es öffentliche Proteste, und Grosny ist Teil dieser Empörungswelle.“

Politik und Religion Georgij Mirskij vermutet hinter der Kundgebung auch deutlich ein politisches Kalkül. Im Unterschied zu muslimischen Protesten in anderen Ländern sei der Initiator nicht etwa eine religiöse Persönlichkeit gewesen, sondern das Oberhaupt der Republik. „Kadyrow hat beschlossen, im Namen aller russischen Muslime aufzustehen, und konnte damit gleich doppelt punkten: Er wird zu einer bedeutenden Figur für die weltweite Gemeinschaft der

Muslime und kann Moskau gleichzeitig seine Macht demonstrieren. Welches Oberhaupt einer russischen Republik sonst kann binnen so kurzer Zeit zu einer Demonstration solchen Ausmaßes mobil machen?“, so Mirskij. Dass der tschetschenische Präsident in Russland eine Sonderstellung genieße, habe auch die Anwesenheit von Vertretern verschiedener anderer Kaukasusrepubliken an der Kundgebung gezeigt. Das mache Kadyrow zum Anführer der gesamten Region und nicht nur der Republik Tschetschenien, betont Mirskij. Abgesehen von dieser persönlichen Machtdemonstration gibt der Politologe ein weit größeres politisches Ausmaß der Ereignisse zu bedenken. Seit dem Anschlag in Frankreich deuteten alle Zeichen auf eine offene Konfrontation zwischen dem europäischen und muslimischen Kulturkreis. Und Russland habe sich nun durch Kadyrow auf der Seite der Opposition zum Westen positioniert. „Russland wird sich vor dem Hintergrund der Sanktionen und der Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen auf der Seite der muslimischen Welt wiederfinden“, meint er. „Kadyrow tritt dabei als Beschützer der traditionellen Werte auf. Ob diese nun muslimisch oder orthodox sind, ist dabei irrelevant.“

Charlie Hebdo: 40 Prozent der Russen können die Terroristen verstehen Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM sind den befragten Russen religiöse Werte wichtiger als Meinungsfreiheit. 25 Prozent von ihnen glauben, dass die Journalisten der Satirezeitschrift Charlie Hebdo den Angriff auf ihre Redaktion provoziert haben, und geben daran der französischen Regierung die Schuld (35 Prozent), weil diese „eine zu große Freizügigkeit im Umgang mit religiösen Werten“ an den Tag gelegt habe. Laut Umfrage verurteilt die große Mehrheit der Befragten den Terrorakt entschieden. 39 Prozent können jedoch die Gründe für den Anschlag zumindest nachvollziehen, fünf Prozent gaben sogar an, ihn für richtig zu halten. Ebenso viele Teilnehmer machen die französischen Geheimdienste dafür verantwortlich. „Der Islam gilt als eine der traditionellen Religionen

REUTERS

Zur Kundgebung hatte der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow aufgerufen. Experten vermuten eine politische Strategie hinter den Ereignissen.

Russlands, deshalb können die Russen nicht zulassen, dass jemand sie oder ihre Nachbarn in ihrem Glauben beleidigt“, kommentierte Walerij Fedorow, Leiter des WZIOMS, die Umfrageergebnisse gegenüber der Tageszeitung Kommersant. Die Umfrage fand am 17. und 18. Januar unter 1600 Menschen aus insgesamt 46 Regionen Russlands statt.

SONDERBEILAGEN UND SONDERRUBRIKEN ÜBER RUSSLAND WERDEN VON RBTH, EINEM UNTERNEHMEN DER ROSSIJSKAJA GASETA (RUSSLAND), PRODUZIERT UND IN DEN FOLGENDEN ZEITUNGEN VERÖFFENTLICHT: THE DAILY TELEGRAPH, GROSSBRITANNIEN • THE NEW YORK TIMES, THE WALL STREET JOURNAL, THE INTERNATIONAL NEW YORK TIMES, THE WASHINGTON POST, USA • HANDELSBLATT, DEUTSCHLAND • TAGEBLATT, LUXEMBURG • LE FIGARO, FRANKREICH • EL PAÍS, SPAINIEN • LA REPUBBLICA, ITALIEN • LE SOIR, BELGIEN • GEOPOLITICA, SERBIEN • ELEFTHEROS TYPOS, GRIECHENLAND • THE ECONOMIC TIMES, INDIEN • MAINICHI SHIMBUN, JAPAN • HUANQIU SHIBAO, CHINA • THE NATION, PHUKET GAZETT, THAILAND • LA NACION, ARGENTINIEN • FOLHA DE SÃO PAULO, BRAZILIEN • EL OBSERVADOR, URUGUAY • JOONGANG ILBO, SÜDKOREA • THE SYDNEY MORNING HERALD, THE AGE, AUSTRALIEN • GULF NEWS, AL KHALEEJ, VAE.


Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

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DIE STADT

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SOTSCHI Moderne Liftanlagen, gigantische Arenen – das Olympiagelände wird nicht nur für den Wintersport genutzt

Ein Jahr nach Olympia Managen solcher touristischer Riesenprojekte gibt es heute einige Probleme mit den Kapazitäten und nachhaltiger Rentabilität“, sagt er. „Ich erinnere mich an die Sowjetzeiten, als über 1,5 Millionen Menschen im Jahr kamen. Vor ein paar Jahren waren es gerade mal 50.000. Klar, wir haben noch einiges Wachstumspotenzial.“

Anfragen gäbe es genug für Sotschi – doch die Betten sind ausgebucht, die Lifte überfüllt. Unkenrufe, das olympische Gelände stände in Zukunft leer, haben sich nicht bewahrheitet. BRYAN MACDONALD FÜR RBTH

Leoparden im Bolschoj-Eispalast

ARTUR LEBEDEW / TASS

Der schwache Rubel und die neuen Sporteinrichtungen treiben immer mehr Touristen in die Region.

MICHAIL MORDASOW

Internationale Medien haben prophezeit, dass Sotschi nach den Olympischen Winterspielen zu einer Geisterstadt mutiere. Heute, ein Jahr nach den Spielen, hat sich die Prognose nicht bewahrheitet. Erstaunlich, aber wahr: Ausgerechnet in der Wirtschaftskrise wachsen die Ski-Resorts, die für die Spiele errichtet wurden. Der Klub „Treugolnik“ in Adler, der südlichen Vorstadt von Sotschi unweit des Flughafens, ist voll wie eine Sardinenbüchse. Es ist Januar. Zum ersten Mal seit vier Jahren ist in Sotschis Küstenregion Schnee gefallen. Die langen russischen Neujahrsferien neigen sich dem Ende zu. Der schwache Rubel, der Appell von Präsident Putin, die Ferien in der Heimat zu verbringen, und die neuen Sporteinrichtungen, die sich sehen lassen können, treiben immer mehr Touristen in die Region. Menschenmassen stürmen auf die 40 Kilometer langen Bergpisten und reizen das Tageslimit von 10.500 Skifahrern bis an die Grenzen aus. Sotschis Geschäftsleute können ihr Glück kaum fassen. Jedenfalls die, die ihre Häuser oder ihr Eigentum im Zuge der kontrovers diskutierten Zwangsaufkäufe beim Bau der olympischn Stätten nicht verloren haben. Es ist noch nicht lange her, dass die Medien warnten, Sotschi würde eine Geisterstadt werden, wenn der olympische Zirkus einpackt und wegzieht. Doch nicht alles ist so rosig. Der Küsten-Cluster, das Herzstück der Spiele, bleibt außerhalb von Feiertagen geradezu unheimlich still, und manche Wohnhäuser stehen halb fertig da. Dmitrij Bogdanow, Direktor des Sanatoriums „Znanie“, bedauert, dass die Stadt nicht noch mehr Besucher aufnehmen kann. „Das ganze Land braucht neue Tourismuseinrichtungen. Wegen fehlender Erfahrungen beim

Wachstumsmotor Sotschi ALEXEJ LOSSAN RBTH

Im Jahr 2014 besuchten die Region Krasnodar, in der mit Sotschi die Winterspiele 2014 ausgetragen wurden, insgesamt 13 Millionen Touristen, teilte die russische Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf die regionale Verwaltung mit. Dortige Behörden führen die Beliebtheit Sotschis auf den „Effekt von Olympia“ zurück. Die Olympischen Spiele hätten der russischen Wirtschaft etwa 0,3 Prozent BIP-Wachstum beschert, sagt der Analyst der Investmentgesellschaft FINAM Timur Nigmatullin. „Das Projekt hat sich im Bezug auf die Effektivität staatlicher Investitionen als recht erfolgreich erwiesen“, meint er. Nach seiner Aussage stieg die Anzahl der Touristen, die Sotschi 2014 besuchten, um 31 Prozent und betrug fünf Millionen Menschen. Zehn Prozent von ihnen kamen aus dem Ausland. Allerdings, fügt der Experte hinzu, hätten die Sanktionen den wirtschaftlichen Nutzen der Spiele zunächst einmal zunichte gemacht.

Katalysator für Strukturreformen Der Kerneffekt der Veranstaltung sollte ein BIP-Wachstum im Jahresmittel sein. Laut Erwartungen der russischen Zentralbank hätte das BIP um 1,5 bis 1,8 Prozent steigen müssen. Zudem hätten die Olympischen Spiele nach Prognosen von Merrill Lynch zu einem Katalysator für Strukturreformen werden können. Diese sind zur Beschleunigung wirtschaftlichen Wachstums und zur

ZAHLEN

1,8 Prozent BIP-Wachstum prognostizierte die Zentralbank aufgrund der Olympischen Spiele 2014.

5.000.000 Menschen besuchten Sotschi im Jahr 2014, zehn Prozent von ihnen kamen aus dem Ausland.

REUTERS

Die Olympischen Spiele in Sotschi sollten der russischen Wirtschaft Vorschub leisten. Allerdings haben Sanktionen und fallende Ölpreise diesen Effekt zunichte gemacht.

Optimierung staatlicher Regulierungsmechanismen in Russland notwendig. Aufgrund der Sanktionen und fallenden Ölpreise sank das BIP-Wachstum 2014 allerdings auf 0,6 Prozent gegenüber 1,3 Prozent im Vorjahr. Darüber hinaus wuchs die Wirtschaft am langsamsten seit 2009. Zum Vergleich: 2012 stieg das russische BIP um 3,4 Prozent, 2011 um 4,3 Prozent und 2010 um 4,5 Prozent. „Die Winterolympiade 2014 war in erster Linie ein politisches Vorhaben, weswegen anfänglich niemand ernsthaft davon ausging, dass das Projekt sich voll und ganz auszahlt“, sagt Sergej Bespalow vom Zentrum für öffentliche Politik und Staatsführung am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Russischen Akademie für Wirtschaft und Verwaltung. Seinen Angaben zufolge wurde der größte Teil der Ausgaben dabei nicht in Stadien, sondern in den Ausbau der Infrastruktur von Sotschi investiert, dem wichtigsten Urlaubsort Russlands.

Zukunftsaussichten Nach Einschätzung von Timur Nigmatullin schaffte das gute Voraussetzungen, um den Fremdenverkehr sukzessive anzukurbeln. Die Schwäche des

Rubels sei im Moment der Motor für die wachsende Binnennachfrage im Reisesektor. „Das erfolgreiche Formel1-Rennen in Sotschi im Herbst 2014 ist ebenfalls der Olympiade zu verdanken: Die Rennstrecke wurde im Olympischen Park gebaut“, sagt Sergej Bespalow. Ihm zufolge bewirken allein die publikumswirksamen Formel-1-Veranstaltungen, dass zumindest ein Teil der enormen Ausgaben für Olympia wieder hereinkomme. „In Zukunft wird Sotschis Attraktivität für ausländische und russische Touristen davon abhängen, ob die Behörden es schaffen, große internationale Wettkämpfe, allen voran die Wintersportweltmeisterschaften, nach Sotschi zu holen. „Aber die Eskalation der geopolitischen Spannungen und die Sanktionen werden zuzeit kaum dazu beitragen, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen, die durch die Olympischen Spiele geschaffen wurden, in vollem Umfang zum Tragen kommen“, sagt Bespalow. Zugleich könne man aber, wenn sich die Situation entspanne, damit rechnen, dass große Investoren bei ihren Entscheidungen hinsichtlich Russlands die positiven Erfahrungen von Sotschi berücksichtigten.

Erstmals machen die Olympiastadt Sotschi und das Skigebiet Rosa Khutor (oben) den Alpen Konkurrenz. Anfang Januar waren die Hotels komplett ausgebucht.

Der Cluster um das Olympische Stadion, das schon während des Baus als Fehlinvestition bezeichnet wurde, scheint die meiste Zeit über leer zu stehen. Doch Andrej Ponomarenko, Geschäftsführer des G8-Sprachendienstes und eng in die internationale Öffentlichkeitsarbeit von Sotschi eingebunden, sagt, der Schein trüge. „Bei den Spielen des lokalen EishockeyTeams, der Sotschi-Leoparden, kommen im Bolschoj-Eispalast zwischen 7000 und 9500 Fans zusammen. Im September hat dort der Channel One Cup mit Mannschaften aus aller Welt stattgefunden. Der Schaiba-Eispalast beherbergt im Februar den Cirque du Soleil, und in der Eisberghalle lief sechs Monate lang ein Musical mit fünf Vorstellungen pro Woche.“ Das Sprachtalent erläutert: „Im SpeedSkating-Zentrum ist seit fast einem Jahr eine Tennis-Akademie. An anderen Veranstaltungsorten fanden unterschiedliche Events statt: die Schachweltmeisterschaft, Wirtschaftsforen, Ausstellungen. Interessanterweise waren die Küstenhotels während der Olympischen Spiele nicht komplett belegt, wohl aber im letzten Herbst beim russischen Formel-1-Grand-Prix.“ In Krasnaja Poljana war die Überfüllung das größte Problem in diesem Winter. Die Hotels waren lange vor den Neujahrsferien ausgebucht. Die Preise für einen sechstägigen Skipass wurden auf 13.500 Rubel (170 Euro) angehoben, am Ende konnten nur noch Hotelgäste den Pass ergattern. Die Stadtregierung ließ im Dezember Werbespots im Fernsehen laufen, um die einheimische Bevölkerung davon abzubringen, im Januar in die Berge zu fahren. Bogdanow sagt, dass die Schwäche des Rubels gegenüber dem Euro, dem Dollar und Pfund ein Geschenk des Himmels sei, gibt aber zu bedenken, dass dies nicht von langer Dauer so sein könnte. „Die Menschen gaben uns diesen Winter eine Chance, weil die Finanzen eine wesentliche Rolle bei ihrer Reiseplanung spielten. Jetzt kommt es darauf an, Ihnen einen Service zu bieten, der sie davon überzeugt, auch wiederzukommen. Das ist die große Herausforderung.“

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

DAS THEMA

RUSSLANDS KRISE BILLIGE ENERGIE UND DRUCK VON AUSSEN ZIEHEN DIE WIRTSCHAFT IN EINEN SUMPF VON PROBLEMEN

REZESSION WEGEN ÖLPREIS UND SANKTIONEN Aktuelle Wirtschaftsprognosen lassen die Erinnerungen an den Einbruch von 2008/2009 wach werden. Dabei könnte die Lage heute sogar ernster sein als bei der letzten Krise.

Entwicklung des Ölpreises (Brent) in US-Dollar 2008–2015 145

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ALEXEJ LOSSAN

Es ist nunmehr traurige Gewissheit. Russlands Wirtschaft wird im laufenden Jahr in die Rezession schlittern. Fraglich bleibt allerdings das Ausmaß des Einbruchs. Laut offizieller Prognose des Wirtschaftsministeriums wird das russische Bruttoinlandsprodukt um mehr als ein Prozent sinken. Sollte der Ölpreis auf dem Niveau von um die 40 US-Dollar pro Barrel bleiben, wird diese Prognose deutlich nach unten korrigiert werden müssen. Dann, so das Ministerium, wird die Wirtschaftsleistung um etwa fünf Prozent zurückgehen. Dabei sanken bereits in der ersten Woche des Jahres 2015 die Ölpreise unter 50 US-Dollar pro Barrel. Das ist der niedrigste Stand seit sechs Jahren. Der Preis fiel erneut, nachdem die OPEC angekündigt hatte, die Fördermengen nicht zu reduzieren. Aleksandr Proswirjakow, Berater für Finanz-, Handels- und Rohstoffoperationen von PricewaterhouseCoopers in Russland, erklärt, dass die Entwicklung der russischen Wirtschaft von der Entwicklung der Rohölpreise abhänge, denn der größte Teil der Einnahmen des russischen Staatshaushaltes stammt aus dem Energieexport. Der Haushaltsplan für 2015 basierte auf einem Rohölpreis von durchschnittlich 100 US-Dollar. Sollte dieser nun lediglich um die 50 US-Dollar betragen, geht auch Alexej Kozlow, Chef-

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In der ersten Woche des Jahres 2015 sanken die Ölpreise unter 50 US-Dollar pro Barrel.

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Januar 2015 QUELLE: YANDEX.RU/QUOTES

analyst der Investmentgesellschaft UFS, von einem Minus von fünf Prozent aus. Sergej Herstanow, Dozent an der Fakultät für Finanz- und Bankenwesen der Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst, rechnet sogar mit minus 5,8 Prozent. Russland habe sich mit der „holländischen Krankheit“ infiziert: Die Dominanz des Rohstoffexports angesichts hoher Ölpreise mache andere Wirtschaftsbereiche de facto konkurrenzunfähig. „Der Verfall der anderen Branchen begann Anfang der 2000er-Jahre und schritt mit der Zeit voran. Genau deswegen ist auch die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Öl gestiegen“, erläutert er. Denn nicht nur der Ölpreis wirke sich auf das BIP aus. „Für die Entwicklung des BIP spielen auch der Wechselkurs, die Steuerbelastung und der Kapitalabfluss eine wichtige Rolle“, sagt Herstanow. Andererseits hätten auch die Sanktionen gegen Russland

sowie eine erwartete erneute Verschlechterung der Bonitätsnote Russlands und russischer Unternehmen durch internationale Ratingagenturen negative Auswirkungen. Durch die Abwertung des Rubels hingegen könne der niedrige Ölpreis teilweise kompensiert werden.

2008 war Russland eines von vielen Krisen- Kein Vergleich zur Krise ländern. Heu- 2008/2009 Russische Wirtschaftsexperten erinte kommt zur nern an die Wirtschaftskrise der Jahre Wirtschafts- 2008 und 2009. Auch damals stürzte der Ölpreis ab, von 100 US-Dollar auf krise der 40. Die wirtschaftliche und politische Situation war zu dieser Zeit jedoch aninternatioders. „Unser Land war damals keinen nale Druck wirtschaftlichen Sanktionen ausgehinzu. setzt. Zudem ist heute der Markt mit Öl übersättigt“, sagt Daniil Kirkow, Partner der Unternehmensgruppe vvCube. Anton Soroko, Analyst bei Finam, glaubt, dass die Ölpreise abgestürzt sind, weil in den USA die Kos-

ten für die Gewinnung von Schiefergas gesunken seien und gleichzeitig die Nachfrage geringer werde. „Die Weltwirtschaft wächst nicht in gleichem Maße wie 2009, als die Investoren noch größere Erwartungen hatten“, bemerkt er. Unter anderem decke die Nachfrage Chinas die Förderkapazitäten der USA nicht ab. In Russland wirke sich der Ölpreisverfall stärker auf den Kurs des Rubels aus, weil „anders als in den Jahren 2008 und 2009 heute nur wenig ausländisches Kapital im Land ist. Ausländische Unternehmen investieren weit weniger als zuvor in Russland“, meint Soroko. Auch damals sei die russische Wirtschaft schon abhängig vom Energieexport gewesen, sagt UFS-Analyst Alexej Kozlow. Jedoch wäre der Druck heute aufgrund der Sanktionen, einer steigenden Inflation und geopolitischer Risiken größer. Und die Aussichten seien nicht eben poitiv. Das mache den Unterschied aus.

STAATSFINANZEN Russlands Finanzminister Anton Siluanow verordnet Sparkurs

Russlands Staatshaushalt droht wegen des Ölpreisverfalls ein Milliardenloch. Lediglich die Etats für Verteidigung und Sozialleistungen sollen von den Sparmaßnahmen verschont bleiben. ALEXEJ LOSSAN RBTH

Das Loch ist gewaltig. Etwa 39,7 Milliarden Euro – um diesen Betrag wird das Budget des russischen Staatshaushalts 2015 geringer ausfallen, damit beträgt es nur noch etwa 159 Milliarden Euro. Grund dafür sind vor allem die weltweit niedrigen Preise für Energieträger. Diese Zahlen verkündete Russlands Finanzminister Anton Siluanow auf dem Gaidar-Wirtschaftsforum in Moskau. Das Finanzministerium will versuchen, das Haushaltsdefizit in einem Rahmen von zwei bis drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu halten und hat deshalb angekündigt, die Ausgaben um zehn Prozent zu reduzieren. Die beiden größten Posten des russischen Staatshaushalts, die Etats für Verteidigung und Sozialausgaben, sollen dabei allerdings nicht angetastet werden. Xenija Judajewa, stellvertretende Vorsitzende der russischen Zentralbank, nannte auf dem Gaidar-Forum zwei Entwicklungen, die zur Herausforderung für Russlands Staatshaushalt

Experten sehen keine Alternative zum Sparen. Höhere Steuern würden Bürger und Firmen zusätzlich belasten.

und gleichermaßen für die Wirtschaft geworden sind: den Ölpreisverfall und die Rubelkrise. Die russische Wirtschaft brauche Zeit, sich diesen Entwicklungen anzupassen, sagte Judajewa. Dabei gelte: „Je schneller wir die Periode der Anpassung durchlaufen, desto besser kann sich unsere Wirtschaft unter den neuen Vorzeichen weiterentwickeln.“

MICHAIL DJAPARIDZE / TASS

Haushaltskürzung: Regierung muss den Gürtel enger schnallen

Strukturelles Ungleichgewicht

ZITAT

Tatjana Golikowa, Vorsitzende der Rechnungskammer der Russischen Föderation, einer einflussreichen Institution zur Finanz- und Ausgabenkontrolle, sprach sich gegen Haushaltskürzungen aus. „Im ersten Quartal 2015 erscheint es sinnvoll, keine Korrekturen am russischen Haushalt vorzunehmen“, sagte Golikowa in Moskau und erklärte: „Wir brauchen diese Zeit, um objektive Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung im Jahr 2014 zu erhalten.“ Die Zahlen zeigten zudem, dass trotz bestehender Schwierigkeiten auch neue Einnahmequellen geschaffen worden seien. „Damit der Haushaltsplan eingehalten werden kann, wurde ein Anti-Krisen-Fonds eingerichtet“, berichtete sie. Sie gab zu bedenken, dass Kürzungen, die den Verteidigungsetat und die Sozialausgaben außen vor ließen, zu einem noch deut-

« Der russische Haushalt wird 2015 39,7 Milliarden Euro weniger verbuchen auch aufgrund des Preisverfalls für Energieträger. ANTON SILUANOW, RUSSLANDS FINANZMINISTER

licheren Missverhältnis der Ausgabenverteilung führen würden. „Derzeit entfallen 76 Prozent der Ausgaben des föderalen Haushalts auf diese beiden Bereiche. Nach den geplanten Kürzungen bleiben sie unangetastet. Deshalb wird die Struktur des Haushalts noch unausgeglichener sein“, warnte Golikowa. Experten sehen indes keine Alternative zu dem Sparprogramm. „Im Finanzministerium sorgt man sich um die Erfüllung der Haushaltsvorgaben. Daher sind Kürzungen unerlässlich und nicht die schlechteste Option“, meint Ilja Balakirew, Chefanalyst der Investmentgesellschaft UFS, und fügt hinzu: „Die Alternative wäre eine Einnahmensteigerung, aber das würde Steuererhöhungen bedeuten und wäre eine größere Belastung für Bürger und Unternehmen.“ Stattdessen schlägt er vor, „zweifelhafte Projekte“, wie er sie nennt, zurückzustellen, etwa „die Erschließung der Arktis oder die

steigenden Rüstungsaufträge“. Andererseits mache die russische Rüstungsindustrie große Entwicklungsfortschritte, was zur Importsubstitution beitrage. Weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie würden helfen, den Importersatz im Bereich der Hochtechnologie noch schneller voranzutreiben, glaubt Balakirew. Anton Soroko, Analyst bei Finam Management, sieht noch einen weiteren Grund, warum der Verteidigungsetat nicht von den Kürzungen betroffen ist. Die Höhe der Ausgaben für Verteidigung sei von strategischer Bedeutung und daher eine politische Entscheidung, erläutert er. Daran können auch die Finanzbehörden nicht rütteln. In den Bereichen Bildung und Gesundheit seien Kürzungen jedoch kritisch, wie Soroko weiter anmerkt. Er schlägt vor, sich um eine Effektivitätssteigerung der Ausgaben zu bemühen: „Jeder eingesetzte Rubel muss sich mehrfach auszahlen!“


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DAS THEMA

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beträgt der Ölpreis, der dem ursprünglichen Haushalt für das laufende Jahr zugrunde liegt.

50% -3% beträgt in etwa der Anteil der Einkünfte aus dem Energiesektor am föderalen Haushalt.

könnte laut Wirtschaftsminister Uljukajew das BIP bei einem Ölpreis von 60 US-Dollar sinken.

SHUTTERSTOCK/LEGION-MEDIA

PREISE steigen nicht nur bei importierten Gütern und Lebensmitteln

Das Leben der Russen wird deutlich teurer MARIA KARNAUCH RBTH

Die Preise vieler Waren sind 2014 schneller gestiegen als die Inflationsrate, die die Statistikbehörde Rosstat mit 11,4 Prozent beziffert hat. So legten Lebensmittelpreise im Schnitt um 15,4 Prozent zu. Zum Höhepunkt des Anstiegs kam es im Dezember, als auch die stärksten Schwankungen der Währungskurse registriert wurden. Experten erklären dies durch die starke Abhängigkeit Russlands vom Import. Nach Angaben von Rosstat sind Obst und Gemüse um 22 Prozent teurer geworden. Im Winter wird für gewöhnlich das meiste Obst und Gemüse importiert. Wegen der von Russland eingeführten Sanktionen haben viele ein Defi zit auf dem Markt erwartet, erklärt Julia Maruewa, Partner von Nielsen Russia. Das hat die Preise für importiertes Obst und Gemüse in die Höhe getrieben. Fleisch und Geflügel sind um 20,1 Prozent teurer geworden, womit sie die Inflationsrate um fast das Doppelte übertreffen. Die Preise für Fisch sind um 19,1 Prozent gestiegen. Hierbei spielt ebenfalls das Embargo für europäischen Fisch sowie Gerüchte über ein bevorstehendes Defizit eine Rolle. Die Preise für Milch und Milchprodukte sind im vergangenen Jahr um 14,4 Prozent gestiegen. „Neben der Unsicherheit heizen auch die gestiegenen Rohstoffkosten der Hersteller, die nicht selten ihre Vorprodukte aus dem Ausland beziehen, die Inflation an. Hier wirken sich der starke Rückgang des Rubelkurses und

Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat sind Obst und Gemüse um 22 Prozent teurer geworden, Fisch um 19 Prozent und Fleisch und Geflügel um satte 21 Prozent.

die gestiegenen Preise der Rohstofflieferanten besonders negativ aus“, erklärt Julia Maruewa. Den größten Preisanstieg gab es im Dezember, als der Rubel gegenüber dem Dollar und dem Euro dramatisch an Wert verlor. Den Nachhall dessen spürten die Konsumenten in den ersten zehn Tagen des neuen Jahres. Während der russischen Weihnachtsferien wurden die Lebensmittel noch einmal um vier bis zehn Prozent teurer. Die Teuerung hat bereits auch die Regierung auf den Plan gerufen. Premierminister Dimitrij Medwedjew wies die zuständigen Beamten an, keine „ungerechtfertigten Preiserhöhungen“ zuzulassen. Gegen den „grenzenlosen“ Preisanstieg müssten die Strafverfolgungsbehörden und der Antimonopoldienst Russlands konsequent ankämpfen.

Fernseher als Geldanlage Weil der Rubelkurs gefallen ist, sind auch importierte Elektroartikel und elektronische Haushaltswahren teurer geworden. „Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation und der instabilen nationalen Währung sind die Preise seit Beginn 2014 um 30 bis 40 Prozent gestiegen“, heißt es bei M.Video, einem der größten russischen Elektronikmärkte. „Zurzeit sind die Preise aber stabil auf dem Niveau von Ende 2014.“ Angesichts des großen Preissprungs haben sich die Verkaufszahlen bei M.Video im Dezember zum Vorjahresmonat mehr als verdoppelt. Viele Russen versuchten mit dem Kauf von Elektogeräten zumindest einen Teil ihrer Rubel-Ersparnisse zu retten. Andere, die bereits Dollars auf der hohen Kante hatten, witterten dagegen ein lukratives Geschäft, weil die Preisentwicklung dem Dollarkurs hinterherhinkt.

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Doch schon im Januar haben einige ihren Impulskauf bereut und versuchen nun, die Geräte wieder zurückzugeben. Wie bei M.Video bestätigt wurde, gibt es im Moment mehr Rückgaben als noch vor einem Jahr, auch wenn man noch nicht von einer Massentendenz sprechen kann. Andere versuchen, die Waren im Netz wieder zu Geld zu machen.

Inflation in Russland 2014

Kleider werden besonders teuer Der hohe Dollarkurs wirkte sich auch auf die Modebranche aus. Laut Darja Jaderny, Direktorin der Analyseabteilung der EsperGroup, sind die Preise für Kleidung im Marktdurchschnitt seit Mitte Dezember um 16,4 Prozent gestiegen. Einige Hersteller, zum Beispiel Zara (Anstieg um 27 Prozent) und Massimo Dutti (Anstieg um mehr als 30 Prozent), liegen sogar noch weit darüber. „Sowohl ausländische als auch russische Hersteller haben die Preise angehoben, russische Hersteller lassen auch hauptsächlich im Ausland produzieren, meist in China“, erklärt die Expertin. „Außerdem kaufen russische Unternehmen Rohstoffe

RBTH

Der gestiegene Dollarkurs hat die Russen härter getroffen, als sie ahnen konnten: Vor allem Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsgeräte sind teurer geworden.

QUELLE: ROSSTAT

und die Ausrüstung für ihre Fabriken im Ausland.“ Die Experten sehen das Ende der Preisspirale noch nicht erreicht und sagen einen weiteren Anstieg der Inflationsrate voraus. Die Situation könnte sich lediglich durch eine spürbare Stabilisierung des Wechselkurses der Landeswährung ändern. Preisregulierungen dürften dagegen wenig effektiv sein.


Freitag, 6. Februar 2015

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Eine Beilage des Rossijskaja Gaseta Verlags, Moskau

MEINUNG

DAS JAHR WIRD SCHMERZHAFT

JORSCH

D

er Kursverlust des Rubels von fast 50 Prozent gegenüber den gängigen Währungen bereitet nicht nur den Konsumenten Probleme, sondern auch westlichen Firmen. Deshalb ist es sinnvoll herauszufinden, womit die russische Wirtschaft 2015 rechnen muss. Um diese Frage beantworten zu können, sollte man sich daran erinnern, wie sich Russlands WirtKONSTANTIN KORISCHTSCHENKO schaft in den vergangenen Jahren entwickelt hat. ÖKONOM Während der zehn Jahre zwischen 2003 und 2013 nahm der Realwert des RuLeiter des Lehrstuhls bels um nahezu 45 Prozent zu – das für Fondsmärkte ist ein beachtlicher Wert. Im Vergleich und Finanzinstrudazu verteuerten sich die Nationalmente an der Ruswährungen der wachstumsstarken sischen Akademie Länder wie China und Indien nur um für Volkswirtschaft zehn Prozent. Allerdings stieg dort das und öffentlichen Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner Dienst wesentlich schneller als in Russland. Während in diesem Zeitraum der Anstieg des Bruttoinlandsproduktes in Russland rund 85 Prozent betrug, waren es in China 206 Prozent und in Indien immerhin noch 120 Prozent. Russland vermochte den Lebensstandard vor allem durch die Stärkung seiner Nationalwährung und schnell steigende Löhne zu heben. Aber diese Situation konnte nicht ewig währen: Die stärkere Währung und die hohen Fertigungskosten ließen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sinken. Deshalb setzte 2012 ein zunehmend negativer Trend ein, der zu einer geringeren Rentabilität in sämtlichen Wirtschaftsbereichen, mit Ausnahme der Petrochemie, zu schrumpfenden Investitionen und einem Abklingen des Reallohnanstiegs führte. Unterm Strich entwickelte sich die russische Wirtschaft in jeder Hinsicht wesentlich langsamer als zuvor. 2014 verschärfte sich die Situation aufgrund der zunehmenden geopolitischen Spannungen, der Sanktionen, des Wegfalls der Außenmärkte und des erheblichen Kapitalabflusses ins Ausland. Im Sommer gesellte sich dann auch noch der rapide Verfall des Erdölpreises hinzu. Es war nun nicht länger möglich, den Rubelkurs weiterhin auf seinem relativ hohen Niveau zu halten. Als dann zur Politik einer frei floatenden Währung übergegangen wurde, begann der Rubel rasant zu fallen.

Von den äußeren Faktoren ist zunächst vor allem der Erdölpreis relevant. Wenn dieser nicht weiter fällt und sich auf einem bestimmten Niveau einpendeln sollte, dürfte dies das erste Anzeichen einer Kehrtwende der Wirtschaft sein. Die meisten Analysten stimmen darin überein, dass sich die Nachfrage nach Erdöl an der Entwicklung der Weltwirtschaft ausrichtet. So war es in der Vergangenheit, so ist es gegenwärtig, und so wird es auch in Zukunft sein. Ein Rückgang der Nachfrage oder ein sprunghaft ansteigendes Angebot wie gegenwärtig durch das Schieferöl der USA sind lediglich eine vorübergehende Erscheinung – langfristig jedoch wird der Erdölpreis steigen. Und in dem Maße, wie sich der Erdölpreis stabilisieren wird, wird sich auch der Rubelkurs wieder erholen. Zweitens wird die Politik der Zentralbanken Einfluss auf die russische Wirtschaft haben. Während in Japan die Notenpresse weiter auf Hochtouren läuft und innerhalb der EZB der geplante Aufkauf von Staatsanleihen auf den Widerstand Deutschlands stößt,

nimmt in den USA im Gegensatz dazu der Prozess der Abschöpfung „überflüssiger“ Liquidität vom Markt immer mehr an Fahrt auf. Das wird den Euro und den Yen gegenüber dem US-Dollar auch in der nächsten Zeit höchstwahrscheinlich noch weiter schwächen. Zieht man in Betracht, dass die wichtigsten Exportgüter immer noch in US-Dollar gehandelt werden, wird dies den Druck auf die Rohstoffpreise erhöhen. Innerhalb der russischen Wirtschaft wird der Kampf der Moskauer Zentralbank gegen die Inflation und für die Stabilisierung des Rubels die Möglichkeit eines Wirtschaftswachstums drastisch einschränken. Das hängt damit zusammen, dass unter den Bedingungen einer frei floatenden Währung die Geldemission und die Zinsrate die Hauptsteuerinstrumente sind. Gegenwärtig sind Einschränkungen bei der Kreditvergabe und entsprechend hohe Zinssätze zu beobachten. Eine solche Politik verhindert tatsächlich das Aufflammen der Inflation und hält die Spekulanten im Zaum. Aber

« 2015 wird Russlands Bevölkerung weniger konsumieren.

RUBELKRISE LÄSST RUSSEN WEITGEHEND KALT

D GEORGIJ BOWT POLITOLOGE Russischer Politologe und Journalist bei der unabhängigen Online-Zeitung Gazeta.ru

er Dezember war ein wilder Monat für den Rubel. Zehnoder gar 20-prozentige Kursschwankungen an einem Handelstag würden für viele andere Länder wohl einer Katastrophe gleichkommen. Die jeweilige Regierung würde wahrscheinlich zum Rücktritt gezwungen werden und es käme zu Tumulten unter der Bevölkerung. Von außen betrachtet könnte man meinen, auch das verarmte russische Volk müsse auf die Straße gehen, und der Präsident könnte gezwungen sein, Medwedjews Kabinett zu opfern. Es geschieht jedoch nichts dergleichen. Um die Gelassenheit der Russen zu verstehen, genügt ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte: In diesem Zeitraum hat das Land gleich mehrere Abwertungen des Rubels überstanden. So war beispielsweise die Situation 1998 viel schlimmer als gegenwärtig. Die letzte große Abwertung liegt gerade einmal sechs Jahre zurück. Nie hat das bisher zu irgendwelchen spürbaren sozialen

und erst recht nicht politischen Protesten geführt – selbst nicht zu Zeiten, als die Opposition wesentlich stärker und besser organisiert war. Ein wichtiger Grund für die entspannte Reaktion der Russen liegt darin, dass ein Großteil der Bevölkerung ausschließlich in einer „Rubelwelt“ lebt und mit ausländischen Währungen nicht in Berührung kommt. Die Spareinlagen der Bürger bei russischen Banken haben gegenwärtig ein Gesamtvolumen von etwa 16,8 Billionen Rubel (225 Milliarden Euro). Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass der allergrößte Teil dieser beachtlichen Einlagen einem relativ kleinen Teil der Bevölkerung gehört. 71 Prozent verfügen, Umfragen zufolge, über keinerlei Sparguthaben. Ein Sparkonto in der einen oder anderen Form, und dabei ist nicht nur die Rede von Girokonten, auf die das Gehalt überwiesen wird und von denen man Geld am Geldautomaten abheben kann, besitzen lediglich zehn Prozent der Bevölkerung.

Eine „Sparrücklage“ beginnt im Verständnis des Durchschnittsrussen bei dem relativ bescheidenen Betrag von 250.000 Rubel (etwa 3500 Euro). Viele bewahren ihre Ersparnisse zu Hause auf, vor allem wenn eine größere Investition bevorsteht. In Fremdwährungen legen, so die Ergebnisse verschiedener Umfragen, ihr Geld nur vier bis sieben Prozent der Bevölkerung an. Natürlich interessieren sich die Leute für den Umtauschkurs. Sie tun das aber äußerst distanziert, als ob die Geschehnisse in erster Linie nur die „satten Moskauer“ oder schlicht nur die Reichen beträfen. Natürlich spüren Auslandsreisende die Abwertung auch. Aber einen Reisepass besitzen lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, und davon fährt der überwiegende Teil lediglich einmal im Jahr nach Ägypten oder in die Türkei. Nur zwischen drei und fünf Prozent der Bevölkerung reist regelmäßig in den Westen. Der Verfall des Rubels wirkt sich in Russland natürlich in Form von Preis-

«

Ein Großteil der Russen lebt in einer Rubelwelt und kommt mit ausländischer Währung nicht in Berührung.

sie verhindert auch den Zufluss frischen Kapitals in die Wirtschaft. Infolgedessen werden die Unternehmen, da ihnen der Zugang zu Krediten vorerst versperrt bleibt, ihre Investitionsprojekte einfrieren und sich um eine Senkung vor allem der Fertigungskosten bemühen. Unterm Strich wird das Jahr 2015 für Russland also eher ein weiteres Abflauen der Wirtschaftsaktivitäten mit sich bringen. Die Unternehmen müssen sich in diesem Jahr an die neuen Bedingungen anpassen, die sonst eher kauffreudige Bevölkerung wird ihren Konsum einschränken. Dennoch kann man dies als eine unumgängliche Etappe beim Übergang von der durch den Export von Erdöl und Erdgas geprägten Wirtschaft zur Wirtschaft eines ausgeglichenen und nachhaltigen Wachstums ansehen. Leider zeigt die Erfahrung anderer Länder, dass ein solcher Transformationsprozess sehr schmerzhaft verlaufen kann. Aber der aktive Einsatz von Marktmechanismen kann diese negative Phase erheblich verkürzen.

anstiegen aus, und dieser Trend wird in den nächsten Monaten noch zunehmen. Fällt der Rubel gegenüber dem US-Dollar um zehn Prozent, verursacht dies allerdings lediglich ein Prozent an Inflation. Der rasante Preisanstieg ist selbstverschuldet – durch eine Wirtschaft, die unzureichend diversifiziert, die monopolisiert und kaum wettbewerbsfähig ist. Aber selbst ein Preisanstieg von 20 bis 30 Prozent treibt die Menschen nicht auf die Straße, weil diese Erscheinung für Russland absolut nichts Neues oder Ungewöhnliches darstellt. Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich von vorherigen Währungskrisen zudem darin, dass der Präsident und die Regierung ein für die postsowjetische Zeit beispielloses Vertrauen in der Bevölkerung genießen – besonders vor dem Hintergrund der Konfrontation mit dem Westen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist der Überzeugung, dass Russland in diesem Konflikt im Recht sei. Gegenwärtig vertrauen mindestens 80 Prozent der Russen dem Präsidenten. So besagen es Umfragen des Lewada-Zentrums von Ende November. Damit hat das Vertrauen der Bevölkerung innerhalb eines Jahres um 50 Prozent zugenommen. Die Zahl derer, die glauben, dass Wladimir Putin kein Vertrauen verdiene, fiel innerhalb desselben Zeitraums von zwölf auf vier Prozent.

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KUNST

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BALLETT Die legendäre Inszenierung des „Schwanensee“ 1895 im Mariinski-Theater Sankt Petersburg hat bis heute Gültigkeit

Der Schwan feiert 120-jähriges Jubiläum

PRESSEBILD

TASS

Ende Januar 1895 wurde das heute legendäre Ballett „Schwanensee“ von Peter Tschaikowski erstmals im Petersburger Mariinski-Theater aufgeführt. Die Inszenierung von Marius Petipa und Lew Iwanow war nicht der erste Versuch einer Umsetzung, aber diejenige, die den weltweiten Siegeszug des Werkes einleitete. In den darauffolgenden 120 Jahren sollte sich „Schwanensee“ zum meistinszenierten Ballett der Welt entwickeln. Die Uraufführung fand unter der Regie von Wenzel Reisinger am 4. März 1877 auf der Bühne des Moskauer BolschoiTheaters statt. Doch die Inszenierung hatte bei den Zuschauern kaum Erfolg und wurde bald wieder aus dem Programm genommen. Anfang der 1890er Jahre schrieb der Choreograph Marius Petipa das Libretto gemeinsam mit dem Bruder von Peter Tschaikowski um. Mithilfe des Komponisten Riccardo Drigo wurde auch die Partitur überarbeitet. Petipa und Lew Iwanow nahmen sich schließlich gemeinsam der Inszenierung an. Die Premiere fand im Jahr 1895 anlässlich einer Benefizvorstellung der bekannten Sankt Petersburger Ballerina Pierina Legnani statt. Ihr Partner war Pawel Gerdt, der anschließend viele Jahre die Rolle des Siegfried auf der Bühne des Mariinski-Theaters tanzte. „Das Ballettwunder entstand aus einem geglückten Zusammenspiel der autarken Musik Peter Tschaikowskis und der dramaturgisch akribischen Choreographie von Petipa und Iwanow“, sagt Olga Makarowa aus der Verlagsabteilung des Mariinski-Theaters. Zeitgenössische Aufführungen unterscheiden sich jedoch gravierend von den ersten Inszenierungen. Ende des

Das Ballett aller Ballette Das Sujet von „Schnanensee“ wurde im Laufe der Zeit gleich mehrmals überarbeitet. In den 1930er Jahren setzte die legendäre Primaballerina und Choreographin Agrippina Waganowa soziale Akzente und änderte das Libretto von Grund auf. In ihrer Inszenierung war Rotbart kein böser Zauberer mehr, sondern ein verarmter Baron, der seine Tochter verheiraten wollte und nach einer guten Partie für sie suchte. Am Ende erlag Odette einem Schuss von Rotbart, und Siegfried erstach sich mit einem Dolch. 1950 entstand eine neue Fassung des Choreographen Konstantin Sergejew, und zwar erstmals mit einem Happy End. Während Odette und Siegfried in früheren Interpretationen von den stürmischen Wellen des Sees verschlungen wurden, besiegte Siegfried in der neuen Inszenierung den Zauberer in einem Zweikampf, indem er ihm einen Flügel abriss und somit der Macht des Bösen ein Ende setzte. Sergejew knüpfte an die Choreographie von Petipa und Iwanow an, baute jedoch in die Tanznummern Elemente des zeitgenössischen Balletts ein. Seine Inszenierung läuft am Mariinski-Theater bis heute. Der große George Balanchine bezeichnete „Schwanensee“ als Visitenkarte des russischen Balletts und scherzte: „Man sollte alle Ballette ‚Schwanensee‘ nennen. Das Publikum würde immer kommen.“ Die Rolle der OdetteOdile tanzten zu verschiedenen Zeiten herausragende Ballerinen wie An-

GESELLSCHAFT

ON L I N E LESEN d e . r bt h .c o m

Primaballerina Diana Wischnjowa als Odetta; unten: die berühmte Petersburger Ballerina Pierina Legnani; Bühnenbild zum „Schwanensee“ der Aufführung von 1895 im Mariinski Theater

Arbeitsmigration nach Russland geht zurück

na Pawlowa und Galina Ulanowa. „Schwanensee“ ist nach wie vor das am häufigsten auf dem Spielplan stehende Ballett des Mariinski-Theaters. Jede Aufführung ist ausverkauft. Wenn ausländische Vermittler das Mariinski-Ballett auf Gastspielreisen einladen, bitten sie meistens darum, den „Schwanensee“ mitzubringen.

Symbol des Putsches von 1991 Für die Bevölkerung des postsowjetischen Raumes ist „Schwanensee“ zu einem Symbol des Putsches von 1991 geworden. Am 19. August ertönte im Rundfunk nur klassische Musik, und im Fernsehen lief ununterbrochen das Hauptballett der Sowjetära – eine Aufzeichnung der Inszenierung am Bolschoi-Theater. Zuvor war so etwas nur beim Tod eines Staatschefs vorgekommen, aber an jenem Tag wurde ein Staatsstreich begangen. Der Versuch, Michail Gorbatschow gewaltsam seines Amtes als Präsident der UdSSR zu entheben, und die Torpedierung des neuen Unionsvertrages – all dies wurde für die Sowjetbürger mit der Tschaikowski-Musik überspielt. Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Nachrichtenagentur ITAR-TASS.

© ARTEM JITENEV / RIA NOVOSTI

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Russisches Ballett genießt weltweit einen hervorragenden Ruf. Was auf der Bühne so leicht aussieht, ist das Ergebnis harter Arbeit. Nur wenige der Ballettschülerinnen schaffen es bis an die Spitze. Und mit Ende 30 endet die Karriere bereits wieder. Weiter lesen Sie auf unserer Webseite: de.rbth.com/32333

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NATALJA PREBLAGINA

19. Jahrhunderts führten Männer im klassischen Tanz keine komplizierten Sprünge aus. Die Tänzer liefen meist in schönen Schritten über die Bühne, nahmen elegante Posen ein und stützten bei Bedarf die alle überstrahlende Primaballerina. Die Tänzerinnen ihrerseits sahen ebenfalls anders aus: Sie trugen bis zum Hals zugeknöpfte Kostüme und durften die Beine auf der Bühne nicht allzu hoch schwingen – dies galt als anstößig.

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Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“ wurde 1877 uraufgeführt und floppte promt. Erst eine überarbeitete Version aus dem Jahr 1895 brachte den Erfolg – der bis heute ungebrochen anhält.

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Ukraine und Russland ringen um Identität

REISEN

Surgut: Öl, Ski und Rentierreiten

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FILM

RUSSISCHES KINO Trotz restriktiver Gesetze und Kritik schafft ein russischer Film seit Langem wieder eine Oscar-Nominierung

Bittersüße Oscar-Träume KINOPOISK.RU

Ausgerechnet der systemkritische Film „Leviathan“ wurde mit staatlichen Geldern unterstützt.

Die russische Filmindustrie entwickelt sich widersprüchlich. In diesem Jahr hat das Land nach langer Zeit wieder eine aussichtsreiche Oskar-Nominierung. Das freut längst nicht alle. DMITRIJ VACHEDIN FÜR RBTH

Im Februar werden in Berlin Berlinale-Bären und in Los Angeles Oscars verliehen. Bekommt „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew den Oscar für den besten ausländischen Film und wird der Film „Unter Stromwolken“ von Alexej German in Berlin ausgezeichnet, wird man sicherlich von einem großen Erfolg des russischen Kinos sprechen. Wird dies nicht passieren, werden wohl einige Filmkritiker die Situation im russischen Kino als krisenhaft bezeichnen. Durchbruch und Krise. Erfolg und Stagnation. In Wirklichkeit ist die russische Filmindustrie so ambivalent, dass beide Thesen irgendwie stimmen. Je nach Perspektive, je nach den Kriterien. Doch alles der Reihe nach.

Die Zahlen lassen sich sehen

Kein Platz für junge Chaoten Gefährlicher als die Krise scheinen manche staatliche Initiativen – wie das Gesetz gegen den Gebrauch von Schimpfwörtern. Viele Filme, besonders junge, freche, provokative Werke der jungen Filmemacher – wie „Kombinat Nadezhda“ von Natalia Meschtschaninowa, ein Super-Erfolg beim Filmfestival in Rotterdam – haben aufgrund des Gesetzes keine Chance, in russischen Kinos gezeigt zu werden. So steckt jeder russische Filmemacher jetzt in dem Dilemma, den eigenen Film ausschließlich für Festivals zu produzieren oder ihn durch Eigenzensur „kindgerecht“ zu machen. Ein weiterer, nicht weniger fataler Schritt wäre die Quoteneinführung für russische Filme, über die derzeit diskutiert wird. „Bei der 50-ProzentQuote werden alle russischen Filmtheater nach einem Monat dichtgemacht. Bei der 30-Prozent-Quote werden wohl manche Kinos überleben, zumindest für ein paar Jahre“, sagt Produzent Sergeij Seljanow. Die Quoten wären ein harter Schlag für die Industrie und werden wohl nur eintreten, wenn der antiwestliche Kurs härter wird. Dennoch hat Russland „weltoffene, aber patriotische Zuschauer“, wie es der Filmkritiker Iwan Kudrjawzew

formuliert. „Der Zuschauer akzeptiert es nicht, wenn das einheimische Produkt komplett durch das ausländische ersetzt wird“, meint er. Der Markt braucht russische Filme.

Mal wieder sozial Interessant, dass ausgerechnet im Jahr des Schimpfwortgesetzes die russische Kinoindustrie durch neue starke Namen erstmals richtig „sozial“ wurde: „Die Korrekturklasse“ von Iwan Twerdowski (umjubelt beim 24. Filmfestival des osteuropäischen Films in Cottbus), wo die Förderklasse in einer russischen Schule für die auf einen Rollstuhl angewiesene Lena zur Hölle wird, das schon erwähnte „Kombinat Nadezhda“, ein verbittertes Porträt einer Provinzstadt im Norden Russlands, und nicht zuletzt „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew, der den ersten Golden Globe für einen russischen Film seit 1969 einheimste und ein heißer Oscar-Kandidat ist. Kein Regisseur seit Nikita Michalkow schaffte es so weit nach oben wie Andrej Swjaginzew. Sein Werk ist in Russland umstritten: für die einen Metapher – lupenreiner Realismus für die

anderen. Doch selbst Kulturminister Vladimir Medinskij, ein Anhänger patriotischer Kostümdramen, hat vor Kurzem erklärt, dass er sich über den Erfolg von „Leviathan“ in Europa freue. Auch wenn er die Darstellung der Kirche im Film „unterirdisch“ findet. Da das russische Kulturministerium den Film mitfinanziert hat, darf der Minister das auch als eigenen Erfolg verbuchen. „Ich hoffe, dass der überaus begabte Andrej Swjaginzew das nächstes Mal einen Film mit unserer Unterstützung ohne diese existentielle Hoffnungslosigkeit kreiert“, so Medinskij. Ob wirtschaftliche Krise oder ein undurchsichtiges System der Staatsfinanzierung – letztlich wird in Russland ein paralleles System aufgebaut, das jungen Autoren starke Debüts ermöglicht. Patriotische Initiativen des Kulturministeriums beschneiden die künstlerische Freiheit, doch gleichzeitig wird der systemkritische Film „Leviathan“ mit Staatsgeldern unterstützt. Das Land isoliert sich und wird zugleich für die Außenwelt immer interessanter. Russland bleibt ein Kinoland.

Dreharbeiten zum russischen Blockbuster „Stalingrad“, rechts auf dem Bild Regisseur Fjodor Bondartschuk im Gespräch mit einem Darsteller; der Film war die erste 3D-Produktion des russischen Kinos.

WHAT DOES A RUSSIAN WINTER REALLY LOOK LIKE?

„Leviathan“ – mehrfach ausgezeichnet und im eigenen Land umstritten

REUTERS

Im europäischen Vergleich schneidet der russische Kinomarkt statistisch gesehen gar nicht schlecht ab: So gibt es in Russland 170 Millionen Kinobesucher pro Jahr. Der Umsatz der Filmtheater beträgt jährlich etwa eine Milliarde Euro. Der Anteil einheimischer Filme liegt bei 18 Prozent. Dominiert wird der Markt wie in vielen anderen Ländern von Produktionen aus Hollywood. Man muss zugeben: Russische sowie sowjetische Filme waren nie internationale Kassenhits. „Bei uns ist es ein glücklicher Einzelfall, wenn ein russischer Film überhaupt die Staatsgrenze überquert und einen beschränkten Verleih im Ausland fi ndet. Noch nie gab es die Situation, dass ein russischer Film 100 bis 200 Millionen Dollar im internationalen Verleih kassierte“, meint der wohl bekannteste russische Produzent Aleksandr Rodnjanskij. Dennoch schaffen es einzelne russische Filme, im Lande die 50-Millionen-Dollar-Marke zu durchbrechen, so auch der Streifen „Stalingrad“ von Fjodor Bondartschuk. Doch das war vor der Krise. Die Folgen der rasanten Schwächung des Rubels sind noch nicht absehbar. Russland hat es in den vergangenen Jahren geschafft, vor allem in Millionenstädten eine moderne Kinoinfrastruktur aufzubauen, die allerdings eher amerikanische Blockbuster als europäische Autorenfilme bedient. Momentan gibt es aber trotz der unsicheren Zeiten keine Anzeichen dafür, dass Russen massenweise auf die Kinobesuche verzichten würden. In den traditionell sehr langen russischen Weih-

nachtsferien haben die Kinos in diesem Jahr zehn Prozent mehr Umsatz gemacht als im Vorjahr.

Andrej Swjaginzews „Leviathan“ ist der erfolgreichste russische Film des letzten Jahrzehnts. Nominierungen für Auszeichnungen der European Film Academy, bestes Drehbuch in Cannes, Golden Globe – das ist nur eine unvollständige Aufzählung der Ehrungen. Nun hat Swjaginzews Werk sogar Aussichten, den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ zu gewinnen. „Leviathan“ ist der aktuellste und provokanteste Film, der seit Langem in Russland gedreht wurde. Es geht darin um den Kampf eines einfachen Handwerkers gegen den Staatsapparat, den Thomas Hobbes einst Leviathan nannte. Doch der Film ist keine bloße Verurteilung des Systems, sondern eine tiefergehende Analyse seiner Wurzeln. Die große Fangemeinde des Werks schätzt daran weniger das Porträt von Putins Russland als vielmehr seinen universellen Ausdruck. Wie der Humor, so auch die Lyrik Swjaginzews: Sein philosophischer Blick auf den Stellenwert des Menschen in der Natur und im Kosmos hat allgemeine Gültigkeit und ist länderübergreifend.

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