Stadtforschung und Statistik 1-2021

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Inhalt

Schwerpunkt

Heft 1 | 2021

Moderation: Hermann Breuer, Grit Müller 2

Analysen raumzeitlicher Ausbreitungsmuster von COVID-19 mit Corona Regional, dem Analysetool des BBSR Nadine Blätgen, Antonia Milbert

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Verändert sich die Einschätzung des Zusammenhalts in der Wohnumgebung im Zuge der Corona Pandemie? Jan Goebel, Stefan Zimmermann

17 Mobilitätstrends während der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 Till Heinsohn, Markus Niedergesäss 26 Nachbarschaft in der Krise? Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung in NRW während der Corona-Pandemie Sebastian Kurtenbach, Jan Üblacker, Björn Eisele 32 „Es geht schon so, man gewöhnt sich daran.“ Bürgerumfrage in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat Dorothea Deinlein, Cornelia Müller, Benedikt Orlowski, Martina Rebien 46 Covid-19-Monitoring: Statistik im Spannungsfeld der Akteure Gerhard Bender, Rolf Wagner, David Burger 52 Regionalisierte Modellierung szenariobasierter Covid-19 Epedemieverläufe unter Berücksichtigung der lokalen demographischen Struktur Jan Uwe Lemm, Jennifer Kreklow, Robin Hüskes 58 Neue Indikatoren zur Erfassung der Auswirkungen der CoronaPandemie auf den Einzelhandel am Beispiel der Stadt Osnabrück Florian Bernardt, Frederik Parton, Anja Sonnenburg, Philip Ulrich

66 Einwohnerentwicklung 2020 während der Coronavirus-Pandemie – Auswirkungen auf die Münchener Wanderungsbeziehungen Ilka Kürbis

Stadtforschung 72 Ein alternativer Mietspiegel für Berlin mit Daten des Mikrozensus – Ist der Berliner Mietspiegel 2019 qualifiziert? Ulrich Rendtel, Steffen Sebastian, Nicolas Frink 92 Hitzebedingte Mortalität in Berlin Martin Axnick

Statistik und Informationsmanagement 98 Innerstädtische Raumbeobachtung – ein kritischer Rück- und Ausblick Jürgen Göddecke-Stellmann, Teresa Lauerbach, Dorothee Winkler 106 Optimale Route zu kommunalen Einrichtungen – oder wie kommt das Essen frisch und warm zu den hungrigen Kindern? Volker Holzendorf

Entdeckt 108 VDSt AG „Kommunale Umfragen“ entwickelt Fragebogenmodul „CORONA“ Grit Müller 109 Neues Handbuch zu Stadtsoziologie und Stadtentwicklung erschienen: Geballtes Stadtwissen für Wissenschaft und Praxis Ansgar Schmitz-Veltin

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Schwerpunkt Corona

Nadine Blätgen, Antonia Milbert

Analysen raumzeitlicher Ausbreitungsmuster von COVID-19 mit Corona Regional, dem Analysetool des BBSR Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) führt seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie auf Basis der detaillierten Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) kleinräumige Analysen des Infektionsgeschehens durch und bereitet diese mithilfe der Tableau-Software anschaulich auf. Der Beitrag stellt ausgewählte Analyseergebnisse vor.

Der Beitrag prüft, in welchem Zusammenhang die Siedlungsstruktur und die Altersstruktur der Bevölkerung mit der regionalen Ausbreitung von COVID-19 in Deutschland steht. Dafür stehen tagesaktuelle und fein differenzierte Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) zum Infektionsgeschehen zur Verfügung, die sich mit Daten der Laufenden Raumbeobachtung des BBSR kombinieren lassen. Zu diesem Zweck hat das BBSR die interaktive Anwendung „Corona-regional“ (BBSR 2020a) entwickelt. Sie ermöglicht es sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch interessierten Bürgerinnen und Bürgern, räumliche Unterschiede zwischen Stadt und Land zu verfolgen.

Die Anwendung „Corona-regional“

Nadine Blätgen Diplom Geographin, ist seit 2014 wissenschaftliche Sachbearbeiterin im BBSR-Referat „Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung“. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind neben der Laufenden Raum- und Stadtbeobachtung, Visulisierungstechniken. : nadine.blaetgen@bbr.bund.de Antonia Milbert Wissenschaftliche Referentin im BBSR-Referat „Stadt-, Umweltund Raumbeobachtung“. Sie ist verantwortlich für Gemeindeund Regionstypisierungen sowie Indikatorenkonzepte. : antonia.milbert@bbr.bund.de Schlüsselwörter: Corona – COVID-19 – regionale Analyse – räumliche Verbreitung – Dichte – Stadt-Land Unterschiede

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Die Anwendung „Corona-regional“ (www.bbsr.bund.de/corona-regional) schafft ein Informationsangebot für raumstrukturelle Analysen zu COVID-19. Sie zeigt seit Beginn des ersten Infektionsfalls in Deutschland am 2. Februar, welche Regionen wie stark von der Pandemie betroffen sind, welche Regionen zu welchem Zeitpunkt als Hotspot galten und wie sich die Infektionen in allen 401 Stadt- und Landkreisen entwickeln. Dazu können Nutzerinnen und Nutzer Karten, Diagramme, tabellarische Auswertungen und die Fallstatistiken des RKI abrufen. Die Verknüpfung der RKI-Informationen mit Kreisstatistiken zur Bevölkerungs-, Alters- und Siedlungsstruktur ermöglicht den Vergleich von Stadt und Land sowie weiteren regionalen Strukturinformationen. Basis ist hier vor allem der siedlungsstrukturelle Kreistyp, der die Kreise in kreisfreie Großstädte, städtische Kreise, ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen und dünn besiedelte ländliche Kreise differenziert (BBSR 2020b)1. Das Tool funktioniert vornehmlich über die visuelle Analyse, ergänzt um tabellarische Auswertungen. Das BBSR nutzt die aggregierten Daten der gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) von den Gesundheitsämtern an das RKI übermittelten COVID-19-Fälle (RKI 2020). Die Gesundheitsämter melden die an COVID-19 Erkrankten und mit COVID-19 in Zusammenhang stehenden Todesfälle spätestens am nächsten Arbeitstag elektronisch an die zuständige Landesbehörde, die diese an das RKI weiterleitet. Die Fälle werden dem Landkreis zugeordnet, aus dem der Fall übermittelt wurde. Das entspricht in der Regel dem Wohnort oder gewöhnlichen Aufenthaltsort der betroffenen Person – und nicht dem Ort, wo sich diese wahrscheinlich angesteckt hat. Alle Stadt- und Land-


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kreise verfügen über ein Gesundheitsamt oder eine Abteilung, die dafür zuständig ist. Es ist daher davon auszugehen, dass die Zuordnung zum Landkreis des Wohnortes der Betroffenen weitestgehend korrekt ist. Die Darstellung der Neuinfektionen pro Tag bezieht sich auf das Meldedatum. Dadurch kann es zu zeitlichen Verzögerungen zwischen Infektionsgeschehen und Meldung kommen. Das BBSR aktualisiert die Daten in regelmäßigen Abständen (derzeit wöchentlich). Der neue Datensatz enthält immer auch die Korrekturen, die das RKI für zurückliegende Meldungen vorgenommen hat. Die Daten stehen ab dem 2. Februar 2020 bis zur Kalenderwoche vor dem aktuellen Datum zur Verfügung2. Die für die Berechnung verwendeten Bevölkerungszahlen beziehen sich auf die Bevölkerung nach Altersjahren und Geschlecht auf Kreisebene zum Stand 31. Dezember 2019. Das sind die für die Kreisebene aktuellsten verfügbaren Bezugsgrößen. Die fehlende Aktualität der Bevölkerungszahlen lässt sich verschmerzen. Sie dienen nur zur Relativierung der absoluten Zahlen der Kreisbevölkerung und dem angemessenen Vergleich der höchst unterschiedlich großen und nach Alter strukturierten Kreise.

Räumliche und zeitliche Aspekte der Pandemie Die erste Infektionswelle traf Deutschland Mitte März. Abbildung 1, ein Auszug aus dem Tool, verdeutlicht Zeiten hoher und niedriger Infektionszahlen über eine Farbskala, die mit dem Anstieg der COVID-19-Fallzahlen vom gelben in den roten Farbbereich wechselt. Weiße Spots in diesen Farbreihen bilden Tage und Wochen ohne gemeldete Neuinfektionen ab. Mit Beginn der Kontaktbeschränkungen ab dem 21. März 2020 verringerten sich die Fallzahlen rasch und eine Pause der Ansteckungen trat über den Sommer 2020 ein. Ab Oktober zeichnete sich dann eine zweite, deutlich stärkere Welle ab, die bis dato anhält. Durch die hohen Fallzahlen der zweiten Welle wirkte die erste Welle im Frühjahr weniger dramatisch als sie zu der Zeit erlebt wurde. Abbildung 1 erlaubt auch den Blick auf das Infektionsgeschehen in den einzelnen Bundesländern sowie auf die Raumkategorie „Siedlungsstruktureller Kreistyp“. Sie zeigt, welche Bundesländer und Kreistypen die erste Welle besonders stark traf, wann die Infektionszahlen moderat verlaufen oder wieder steigen, in welchen Perioden gar keine Neuinfektionen gemel-

Abbildung 13: Täglich gemeldete 7-Tages-Inzidenz im Zeitverlauf4 nach Bundesländern und Siedlungsstrukturellem Kreistyp

Quelle: BBSR, Corona-regional

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det wurden und wie stark und teils anhaltend die zweite Welle verläuft. Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg wiesen zu Beginn der Pandemie hohe Fallzahlen auf, das Saarland traf die erste Welle Ende März bis Anfang April und das Land Bremen ab etwa Mitte April. Insbesondere Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt hatten ein geringes Infektionsgeschehen zu verzeichnen. Zwischen dem 16. März 2020 (Schließung der Schulen und Kindertageseinrichtungen) und Ostern (12. April 2020) verzeichneten Baden-Württemberg und Bayern mit durchschnittlich 8,1 und 9,2 die meisten COVID-19 Fälle je 100.000 Einwohner. Im gleichen Zeitraum lagen die entsprechenden Quoten in allen neuen Bundesländern mit Ausnahme Berlins im Mittel zwischen 1,9 und 7,4. MecklenburgVorpommern ist das Bundesland mit den meisten Tagen ohne neue Fallzahlen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass dies vor allem daran lag, dass die in Mecklenburg-Vorpommern durchschnittlich ältere Bevölkerung immobiler ist und das Land wirtschaftlich nicht so stark vernetzt ist wie in anderen Bundesländern (vgl. ZEIT Online 2020). Seit August steigen die Zahlen langsam an und lagen viele Wochen noch um ein Mehrfaches unter den Werten im März. Ab Anfang Oktober kündigte sich die zweite Welle an, die bis dato (Mitte Januar) andauert und immer wieder neue Höchstzahlen an Neuinfektionen hervorbringt. Sachsen und Thüringen weisen aktuell die höchsten Fallzahlen auf, während sie von der ersten Welle kaum betroffen waren. Der Tagesdurchschnitt der letzten zwei Monate (vom 10. November bis 10. Januar) liegt in Sachsen bei 51 und in Thüringen bei

Abbildung 25: Zusammenhang von COVID-19-Fällen und Todesfällen

Quelle: BBSR, Corona-regional

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32 COVID-19 Fällen je 100.000 Einwohner. Der Bundesdurchschnitt in diesem Zeitraum liegt bei knapp 24 Fällen je 100.000 Einwohner. Die Streudiagramme (Abbildung 2) verdeutlichen den Zusammenhang zwischen den kumulierten COVID-19-Fällen mit den COVID in Zusammenhang stehenden Todesfällen in einem bestimmten Zeitraum. Der obere Teil der Abbildung zeigt diesen Zusammenhang zur ersten Hochphase der registrierten Neuinfektionen für den Zeitraum 15. März bis 31. April 2020, der untere Teil für den Zeitraum vom 18. Oktober bis 10. Januar ab. Trotz der unterschiedlichen Zeitbezüge gleichen sich die Grafen sehr stark. Mit steigenden Infektionszahlen steigen auch die Todesfälle. Eine Abhängigkeit von der Siedlungsstruktur – die Kreise sind über farbliche Symbole in die vier Kreistypen differenziert – zeigt sich dabei keine. Die großen Ausbrüche zum Beispiel in Schlachthöfen, bei Erntehelferinnen und -helfern in eher ländlich strukturierten Kreisen sowie in Pflegeheimen oder bei (familiären) Großveranstaltungen auch in städtischen Kreisen sind auch ein Indiz dafür, dass es keine siedlungsstrukturellen Abhängigkeiten gab. Während in der ersten Welle nur Tirschenreuth als Hotspot herausstach, treten in der zweiten, noch andauernden Welle mehr und vorrangig ostdeutsche Kreise als Hotspots hervor.

Stadt-Land-Unterschiede im zeitlichen Verlauf Die Verknüpfung der gemeldeten COVID-19 Fälle mit dem siedlungsstrukturellen Kreistyp bringt erste Hinweise, ob und wenn wann es Stadt-Land-Unterschiede im Infektionsgeschehen gibt. Abbildung 1 und Abbildung 3 zeigen anschaulich die täglich gemeldeten 7-Tagesinzidenzen für die siedlungsstrukturellen Kreistypen seit Beginn der Pandemie in Deutschland und machen deutlich, dass die Unterschiede zwischen Stadt und Land nur phasenweise ausgeprägter waren. Um das Verhältnis der Fallzahlen zueinander für bestimmte Zeiträume detailliert zu beschreiben, werden im Folgenden jedoch die durchschnittlichen COVID-19-Fallzahlen je 100.000 Einwohner betrachtet, die auch in der interaktiven Anwendung in Form einer Tabelle abgerufen werden können. Dazu wird die Anzahl der Fälle je 100.000 Einwohner durch die Anzahl der Tage im ausgewählten Zeitraum dividiert. Für den gesamten Zeitraum (1. März 2020 bis 10. Januar 2021) lagen die durchschnittlichen COVID-19-Fallzahlen je 100.000 Einwohner im städtischen Raum mit 7,6 gegenüber dem ländlichen Raum mit 6,7 nur leicht höher. Während der ersten Welle und insbesondere vom 13. bis zum 16. März 2020 – lagen im städtischen Raum die Fallzahlen bei 2,7 je 100.000 Einwohner, im ländlichen Raum bei 1,4. Zudem sind die Fallzahlen von Anfang August bis Mitte September im städtischen Raum mit 1,7 je 100.000 Einwohner doppelt so stark gestiegen wie im ländlichen Raum (0,9). Im November zeichnet sich wieder eine stärkere Stadt-Land Differenzierung ab mit einem Verhältnis von 22,6 (städtischer Raum) zu 17,8 (ländlicher Raum), die sich im weiteren Verlauf umkehrt. Abbildung 3 macht deutlich, dass seit dem letzten gemeldeten Höchststand von Neuinfektionen am 23. Dezember 20206 sich das Bild der etwas höheren Zahlen im städtischen Raum um-


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kehrt und nun die ländlichen Regionen – mit einem Verhältnis von 26,2 zu 20,6 durchschnittlichen COVID-19-Fallzahlen je 100.000 Einwohner – höhere Fallzahlen aufweisen. In einer Analyse von Milbert und Blätgen (2020) zeigt sich, dass die Siedlungsstruktur, gemessen über die Siedlungsdichte, nur für den Zeitraum 1. Mai 2020 bis 30. September mit dem Infektionsgeschehen korreliert, also in Zeiten abklingender oder niedriger Infektionszahlen und längere Perioden ohne Meldungen von Neuinfektionen. Je höher die Siedlungsdichte ist, desto stärker ist während dieser Zeiträume das Infektionsgeschehen und desto seltener gibt es Tage ohne Neuinfektionen. Die Korrelationen sind jedoch als mäßig einzustufen. Innerhalb von Regressionsmodellen wirkt sich die Siedlungsdichte erst unter Kontrolle der Altersstruktur und der Sozialstruktur der Bevölkerung aus. Für alle Zeiträume davor und danach gestaltet sich der Einfluss der Siedlungsdichte als unbedeutend. Die Vermutung, dass Dichte eine relevante Größe ist, lässt sich nur unter Kontrolle weiterer soziodemografischer Disparitäten, vor allem Altersstruktur und „soziale Deprivation“, bestätigen. Eine Wiederholung der Berechnungen für die zweite Welle vom 18. Oktober 2020 bis 10. Januar 2021 deutet auf einen abnehmenden Effekt von Siedlungsstruktur hin ebenso wie sich das Infektionsgeschehen insgesamt schlechter über regionale Strukturgrößen vorhersagen lässt. Damit bestätigt sich die Vermutung aus der ersten Welle, dass bei stärkerem Infektionsgeschehen und flächenhafter Betroffenheit, eindeutige regionale Faktoren kaum auszumachen sind.

Abbildung 3: 7 Tages-Inzidenz nach Siedlungsstrukturellem Kreistyp

Quelle: BBSR, Corona-regional

Abbildung 4: 7 Tages-Inzidenz für den Raumtyp WachsendSchrumpfend

Alters- und geschlechtstypische Aspekte Die 7-Tagesinzidenzen lassen sich in der interaktiven Anwendung auch für andere Raumtypen darstellen. In Abbildung 4 wird der Raumtyp „Wachsender und schrumpfender Kreise im bundesweiten Vergleich“ gewählt. In diesem Typ ist Wachstum und Schrumpfung nicht allein auf Bevölkerungszu- und -abnahme reduziert, sondern bezieht auch ökonomische Faktoren einer Schrumpfungsspirale mit ein (BBSR 2020c) (vgl. Abbildung 4). Bei dieser Betrachtung ist besonders auffällig, dass in der ersten Welle die (überdurchschnittlich) wachsenden Kreise höhere Fallzahlen aufwiesen, wenn auch nur minimal. In der zweiten Welle seit Mitte Oktober und besonders seit Anfang Dezember sind die Fallzahlen in den (überdurchschnittlich) schrumpfenden Kreisen deutlich höher. Im Schnitt wurden seit 1. Dezember in den schrumpfenden Kreisen 37,4, in den überdurchschnittlich schrumpfenden Kreisen 34,9 Fälle pro Tag je 100.000 Einwohner gemeldet. In den wachsenden Regionen hingegen nur 23,4 und den überdurchschnittlich wachsenden Kreisen 22,0. An dieser Abbildung wird deutlich, wie schwieriger die Ableitung räumlicher Muster anhand von Regionstypen wird. Viele der schrumpfenden Kreise liegen in Ostdeutschland. Es lässt sich daher nicht eindeutig ergründen, ob es sich um eine überzufällige Tatsache durch die unterschiedliche Betroffenheit von Bundesländern handelt oder ob die aus der Schrumpfungsspirale resultierende Altersstruktur einen Effekt hat. Das Durchschnittsalter liegt mit über 47 Jahren in den schrumpfenden Kreisen insgesamt höher als in den wachsenden Kreisen insgesamt mit etwas mehr als 44 Jahren.

Quelle: BBSR, Corona-regional

Über Korrelationen und Regressionen für den Zeitraum der zweiten Welle seit dem 18. Oktober lässt sich die Vermutung des Altersstruktureffektes auf das Infektionsgeschehen nur bedingt nachvollziehen. Abbildung 5 zeigt die Neuinfektionen nach Alter und Geschlecht im Zeitverlauf seit März 2020, links die der Frauen und rechts die der Männer. Daneben sind in einem Stapeldiagramm jeweils die Verteilungen der Altersgruppen der weiblichen und männlichen Bevölkerung dargestellt. Dadurch ist schnell ersichtlich, in welchen Phasen die einzelnen Altersgruppen unter Frauen und Männern stärker von der Pandemie betroffen waren als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Sowohl zu Beginn der Pandemie (März 2020) als auch zuletzt (Januar 2021) erkrankt(en) die älteren Bevölkerungsgruppen überproportional zu ihrem absoluten Bevölkerungsanteil, bei den Frauen stärker als bei den Männern. In der ersten Welle wurde ein Fünftel aller bei den Frauen diagnostizierten COVID-19-Infektionen der Altersgruppe 80 Jahre und älter zugeordnet. Im Januar 2021 sind es immerhin noch mehr als 16 Prozent. Absolut gesehen sind nur 8 Prozent aller Frauen in Deutschland älter als 80. In den Sommermonaten ist diese Altersgruppe deutlich seltener erkrankt, die Infektionen bei den Kindern und Jugendlichen (unter 5-Jährige und 5- bis

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Abbildung 5: Neuinfektionen nach Alter und Geschlecht

Abbildung 6: Gemeldete Neuinfektionen nach Alter und Siedlungsstrukturellem Kreistyp

Quelle: BBSR, Corona-regional

Quelle: BBSR, Corona-regional

unter 15-Jährige) jedoch stiegen – diese Zahlen liegen seit September aber stabil unter dem Bevölkerungsanteil der Altersgruppe und gehen zumindest für die Altersklasse der 5 bis unter 15-Jährigen über die Weihnachtsfeiertage und im Januar merklich zurück. Die mittleren Altersklassen sind anteilsmäßig im Frühherbst am stärksten betroffen und übersteigen die Bevölkerungsanteile der jeweiligen Altersgruppen teilweise um das Doppelte. Statistisch lässt sich beobachten, dass die Altersstruktur der Bevölkerung in den Regionen stärker mit der lokalen Ausbreitung von Sars-CoV-2 zusammenhängt als Stadt-LandUnterschiede (siehe Blätgen und Milbert 2020). Zwar ist für mehrere Phasen der Pandemie die regionale Altersstruktur der bedeutendste Faktor, allerdings werden über ihn nur durchschnittlich 12 bis 25 % der regionalen Streuung der Neuinfektionen erklärt (ebd., S. 41). Zusätzlich hat der Faktor immer die gleiche Wirkungsrichtung, nämlich je jünger die Altersstruktur, desto höher tendenziell die Zahl der Neuinfektionen, selbst wenn während der unterschiedlichen Perioden mal die ältere und mal die jüngere Bevölkerung überproportional betroffen ist. Es ist also davon auszugehen, dass die gängigen Regionalindikatoren entweder nicht hinreichend sind, um die COVID19-Ausbreitung zu erklären oder Drittvariablen darstellen, über die andere, nicht direkt messbare, Faktoren abgebildet werden (z.B. über die Altersstruktur das unterschiedliche Kontakt- und Mobilitätsverhalten der Altersgruppen). Zumindest können mit dem Tool die oft ungeprüften Thematisierungen von Stadt-Land-Unterschieden oder anderen regionalen Bedingungen schnell und vielfältig analysiert werden. So lassen sich auch Indikatoren zu Fall- und Todeszahlen in der Kombination von Altersgruppen und nach verschie-

denen Raumkategorien untersuchen. Abbildung 6 zeigt das exemplarisch für den Siedlungsstrukturellen Kreistyp. Die erste Spalte der Abbildung zeigt immer den gesamtdeutschen Verlauf der Fall- und Todeszahlen, in den weiteren Spalten die Indikatoren für die Kategorien des Raumtyps. Auch hier wird wieder deutlich, dass die Gruppe der über 80-Jährigen sowohl im Bereich der Neuinfektionen als auch bei den damit im Zusammenhang stehenden Todeszahlen heraussticht - und zwar in allen Raumkategorien. Das Auftreten und die Verbreitung von COVID-19 Infektionen lassen sich nicht eindeutig an räumlichen und/oder altersbedingten Strukturen festmachen. Zu individuell sind die Kontakte und die weiteren Infektionsketten. Zufälle spielen eine große Rolle, auch wenn das größte Risiko der Ansteckung und Weitergabe innerhalb von Familien besteht. Die Verbreitung hängt auch davon ab, ob bei den Betroffenen spürbare Symptome auftreten, wie schnell dann eine Isolierung erfolgt und welche regionalen Maßnahmen gegebenenfalls über die allgemeinen Abstands- und Hygieneregeln hinaus ihre Wirkung zeigen. Es scheint allerdings so, dass die Verbreitung von COVID-19 nach der Sommerpause weniger lokal begrenzt ist und eher in der Fläche verläuft. Hier wird die Bedeutung von siedlungsstrukturellen Rahmenbedingungen auf das Infektionsgeschehen spürbarer, wobei die Effekte für die zweite Welle im Herbst wieder abnehmen. Die Vermutung, dass Dichte eine relevante Größe ist, lässt sich nur unter Kontrolle weiterer soziodemografischer Disparitäten, vor allem Altersstruktur und „soziale Deprivation“, bestätigen (vgl. Blätgen und Milbert 2020). Es ist zu einfach, auf Städte oder hoch verdichtete Regionen als Hochansteckungsgebiete zu schauen und die niedrige

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Dichte ländlicher Regionen als Trumpf zu betrachten. Vielmehr beeinflusst die Altersstruktur der Bevölkerung (und der Anteil an soziostrukturell benachteiligten Bevölkerungsgruppen der Regionen) die regionale Ausbreitung stärker als die Siedlungsdichte. Eine Erklärung könnte das unterschiedliche Verhalten der Bevölkerungsgruppen sein. Sowohl jüngere als auch finanziell besser gestellte sind mobiler, stärker vernetzt und suchen häufiger den (geschäftlichen oder gesellschaftlichen) Kontakt. Regionen mit einem höheren Anteil dieser Bevölkerungsgruppen weisen – zumindest phasenweise – höhere Fallzahlen auf und die Tage ohne Neuinfektionen sind hier seltener. Das Tool „Corona regional“ liefert einen einfachen Einstieg durch die Verknüpfung der RKI-Zahlen mit regionalen Informationen. Die visuellen Auffälligkeiten laden ein, den Ursachen tiefer auf die Spur zu gehen.

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Die Typenbildung basiert auf folgenden Siedlungsstrukturmerkmalen: Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten, Einwohnerdichte der Kreisregion und Einwohnerdichte der Kreisregion ohne Berücksichtigung der Groß- und Mittelstädte. Wegen der wöchentlichen Aktualisierung und überwiegend wöchentlichen Betrachtung der Fallzahlen verzichtet das BBSR darauf, die tagesaktuellen zusätzlichen Angaben zu Korrekturen des RKI mit in die Berechnungen aufzunehmen. Dadurch können die Daten der Corona-App in geringem und für regionale Betrachtungen vernachlässigbarem Maß von den veröffentlichten Daten des RKI abweichen. Diese Ansicht zeigt eine „Heatmap“. Jeder Tag (seit Auftreten des ersten Falls in Deutschland), an dem mindestens ein neuer Fall gemeldet wurde, ist durch einen eingefärbten Kasten dargestellt. Die Intensität der Rotfärbung bezieht sich auf die Anzahl der neu gemeldeten Fälle je 100.000 Einwohner: je roter die Färbung, desto höher die bevölkerungsgewichteten Fallzahlen. Die abgebildete Zeitspanne ist vom 01.03.2020 bis zum 10.01.2021 (Redaktionsschluß) Das Streudiagramm zeigt auf der x-Achse die Summe aller Fälle je 100.000 Einwohner und auf der y-Achse die Summe aller Todesfälle je 100.000 Einwohner. Jeder Punkt im Diagramm markiert einen Stadt- oder Landkreis, farblich gekennzeichnet durch den Siedlungsstrukturellen Kreistyp. Quelle: BBSR, Corona-regional Redaktionsschluss war der 10. Januar 2021

Literatur BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.), 2020a: Coronaregional. Zugriff: http://www.bbsr.bund.de/ corona-regional [abgerufen am 18.01.2020]. BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.), 2020b: Siedlungsstrukturelle Kreistypen. Zugriff: https://www.bbsr.bund. de/BBSR/DE/forschung/raumbeobachtung/ Raumabgrenzungen/deutschland/kreise/ siedlungsstrukturelle-kreistypen/kreistypen. html?nn=2544954 [abgerufen am 18.01.2020].

BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.), 2020c: Wachsen und Schrumpfen von Stadt- und Landkreisen im bundesweiten Vergleich. Zugriff: https://www. bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/ kreise/wachsend-schrumpfend-kreise/wachsend-schrumpfend-kreise.html?nn=2544954 [abgerufen am 18.01.2020].

Blätgen Nadine; Milbert Antonia (2020): Dichte und Pandemie. In: Informationen zur Raumentwicklung 4/2020. RKI – Robert-Koch-Institut (Hrsg.), 2020: COVID19-Dashboard. Zugriff: https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823 b17327b2bf1d4 [abgerufen am 18.01.2020]. ZEIT Online, 2020: Einiges Corona-Land. Artikel vom 23.03.2020. Zugriff: www.zeit. de/2020/13/coronavirus-ausbreitung-ostenwesten-faktoren [abgerufen am 11.09.2020].

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Jan Goebel, Stefan Zimmermann

Verändert sich die Einschätzung des Zusammenhalts in der Wohnumgebung im Zuge der Corona Pandemie? Die Corona Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen zur Eindämmung des Virus beeinflussen auf vielfältige Weise das gesellschaftliche Leben. Folgender Beitrag analysiert mit den Daten der SOEP-CoV Befragung ob es Veränderungen in der Wahrnehmung und Einschätzung des nachbarschaftlichen Zusammenhalts in der Wohnumgebung im Zuge der Corona Pandemie gab und ob sich Unterschiede nach Regionstyp zeigen.

Dr. Jan Goebel Direktorium SOEP und Bereichsleitung im Bereich Data Operation und Forschungsdatenzentrum am DIW Berlin / Soziooekonomische Panel (SOEP) : jgoebel@diw.de Stefan Zimmermann Mitarbeiter im Bereich Data Operation und Forschungsdatenzentrum im SOEP am DIW Berlin / Sozio-oekonomische Panel (SOEP) : szimmermann@diw.de Schlüsselwörter: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) – nachbarschaftlicher Zusammenhalt – Wohnumgebung – Corona-Auswirkungen – Regionaldifferenzierung

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Einleitung Die Corona-Krise verändert nahezu alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland und weltweit. Die mit der Eindämmung des Virus verbundenen vielfältigen Maßnahmen beeinflussen dabei insbesondere das soziale Miteinander sowohl in Organisationen, Gruppen und Vereinen, als auch in der Familie, unter Freunden und Nachbarn, oder in Partnerschaften. Simon Kühne und seine Kolleg*innen (2020) zeigen, dass diese einschneidenden Veränderungen die Sicht auf staatliche Institutionen wie auch die Wahrnehmung und das Erleben des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft betreffen und verändern können. Ihr Bericht analysiert unterschiedliche Aspekte gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland während der ersten Welle der Corona-Pandemie von April bis Juni 2020. Die Ergebnisse belegen, dass eine deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschland zufrieden mit dem staatlichen Krisenmanagement zur Eindämmung der Pandemie während der ersten Welle war. Gleichzeitig stieg die Zufriedenheit der BürgerInnen mit der Demokratie und auch das Vertrauen der Menschen untereinander. Im Rahmen der SOEP-CoV Befragung wurde unter anderem auch die Einschätzung zum Zusammenhalt in der direkten Wohnumgebung erfragt. Der vorliegende Artikel widmet sich der Frage, ob es Veränderungen in der Einschätzung des nachbarschaftlichen Zusammenhalts in der Wohnumgebung im Zuge der Corona Pandemie gab und ob sich Unterschiede nach Regionstyp zeigen. Im Folgenden wird kurz die Sonderbefragung SOEP-CoV beschrieben, anschließend die daraus verwendeten Daten sowie die zugespielte Regionaldifferenzierung. Daran anknüpfend werden die Ergebnisse beschrieben und abschließend zusammengefasst.

Daten und Methoden Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine längsschnittliche Befragung von Personen in Haushalten in Deutschland, die bereits seit über drei Jahrzehnten läuft (Goebel et al., 2019). Im Auftrag des DIW Berlin werden zurzeit jedes Jahr in Deutschland etwa 30.000 Befragte in fast 11.000 Haushalten befragt. Die Daten geben unter anderem Auskunft zu Fragen über Einkommen, Erwerbstätigkeit, Persönlichkeit, Bildung oder Gesundheit. Weil jedes Jahr dieselben Personen befragt werden, können langfristige soziale und gesellschaftliche Trends


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besonders gut verfolgt werden. Ende der 1990er Jahre wurden mehr und mehr regionale Indikatoren für die SOEP-Befragten Haushalte bereitgestellt. Die Verbindung der SOEP-Daten mit Regionaldaten ist zwar eine datenschutzrechliche Herausforderung, bietet aber eine Reihe von Analysemöglichkeiten (Giesselmann et al., 2019; Goebel, 2020).1 Als wissenschaftsgetragene Infrastruktur ist das SOEP in der Lage schnell auf Veränderungen zu reagieren. Dies zeigte sich zum Beispiel an der Integration spezieller Stichproben für Ostdeutschland (Schupp & Wagner, 1991) oder für Geflüchtete (Brücker et al., 2016; Kuehne, Jacobsen, & Kroh, 2019), aber auch an der Intergation innovativer Samplingstrategien (Steinhauer, Kroh & Goebel, 2020; Schröder, Bartels, Grabka, et al., 2020; Schröder, Bartels, Göbler, et al., 2020) oder der Bereitstellung eines Innovationssamples für die Wissenschaft (Richter & Schupp, 2015). Im Jahr 2020, das geprägt war durch die Corona Pandemie, wurde ebenfalls eine entsprechende Erweiterung der SOEP Befragung (SOEP-CoV) realisiert. Sonderbefragung zur Corona Pandemie im Rahmen des SOEP (SOEP-CoV) Das Projekt SOEP-CoV wird als Verbundprojekt zwischen der Universität Bielefeld und dem SOEP am DIW Berlin vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förderaufrufs zur Erforschung von COVID-19 im Zuge des Ausbruchs von Sars-CoV-2 gefördert. Eine detaillierte Beschreibung der Studie und ihres methodischen Designs findet sich in Kühne, Kroh, Liebig & Zinn, 2020. Für SOEP-CoV wurden die Haushalte der SOEP-Befragten in neun Stichproben (Tranchen) aufgeteilt. Diese sind so aufgebaut, dass sie alle Privathaushalte in Deutschland hinsichtlich ihrer Zusammensetzung abbilden und auch als unabhängige zeitlich aufeinander folgende Stichproben genutzt werden können. Die Stichproben wurden alle zwei Wochen (Stichproben 1 bis 4) bzw. jede Woche (Stichproben 5 bis 9) befragt, um den zeitlichen Ablauf der Krise und die damit einhergehenden Auswirkungen auf Privathaushalte zu erfassen. Die Erhebung im Jahr 2020 startete Ende März und wurde Ende Juni abgeschlossen. Insgesamt wurden 12.000 Haushalte darum gebeten, an der Studie „SOEP-CoV“ teilzunehmen. Diese Haushalte verteilten sich (gerundet) wie folgt auf die neun Brutto-Stichproben: 3000, 3000, 2000, 1000, 600, 600, 600, 600, 600. Das heißt, dass am Anfang der Studie mehr Haushalte befragt wurden als gegen Ende.

Von den 12.000 kontaktierten Haushalten nahmen ca. 6,700 Haushalte an der „SOEP-CoV“ Befragung teil, indem sich jeweils eine Person des Haushaltes bereit erklärte bei der zusätzlichen Telefonbefragung teilzunehmen. Für die Auswertungen werden Gewichtungsfaktoren genutzt, um den Verzerrungen durch selektiven Ausfall in den berechneten Statistiken entgegenwirken. Detaillierte Informationen zur Gewichtung der SOEP-CoV-Daten sind auf der Projektwebseite oder als Discussion Paper (Siegers, Steinhauer & Zinn, 2020) verfügbar. Alle verwendeten Fragebögen stehen als PDF-Dateien zum Herunterladen auf der Projektseite bereit. Die erhobenen Daten werden im Rahmen der regulären Datenweitergabe der SOEP Befragung aus dem Jahr 2020 mit der SOEP Version 37 an externe Nutzer weitergegeben. Die Daten des SOEP aus den vergangenen Jahren (10.5684/ soep-core.v35) vor der Krise werden mit Daten der aktuellen SOEP-CoV Studie auf individueller Ebene kombiniert. Während das SOEP also Informationen zur Soziodemografie oder zu Aspekten gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland aus den Vorjahren enthält, ergänzt die SOEP-CoV Studie diese Daten um Informationen aus der telefonischen Sonderbefragung jeweils einer Person der SOEP-Haushalte im April bis Juni 2020, also zur Zeit des ersten Sars-CoV-2 Infektionswelle. Regionaldifferenzierung Das SOEP, mit seinen ca. 20000 Haushalten, bzw. mit den etwa 6700 Haushalten in der SOEP-CoV Befragung, lässt nicht zu, wie auch alle anderen Surveybefragungen in Deutschland, kleinräumig die regionale Situationen der Haushalte vor Ort zu kategorisieren. Es können jedoch die Wohnorte der Befragten siedlungsstrukturellen Raumtypen zugeordnet werden. Mit Hilfe einer solchen Zuordnung lassen sich Zusammenhänge zwischen räumlichen Strukturen und den jeweiligen Individualangaben identifizieren. In der vorliegenden Analyse wurden die Regionalstatistischen Raumtypen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) verwendet. Die Bezeichnung Regionalstatistische Raumtypen (kurz RegioStaR) betont, dass die neuen Raumklassifikationen zu statistisch-analytischen Zwecken bestimmt wurden. Bereits bei der Entwicklung wurde Wert darauf gelegt, dass die Typisierung zeitrobust, gut geeignet für die Verwendung mit Stichproben und kompatibel ist zu internationalen Definitionen und Klassifikationen (Sigismund, 2018).

Tabelle 1: Zusammengefasster Regionalstatistischer Gemeindetyp (RegioStaR Gem5) Stadtregion RegioStaR Gem5

11 Metropolitane

1 Metropole

111 Metropole

12 Regiopolitane

2 Regiopole, Großstadt

112 Großstadt

121 Regiopole

3 Zentrale Stadt, Mittelstadt

113 Mittelstadt

4 Städtischer Raum 5 Kleinstädtischer/ dörflicher Raum

Ländliche Region 21 Stadtregionsnahe

22 Periphere

123 Mittelstadt

211 Zentrale Stadt 213 Mittelstadt

221 Zentrale Stadt 223 Mittelstadt

114 Städtischer Raum

124 Städtischer Raum

214 Städtischer Raum

224 Städtischer Raum

115 Kleinstädt., dörfl. Raum

125 Kleinstädt., dörfl. Raum

215 Kleinstädt., dörfl. Raum

225 Kleinstädt., dörfl. Raum

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

9


Schwerpunkt Corona

Abbildung 1: Zusammengefasster Regionalstatistischer Raumtyp (RegioStaR 7) für die Mobilitäts- und Verkehrsforschung

Zusammengefasster Regionalstatistischer Raumtyp (RegioStar 7) für die Mobilitäts- und Verkehrsforschung DK

Zusammengefasster Regionalstatistischer Raumtyp (RegioStar 7) für die Mobilitäts- und Verkehrsforschung DK

Kiel Rostock Kiel Schwerin Rostock

Hamburg

Szczecin

Bremen

Schwerin

Hamburg

PL Szczecin

NL Bremen

Berlin Hannover

Enschede

NL

Arnhem

Bielefeld

Arnhem

Venlo

Essen

Dortmund

Nijmegen

Essen Köln

Venlo

Kassel

Dortmund Kassel

Köln

BE LU

Leipzig Erfurt

Frankfurt/M.

Dresden

CZ

Frankfurt/M.

Wiesbaden

LU

Saarbrücken

Luxembourg

Mainz

FR Saarbrücken

Mannheim

Mannheim Stuttgart

Nürnberg

Ulm

FR

Stuttgart

Strasbourg Mulhouse

Mulhouse

100 km

Stadtregionen

Ulm

Freiburg i.Br.

Basel

Freiburg i.Br.

Basel

CZ Nürnberg

Strasbourg

Regiopolen, Großstädte Mittelstädte, städtischer Raum Metropole Kleinstädtischer, dörflicher Raum

München

AT Salzburg

CH

München

AT Salzburg

Ländliche Regionen CH

100 km

Stadtregionen

10

Dresden

Mainz

Luxembourg

Metropole

Cottbus

Halle/S.

Chemnitz

Bonn Wiesbaden

Cottbus

Leipzig Erfurt

Chemnitz

Düsseldorf Bonn

BE

Potsdam

Magdeburg Halle/S.

Bielefeld

Düsseldorf

Berlin

Hannover

Enschede

Nijmegen

PL

Potsdam

Magdeburg

Zentrale Städte

Ländliche Regionen

Mittelstädte, städtischer Raum

Regiopolen, Großstädte

Kleinstädtischer, dörflicher Raum Zentrale Städte

Mittelstädte, städtischer Raum

Mittelstädte, städtischer Raum

Kleinstädtischer, dörflicher Raum

Kleinstädtischer, dörflicher Raum

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

© BBSR Bonn 2018

Stadtregionengrenze Name

Grenznahe Großstadt mit stadtregionaler © BBSR Bonn 2018 Verflechtung zu Deutschland Stadtregionengrenze

Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR Name Geometrische Grundlage: Einheitsgemeinden und GemeindeGrenznahe Großstadt mit stadtregionaler verbände (generalisiert), 31.12.2016 © GeoBasis-DE/BKG Verflechtung zu Deutschland Bearbeitung: BBSR, A. Milbert; Grundkonzeption: BMVI Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR Geometrische Grundlage: Einheitsgemeinden und Gemeindeverbände (generalisiert), 31.12.2016 © GeoBasis-DE/BKG Bearbeitung: BBSR, A. Milbert; Grundkonzeption: BMVI


Schwerpunkt Corona

Abbildung 1 zeigt eine Karte der räumlichen Verteilung des zusammengefassten regionalstatistischen Raumtyps mit sieben Kategorien (RegioStaR 7). Die RegioStaR Typologie kann auch losgelöst von den Regionstypen sinnvoll nach Gemeintypen zusammengefasst werden. In den durchgeführten Analysen wurde die zu fünf Regionalstatistischen Gemeindetypen (RegioStaR Gem5) zusammengefasste Kategorisierung genutzt. Tabelle 1 zeigt die Zusammenfassung der verwendeten Kategorisierung bzw. welche der detaillierten Kategorien zusammengefasst werden. Eine detaillierte Beschreibung der Methode und Ausarbeitung der RegioStaR Klassifikation findet sich im Arbeitspapier des BMVI (Sigismund, 2018).

Auswirkungen der ersten Welle der Corona Pandemie auf den Zusammenhalt im Wohngebiet Die Befragten beantworten einmal die Frage nach der Einschätzung des Zusammenhalts in ihrer Wohngegend im Allgemeinen und in einer zweiten Frage den Zusammenhalt in der gegenwärtigen Situation während der Befragung von April bis Juni 2020 (im Folgenden Corona-Situation) – jeweils auf einem fünfstelligen Rating. Die Ergebnisse dieser beiden Fragen sind in Tabelle 2 aufgeführt. Insgesamt ergibt sich aus den Antworten der Befragten eine sehr positive Einschätzung des Zusammenhalts in ihrer jeweiligen Wohngegend. Jeweils deutlich über 60 % schätzen den Zusammenhalt in ihrer Wohngegend als positiv (eher gut oder sehr gut) ein und nur ungefähr 6 % als negativ (eher schlecht oder sehr schlecht). Der Unterschied in der Wahrnehmung des Zusammenhalts „im Allgemeinen“ gegenüber des Zusammenhalts in der „gegenwärtigen Situation“ (zwischen April und Juni 2020) ist sehr gering. So schätzen ca. 67 % den Zusammenhalt allgemeinen positiv ein und etwa 69 % während der Corona-Situation. Spiegelbildlich ist die negative Einschätzung des Zusammenhalts von 6,8 % im Allgemeinen auf 5,7 % in der Pandemie gesunken. Das heißt, die schon sehr positive Einschätzung des Zusammenhalts in der Nachbarschaft ist in der univariaten Verteilung während der ersten Pandemiewelle leicht gestiegen. Dies bedeutet allerdings nicht zwingend, dass auch die identischen Personen jeweils die gleiche Einschätzung gegenüber ihrer Wohngegend im Vergleich der beiden Situation hegen. In Tabelle 3 sind die beiden Variablen kreuztabelliert.

Es zeigt sich, dass die Diagonale deutlich am stärksten besetzt ist, mit Werten zwischen 65 % und 82 %. Jedoch deutlich mehr Personen ihre Einschätzung in der Corona-Situation angepasst haben, als in dem Vergleich der univariaten Verteilungen zu erwarten war. Tabelle 4 zeigt die Zusammenfassung der individuellen Veränderungen an. Etwa 20 % der Befragten haben in der Corona-Situation eine etwas andere Auffassung vom Zusammenhalt in ihrer Wohngegend, etwa 12 % sehen ihn positiver und knapp 9 % negativer. Vertrauen in die Mitmenschen wird stark von der Situation in der eigenen Wohngegend bestimmt und ist darüber hinaus ein zentraler Aspekt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Kooperation zwischen Menschen setzt immer ein Mindestmaß an Vertrauen voraus, daher sind komplexe Gesellschaften ohne die Basis des zwischenmenschlichen Vertrauens der in ihr lebenden Menschen nicht denkbar beziehungsweise nicht stabil (Follmer, Robert, Brand, Thorsten, & Unzicker, Kai, 2020; Schneickert, Delhey, & Steckermeier, 2019). Tabelle 2: Wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend, allgemein und während der ersten Pandemiewelle No.

%

Sehr gut

1544

23.4

Eher gut

2894

43.9

Teils/teils

1773

26.9

Eher schlecht

304

4.6

Sehr schlecht

76

1.2

6591

100

Zusammenhalt in der Wohngegend im Allgemeinen

Total

Zusammenhalt in der Wohngegend in der gegenwärtigen Situation Sehr gut

1580

24.2

Eher gut

2954

45.2

Teils/teils

1623

24.9

Eher schlecht

310

4.7

Sehr schlecht

65

1.0

6532

100

Total

„Fragetext: Wenn Sie an die Gegend denken, in der Sie wohnen: Wie gut ist der Zusammenhalt dort: (a) Im Allgemeinen? (b) In der gegenwärtigen Situation? Antwortskala: Sehr gut / Eher gut / Teils-teils / Eher schlecht / Sehr schlecht.” Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

Tabelle 3: Wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend in der gegenwärtigen Situation nach allg. Zusammenhalt Zusammenhalt in der Wohngegend in der gegenwärtigen Situation Sehr gut

Eher gut

Teils/teils

Eher schlecht

Sehr schlecht

Total

Sehr gut

… im Allgemeinen

82.0

14.7

2.5

0.8

0.0

23.4

Eher gut

10.1

82.0

7.2

0.7

0.0

43.9

Teils/teils

1.8

20.1

75.0

2.9

0.1

26.9

Eher schlecht

0.1

6.5

18.2

71.2

4.0

4.6

Sehr schlecht Total

0.0

5.1

9.8

19.8

65.4

1.2

24.2

45.2

24.8

4.7

1.0

100

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

11


Schwerpunkt Corona

Insbesondere während der ersten Welle des Pandemiegeschehens gab es die Vermutung, dass das Vertrauen in Andere leiden könnte. Zwischenmenschliche Kontakte stellen auf einmal eine potentielle Gesundheitsgefahr dar und das Misstrauen kann steigen. Gleichzeitig kann sich zwischenmenschliches Vertrauen erhöhen, da bewusst wird, dass sich viele Mitmenschen an die Einschränkungen halten und sich achtsam begegnen. Tabelle 5 zeigt in der einfachen bivariaten Darstellung einen Zusammenhang zwischen der Einschätzung des aktuellen Zusammenhalts in der Wohngegend und der allgemeinen Einschätzung auf der Verlässlichkeit des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wird der aktuelle Zusammenhalt in der Wohngegend als mindestens gut bezeichnet sind auch mehr als 50 %

der Befragten der Meinung, dass man sich im allgemeinen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt verlassen kann. Ist die Einschätzung des Zusammenhalts in der eigenen Wohngegend jedoch eher negativ, so ist kaum ein Viertel dieser Befragten auch positiv gegenüber dem allgemeinen Zusammenhalt in der Gesellschaft während der Pandemie gestimmt. Je nach Regionstyp können die Möglichkeiten der Nachbarschaftskontakte und der darüber vermittelten zwischenmenschlichen Kontakte sehr unterschiedlich ausfallen. Erste Auswertungen zum räumlichen Verlauf der Corona Pandemie zeigen, dass die erste Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 etwas stärker den ländlichen Raum in Deutschland getroffen hat, während im späteren Verlauf ab Sommer die Infektionsraten in den Großstädten deutlich höher lagen (Rösel & Spüntrup, 2020). Die Einschätzung des Zusammenhalts in der Wohngegend in den nicht städtisch geprägten Regionen des Städtischen Umlandes und insbesondere des kleinstädtischen und dörflichen Raums sind tendenziell positiver (siehe Tabelle 6). Der Anteil der Personen die den Zusammenhalt als eher gut oder sehr gut einschätzen steigt von 63 % in den Metropolen stetig mit dem regional-statistischen Gemeindetyp auf 73 % im kleinstädtischen, dörflichen Raum. Bei der negativen Einschätzung ist dieser Zusammenhang weniger deutlich, denn auch im kleinstädtischen dörflichen Raum schätzen dies 4,5 % als eher schlecht oder sehr schlecht ein.

Tabelle 4: Veränderung des wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend in der gegenwärtigen Situation Veränderung ... verschlechtert keine Änderung verbessert Total

No.

%

566

8.7

5178

79.5

773

11.9

6517

100.0

Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

Tabelle 5: Wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend in der gegenwärtigen Situation und Zusammenhalt in der Gesellschaft Gesellschaftlicher Zusammenhalt, % trifft ... zu Zusammenhalt Wohngegend

überhaupt nicht

eher nicht

Teils-teils

eher

voll u. Ganz

Total

Sehr gut

3.0

4.8

32.3

42.5

17.5

24.2

Eher gut

0.7

5.9

41.4

45.6

6.3

45.2

Teils/teils

4.3

10.4

51.6

29.6

4.2

24.9

Eher schlecht

6.8

27.7

42.6

16.2

6.7

4.7

Sehr schlecht

24.0

21.3

41.1

8.3

5.2

1.0

2.7

7.9

41.8

39.1

8.5

100

Total

Spearmen Rankkorelation: -.25 Fragetext: Wie ist Ihre Einschätzung zu den folgenden Aussagen? Der Umgang mit dem Coronavirus in Deutschland zeigt, dass wir uns auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt verlassen können.

Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

Tabelle 6: Wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend in der derzeitigen Situation differenziert nach zusammengefasstem regional-statistischen Gemeindetyp (RegioStaRGem5) Situation und Zusammenhalt in der Gesellschaft Zusammenhalt in der Wohngegend in der gegenwärtigen Situation RegioStaR Gem5

Sehr gut

Eher gut

Teils-teils

Eher schlecht

Sehr schlecht

Total

Metropole

19.1

44.3

29.7

5.4

1.6

19.7

Regiopole, Großst.

23.3

43.1

25.7

5.8

2.0

15.3

Zentrale St., Mittelst.

23.0

45.7

25.6

5.1

0.6

23

Städt. Raum

26.5

47.0

22.3

4.1

0.1

22

Kleinstädt., dörfl. Raum

29.1

45.6

20.8

3.5

1.0

20

Total

24.3

45.3

24.7

4.7

1.0

100

Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

12

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021


Schwerpunkt Corona

Tabelle 7: Veränderung des wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend in der derzeitigen Situation differenziert nach zusammengefasstem regionalstatistischem Gemeindetyp (RegioStaR Gem5) kat. Änderung in der Zufriedenheit mit der Wohngegend RegioStaR Gem5

Verschlechtert

Keine Änderung

Verbessert

Total

Metropole

7.3

81.2

11.5

19.7

Regiopole, Großst.

8.9

76.0

15.1

15.3

Zentrale St., Mittelst.

8.3

79.5

12.3

23

Städt. Raum

9.3

79.9

10.8

22

Kleinstädt., dörfl. Raum

9.9

79.5

10.5

20

Total

8.7

79.4

11.9

100 Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

Im Folgenden wird die individuelle Änderung in der Bewertung des Zusammenhalts in der Wohngegend näher untersucht, das heißt ob es in der Bewertung der beiden Situationen zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der Einschätzung kam. Tabelle 7 zeigt diese Veränderung der Einschätzung in der Corona-Situation nach den fünf verschiedenen Gemeindekategorien an. Die vorherrschende Beurteilung in allen Gemeindeformen wie auch in der univariaten Verteilung der Gesamtstichprobe ist, dass es zu keiner Veränderung der Einschätzung kam. Bis auf eine Ausnahme sind in allen Gemeinden die Anteile einer gleichbleibenden Einschätzung bei ca. 80 %. Die Ausnahme bildet die Kategorie "Regiopole und Großstädte" mit etwas niedrigeren 76 %. Allerdings geht die etwas positivere Einschätzung des Zusammenhalts in der Wohngegend in den eher ländlicheren Regionen einher mit einer etwas negativeren Einschätzung der Veränderung in der Corona-Situation gegenüber des Zusammenhalts im Allgemeinen. So sind im kleinstädtischen dörflichen Bereich fast 10 % der Personen der Meinung, dass sich der Zusammenhalt in der Pandemie Situation gegenüber der allgemeinen Situation etwas verschlechert habe. In den Metropolen sind dies nur etwa 7 %. In den größeren Städten sind dafür spiegelbildlich zwischen 12 % und 15 % der Meinung, dass sich der Zusammenhalt in ihrer Wohngegend sogar verbessert habe. Dem gegenüber sehen nur etwa 10 % der Befragten im kleinstädtischen dörflichen Raum eine Verbesserung. Diese recht geringen Unterschiede können zufälliger Natur sein oder sich daraus ergeben, dass das Niveau des Zusammenhalts in den ländlicheren Regionen höher lag und daher bei der begrenzten Skala nur in eine Richtung sich verändern konnte. Im Folgenden wird mit Hilfe einer logistischen Regression unter Kontrolle weiterer soziodemografischer Merkmale untersucht, ob dieser bivariate Zusammenhang bestehen bleibt. Die logistische Regression wird einmal geschätzt für alle Personen, die eine negativere Einschätzung des Zusammenhalts in der Corona-Situation gegenüber der allgemeinen angaben und ein weiteres Mal für die Personen, die eine positivere Einschätzung nannten (siehe Fallzahlen in Tabelle 4). Als Referenzgruppe werden jeweils die Personen aufgenommen, die keine Veränderung in ihrer Einschätzung angaben. Abbildung 2 zeigt die Effekte inklusive eines 95 % Konfidenzintervalls für ausgewählte Variablen (die Ergebnisse aller in die Schätzung aufgenommenen Variablen finden sich in

Tabelle 10 im Anhang). Die dunkel dargestellten Punkte zeigen die geschätzten Effektstärken für die Wahrscheinlichkeit den Zusammenhalt in der Wohngegend während der CoronaSituation negativer einzuschätzen als im Allgemeinen. Dem entsprechend zeigen die etwas helleren Punkte, die geschätzten Effektstärken für die Wahrscheinlichkeit den Zusammenhalt in der Wohngegend während Corona-Situation positiver einzuschätzen. In der Grafik dargestellt sind nur die Effekte der Variablen, die sich entweder inhaltlich auf die Wohngegend beziehen oder in der Regression bei den sonstigen Kontrollvariablen statistisch signifikante Effekte erzielten.2 Einen statistisch signifikanten Einfluss auf die positivere Einschätzung des Zusammenhalts in der Wohngegend während der Corona-Situation hat die Gemeindekategorie „Regiopole, Großstadt“, ob jemand das Wohngebiet als gut bis sehr gut einschätzt und ob der Kontakt zwischen den Nachbarn als eng beurteilt wird. In den Regiopolen gibt es gegenüber den Metropolen eine höhere Wahrscheinlichkeit der positiveren Einschätzung während der Corona-Situation. Die Einschätzung eines normalerweise als gut empfundenen Wohngebiets und eines eher engen Zusammenhalts unter den Nachbarn führt zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit während der CoronaSituation den Zusammenhalt positiver einzuschätzen. Hier ist jedoch einschränkend zu betonen, dass die verwendete Skala Abbildung 2: Zusammengefasste Regressionsergebnisse Veränderung des wahrgenommenen Zusammenhalts Regiopole, Großst. Zentrale St., Mittelst. Städt. Raum Kleinstädt., dörfl. Raum Ostdeutschland Max. HS + berufl. Ausb. (Fach−)Hochschulabschluss Transfer−HH gutes Wohngebiet >25% Migranten im Wohngebiet NB: Enger Zusammenhalt NB: Enger Kontakt NB: Besuche, Ja −.5

0

.5

positiv

1

negativ

Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

13


Schwerpunkt Corona

begrenzt ist und es daher wenig Fälle mit einer Möglichkeit der Angabe einer Verbesserung gibt. Es bestätigt sich jedoch der in Tabelle 7 bereits bivariat beschriebene Zusammenhang, dass lediglich in der Kategorie "Regiopole und Großstadt" es zu einer statistisch signifikant positiveren Einschätzung des Zusammenhalts in der Wohngegend im Zuge der ersten Infektionswelle kam. Bei der negativeren Einschätzung des Zusammenhalts zeigt sich, dass nur im kleinstädtischen und dörflichen Raum eine statistisch signifikant erhöhte Wahrscheinlichkeit in den Kategorien der Raumtypologie unter Kontrolle der anderen Variablen bestehen bleibt. Ein ebenfalls statistisch signifikanter Effekt, den Zusammenhalt während der ersten Pandemiewelle negativer einzuschätzen, zeigt sich, wenn der Haushalt auf Transferzahlungen angewiesen ist (Bezug von ALG II, Grundsicherung im Alter oder Wohngeld). Beim Zusammenhang mit dem Bildungsstatus der auskunftsgebenden Person ist das Bild undeutlicher. So ist die Wahrscheinlichkeit einer negativeren Einschätzung höher beim niedrigsten Bildungsniveau (maximal Hauptschulabschluss und berufliche Ausbildung) gegenüber der Referenzgruppe (maximal Abitur und berufliche Ausbildung). Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit einer negativeren Einschätzung auch bei den Personen mit (Fach-) Hochschulabschluss erhöht. Allerdings ist die statistische Signifikanz gering (bei genau 10 %) und das Konfidenzband recht breit.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die meisten Befragten den Zusammenhalt in ihrer Wohngegend sehr positiv einschätzen. Jeweils deutlich über 60 % schätzen ihn positiv ein und nur ungefähr 6 % als negativ. Diese positive Einschätzung des allgemeinen Zusammenhalts bleibt trotz der Pandemiesituation während der ersten Infektionswelle bestehen. Bei den individuellen Veränderungen der Einschätzungen zeigt sich, dass die Befragten in den „Regiopolen und Großstädten“ den Zusammenhalt in ihrer Wohngegend während dieser besonderen Situation eher positiver beurteilen als im Allgemeinen und die Bewohner in den kleinstädtischen und dörflichen Räumen diese Situation gegenüber der Normalität eher negativer einschätzen. Diese beiden statistisch signifikanten Ergebnisse bleiben auch nach der Kontrolle zusätzlicher Merkmale bestehen. Ob sich diese Befunde auf die zweite Welle der Corona Pandemie übertragen lassen muss noch untersucht werden. Die zweite Welle im Herbst und Winter 2020 ist in ihrer räumlichen Verteilung und der Höhe des Infektionsgeschehens deutlich zu unterscheiden. Ob dies auch zu einer veränderten Einschätzung der Situation durch die Befragten führt, werden die Ergebnisse der Befragung in 2021 zeigen.

1

Zusammenfassung Mit Daten aus der SOEP-Cov Zusatzstudie, einer von Ende März bis Juni zusätzlich erfolgten telefonischen Befragung von SOEP-Haushalten zu Einschätzungen während der ersten Pandemiewelle, wurde dargestellt, ob es eine Veränderung der Einschätzung des nachbarschaftlichen Zusammenhalts in der Wohnumgebung im Zuge der Corona Pandemie gab und ob diese Unterschiede sich nach Regionstyp unterschiedlich darstellen.

2

Mit erhöhten Datenschutz gehen Einschränkungen für die Nutzer einher. Eine Nutzung von Kreiskennziffern oder Postleitzahlen ist entweder über einen kontrollierten Fernrechenzugang (SOEPremote) oder über einen speziellen Gastarbeitsplatz am FDZ SOEP möglich. In einem gemeinsamen DFG Projekt von SOEP, GESIS und IÖR wird derzeit daran gearbeitet wie ein Zugang zu solchen Daten für externe Nutzer einfacher gestaltet werden kann (Bensmann et al., 2020). Weitere in der Schätzung enthaltenen Kontrollvariablen waren Alter der auskunftsgebenden Person, Haushaltstypologie (Single, Paar, Paar mit Kindern, Sonstige), Mieter oder Eigentümer, die Möglichkeit des Haushaltes monatlich zu sparen, ob sich die auskunftsgebende Personen in vielen anderen Bereichen Sorgen macht und wie oft die Person extrem zufrieden bzw. extrem unzufrieden ist (siehe Tabelle 10 im Anhang).

Anhang Tabelle 8: Wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend im allgemeinen und Zusammenhalt in der Gesellschaft Gesellschaftlicher Zusammenhalt, % trifft ... zu Zusammenhalt Wohngegend Sehr gut

überhaupt nicht

eher nicht

Teils-teils

eher

voll u. ganz

Total

2.7

5.5

33.8

40.2

17.8

23.4

Eher gut

1.0

6.3

41.1

45.3

6.4

43.9

Teils/teils

4.1

9.6

49.9

32.5

3.9

26.9

Eher schlecht

5.8

24.3

42.9

21.8

5.2

4.6

Sehr schlecht

18.5

16.6

42.9

9.8

12.1

1.2

2.7

7.9

41.9

39.2

8.4

100

Total

Spearmen Rankkorelation: -.22 Fragetext: Wie ist Ihre Einschätzung zu den folgenden Aussagen? Der Umgang mit dem Coronavirus in Deutschland zeigt, dass wir uns auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt verlassen können.

Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021


Schwerpunkt Corona

Tabelle 9: Wahrgenommener Zusammenhalt in der Wohngegend im Allgemeinen differenziert nach zusammengefasstem regionalstatistischem Gemeindetyp (RegioStaR Gem5) Zusammenhalt in der Wohngegend im Allgemeinen Sehr gut

Eher gut

Teils-teils

Eher Schlecht

Sehr Schlecht

Total

Metropole

RegioStaR Gem5

18.8

41.5

32.3

5.9

1.6

19.7

Regiopole, Großst.

22.2

40.1

29.5

6.2

2.0

15.3

Zentrale St., Mittelst.

22.6

44.3

26.0

5.6

1.6

23

Städt. Raum

25.6

46.4

25.0

2.8

0.2

22

Kleinstädt., dörfl. Raum

27.9

46.9

21.6

3.1

0.6

20

Total

23.5

44.1

26.7

4.6

1.2

100

Quelle: SOEP.v35, SOEP-Cov

Tabelle 10: Regressionsergebnisse Veränderung des wahrgenommenen Zusammenhalts VARIABLES

(1) positiv

(2) se

(3) negativ

(4) se

Veränderung der Einschätzung RegioStaR Gem5 = 52, Regiopole, Größe RegioStaR Gem5 = 53, Zentrale Stadt, Mittelstadt

0.330 ** -0.0792

(0.151)

0.174

(0.194)

(0.149)

0.108

(0.179)

RegioStaR Gem5 = 54, Städtischer Raum

0.0651

(0.152)

0.268

(0.183)

RegioStaR Gem5 = 55, Kleinstädtischer, dörflicher Raum

0.0214

(0.162)

0.502 ***

(0.183)

-0.00871

(0.115)

0.187

(0.127)

Alterskategorien = 1, 40-59

Ostdeutschland

0.0588

(0.127)

-0.0340

(0.154)

Alterskategorien = 2, 60+

0.0296

(0.137)

0.241

(0.163)

Bildungsabschluss = 1, Maximal Hauptschulabschluss + berufliche. Ausbildung

-0.0747

(0.119)

0.314 **

(0.131)

Bildungsabschluss = 3, (Fach-)Hochschulabschluss

-0.0340

(0.111)

0.219 *

(0.133)

Haushalts-Typologie = 2, Paar-Haushalt ohne Kinder

0.0369

(0.116)

-0.128

(0.134)

Haushalts-Typologie = 3, Haushalt mit Kindern

-0.116

(0.129)

-0.0602

(0.149)

Haushalts-Typologie = 4, Sonstige

0.0690

(0.397)

0.324

(0.384)

Mieterhaushalt Haushalt kann monatl. sparen Transfer-Haushalt (Bezug von ALG II, Grundsicherung im Alter oder Wohngeld)

0.144

(0.108)

-0.141

(0.126)

0.0538

(0.114)

-0.191

(0.125)

0.177

(0.191)

0.630 ***

(0.189)

gutes Wohngebiet

-0.259 **

(0.111)

-0.173

(0.129)

>25% Migranten im Wohngebiet

0.0999

(0.110)

0.118

(0.131)

Nachbarschaft: Enger Zusammenhalt

-0.186

(0.133)

0.125

(0.142)

Nachbarschaft: Enger Kontakt

-0.254 **

(0.119)

-0.148

(0.135)

Nachbarschaft: Besuche, Ja

0.0452

(0.102)

-0.0642

(0.118)

Anzahl große Sorgen = 1, einige

-0.210 *

(0.117)

0.0211

(0.139)

Anzahl große Sorgen = 2, viele zufrieden_c unzufrieden_c

-0.0224

(0.131)

0.120

(0.155)

-0.222

(0.230)

-0.0900

(0.253)

0.00992

(0.112)

0.198

(0.125)

Veränderung der Einschätzung Constant Observations

-1.574 ***

(0.346)

4,535

-2.476 ***

(0.396)

4,391

Standard errors in parentheses *** signifikant auf dem 99 %-Niveau, ** signifikant auf dem 95 %-Niveau, * signifikant auf dem 90 %-Niveau.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

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Schwerpunkt Corona

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Schwerpunkt Corona

Till Heinsohn, Markus Niedergesäss

Mobilitätstrends während der COVID-19Pandemie im Jahr 2020 Fußgänger und Protesthochburgen im Fokus Dieser Beitrag befasst sich mit fußläufiger Mobilität in den Städten Berlin, Leipzig, München und Stuttgart im Jahr 2020. Unter Rückgriff auf Nutzerdaten von Apple INC. wird der Frage nachgegangen, ob die Bürgerinnen und Bürger ihr Mobilitätsverhalten schon vor den darauf abzielenden Corona-Schutzmaßnahmen eigenständig angepasst haben. Darüber hinaus wird untersucht, ob die in dieser Zeit stattfindenden Großdemonstrationen die Mobilitätswerte in die Höhe schnellen ließen.

Dr. Till Heinsohn Politik- und Verwaltungswissenschaftler, Sachgebietsleiter für Wirtschaft und Kultur beim Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart. : till.heinsohn@stuttgart.de Dr. Markus Niedergesäss Ökonometriker, Sachgebietsleiter für Verkehrsstatistik und Statistische Methoden beim Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart : markus.niedergesaess@stuttgart.de Schlüsselwörter: Mobilität – Fußgänger – Corona – Protest – Demonstrationen

Einleitung Die anhaltende COVID-19-Pandemie hinterlässt tiefgreifende Spuren und Veränderungen. Dies betrifft in weiten Teilen auch den Bereich der Mobilität. Gleichwohl ist zu vermuten, dass die jüngst zu beobachtenden Veränderungen im Mobilitätsverhalten nur eine kurze Halbwertszeit aufweisen und wir im Unterschied zu vielen anderen Bereichen schneller zu den gewohnten Verhältnissen zurückkehren werden. So dürfte die zu beobachtende Rückbesinnung auf das eigene Auto, welches vor dem Hintergrund des Infektionsschutzes bei vielen als das sicherste Verkehrsmittel gilt, mit Abflauen der Pandemie auch wieder abnehmen. Einzig die mit Geschäftsreisen verbundene Mobilität könnte einen nachhaltigen Rückgang erfahren. Die in der Pandemie gesammelten Erfahrungen und aufgebaute technische Infrastruktur werden wohl dazu beitragen, dass auch in Zukunft auf Geschäftsreisen verzichtet werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Betrachtung der in der Pandemie zu beobachtenden Mobilitätstrends nur bedingt aufschlussreich. Dem ist jedoch mitnichten so. Denn eine Untersuchung der aktuellen Mobilitätstrends hilft uns menschliches Verhalten besser zu verstehen und so für zukünftige Krisen- und Pandemielagen eher gerüstet zu sein. So können wir in diesem Beitrag etwa zeigen, dass (1) die Anzahl an Routenanfragen in Berlin, Leipzig, München und Stuttgart – vier der einwohnerreichsten Städte Deutschlands – bereits vor den politisch getroffenen Maßnahmen zur Beschränkung sozialer Kontakte (22. März) und, wenn auch in deutlich geringerem Maß, vor dem TeilLockdown (2. November) zurückgegangen sind. Dies stellt ein deutliches Indiz dafür dar, dass die Einwohnerinnen und Einwohner sowie die Besucherinnen und Besucher dieser Städte ihr Mobilitätsverhalten bereits vor Umsetzung der benannten Maßnahmen eigenverantwortlich angepasst haben – im Zuge der zweiten Welle jedoch in einem nicht ausreichenden Maß. (2) Großdemonstrationen mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebiet, wie die am 7. November in Leipzig, das Potential haben, die Mobilitätswerte in die Höhe schnellen zu lassen. Aus der Warte des Infektionsschutzes stellen solche Veranstaltungen ein großes Risiko dar.

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Schwerpunkt Corona

Nun aber der Reihe nach: Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der fußläufigen Mobilität in vier ausgewählten deutschen Großstädten während der Corona-Pandemie im Jahr 2020. Als Ergänzung der amtlichen Statistik werden Nutzerdaten des privatwirtschaftlichen Technologieunternehmens Apple INC. herangezogen. Zunächst werden daher diese Mobilitätsdaten mit all ihren Vorzügen und Einschränkungen vorgestellt. Daran schließt sich die eigentliche Betrachtung der fußläufigen Mobilität in den Städten Berlin, Leipzig, München und Stuttgart an. Ein besonderes Augenmerk besteht dabei darauf, abzuschätzen, ob die Bürgerinnen und Bürger ihr Mobilitätsverhalten bereits vor den darauf abzielenden politischen Maßnahmen eigenständig angepasst haben und wenn ja in welchem Maß. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob Großdemonstrationen das Potential besitzen, die Mobilitätswerte in die Höhe schnellen zu lassen, erscheint uns die Auswahl der Städte Berlin, Leipzig, München und Stuttgart geradezu ideal. Bei allen vier handelt es sich um Protesthochburgen und sollten sich nicht mal im Zuge dieser Most Likely Cases Effekte zeigen, so wäre dies Evidenz dafür, dass Großedmonstrationen keine entscheidende Rolle als Mobilitätstreiber zukommt. Wie wir zeigen werden ist dem jedoch nicht so – Großdemonstrationen wirken mitunter sehr wohl als Treiber von Mobilität.

Mobilitätsdaten von Apple Inc. als Ergänzung der amtlichen Statistik1 Privatwirtschaftliche Technologieunternehmen wie Google LCC. und Apple INC. stellen im Rahmen der Corona-Pandemie Daten der Nutzung ihrer Dienste frei im Internet zur Verfügung. Laut Angabe der Unternehmen dient die Veröffentlichung dieser Daten der Unterstützung öffentlicher Stellen bei der Koordinierung der Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19.2 Die in diesem Beitrag verwendeten Benutzerdaten des Unternehmens Apple INC. spiegeln die täglichen Änderungen in den Anfragen nach Wegbeschreibungen im Routenplaner von Apple (Apple Maps) wider. Diese werden nach Beförderungsmitteln (ÖPNV, Gehen, Fahren) getrennt und in aggregierter Form ausgegeben und sind für ausgewählte Länder, Regionen und Städte abrufbar. Die Daten der Nutzer werden insofern geschützt, dass die Bewegungen laut Selbstauskunft des Unternehmens nicht mit der entsprechenden Apple-ID verknüpft und die Orte, an denen sich die Nutzer befinden, nicht gespeichert werden. Die als CSV-Datei zum Download bereitgestellten und in den folgenden Abbildungen visualisierten Daten zeigen das relative Anfragevolumen für Wegbeschreibungen (Gehen) im Vergleich zum Basisvolumen am 13. Januar 2020 (Referenz). Apple definiert die Städte als nicht näher definierten Großraum – behält die geografischen Grenzen aber für den gesamten Untersuchungszeitraum bei. Über die tatsächliche Anzahl der Anfragen nach Wegbeschreibungen gibt das Unternehmen keine Auskunft. Die Anzahl der täglichen Anfragen muss jedoch einen nicht weiter definierten Mindestwert überschreiten, um von Apple INC. veröffentlicht zu werden. Die hier präsentierten Daten erheben zudem keinen Anspruch auf Repräsentativität. Zum einen handelt es sich ausschließlich

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um Daten der Nutzer von Apple-Geräten. Betrachten wir ausschließlich die mobilen Plattformen, so liegt der Marktanteil von iPhone in Deutschland bei rund 30 Prozent.3 Zum anderen wissen wir nicht, ob es sich bei den Apple-Nutzern in den untersuchten Städten um einen Querschnitt der Stadtbevölkerung handelt, oder ob sich der Nutzerkreis möglicherweise durch bestimmte Merkmale (z.B. durch das Alter) von den Nicht-Appelianern unterscheidet. Zuletzt können wir nicht davon ausgehen, dass alle angefragten Routen dann auch tatsächlich beschritten wurden. Trotz dieser Einschränkungen stellen die zur Verfügung gestellten Daten eine ausgesprochen hilfreiche und empirisch belastbare Quelle zur Abschätzung von Trends im Mobilitätsverhalten der Bevölkerung dar, die die amtliche Statistik nicht liefern kann und die über die persönliche Wahrnehmung und Beobachtung hinausgeht. Zu bemängeln bleibt, dass der Datenanbieter keine Einblicke in die absolute Anzahl der täglichen Routenanfragen gewährt. Ebenso gilt es zu berücksichtigen, dass die Mobilität der Einwohner und Besucher der benannten Städte auf Grundlage der über Apple Maps getätigten Anfragen abgeschätzt wird. Der Anteil an Suchanfragen von Besucherinnen und Besuchern dürfte dabei im Verhältnis zu den eigentlichen Einwohnerinnen und Einwohnern überproportional hoch sein, da diese zumindest die regelmäßig zurückgelegten Fußwege kennen. So dürfte beispielsweise nur für die wenigsten zu Fuß zurückgelegten Pendelwege zuvor eine Suchanfrage getätigt werden. Darüber hinaus können wir, trotz des 30 %-igen Marktanteils von Apple, nicht davon ausgehen, dass die bereitgestellten Daten repräsentativ für alle getätigten Suchanfragen sind, da auch auf Apple-Endgeräten Apps wie Google Maps benutzt werden.

Während Corona zu Fuß unterwegs – Eigenverantwortung geht Maßnahmen voraus Mit Blick auf das fußläufige Mobilitätsverhalten im Jahr 2020 erkennen wir in allen vier Städten ein einheitliches Muster (siehe hierzu Abbildung 1) das annähernd einer Sinus-Kurve gleicht. Im Vergleich zum Basisvolumen Mitte Januar fällt die fußläufige Mobilität im März um bis zu 80 Prozent. Dies ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen nimmt das Mobilitätsverhalten nach den Wintermonaten gewöhnlich zu und nicht ab.4 Dies gilt insbesondere für die zu Fuß zurückgelegten Strecken. Zum anderen erfolgt der zu beobachtende Mobilitätsrückgang bereits etwa zwei Wochen vor der eigentlichen Beschränkung sozialer Kontakte, die ab dem 22. März 2020 galten. Es zeigt sich also, dass die Menschen in Berlin, Leipzig, München und Stuttgart ihr (fußläufiges) Mobilitätsverhalten in Teilen bereits eigenverantwortlich anpassten. Dies lässt sich mutmaßlich durch die intensive Medienberichterstattung, die mitunter erschreckenden Nachrichten aus dem Ausland und die allgegenwärtige Krisenkommunikation erklären. Hinzu kamen der Kontaktbeschränkung vorrausgehende Maßnahmen, wie die Absage von Großveranstaltungen und die Schließung von Schulen und Kitas. Das Mobilitätsverhalten verharrt in der Folge auf niedrigem Niveau. Erst ab Mitte Mai ist wieder eine Zunahme der fußläufigen Mobilität zu verzeichnen. Das Aufkommen liegt dennoch deutlich unter dem Basisvolumen


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von Mitte Januar und steigt auch in den Sommermonaten nicht wie gewohnt an.5 Ab September 2020 lässt sich dann ein erneuter Rückgang der fußläufigen Mobilität ausmachen. Jahreszeitenbedingt ist ein solcher Rückgang nicht ungewöhnlich. Die Anzahl an Suchanfragen liegt jedoch bereits Ende September wieder in etwa auf dem Niveau von Ende Januar. Dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die steigende Anzahl an COVID-19-Fällen zurückzuführen. Im Gegensatz zum ersten Lockdown Ende März fällt das Niveau jedoch nicht abrupt ab. Zudem liegt das Niveau auch nach Beginn des (Teil-)Lockdowns am 2. November nicht annähernd auf dem geringen Niveau von Ende März. Und dies trotz deutlich höherer Fallzahlen und vor allem Todesfällen. Während also im Zuge der ersten Welle die Bürgerinnen und Bürger ihr Verhalten eigenverantwortlich anpassten, scheint dieses Verhalten während der zweiten Welle deutlich weniger ausgeprägt. Somit liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der erste Lockdown notwendig war um die Anzahl an Kontakten, welche stark mit (fußläufiger) Mobilität korreliert sein dürfte, auch langfristig niedrig zu halten. Der zweite Lockdown ist hingegen notwendig, um die Anzahl an Kontakten überhaupt erst in einem ausreichenden Maße zu reduzieren.

Großdemonstrationen während Corona – ein zweischneidiges Schwert Trotz der seit März 2020 mehr oder weniger durchgängig geltenden Kontaktbeschränkungen waren Demonstrationen unter verschärften Hygieneauflagen in Deutschland weiterhin möglich und es konnten zahlreiche (Groß-)Demonstrationen stattfinden. Dabei werden in der Folge nur solche Veranstaltungen betrachtet, für die aufgrund einer hinreichend großen Teilnehmerzahl vermutet werden darf, dass sie sich im fußläufigen Mobilitätsverhalten einer Großstadt niederschlagen können. Da sich die Angaben der beteiligten Akteure über die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer Demonstration in aller Regel unterscheiden, werden deshalb nur diejenigen Demonstrationen berücksichtigt, bei denen einhellig von Beteiligten im stabilen vierstelligen Bereich berichtet wird (>2.000).6 Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich die Veranstaltungen in einer erhöhten Anzahl an Suchanfragen widerspiegeln und damit mutmaßlich zu einer erhöhten fußläufigen Mobilität geführt haben. Hierzu wird überprüft, ob sich die Anzahl an tatsächlichen Suchanfragen signifikant von der

Abbildung 1: Relative Änderungen in den Anfragen zur Routenführung 2020, Vergleich zum Basisvolumen am 13. Januar 2020; Fortbewegung zu Fuß Berlin

München

Leipzig

Stuttgart

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Anzahl an Suchanfragen unterscheidet, die für die einzelnen Veranstaltungstage zu erwarten gewesen wäre, hätten die Veranstaltungen nicht stattgefunden. Um diesen kontrafaktischen Erwartungswert zu ermitteln, wird für jede der vier Städte der Erwartungswert anhand der In-Sample-Prognose eines SARIMAX-Modells berechnet.7 Eine signifikante Abweichung liegt dann vor, wenn die tatsächliche Anzahl an Suchanfragen außerhalb des 95 %-Konfidenzintervalls um den kontrafaktischen Erwartungswert für diesen Zeitpunkt liegt.8 Das Konfidenzband um alle Zeitpunkte wird in den Abbildungen 3-6 als grau hinterlegter Bereich dargestellt.9 SARIMAX-Modelle stellen eine Klasse von Zeitreihenmodellen dar, die sowohl autoregressive und saisonale Komponenten als auch weitere Kovariate berücksichtigen können. Die Berücksichtigung einer saisonalen Komponente ist notwendig, da sich das Muster der Anzahl an Suchanfragen und damit für die fußläufige Mobilität, wie in Abbildung 2 für alle vier Städte und den Zeitraum 13.01.2020 bis 17.02.2020 gut zu erkennen ist, wöchentlich wiederholt. Insbesondere Samstage zeichnen sich dabei durch eine erhöhte Anzahl an Suchanfragen und folglich auch fußläufige Mobilität aus. Neben der wöchentlichen saisonalen Komponente dürfte

die fußläufige Mobilität mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch ein jährliches Weiderholungsmuster aufweisen – in den Sommermonaten wird mehr Zeit draußen verbracht und es werden mehr Wege zu Fuß zurückgelegt. Dieses jährliche Muster kann jedoch aufgrund des nur knapp einjährigen Betrachtungszeitraums nicht mit einer eigenen saisonalen Komponente in den SARIMAX-Modellen berücksichtigt werden. Sie wird vielmehr durch die autoregressive Komponente des Modells abgefangen. Um die kontrafaktischen Erwartungswerte im späteren Verlauf erstellen zu können, wird für jeden einzelnen der benannten Veranstaltungstage eine Dummy-Variable erstellt und diese werden als zusätzliche Kovariate in den SARIMAX-Modellen berücksichtigt. Grundsätzlich ist es so, dass diese Dummy-Variablen auch andere Effekte berücksichtigen können, welche nicht den eigentlichen Veranstaltungen zuzuschreiben sind. So könnten an diesen Tagen weitere Veranstaltungen stattgefunden haben, die die Großdemonstrationseffekte verzerren könnten. Da uns keine weiteren Großdemonstrationen als die hier dargestellten bekannt sind und sonstige Großveranstaltungen, wie beispielsweise Bundesligaspiele mit Zuschauern oder verkaufsoffene Sonntage, aufgrund der ganzjährig geltenden

Abbildung 2: Beobachtbarer Wochentageffekt vor Einsetzen der Pandemie, 13. Januar (Montag) bis 17. Februar (Montag) 2020 Berlin

Leipzig

München

Stuttgart

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Beschränkungen nicht stattfanden, sollten die Verzerrungen jedoch nur gering sein. Wir werden im Folgenden deshalb davon ausgehen, dass die aufgetretenen Effekte durch die Großdemonstrationen selbst herrühren. Die kontrafaktischen Erwartungswerte werden schließlich so gebildet, dass die In-Sample-Prognose so berechnet wird, als ob keine Großdemonstration stattgefunden hätte. Technisch werden hierzu alle Dummy-Variablen auf null gesetzt, so dass der Effekt der jeweiligen Großdemonstration nicht in der Prognose berücksichtigt wird. In den nun folgenden Abschnitten werden die einzelnen Städte und jeweiligen Veranstaltungen genauer unter die Lupe genommen. Den Anfang macht Berlin. Berlin 1. Mai Der Deutsche Gewerkschaftsbund verzichtet das erste Mal in seiner über 70-jährigen Geschichte auf eine große 1. MaiKundgebung. Abgesehen von mehreren genehmigten Kleinstdemonstrationen versammeln sich laut Angaben des Berliner Innensenators mehrere tausend Menschen ohne Genehmigung in Kreuzberg. Die Polizei ist mit 5.000 Beamtinnen und Beamten im Einsatz. Es kommt zu Festnahmen und Verletzten.10 6. Juni Der gewaltsame Tod des Afroamerikaners Georg Floyd, bringt laut Angaben der Berliner Polizei mehr als 15.000 Menschen auf die Straße. Die Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz unter dem Motto „Black Lives Matter“ verläuft weitestgehend friedlich.11

1. August Aus Protest gegen die Schutzmaßnahmen wegen der COVID-19-Pandemie gehen laut Berliner Polizei etwa 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Straße des 17. Juni. Die Veranstalter sprechen von deutlich mehr.12 In den Medien ist mitunter von einem Wanderzirkus der Corona-Leugner die Rede, die sich aus der ganzen Republik auf den Weg nach Berlin machen.13 29. August Nach Aufhebung des Verbots mehrerer angemeldeter Demonstrationen versammeln sich laut Polizeiangaben am Nachmittag etwa 38.000 Menschen rund um die Berliner Siegessäule. Die COVID-19-Proteste gipfeln am Abend in einer Besetzung der Treppen des Reichstags.14 25. September Die Klimaschutzbewegung Fridays for Future kehrt nach coronabedingter Verlagerung ihres Protests ins Internet erstmals wieder auf die Straße zurück. Die Berliner Polizei schätzt die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor dem Brandenburger Tor auf über 8.000. Die Veranstalter sprechen von 21.000 Beteiligten.15 18. November Mehr als 10.000 Personen demonstrieren in unmittelbarer Nähe des Reichstags gegen die COVID-19-Maßnahmen. Es herrscht eine aggressive Stimmung. Zur Auflösung der Veranstaltung sieht sich die Berliner Polizei gezwungen Wasserwerfer einzusetzen.16

Abbildung 3: Demonstrationseffekt in Berlin (unter Berücksichtigung saisonaler und autoregressiver Komponenten)

Datenquelle: www.apple.com/covid19/mobility Eigene Darstellung

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Die graphische Analyse der fußläufigen Mobilität in Berlin zeigt für die angeführten Demonstrationen zunächst keine Auffälligkeiten (Abbildung 3). Das Mobilitätsaufkommen am 1. Mai, 6. Juni (BLM) und 1. August (C19) bewegt sich in dem zu erwartenden Rahmen. Dies gilt auch für den 25. September (FFF) und den 18. November (C19). Für den 29. August (C19) zeigt sich jedoch ein Mobilitätsniveau, welches, wenn auch nur leicht, oberhalb des Konfidenzbands liegt und somit signifikant von dem für diesen Tag zu erwartenden Mobilitätswert abweicht. Schließt man andere mögliche Erklärungen aus, führt die COVID-19-Demonstration rund um die Siegessäule mit rund 38.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu einer erhöhten fußläufigen Mobilität, wenn auch nur in einem geringen Ausmaß. Die Demonstration stellt zwar die mit Abstand größte Veranstaltung der vergangenen Monate in Berlin dar. Im Verhältnis zur Einwohner- und sonstigen Besucherzahl ist die absolute Anzahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern jedoch gering, weshalb es auch nur zu einer leichten Abweichung nach oben kommt. Leipzig 7. Juni Knapp zwei Wochen nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd ziehen rund 15.000 Demonstrantinnen und Demonstranten vom Leipziger Hauptbahnhof zum Bundesverwaltungsgericht. Die Black Lives Matter-Demonstration bleibt ohne Zwischenfälle.17

7. November Die insgesamt 27 angemeldeten Demonstrationen, Versammlungen und Kundgebungen bringen laut Angaben der Polizei 20.000 Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet auf Leipzigs Straßen. Forschergruppen gehen von wenigstens 45.000 Personen aus.18 Der Protest auf dem Augustusplatz und rund um den Innenstadtring richtet sich gegen die COVID-19-Schutzmaßnahmen. Im Zuge der Veranstaltung kommt es zu Übergriffen auf Medien, Zivilisten und die Polizei. Mit Blick auf die fußläufige Mobilität in Leipzig zeigt sich für die Black Lives Matter-Demonstration am 7. Juni (BLM) keine signifikante Abweichung (Abbildung 4). Der entsprechende Mobilitätswert bewegt sich innerhalb des erwartbaren Rahmens. Anders verhält es sich mit den COVID-19-Demonstrationen am 7. November (C19). Der hier zu beobachtende Mobilitätswert weicht signifikant und sehr deutlich von dem zu erwartenden Wert ab. Diese Tatsache legt nahe, dass die hohe Anzahl der Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern im Verhältnis zur Einwohnerzahl von Leipzig (ca. 600.000) den Mobilitätswert in die Höhe schnellen ließ. Andere Erklärungen erscheinen ob der schieren Größe des Effekts als unwahrscheinlich. Dies gilt insbesondere im Vergleich zum 29. August in Berlin (mit rund 3,7 Mio. Einwohnern), wo wir es ebenfalls mit einer signifikanten, aber deutlich geringeren Abweichung nach oben zu tun haben.

Abbildung 4: Demonstrationseffekt in Leipzig (unter Berücksichtigung saisonaler und autoregressiver Komponenten)

Datenquelle: www.apple.com/covid19/mobility Eigene Darstellung

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München 9. Mai Auf dem Marienplatz demonstrieren rund 3.000 Menschen gegen die aus Ihrer Sicht zu strikten COVID-19-Infektionsschutzbestimmungen. Dies sind deutlich mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer als zuvor angemeldet. Das Einhalten des Mindestabstands ist dadurch nicht mehr möglich.19 16. Mai Nach Überschreiten der Grenze von 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf der Theresienwiese sperrt die Polizei diese ab. Rund um das abgesperrte Gelände befinden sich weitere 2.500 Personen, die gegen die COVID-19-Infektionsschutzbestimmungen protestieren. Etwa 1.000 Beamtinnen und Beamte der Polizei fordern diese zum Verlassen des Bereichs auf.20 6. Juni Unter dem Motto „Black Lives Matter“ versammeln sich nach Angaben der Polizei bis zu 25.000 Menschen. Aufgrund der hohen Anzahl an Protestierenden sehen sich die Veranstalter gezwungen, die Kundgebungen auf den Königsplatz sowie den benachbarten Karolinenplatz aufzuteilen.21 12. September Nach der Aufhebung der durch die Stadt München erlassenen Teilnahmebeschränkung durch den Bayrischen Verwaltungsgerichtshof versammeln sich allein zur Hauptkundgebung

rund 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der Theresienwiese. Unter anderem richtet sich deren Protest gegen die COVID-19-Schutzmaßnahmen. Auf dem Goetheplatz kommen rund 900 Personen unter dem Motto „Solidarität statt rechter Verschwörungswahn“ zu einer Gegenkundgebung zusammen.22 Die graphische Darstellung der fußläufigen Mobilität in München liefert zunächst keine Auffälligkeiten (Abbildung 5). Weder am 9. Mai (C19), noch am 16. Mai (C19) oder am 6. Juni (BLM) zeigen sich Mobilitätswerte außerhalb des zu erwartenden Rahmens. Entsprechend finden sich keine Anzeichen dafür, dass die an diesen Tagen stattgefunden Großdemonstrationen zu einem signifikant erhöhten Mobilitätsaufkommen beitragen konnten. Anders verhält es sich am 12. September (C19). Der hier gemessene Wert liegt oberhalb des Konfidenzbandes und weicht somit signifikant von dem zu erwartenden Wert für diesen Tag ab. Mit anderen Worten: Hier zeigt sich eine höhere fußläufige Mobilität als an einem „gewöhnlichen“ Samstag in München zu erwarten wäre. Stuttgart 2. Mai Laut Veranstalter demonstrieren bis zu 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf dem Cannstatter Wasen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Dies sind doppelt so viele wie zunächst angemeldet. Die Veranstaltung verläuft friedlich, die Polizei greift nicht ein.23

Abbildung 5: Demonstrationseffekt in München (unter Berücksichtigung saisonaler und autoregressiver Komponenten)

Datenquelle: www.apple.com/covid19/mobility Eigene Darstellung

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9. Mai In der Folgewoche versammeln sich erneut 5.000 Menschen zum Protest auf dem Cannstatter Wasen und protestieren gegen die COVID-19-Schutzmaßnahmen. Die nach Auflage zulässige Höchstzahl von 10.000 wird damit nicht erreicht. Die ursprünglich angemeldete Teilnehmerzahl von 50.000 wird durch die Stadt Stuttgart nicht genehmigt.24 16. Mai Mehr als 5.000 Menschen bekunden auf dem Cannstatter Wasen ihren Protest gegen die staatlich verordneten COVID19-Maßnahmen. Drei Demonstrationsteilnehmer werden von bis zu 40 vermummten Tätern attackiert und verletzt.25 6. Juni Tausende Menschen demonstrieren rund um den Eckensee und solidarisieren sich mit der Black-Lives-Matter-Bewegung. Die Erwartungen der Organisatoren werden damit deutlich übertroffen. Die Polizei beschreibt die Stimmung als teilweise aggressiv. Es kommt zu Übergriffen und Festnahmen.26 13. Juni Vom großen Zuspruch in der vorangegangenen Woche beeindruckt zieht die Black-Lives-Matter-Bewegung dieses Mal vom Schlossgarten auf den Cannstatter Wasen um. Dort demonstrieren erneut mehr als 2.000 Menschen. Nach Angaben der Polizei verläuft die Demonstration dieses Mal ohne besondere Vorkommnisse.27

25. September Nach Schätzungen der Veranstalter kommen in Stuttgart nach längerer Demonstrationspause erstmals wieder rund 6.000 Protestierende der Fridays-for-Future-Bewegung zusammen und demonstrieren im Stadtgarten für mehr Klimaschutz.28 Die in Abbildung 6 visualisierte fußläufige Mobilität in Stuttgart zeigt für die abgehaltenen Großdemonstrationen keinerlei Auffälligkeiten. Die Mobilitätswerte an den entsprechenden Tagen befinden sich allesamt in dem grau hinterlegten Konfidenzband. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass sich keine der betrachteten Großdemonstrationen in Stuttgart in einem signifikant erhöhten Mobilitätsaufkommen niedergeschlagen haben.

Abschließende Bemerkungen Die vorangegangenen Ausführungen haben zum einen gezeigt, dass die Einwohnerinnen und Einwohner sowie Besucherinnen und Besucher der hier betrachteten Großstädte ihr Mobilitätsverhalten bereits vor Umsetzung der Beschränkung sozialer Kontakte (und auch des Teil-Lockdowns) eigenverantwortlich angepasst haben. Aus dieser Erkenntnis den Schluss zu ziehen, die harten Eingriffe seien nicht erforderlich gewesen, ist nach unserer Einschätzung jedoch nicht zulässig. Denn ohne die getroffenen Maßnahmen wäre es in der ersten Welle vermutlich nicht möglich gewesen, eine dauerhafte

Abbildung 6: Demonstrationseffekt in Stuttgart (unter Berücksichtigung saisonaler und autoregressiver Komponenten)

Datenquelle: www.apple.com/covid19/mobility Eigene Darstellung

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und nachhaltige Verhaltensanpassung zu erwirken. Dieser Überlegung liegen Erfahrungswerte menschlichen Verhaltens zugrunde. Ebenso wie Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind ihr Verhalten eigenverantwortlich anzupassen, steht zu befürchten, dass sie auch schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen und Ermüdungserscheinungen die Oberhand gewinnen. Dies zeigt sich bereits mit der zweiten Welle. Ohne den Teil-Lockdown und den in der Folge ab Mitte Dezember 2020 erfolgten verschärften Lockdown hätte voraussichtlich keine ausreichende Verhaltensanpassung stattgefunden. Es bleibt zudem die ernüchternde Erkenntnis, dass ein Teil der in der interessierenden Zeitspanne stattgefundenen Großdemonstrationen als Mobilitätstreiber wirken konnten. Bei den in dieser Analyse betrachteten Veranstaltungen zeigt sich dies insbesondere für die verhältnismäßig stark besuchten Demonstrationen gegen die COVID-19-Infektionsschutzbestimmungen. Nimmt diese dann Ausmaße an wie am 7. November in Leipzig und berücksichtigt man, dass Hygienevorschriften bei diesen Veranstaltungen häufig nicht eingehalten werden, dann stellen solche Veranstaltungen aus Infektionsschutzgründen ein nicht kalkulierbares Risiko dar. Einschränkend muss angeführt werden, dass die dieser Analyse zugrundeliegenden Mobilitätsdaten des privatwirtschaftlichen Unternehmens Apple INC. bei einem Marktanteil von rund 30 Prozent nur näherungsweise repräsentativ sind. Zudem weisen wir abschließend erneut darauf hin, dass es sich bei den verwendeten Daten (getätigte Suchanfragen über Apple Maps) lediglich um eine Näherung an das fußläufige Mobilitätsverhalten und nicht um eine vollumfängliche Abbildung alle tatsächlich gemachten Wege handelt. Die Identifizierung von Effekten einzelner Großdemonstrationen auf das fußläufige Mobilitätsverhalten erfolgte unter Berücksichtigung saisonaler und autoregressiver Komponenten. Mögliche alternative Erklärungen eines erhöhten fußläufigen Mobilitätsaufkommens wurden in dieser Studie nicht kontrolliert. Da andere Großveranstaltungen – man denke etwa an Spiele der Fußballbundesliga oder verkaufsoffene Sonntage – aufgrund der ganzjährig geltenden Beschränkungen nicht, oder nur ohne Zuschauer stattfanden, sollten die Verzerrungen aber gering ausfallen. Nichtsdestotrotz wäre es sinnvoll in zukünftigen Analysen wetterbedingte Einflüsse in Form von Temperatur, Niederschlag oder Sonnenstunden zu berücksichtigen.

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Die Ausführungen im Abschnitt zu Mobilitätsdaten als Ergänzung der amtlichen Statistik finden sich bereits in einem Beitrag einer der Autoren im Monatsheft des Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart (Statistik und Informationsmanagement 5/2020). Siehe hierzu die Nutzungsbedingungen von Apple INC.: https://www. apple.com/covid19/mobility (aufgerufen am 04.12.2020). Siehe hierzu: https://computerwelt.at/news/iphone-vs-android-werhat-die-groesseren-marktanteile/ (aufgerufen am 04.12.2020). Laut Auskunft von Apple INC. entspräche eine Zunahme der Anfragen in der ersten Jahreshälfte der normalen saisonalen Nutzung von Apple Maps. Für Leipzig gilt dies nur eingeschränkt. Im Vergleich zu den drei anderen betrachteten Städten steigt das Mobilitätsvolumen hier in den Sommermonaten deutlicher an. Wenn in diesem Beitrag auf Teilnehmerinnenzahlen Bezug genommen wird, dann stellen die angeführten Zahlen lediglich eine Nähe-

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rung dar und dienen dazu, einen groben Eindruck über die Größe einer Veranstaltung zu erhalten. Die nachfolgenden Ausführungen liefern dabei keinen Beitrag zu der Debatte über die tatsächliche Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer der zurückliegenden Demonstrationen. Für alle vier Städte wird ein SARIMAX(1,0,1)(1,0,1)-Modell geschätzt, wobei für die Veranstaltungstage einzelne Dummy-Variablen als zusätzliche Kovariate im Modell berücksichtigt werden. Selbstverständlich könnten auch die Signifikanz der einzelnen Dummy-Variablen analysiert werden. Im Sinne einer grafischen Darstellung wird allerdings der beschriebene Weg gewählt, welcher zu denselben Ergebnissen führt. Da es sich um ein 95 %-Konfidenzintervall um 322 Datenpunkte (Tage) handelt, ist zu erwarten, dass bereits per Konstruktion etwa 16 Datenpunkte außerhalb des Konfidenzbands liegen. Siehe hierzu: https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/05/polizeimai-berlin-kreuzberg-friedrichshain-demonstration-demo-coronacoronavirus.html (aufgerufen am 15.12.2020). Siehe hierzu: https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/06/berlinmitte-alexanderplatz-silent-demo-george-floyd-black-lives-matterprotest.html (aufgerufen am 15.12.2020). Siehe hierzu: https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-korrigiertzahlen-nach-oben-auf-der-ersten-corona-demo-in-berlin-warendoch-30-000-menschen/26136252.html (aufgerufen am 15.12.2015). Siehe hierzu: https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/ beitraege_neu/2020/07/berlin-demos-querdenker-verschwoerungsmythen-corona.html (aufgerufen am 15.12.2020). Siehe hierzu: https://www.n-tv.de/politik/Anti-Corona-Demo-deutlich-groesser-als-erwartet-article22003555.html (aufgerufen am 15.12.2020). Siehe hierzu: https://www.tagesschau.de/inland/klimademosstart-103.html (aufgerufen am 15.12.2015). Siehe hierzu: https://www.morgenpost.de/berlin/article230938548/ Corona-Demo-in-Berlin-am-18-11-Reaktionen-Bilanz-der-Polizei-und-Bilder.html (aufgerufen am 15.12.2020). Siehe hierzu: https://www.mdr.de/sachsen/leipzig/leipzig-leipzigland/tausende-menschen-bei-demo-gegen-rassismus-in-leipziggeorg-floyd-polizeigewalt-100.html (aufgerufen am 15.12.2020). Siehe hierzu: https://www.sueddeutsche.de/politik/querdenkenleipzig-ausschreitungen-1.5108011 (aufgerufen am 15.12.2020). Siehe hierzu: https://www.tagesschau.de/inland/corona-demos-103. html (aufgerufen am 16.12.2020). Siehe hierzu: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchendemonstration-theresienwiese-bilanz-1.4910313 (aufgerufen am 16.12.2020). Siehe hierzu: https://www.tagesschau.de/inland/georgefloyd-protest-deutschland-101.html (aufgerufen am 16.12.2020). Siehe hierzu: https://www.welt.de/politik/article215583740/Muenchen-Rund-10-000-Menschen-bei-Corona-Demonstration-Polizei-schreitet-ein.html (aufgerufen am 16.12.2020). Siehe hierzu: https://www.focus.de/politik/deutschland/druck-vorcorona-gipfel-waechst-tausende-auf-den-strassen-brandbrief-anmerkel-in-deutschland-rumort-es_id_11948924.html (aufgerufen am 17.12.2020). Siehe hierzu: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.demonstration-fuer-grundrechte-in-stuttgart-tausende-stroemen-zurdemo-gegen-corona-regeln-auf-den-wasen.6a9bf8b9-6da0-45ff9460-b84cee24c491.html (aufgerufen am 17.12.2020). Siehe hierzu: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/stuttgart54-jaehriger-schwebt-nach-pruegelattacke-in-lebensgefahra-f9669f51-9219-4ccd-bf39-de275ebfb206 (aufgerufen am 17.12.2020). Siehe hierzu: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.black-livesmatter-protest-in-stuttgart-ausschreitungen-am-rande-von-antirassismus-demo.71c1a99b-a115-4d32-aaf4-cdb3074b06ec.html (aufgerufen am 17.12.2020). Siehe hierzu: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.blacklives-matter-jetzt-live-antirassismus-demo-in-stuttgart.3036efae40ab-4586-b6f1-d16dc9fe55f7.html (aufgerufen am 17.12.2020). Siehe hierzu: https://www.sueddeutsche.de/politik/demonstrationenstuttgart-mit-abstand-und-maske-tausende-bei-klima-demos-imsuedwesten-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200925-99-705311 (aufgerufen am 17.12.2020).

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Schwerpunkt Corona

Sebastian Kurtenbach, Jan Üblacker, Björn Eisele

Nachbarschaft in der Krise? Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung in NRW während der Corona-Pandemie Der Beitrag diskutiert das Potenzial nachbarschaftlicher Unterstützung während der Corona-Pandemie. Dazu wird eine repräsentative Bevölkerungsumfrage in NRW ausgewertet und der Einfluss von Sozialstruktur, Engagementerfahrung, Nachbarschaftsvertrauen und digitaler Vernetzung auf die Bereitschaft nachbarschaftlicher Unterstützung während der Corona-Pandemie untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die individuelle Bereitschaft, sich während der Krisenzeit in einer Nachbarschaftshilfe zu engagieren, vor allem durch gesundheitliche Risikofaktoren vermindert wird. Die Bereitschaft zur Nachbarschaftshilfe wiederum ist unter Personen besonders hoch, die bereits vor der Krise ein hohes Vertrauen in ihre Nachbarschaft hatten und über viele Kontakte verfügten. Wir folgern daraus, dass Nachbarschaften mit hohem Sozialkapital auch während der Krise eher dazu in der Lage sind Unterstützung zu mobilisieren.

Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach Professor für Politikwissenschaft/Sozialpolitik an der FH Münster. Forschungsschwerpunkte: Stadt-, Migrations- und Konfliktforschung, insbesondere Kontexteffekte von Wohngebieten, Ankunftsgebiete, Digitalisierung und Nachbarschaft. : kurtenbach@fh-muenster.de Prof. Dr. Jan Üblacker Professor für Quartiersentwicklung, insbesondere Wohnen im Quartier an der EBZ Business School (FH) in Bochum, Forschungsschwerpunkte: Gentrifizierung, Nachbarschaft und Quartier, Wohnen und Wohnungsmärkte, soziale und räumliche Integration unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit. : j.ueblacker@ebz-bs.de Dipl.-Soz. Björn Eisele Prokurist der InWIS Forschung & Beratung GmbH und Leiter des Bereichs Markt- und Meinungsforschung, Tätigkeitsschwerpunkte: Haushalts-, Bewohner- und Zielgruppenbefragungen bzw. -analysen, Wohntrendstudien, Entwicklung und Anwendung empirischer Erhebungsverfahren und statistischer Mess- und Auswertungsinstrumentarien. : bjoern.eisele@inwis.de Schlüsselwörter: Nachbarschaft – Corona – Umfrage – NRW

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Einleitung Die Corona-Pandemie ist eine einschneidende Krise, durch sie wird das volkswirtschaftliche Wachstum deutlich gebremst, der Sozialstaat und die öffentliche Hand sind gefordert wie selten zuvor und die Mobilität von Menschen hat spürbar abgenommen. Besonders im Fokus stehen Risikogruppen, wie Menschen mit Vorerkrankungen oder in einem höheren Alter. Doch gehen mit Krisen ebenso Praktiken der Krisenbewältigung einher. Immense staatliche Investitionen und ein deutlicher Digitalisierungsschub sind zu beobachten, doch auch die klassischen Mechanismen der Krisenbewältigung, wie nachbarschaftliche Hilfe, erleben eine (mediale) Konjunktur. Insbesondere in Quarantäne befindliche Haushalte und sogenannte Risikogruppen sind dazu angehalten, Kontakte zu anderen Personen zu vermeiden, um das Infektionsrisiko und die Ausbreitung des Virus zu vermindern. Aufgrund selbst gewählter oder angeordneter Isolation sind diese Personen in besonderem Maße auf Unterstützung bei der Versorgung mit Gütern des alltäglichen Bedarfs angewiesen. In vielen Fällen erfolgt diese Unterstützung aus der Nachbarschaft. Die helfenden Nachbar*innen wiederum müssen abwägen, ob und unter welchen Bedingungen sie bereit sind diese Unterstützung zu leisten. Bisher ist nur wenig darüber bekannt wie die Krisensituation die Bereitschaft zur Hilfeleistung verändert und welche Personen eine besonders hohe Bereitschaft zur nachbarschaftlichen Hilfeleistung zeigen. Vor diesem Hintergrund befasst sich der Beitrag mit den folgenden Fragestellungen: Welche Determinanten erklären die Absicht zur Nachbarschaftshilfe in Krisenzeiten und welche Unterschiede lassen sich zwischen Gruppen mit hoher und geringer bzw. keiner Engagementbereitschaft feststellen? (Siehe dazu auch den Beitrag von Goebel und Zimmermann) Dazu werten wir Daten einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage in NRW aus (Bölting et al. 2020). Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Zunächst wird der Forschungsstand in Bezug zu Unterstützungsleistungen in der Nachbarschaft hinsichtlich ausgewählter Determinanten nachbarschaftlicher Hilfe zusammenfassend aufgearbeitet. Im folgenden Abschnitt werden das Datenerhebungsdesign, die erhobenen Daten und die Auswertungsstrategie vorgestellt. Im vierten Abschnitt werden die empirischen Ergebnisse beschrieben und interpretiert und abschließend das Fazit gezogen. Dazu gehört neben der Beantwortung der Forschungsfrage auch die Ableitung kommunaler Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung nachbarschaftlicher Hilfe in der Corona-Pandemie.


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Nachbarschaft heute Nachbarschaft ist eine der wenigen Konstanten im gesellschaftlichen Miteinander, jede*r hat Nachbar*innen. Allerdings ändern sich die Form und die Regeln des nachbarschaftlichen Zusammenlebens stetig. Dominierten in agrarisch geprägten Räumen lange gegenseitige Hilfen bei Ernten und anderen betrieblichen Hilfen (Siebel 2009: 8) oder in Arbeiterquartieren das gegenseitige Borgen von Haushaltsgegenständen (Mackensen et al. 1959: 189), so sind heute eher partielle Kommunikation und abstraktes Vertrauen zu beobachten (Sampson et. al. 1997). Das bedeutet nicht, dass es keine Nachbarschaftshilfe gibt, die hat sich nur von Notwendigkeiten abgekoppelt. Im Alltag sind durchaus nachbarschaftliche Netzwerke und Formen der Hilfe vorhanden, allerdings beruhen sie mehr auf Einzelbeziehungen, die kommunikativ aufgebaut werden und sich nicht zwangsläufig durch den mikro-lokalen Wohnstandort ergeben. Dennoch sind in einigen ländlichen Gebieten immer noch Praktiken wie der „Erste Nachbar“ anzutreffen, also der Nachbar, der bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten eine wichtige Rolle einnimmt. Allerdings ist dies auch dort als eher rückläufig zu beurteilen. Allen Überlegungen zum Wesen der Nachbarschaft ist gemeinsam, dass sie eine soziale Beziehung ist, die primär durch geographische Nähe zur Wohnadresse hergestellt wird (Hüllermann et al. 2015: 28). Damit ist Nachbarschaft etwas sowohl Räumliches als auch Soziales, wobei sowohl die genaue Festlegung des Räumlichen als auch des Sozialen schwerfällt. Relative Klarheit besteht bei der Festlegung, was nachbarschaftliche Hilfe ist. Es sind freiwillige Unterstützungspraktiken zwischen Nachbar*innen zur Bewältigung eines Anliegens mindestens einer der beteiligten Parteien und findet außerhalb organisierter Arrangements statt. Fromm und Rosenkranz (2019: 10) beschreiben nachbarschaftliche Unterstützung als „[…]informelle nachbarschaftliche Hilfen, die nicht zu verwechseln sind mit Hilfen, die im Rahmen institutionalisierten Engagements erbracht werden, also etwa in einer Nachbarschaftshilfe in der Rechtsform eines Vereins. Mit informellen Hilfen bzw. informeller Unterstützung in der Nachbarschaft sind […] Tätigkeiten gemeint, die privat und unentgeltlich von und für Nachbarn erbracht werden und die nicht durch Dritte organisiert bzw. an Organisationen angeschlossen sind.“ Nachbarschaftliche Hilfe tritt sowohl bei individuellen Krisen (z. B. gesundheitliche Einschränkungen) als auch bei kollektiven Ereignissen (z. B. Hochwasser) auf und ist sowohl vertrauensbasiert als auch identifikationsstiftend. Der Beitrag nachbarschaftlicher Unterstützung zur Bewältigung der Corona-Pandemie ist ein Hybrid. Die Pandemie betrifft zwar die gesamte Gesellschaft, allerdings ist das Erleben der Betroffenen in hohem Maße individuell, sodass jede*r Einzelne herausgefordert ist Hilfe anzunehmen oder zu leisten. Allerdings sind nicht alle Menschen in gleicher Weise in nachbarschaftliche Hilfebeziehungen eingebunden. Vier Determinanten wurden auf Grundlage der einschlägigen Literatur identifiziert, die nachbarschaftliche Hilfe beeinflussen. Diese werden auch bei der empirischen Untersuchung hinsichtlich der nachbarschaftlichen Unterstützung in der Corona-Pandemie analysiert.

Sozialstruktur: Relativ eindeutig ist, dass Menschen in armutsgeprägten Nachbarschaften eher kleinere nachbarschaftliche Netzwerke haben, die vor allem familiär bestimmt sind. Durch die Bewältigung des Alltags sind Menschen in Armutslagen dabei eher auf sich alleine gestellt und investieren kaum Ressourcen in nachbarschaftliche Solidarbeziehungen (Strohmeier 2009). Damit hat der sozio-ökonomische Status eines Menschen Einfluss auf die jeweilige Hilfsbereitschaft. Kinder im Haushalt haben förderlichen Effekte auf nachbarschaftliche Kontakte, da diese relativ häufig mit anderen Kindern in der Nachbarschaft in Kontakt sind. Weiterhin sind Ältere eher auf nachbarschaftliche Hilfe angewiesen und investieren sozial auch in diese Art von Beziehungen. Engagementerfahrung: Nach dem Freiwilligensurvey 2014 sind in Deutschland 43,6 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig engagiert (BMFSFJ 2017: 17). Dadurch steht ein hoher Erfahrungsschatz zur Verfügung, der ebenfalls zur Bewältigung von Krisen genutzt werden kann. Wenn sich eine Person bereits engagiert, so unsere Hypothese, dann ist auch die Absicht höher, sich während der Corona Pandemie für die Nachbarschaft zu engagieren. Nachbarschaftsvertrauen und Kontakte: Arbeiten aus der kriminologischen Stadtforschung zeigen, dass kollektives Handeln dann wahrscheinlich ist, wenn Vertrauen in die Nachbarschaft besteht. Damit ist nicht die Nachbarin oder der einzelne Nachbar gemeint, sondern die soziale Gemeinschaft der Nachbar*innen, selbst wenn man die Nachbar*innen nicht persönlich kennt. Das Vertrauen darauf, dass das Zusammenleben in der Nachbarschaft auf gemeinsamen Werten und Normen basiert erhöht nicht nur das individuelle Sicherheitsempfinden, sondern auch die Wahrscheinlichkeit nachbarschaftliche Hilfe zu erfahren und zu leisten (Sampson 2012). Digitalisierung: Kommunikation im Alltag wird digitaler, dazu gehört auch die Kommunikation in der Nachbarschaft. Nachbar*innen nutzen dafür sowohl Messenger-Dienste (z. B. WhatsApp oder Telegram) als auch soziale Netzwerke (z. B. Facebook oder nebenan.de). Erste Studien am Beispiel eines sozialen Netzwerks für Nachbarschaften konnten zeigen, dass sowohl die Nutzungsquoten als auch die Vernetzungsabsichten sozialräumlich ungleich verteilt sind. Demnach weisen insbesondere Stadtteile mit mittlerem sozialem Status, hoher Fluktuation und mittlerem Alter eine vergleichsweise hohe Nutzung auf (Kurtenbach 2019; Üblacker 2019). Daher ist zu untersuchen, ob und wie sich digitale Praktiken der nachbarschaftlichen Kommunikation auf die Engagementbereitschaft auswirken und ob es dabei sozialstrukturelle Unterschiede gibt.

Empirisches Design Daten und Operationalisierung Datenbasis der Studie bildet eine repräsentative Befragung der Wohnbevölkerung ab 18 Jahren in NRW. Diese wurde im Zeitraum vom 26. März bis zum 2. April 2020 durchgeführt. Für die Datenerhebung wurde ein Mixed-Mode-Ansatz verfolgt. Der Schwerpunkt lag auf einer telefonischen Befragung, die

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Schwerpunkt Corona

um eine Online-Erhebung ergänzt wurde. Von insgesamt 1.012 befragten Personen nahmen 761 an der Telefonumfrage und 251 Personen an der Online-Umfrage teil. Um die Repräsentativität der Stichprobe zu gewährleisten, wurde eine geschichtete Zufallsstichprobe gezogen (vgl. Bölting et al. 2020: 8f. für eine detaillierte Beschreibung). Die abhängige Variable bildet die Zugehörigkeit zur Gruppe derjenigen, die auf die Frage „Würden Sie sich selbst ehrenamtlich in einer Nachbarschaftshilfe bei der Unterstützung von Risikogruppen engagieren?“ mit „ja, wegen der aktuellen Krise“ oder „ja, auch außerhalb der aktuellen Krisensituation“ geantwortet haben. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass die Operationalisierung der Nachbarschaft bei den Befragten lag und nicht vorgegeben war. Die Gruppenzugehörigkeit drückt das individuelle Mobilisierungspotenzial zur nachbarschaftlichen Hilfeleistung während der Krise aus. Die Vergleichsgruppe setzt sich aus jenen zusammen, die sich nur außerhalb der Krise oder gar nicht engagieren würden. Um die gebildeten Gruppen genauer zu beschreiben, werden soziostrukturelle Merkmale, die erfragte gesundheitliche Situation, die Engagementbereitschaft und verschiedene Nachbarschaftsmerkmale herangezogen. Der Bildungsgrad wird über den höchsten Bildungsabschluss gemessen. Als weitere soziostrukturelle Merkmale wurden das Alter und die Haushaltsgröße, inklusive Kinder im Haushalt, aufgenommen. Die gesundheitliche Situation wird über die Anzahl der Risikoerkrankungen und über eine Abfrage von Problemen bei alltäglichen Tätigkeiten (z. B. Einkaufen) operationalisiert. Um ein bereits bestehendes Engagement zu kontrollieren, wird zudem einbezogen, ob die Befragten sich bereits vor der Corona-Krise in einer Nachbarschaftshilfe engagiert haben. Die Intensität nachbarschaftlicher Kontakte wird über einen Index operationalisiert, der sich aus einer Faktorenanalyse von acht Items zur Bewertung der Nachbar-

Abbildung 1: Bereitschaft zur ehrenamtlichen Unterstützung von Nachbarn in NRW

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schaftsverhältnisse ergibt. Auf der fünfstufigen Skala steht ein hoher Wert für eine hohe Intensität. Zudem wurde als weitere unabhängige Variable die Besiedlungsdichte1 mit in die Analyse aufgenommen. Auswertungsstrategie Die Auswertung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden die beiden Gruppen (Engagement während der Krise vs. kein Engagement oder nur außerhalb der Krise) anhand der oben genannten Merkmale miteinander verglichen. Eine Diskriminanzanalyse untersucht im zweiten Schritt den Beitrag der unabhängigen Merkmale zur Unterscheidung der beiden Gruppen. Auf diese Weise wird auch ermittelt, anhand welcher Dimensionen sich die Gruppen vor allem unterscheiden.

Empirische Ergebnisse Abbildung 1 zeigt, dass 25,1 Prozent der Befragten sich explizit wegen der aktuellen Krisensituation in einer Nachbarschaftshilfe engagieren würden. 34,5 Prozent würden dies auch außerhalb der zum Zeitpunkt der Befragung vorherrschenden Krisensituation tun. Sie bilden die erste Vergleichsgruppe (Gruppe: Engagement in der Krise). Im Vergleich würden 40,5 Prozent der Befragten sich nur außerhalb der Krise oder gar nicht engagieren, sie bilden die Vergleichsgruppe (Gruppe: kein Engagement in der Krise). Die Bereitschaft zur Hilfe kann, und das ist nicht weiter zu kontrollieren, durch soziale Erwünschtheit bedingt sein. Wie unterscheiden sich diese beiden Gruppen im Hinblick auf ihre Soziodemografie und Sozialstruktur, ihre gesundheitliche Situation, ihr bisheriges Engagement und die Intensität ihrer Nachbarschaftskontakte? Abbildung 2 ist zu entnehmen, dass sich zwei Drittel der Befragten mit mittlerem und hohem Bildungsabschluss engagieren würden, während unter den Befragten mit keinem oder geringem Bildungsabschluss lediglich 43 Prozent ein Engagement in einer Nachbarschaftshilfe beabsichtigen. Ein ähnlicher Zusammenhang zeigt sich bei der Haushaltsgröße: Je größer der Haushalt, desto eher äußern die Befragten eine Engagementbereitschaft in der Krise. Beim Alter hingegen zeigt sich kein derartiger Zusammenhang. Die höchste Engagementbereitschaft zeigen 45- bis unter 65-Jährige mit 72 Prozent, die mit Abstand geringste ab 65-Jährige mit 38 Prozent. Die vergleichsweise geringe Bereitschaft von über 65-Jährigen widerspricht zunächst der Annahme einer hohen Vernetzung dieser Gruppe innerhalb der Nachbarschaft, lässt sich jedoch durch die besondere gesundheitliche Gefährdung durch die Viruserkrankung erklären. Ein starker Zusammenhang zeigt sich im Hinblick auf die Frage, ob man zu einer Corona-Risikogruppe gehört und wie viele bzw. welche Risikofaktoren/-erkrankungen (z. B. Vorerkrankung(en) wie bspw. Lungen-/Atemwegserkrankungen, Diabetes, HerzKreislauf-Erkrankungen, Nieren-/Lebererkrankungen, Krebs) vorliegen. Ab zwei Vorerkrankungen ist eine sukzessive Abnahme der Engagementbereitschaft zu verzeichnen. Mit 32 Prozent ebenfalls geringer ist die Bereitschaft zum Engagement unter den Befragten mit Personen im Haushalt, die in ihren alltäglichen Tätigkeiten bereits stark eingeschränkt sind.


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Abbildung 2: Engagement nach ausgewählten Merkmalen

Quelle: InWIS / FH Münster (2020), eigene Darstellung

Dies verdeutlicht noch einmal, dass Personen, die bereits auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind, weniger Kapazitäten haben, um ihrerseits Unterstützung leisten zu können. Abseits der soziodemografischen und gesundheitlichen Faktoren zeigen sich auch für spezifische Merkmale der Wahrnehmung des Engagements für die Nachbarschaft eindeutige Muster. Unter den Befragten mit einer hohen oder sehr hohen wahrgenommenen Intensität nachbarschaftlicher Kontakte ist der Anteil derer, die eine Bereitschaft zum Engagement äußern, ca. 10 Prozentpunkte höher als unter den Befragten mit einer niedrigen oder mittleren wahrgenommenen Intensität. Auch die digitale Vernetzung mit der Nachbarschaft scheint dabei eine förderliche Wirkung auf die Absicht zum Engagement zu haben: In der Gruppe der digital vernetzten Nachbar*innen äußern 72 Prozent die Absicht zum Engagement, wohingegen der Anteil in der „analogen“ Gruppe bei 56 Prozent liegt. Hier ist allerdings ein Einfluss durch Drittvariablen zu vermuten. Digital vernetzte Nachbar*innen sind eher jüngeren und mittleren Alters, weisen einen mittleren sozialen Status auf (vgl. Kurtenbach 2019; Üblacker 2019) und gehören damit auch zu den Gruppen, die eine hohe Engagementbereitschaft aufweisen. Fast 80 Prozent der Befragten, die bereits vor der Pandemie in einer ehrenamtlichen Nachbarschaftshilfe aktiv waren, würden sich auch während der Pandemie engagieren. Das verdeutlich, dass ein bereits bestehendes Engagement

für die Nachbarschaft zu großen Teilen auch in Krisenzeiten fortgesetzt würde. Zwischen der Besiedlungsdichte und der Engagementbereitschaft ist ein negativer Zusammenhang festzustellen. Je geringer die Besiedlungsdichte, desto höher ist die Bereitschaft zum Engagement. Vermutlich ist dieser Zusammenhang auf die höhere Intensität nachbarschaftlicher Kontakte in gering besiedelten Gebieten zurückzuführen. Um die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Engagement-Gruppen zu identifizieren und deren Erklärungsbeiträge zur Gruppentrennung zu bemessen, führen wir im Folgenden eine Diskriminanzanalyse durch. Diese eruiert ob sich Gruppen signifikant voneinander unterscheiden und welche Merkmale einen Beitrag zur Gruppentrennung leisten. Die Güte der Diskriminanzfunktion lässt sich durch drei Kennzahlen beschreiben: Der (1) Eigenwert beschreibt das Verhältnis von erklärter zu nicht erklärter Streuung. Je größer ein Eigenwert ist, umso höher ist also die Güte der Trennung bei der Klassifizierung. Ein hoher Wert des (2) kanonischen Korrelationskoeffizienten weist auf eine gute Trennung der durch die Diskriminanzfunktion gebildeten Gruppen hin. Der kanonische Korrelationskoeffizient schwankt zwischen 0 und 1. Das Verhältnis von nicht erklärter Streuung zur Gesamtstreuung der Diskriminanzwerte wird durch (3) Wilks Lambda wiedergegeben. Ein niedriger Wert von Wilks Lambda zeigt eine geringe unerklärte Streuung und damit eine gute Trennung

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Tabelle 1: Charakteristika der Diskriminanzfunktion Funktion

Eigenwert

% der Varianz

Kumulierte %

Kanonische Korrelation

Wilks-Lambda

Chi-Quadrat

df

Signifikanz

1

,157a

100,0

100,0

0,369

0,864

146,665

13

0,000

a. Nur die erste kanonische Diskriminanzfunktion wird in dieser Analyse verwendet.

der Gruppen an. Wilks Lambda ist ein normiertes Maß, welches zwischen 0 und 1 schwankt. Im vorliegenden Fall resultiert eine eher geringe bis mittelstarke kanonische Korrelation von 0,369. Entsprechend beträgt der Anteil der nicht erklärten Streuung 86,4 Prozent. Wenngleich das Gesamtmodell als akzeptabel einzustufen ist und das aufgeführte Modell im Vergleich unterschiedlicher Modellvariationen das mit der mit Abstand höchsten Modellgüte ist, so bleibt einschränkend festzuhalten, dass die aufgenommenen Variablen eben nur teilweise die Gruppenunterschiede erklären können. Um zu beurteilen, welchen Beitrag die Einzelmerkmale zur Gruppentrennung leisten, bietet sich die Analyse der Strukturmatrix an, die in Tabelle 2 abgebildet ist. Diese enthält alle erklärungsrelevanten Variablen.2 Je höher die dort aufgeführten Faktoren sind, desto höher ist die Relevanz des Merkmals für die Diskriminanzfunktion und somit für die Trennung zwischen den beiden Vergleichsgruppen „Engagement in der Krise“ (positives Vorzeichen) und „kein Engagement in der Krise“ (negatives Vorzeichen).3 Die Variablen sind nach ihrer absoluten Korrelationsgröße innerhalb der Funktion geordnet. Tabelle 2: Strukturmatrix Struktur-Matrix 65+

-0,595

Liegen bei Haushaltsmitgliedern Einschränkungen bei Tätigkeiten des Alltags vor?

-0,486

45–65

0,430

Anzahl Corona-Risikoerkrankungen Personen im Haushalt kein Abschluss/Hauptschule

-0,424 0,422 -0,410

Digitale Vernetzung mit der Nachbarschaft

0,391

Bereits ehrenamtliches Engagement

0,389

Hochschulreife/-abschluss

0,277

Intensität nachbarschaftlicher Kontakte dichotom

0,261

18–30

0,158

Besiedlungsdichte Mittlere Reife

-0,154 0,058

Im Hinblick auf das Alter treten deutliche Unterschiede zutage. Die Zugehörigkeit zur Altersgruppe ab 65 Jahre und 45 bis 65 leisten den größten Erklärungsbeitrag aller demografischen Merkmale im Modell, während die Zugehörigkeit zur Altersgruppe 18 bis 30 den geringsten und die Gruppe der 30 bis unter 45-Jährigen überhaupt keinen Beitrag leistet.4 Erwartungsgemäß vermindert ein hohes Alter (aufgrund des

30

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gesundheitlichen Risikos) die Absicht, sich während der Krise in einer Nachbarschaftshilfe zu engagieren, wohingegen die übrigen im Modell enthaltenen Altersklassen einen mehr oder weniger starken positiven Zusammenhang aufweisen. Der bereits aus der deskriptiven Darstellung hervorgegangene positive Zusammenhang zwischen Haushaltsgröße und Engagementbereitschaft in der Krise zeigt sich auch in diesem Modell. Eine Betrachtung der Bildungsmerkmale verdeutlicht, dass eine geringe Bildung einen starken negativen Zusammenhang zur Engagementabsicht, bzw. der Ressourcen zum Engagement in der Krise aufweist. Personen mit Hochschulreife bzw. Hochschulabschluss engagieren sich zwar eher, der Erklärungsbeitrag zur Gruppentrennung ist allerdings geringer. Ein ebenfalls starker negativer Zusammenhang zeigt sich erwartungsgemäß bei den Einschränkungen im Alltag und der Betroffenheit von Risikoerkrankungen. Dass Alltagseinschränkungen einen geringeren Erklärungsbeitrag als das Alter leisten, lässt sich hierbei auch dadurch erklären, dass sich Engagementbereitschaft und Alter auf den Befragten selbst beziehen und die Alltagseinschränkungen auf ein Haushaltsmitglied, also nicht zwingend den Befragten selbst. Vorerfahrungen im Engagement, die digitale Vernetzung mit der Nachbarschaft und eine hohe Intensität nachbarschaftlicher Kontakte gehen mit einer höheren Bereitschaft zum Engagement in der Krise einher.

Fazit Anhand einer repräsentativen Umfrage in NRW untersuchte der vorliegende Beitrag die Determinanten der Bereitschaft zum Nachbarschaftsengagement während der Corona-Pandemie. Die Analyse verdeutlicht, dass die Gruppe derer, die eine geringe Engagementbereitschaft in der Krise aufweist vor allem durch gesundheitliche Risikofaktoren (hohes Alter, Zugehörigkeit zur Risikogruppe) charakterisiert ist. Zwar stehen ein bereits bestehender Unterstützungsbedarf und eine geringe Bildung ebenfalls in einem negativen Zusammenhang mit der Engagementbereitschaft, dies sind jedoch keine Merkmale, deren Bedeutung sich durch die Krisensituation grundlegend verändern. Die spezifische Gefährdungslage der Pandemie hingegen vermindert die Engagementbereitschaft insbesondere unter älteren Nachbar*innen, die bedingt durch ihre Wohndauer und hohe lokale Vernetzung unter „normalen“ Umständen ein hohes Engagement aufweisen. Die Bereitschaft zur Nachbarschaftshilfe wiederum scheint vor allem aus Faktoren zu resultieren, deren grundsätzliche Relevanz zur Erklärung von Hilfeleistung durch die Krise nicht verändert wurde. So zeigt die Analyse, dass abseits positiv wirkender sozialstruktureller Merkmale (hohe Bildung, größere


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Haushalte) die Möglichkeiten zur Unterstützung dort hoch sind, wo Personen ihrer Nachbarschaft vertrauen und diese als gut vernetzt (digital wie auch analog) wahrnehmen. Einiges deutet also darauf hin, dass Nachbarschaften, die bereits vor der Krise über ein hohes lokales Sozialkapital verfügten, auch eher dazu in der Lage sind, Unterstützung während der Krise zu mobilisieren, wenn diese Unterstützung zuvor nicht überwiegend durch ältere Bewohner*innen erbracht wurde. Ob und inwieweit eine räumliche Konzentration bestimmter Gruppen zu einem zusätzlichen Rückgang oder Zuwachs der Engagementbereitschaft in Krisenzeiten führt, bleibt als Frage für zukünftige Forschungen. Für Kommunen und soziale Dienste verdeutlichen diese Ergebnisse den Mehrwert einer gezielten Förderung bestimmter Gruppen und Quartiere, die durch die Corona-Pandemie besonders betroffen sind. Zumeist liegen Nachbarschaften mit einem geringen Solidarpotenzial auch in belasteten Wohngebieten, die daher besondere Unterstützung durch soziale Dienste brauchen. Bereits bestehende Einrichtungen mit Sozialraumorientierung (z. B. die Quartiersmanagements)

können gezielt Versuche starten, die beiden hier untersuchten Engagementgruppen zusammenzuführen, um gruppenübergreifende Netzwerke zu fördern. Dort wo das Engagement aufgrund spezifischer Gefährdungslagen besonders stark zurück geht, können digitale Mittel zur lokalen Kommunikation und die zielgerichtete Förderung von Medienkompetenzen eine Hilfe sein.

1 2 3

4

https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/degree-of-urbanisation/background (zuletzt gesehen 03.12.2020) Es wurde bei der Ermittlung der „besten Lösung“ die Aufnahme weiterer Variablen getestet, welche jedoch keinen Erklärungsbeitrag geleistet haben und die Modellgüte reduzierten. An dieser werden die Strukturkoeffizienten dargestellt, da diese im Gegensatz zu den standardisierten kanonischen Diskriminanzfunktionskoeffizienten bestehende Korrelationen zwischen den unabhängigen Variablen berücksichtigen, Dadurch kann sozusagen von einem kontrollierten Zusammenhang gesprochen werden, worin auch ein Vorteil der Diskriminanzanalyse liegt. Weshalb diese Gruppe auch nicht in der Strukturmatrix auftaucht.

Literatur BMFSFJ [Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend] (2017): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Berlin: Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Bölting, Torsten; Eisele, Björn; Kurtenbach, Sebastian (2020): Nachbarschaftshilfe in der Corona-Pandemie. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf: Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales NRW. Fromm, Sabine; Rosenkranz, Doris (2019): Unterstützung in der Nachbarschaft. Struktur und Potenzial für gesellschaftliche Kohäsion. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Hüllemann, Ulrike; Brüschweiler, Bettina; Reutlinger, Christian (2015): I.2 Räumliche Aspekte von Nachbarschaft – eine Vergewisserung. In: Reutlinger, Christian; Stiehler, Steve; Lingg, Eva (Hrsg.): Soziale Nachbarschaften. Sozial-

raumforschung und Sozialraumarbeit. Vol. 10. Wiesbaden: Springer VS. S. 23–33. Kurtenbach, Sebastian (2019): Digitale Segregation. Sozialräumliche Muster der Nutzung digitaler Nachbarschaftsplattformen. In: Heinze, Rolf G.; Kurtenbach, Sebastian; Üblacker, Jan (Hrsg.): Digitalisierung und Nachbarschaft. Erosion des Zusammenlebens oder neue Vergemeinschaftung? Baden-Baden: Nomos. S. 115–142. Mackensen, Rainter; Papalekas, Johannes Chr.; Pfeil, Elisabeth; Schütte, Wolfgang; Burckhardt, Lucius (1959): Daseinsformen der Grosstadt. Typische Formen sozialer Existenz in Stadtmitte, Vorstadt und Gürtel der industriellen Großstadt. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Sampson, Robert J. (2012): Great American City. Chicago: The University of Chicago Press. Sampson, Robert J.; Raudenbush, Stephen. W.; Earls, Felton (1997): Neighborhoods and vi-

olent crime: a multilevel study of collective efficacy. Science, 277(5328), S. 918–924. Siebel, W. (2009): Ist Nachbarschaft heute noch möglich? In: Arnold, Daniel (Hrsg.), Nachbarschaft. München: Callwey: S. 7–13 Strohmeier, Klaus P. (2009): Die Stadt im Wandel – Wiedergewinnung von Solidarpotential. In: Biedenkopf, Kurt; Bertram, Hans; Niejahr, Elisabeth (Hrsg.): Starke Familie – Solidarität, Subsidiarität und kleine Lebenskreise. Bericht der Kommission »Familie und demographischer Wandel«. Stuttgart: Bosch-Stiftung. S. 157–173. Üblacker, Jan (2019): Digital vermittelte Vernetzungsabsichten und Ressourcenangebote in 252 Kölner Stadtvierteln. In: Heinze, Rolf G.; Kurtenbach, Sebastian; Üblacker, Jan (Hrsg.): Digitalisierung und Nachbarschaft. Erosion des Zusammenlebens oder neue Vergemeinschaftung? Baden-Baden: Nomos, S. 143–164.

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Dorothea Deinlein, Cornelia Müller, Benedikt Orlowski, Martina Rebien

„Es geht schon so, man gewöhnt sich daran.“ Bürgerumfrage in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hat das Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth im vierten Quartal 2020 eine Bürgerbefragung dazu durchgeführt, wie die Corona-Pandemie das Leben verändert hat. 4 275 Menschen haben teilgenommen. Sie gaben darüber Auskunft, wie sich die Pandemie auf ihren Alltag und ihr Arbeitsleben ausgewirkt hat. Vor allem Familien und jüngere Menschen belastet die CoronaKrise teilweise stark, nicht zuletzt, da sie einen deutlichen Einfluss auf die berufliche Situation der Menschen hat und die Organisation des Alltags, z. B. durch die Schließung von Schulen und Kindertageseinrichtungen, zu einer Belastungsprobe wird. Viele Nürnbergerinnen und Nürnberger wünschen sich zudem eine sensiblere Maßnahmenpolitik und bessere Prioritätensetzung, aber auch stärkere Kontrolle der Regeln.

Dorothea Deinlein Diplom-Sozialwirtin, seit 1997 wiss. Mitarbeiterin am Amt für Stadtforschung und Statistik (Umfragen), Unschlittplatz 7a, 90403 Nürnberg : dorothea.deinlein@stadt.nuernberg.de Cornelia Müller M.A. Kulturgeographie, seit 2020 wiss. Mitarbeiterin am Amt für Stadtforschung und Statistik (Bevölkerung und Gesundheit), Unschlittplatz 7a, 90403 Nürnberg : cornelia.mueller2@stadt.nuernberg.de Dr. rer. nat. Benedikt Orlowski Dr. der Geographie, seit 2020 wiss. Mitarbeiter am Amt für Stadtforschung und Statistik (Wirtschaft, Umwelt und Verkehr), Unschlittplatz 7a, 90403 Nürnberg : benedikt.orlowski@stadt.nuernberg.de Dr. rer. pol. Martina Rebien Dr. der Soziologie, seit 2019 wiss. Mitarbeiterin am Amt für Stadtforschung und Statistik (Arbeitsmarkt und Soziales), Nürnberg : martina.rebien@stadt.nuernberg.de Schlüsselwörter: Coronavirus – Corona-Krise – Pandemie - Bürgerbefragung

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Einleitung – Kurzchronik der CoronaPandemie in Bayern und Nürnberg „Man zählt die Toten, die Lebenden, und der Spaß ist zu Ende. Aber diese Schweinerei von einer Krankheit! Sogar die, die sie nicht haben, tragen sie im Herzen.“ ALBERT CAMUS (DIE PEST) Seit Beginn der Corona-Pandemie sind im Jahr 2020 bis zur Fertigstellung dieses Beitrags etwa 4,1 % der Nürnberger Bevölkerung mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert gewesen und nahezu 500 von ihnen sind verstorben, eine merkliche Entspannung der Situation ist bisher noch nicht abzusehen. Anfang 2020, nur wenige Wochen nachdem in Wuhan der Ausbruch der neuartigen Lungenkrankheit beobachtet worden war, berichteten die Medien über die ersten nachgewiesenen Infektionsfälle in Bayern (28.01.2020). In den folgenden Wochen spitzte sich die Situation in verschiedenen Teilen der Welt zu, vor allem die steigenden Infektionszahlen in Norditalien sorgten in Deutschland für Beunruhigung. Die ersten bestätigten Todesfälle in Deutschland ereigneten sich Anfang März und schon kurz nach dem ersten Todesfall in Bayern (12.03.) wurde einen Tag nach den bayerischen Kommunalwahlen der Katastrophenfall in Bayern ausgerufen (16.03.2020). Die darauffolgenden harten Einschnitte des Katastrophenmanagements in das alltägliche Leben die im Rahmen der Eindämmungsstrategien vollzogen wurden, stellten für viele eine bisher nicht erlebte Situation dar. Großveranstaltungen wurden verboten, Schulen, Kindertagesstätten, Geschäfte und Gastronomie wurden (mit wenigen Ausnahmen) geschlossen, Einreiseverbote verhängt und prompt darauf wurden auch Ausgangsbeschränkungen, Abstandsregeln und sogar ein absolutes Kontaktverbot beschlossen (ab 21.03.2020). Die in der Öffentlichkeit unter Schlagworten wie „Flatten the Curve“ und „Social Distancing“ kommunizierten Maßnahmen beeinflussten nunmehr das Alltagsleben jeder einzelnen Person. Am 26.03.2020 verstarb dann auch in Nürnberg die erste Person an dem Coronavirus SARS-CoV-2. Im Verlauf der weiteren Wochen und Monate der Pandemie wurden die konkreten Eindämmungsmaßnahmen immer wieder auf die aktuelle Situation angepasst und entweder erweitert („verschärft“) oder gelockert. Eine auf den ÖPNV beschränkte Maskenpflicht trat in Bayern beispielsweise am 27.04.2020 in Kraft und aufgrund sinkender Fallzahlen wurden


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die Ausgangsbeschränkungen am 06.05. zunächst wieder aufgehoben. Abbildung 1 zeigt, dass die Entwicklung der Infektionszahlen in Nürnberg nach Meldungen des Robert-Koch-Instituts bisher in zwei Wellen verläuft, wobei insbesondere der deutliche Anstieg ab Anfang November hervortritt. Mit dem Wiederanstieg der Infektionszahlen im Herbst wurde eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum in Teilen der Stadt Nürnberg verhängt (17.10.) und Anfang November kam es zur Verschärfung der Kontaktbeschränkungen, einer erneuten Ausgangsbeschränkung und sogar einer bayernweiten nächtlichen Ausgangssperre ab 21 Uhr (BR 2020)1. Bei Fertigstellung dieses Artikels im Januar 2021 wurden bereits weitere Verschärfungen angekündigt. Soziale Faktoren, Risikowahrnehmung und das unterschiedliche Erleben der Pandemie Während anfangs die Dauer der Pandemie zwar nicht absehbar war, aber die Hoffnung auf ein schnelles Ende berechtigt schien, entwickelte sich die Situation im Verlauf des Jahres 2020 für viele Bürgerinnen und Bürger zunehmend zur Bedrohung der gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen ihres Alltags. Viele der gewohnten Alltagshandlungen und Freiheiten wurden im Sinne des Infektionsschutzes stark eingeschränkt. Für einige entwickelte sich die Situation gar zur existenziellen Bedrohung, beispielsweise für Gastronomiebetreibende, Kunst- und Kulturschaffende aber auch zunehmend für den Einzelhandel und bestimmte andere von den Einschränkungen stark betroffene Branchen. Aus Perspektive der Katastrophensoziologie kann hier von einem Zusammenbruch verschiedenster gesellschaftlicher Erwartungshaltungen und Kontinuitäten gesprochen werden und somit ist die Corona-Pandemie als fundamentale gesamtgesellschaftliche Krise zu begreifen (Clausen 1992: 186). Hinzu kommt das Phänomen, dass innerhalb der Bevölkerung sehr unterschiedliche Risikowahrnehmungen existieren können (Slovic 1987, Douglas und Wildavsky 1983). Aus Perspektive des Katastrophenschutzes stehen vor allem das

individuelle Infektionsrisiko und der Schutz vor einer unkontrollierten Ausbreitung der Infektion und die damit verbundene Überlastung der Gesundheitssysteme im Vordergrund. Für die betroffene Bevölkerung ist das Gesundheitsrisiko ausgehend von einer Infektion sicherlich ebenfalls von großer Bedeutung. Daneben stellen sich jedoch, je nach individueller Situation in unterschiedlichem Maße, auch die getroffenen Maßnahmen als Risiko dar. So können die Kontaktbeschränkungen beispielsweise essentielle Grundbedürfnisse wie das Bedürfnis nach sozialen Beziehungen bedrohen. Auch Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, z. B. in Bezug auf private und berufliche Zukunftsperspektiven, können von der Krise berührt sein. Von diesen psychologischen Effekten abgesehen, haben Maßnahmen wie Schul- und Kitaschließungen, die Situation am Arbeitsplatz oder gar Arbeitslosigkeit unmittelbaren Einfluss auf den Lebensalltag betroffener Familien oder Einzelpersonen. Je nach individueller Ausgangslage und Lebenssituation werden in einer Krisensituation sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Aus den individuellen Vorprägungen, Erlebnissen und persönlichen Rahmenbedingungen resultieren erwartungsgemäß sehr unterschiedliche Einstellungen und Handlungsweisen im Umgang mit der Krise. In der öffentlichen Debatte treten diese Einstellungen oftmals in Form verschiedener Narrative in Konkurrenz zueinander, was zur Folge hat, dass Ambiguitäten auftreten und somit das Gefühl von Widerspruch entsteht und die Unsicherheit in der Krise noch weiter verstärkt wird (Orlowski 2021). Vor diesem Hintergrund hat das Amt für Stadtforschung und Statistik eine Befragung der Nürnberger Bürgerinnen und Bürger in Privathaushalten durchgeführt. Ziel der Studie ist daher, ein besseres Verständnis der Auswirkungen der Pandemie auf die unterschiedlichen Lebenssituationen zu gewinnen. Insofern kann sie auch eine vermittelnde Rolle zwischen den unterschiedlichen Risikowahrnehmungen einnehmen. Damit verbunden ist die Motivation herauszuarbeiten, wie sich die Krise auf die unterschiedlichen Haushalte auswirkt und anhand welcher sozialen und räumlichen Faktoren sich die verschiedenen Erfahrungen und Einstellungen innerhalb der Nürnberger Stadtgesellschaft differenzieren lassen.

Abbildung 1: Entwicklung des Infektionsgeschehens in Nürnberg vom 1.3. bis zum 31.12.2020

Quelle: Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth / RKI (Stand: 07.01.2021), Einwohnermelderegister (Stand: 01.12.2020).

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Hinweise zur Methodik Bei der Bürgerbefragung 2020 handelte es sich um eine teilstandardisierte, schriftlich-postalische Stichprobenbefragung mit der Option, den Fragebogen online auszufüllen. Es wurden Fragen zur individuellen Betroffenheit mit der CoronaErkrankung gestellt und die Befragten wurden aufgefordert, sich zunächst in die Situation der ersten akuten Phase der Pandemiebekämpfung (Frühjahr und Sommer) zurückzuversetzen. Die darunter folgenden Fragen fokussieren auf die subjektive Einschätzung, wie stark die Maßnahmen das persönliche Alltagsleben eingeschränkt haben, sowie auf die Auswirkungen der Situation auf das Berufsleben und ggf. die Kinderbetreuung und das sogenannte Homeschooling. Es folgte eine weitere Aufforderung, die nächsten Fragen auf die aktuelle Situation (also den Befragungszeitraum nach der „ersten Welle“) zu beziehen. Auch hier wurden Fragen zur beruflichen Situation gestellt. Weiter geht es um persönliche Sorgen, die Bewertung der Maßnahmen in Bayern und die Einstellung zu verschiedenen Meinungen im Kontext der Corona-Strategien und Wünschen zu gesellschaftlichen Entwicklungen. In einer ergänzenden offenen Frage konnten die Befragten mitteilen, was ihnen sonst noch wichtig erscheint oder Kritik zum Fragebogen äußern. Abschließend wurden demographische Merkmale abgefragt. Die Befragung startete am 25.09.2020 und lief bis zum 30.11.2020. Zum Stichtag 30.08.2020 wurde eine repräsentative Zufallsstichprobe von 10 000 Personen in Privathaushalten im Alter von 18 bis unter 85 Jahren aus der Nürnberger Einwohnerdatei gezogen, die nach Stadtgebieten geschichtet war. Insgesamt ist die Beteiligung an der Umfrage als gut zu bewerten, da sie mit einer Rücklaufquote von 44,5 % (n = 4 275) im Rahmen der bisherigen Bürgerumfragen der Stadt Nürnberg liegt. Die Fallzahlen in besonders relevanten Untergruppen, z. B. alle Altersgruppen, Berufstätige und Nichtberufstätige, Eltern von Kindern unter 18 Jahren, sind ausreichend für gesonderte Auswertungen. Mit der Zufallsstichprobe der befragten Personen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Repräsentativität der Befragung erfüllt. Der Vergleich mit der Grundgesamtheit der Nürnberger Bevölkerung zeigt zudem für die meisten Gruppen lediglich geringe Abweichungen. Insgesamt sind Personen mit Migrationshintergrund und Ein-Personen-Haushalte unterrepräsentiert, während Zwei-Personen-Haushalte überrepräsentiert sind.

Studienergebnisse Empfundene Einschränkung durch Infektionsschutzmaßnahmen Mit der ersten Frage des Fragebogens sollte herausgefunden werden, inwiefern und in welchem Maße die Nürnbergerinnen und Nürnberger von der Corona-Pandemie betroffen waren und sind. 1 % der Befragten antwortete, an Covid-19 erkrankt gewesen zu sein. Allerdings kennen knapp 30 % der Befragten jemanden, der als Verdachtsfall galt oder erkrankt war. Wie

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Abbildung 2 zeigt, sind es insbesondere jüngere Menschen, die über ihr Umfeld einen direkten Bezug zu Covid-19 haben, knapp die Hälfte von ihnen weiß von einer Erkrankung oder einem Verdachtsfall in der Familie, bei Freunden oder Bekannten. Die Vermutung liegt nahe, dass die jüngeren Bevölkerungsgruppen stärker in soziale Kontexte eingebettet sind und dadurch mehr Kontakte haben. Zum Beispiel sind sie berufstätig, wohnen in WGs oder haben Kinder. Abbildung 2: Bekannte Verdachtsfälle und Erkrankungen im Umfeld nach Altersgruppe (in % der Befragten) 65 Jahre und älter 11 50 bis unter 65 Jahre

86

28

35 bis unter 50 Jahre

38

18 bis unter 35 Jahre

29 0%

nein

58

47

Insgesamt

ja

67

weiß nicht

50 67 50%

100%

keine Angabe

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

Permanente Unsicherheit, Angst vor einer Ansteckung, Social Distancing und berufliche Sorgen: Infolge der Corona-Pandemie wirken komplexe Belastungen auf die Menschen ein. 30 % der Nürnbergerinnen und Nürnberger fühlen sich durch die Corona-Krise psychisch und emotional beeinträchtigt, auf weitere 36 % trifft das teilweise zu (Abb. 3). Lediglich ein Drittel fühlt sich von der Pandemie-Situation psychisch nicht belastet. Auffällig ist, dass sich Frauen häufiger belastet fühlen als Männer. Auch Familien fühlen sich stark unter Druck gesetzt, wobei die Lage für Alleinerziehende besonders schwierig ist. Dazu trug sicherlich insbesondere die Schließung von Schulen und Kitas bei. Die Betreuung bzw. das Homeschooling der Kinder musste im Frühjahr ziemlich spontan organisiert werden. Mit Blick auf das Alter der Kinder fühlen sich Menschen mit Kindern unter sechs Jahre am häufigsten psychisch belastet (43 %). Hinzu kommt, dass sich die berufliche Situation der Eltern durch Homeoffice, Kurzarbeit und betriebliche Unsicherheiten zum Teil stark verändert hat. Innerhalb der Familie waren erhebliche Anstrengungen nötig, um den veränderten Alltag bewältigen zu können. Die permanente Mehrfachbelastung erzeugte insbesondere bei Frauen großen Stress. „Als Eltern haben wir uns nicht gesehen gefühlt in der Zeit“, beschrieb eine Befragte ihre Empfindungen im Freitextfeld des Fragebogens. Häufig wurde von Expertinnen und Experten betont, wie wichtig es sei, in der Corona-Krise insbesondere die Risikogruppen zu schützen. Das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs ist bei Menschen ab 50 Jahren sowie mit Grunder-


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krankungen laut RKI deutlich höher. Interessanterweise fühlen sich Menschen, die sich selbst zu einer Risikogruppe zählen (38 % der Befragten), psychisch etwa gleich häufig belastet wie Menschen, die sich nicht als Teil der Risikogruppe sehen. Die Tatsache, dass sie selbst zur Risikogruppe zählen, scheint insbesondere bei vielen Seniorinnen und Senioren in Privathaushalten keine besondere psychische Belastung auszulösen. Entsprechend scheinen ältere Menschen (die nicht in einem Heim o.ä. leben), bezogen auf die psychische Belastung, etwas besser durch die Corona-Krise zu kommen, als jüngere Menschen.

Stattdessen fühlen sich jüngere Menschen überdurchschnittlich häufig psychisch und emotional belastet. Ein Grund dafür mögen Zukunftsängste im Kontext der Pandemie sein, die bei jungen Menschen erwartungsgemäß stärker ausgeprägt sind als bei Älteren. Wie aus einer Studie des Forschungsverbunds „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona Zeit“ (Andresen et al. 2020) hervorgeht, fühlen sich viele junge Erwachsene, die nicht mehr zur Schule gehen, einsam und klagen über finanzielle Sorgen und andere Nöte. Befragte, bei denen im Umfeld Verdachtsfälle oder Erkrankungen auftraten, fühlen sich auch selbst etwas häufiger psychisch belastet (35 %) als

Abbildung 3: Psychische und emotionale Belastung nach Geschlecht, Haushaltstyp und Altersgruppen (in % der Befragten)

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

Abbildung 4: Empfundene Einschränkungen durch die politischen Eindämmungsmaßnahmen (in % der Befragten, Mehrfachantworten möglich) Kontaktbeschränkungen

45

Ausgangsbeschränkungen

27

fehlende Freizeit- und Kulturangebote Hygienemaßnahmen

19

begrenzte Sportmöglichkeiten Besuchsverbot Krankenhaus, Pflegeeinrichtungen

16

Schließung Schulen, Kitas

17

stark eingeschränkt

45

0% etwas eingeschränkt

17

25%

2

34

5

33 32

10

7

23

49 26

6

18

47

13

2

15

43

24

1

8

56 33

Schließung Gastronomie, Hotellerie Schließung Einzelhandel

46

12

30

43

24

51

22 50% nicht eingeschränkt

75% trifft nicht zu

100%

Quelle: Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

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Abbildung 5: Anteil der Befragten die eine Maßnahme als stark oder etwas einschränkend bewerten nach Haushaltstyp und Altersgruppen (in %, Mehrfachantworten möglich)

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

andere (27 %). Rückt das Virus – und somit auch das Infektionsrisiko – „näher“, setzt das die Menschen psychisch unter Druck. Menschen, die sich psychisch belastet fühlen, spüren teilweise auch körperliche Folgen. 9 % der Befragten fühlen sich psychisch UND körperlich belastet. Insgesamt spüren 11 % der Befragten eine körperliche Belastung. Während sich die Geschlechter etwa gleich häufig körperlich belastet fühlen, merken Menschen ab 65 etwas seltener körperliche Symptome der Krise als Jüngere (7 % bzw. 12 %). Unterschieden nach Haushaltstypen fällt auf, dass sich Familien, insbesondere Alleinerziehende, etwas häufiger körperlich belastet fühlen. Abbildung 4 zeigt den Grad der empfundenen Einschränkung durch verschiedene Maßnahmen. Ganz oben stehen die Maßnahmen, durch die sich die meisten Befragten zwischen März und Juni 2020 stark oder etwas eingeschränkt fühlten (blauer und türkisfarbener Balken). Am häufigsten eingeschränkt fühlten sich die Nürnbergerinnen und Nürnberger durch die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen. Das Besuchsverbot in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen (33 %) sowie die Schul- und Kitaschließungen (27 %) waren

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nur für bestimmte Befragte von Bedeutung. Dennoch stecken dahinter tragische Einzelschicksale. Beispielsweise berichteten Befragte, dass sie ganz alleine im Krankenhaus gebären mussten, oder dass eine Begleitung der sterbenden Eltern nicht möglich war. Die differenziertere Analyse des Antwortverhaltens auf die Frage zur Einschränkung durch bestimmte Maßnahmen ergibt interessante Erkenntnisse (Abb. 5), die die unterschiedlichen Lebenssituationen der unterschiedenen Bevölkerungsgruppen gut widerspiegeln. Es zeigt sich aber auch, dass die meisten Maßnahmen von den Gruppen als ähnlich belastend empfunden werden. Lediglich Haushalte mit Kindern und Senioren zeigen zum Teil abweichende Einschätzungen. Kinderbetreuung und Homeschooling Es ist bereits angeklungen, dass sich Alleinerziehende, Familien und Frauen stärker psychisch und emotional belastet fühlen als andere Gruppen. Ein Grund dafür ist in dem vermehrten Stress zu finden, der durch die plötzliche Situation hervorgerufen wurde, die Kinderbetreuung und den


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Arbeitsalltag unter einen Hut zu bringen. Ab dem 16. März 2020 waren alle Schulen und Kindertagesstätten geschlossen. Für einige Kinder dauerte dieser Zustand bis Anfang Juli, sofern Eltern nicht alleinerziehend oder in einem sogenannten systemrelevanten Beruf im Bereich der kritischen Infrastruktur (z. B. Gesundheitswesen, Feuerwehr, Polizei oder anderen Berufen zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur) tätig waren. Entsprechend mussten vor allem die kleinen Kinder betreut werden, für die Schulkinder wurde erwartet, den Lernstoff im Homeschooling zu bewältigen, während gleichzeitig die Urlaubstage der Eltern zur Neige gingen und Leistung im Job erbracht werden musste. Die Belastungssituation für Eltern war entsprechend sehr hoch. 29 % der Befragten gaben an, die Kinder betreut zu haben, während sie zeitgleich im Homeoffice tätig waren. Ein Viertel blieb selbst zu Hause ohne zu arbeiten. Von der letztgenannten Gruppe gab knapp die Hälfte an, dass sie sich emotional und psychisch belastet gefühlt hat. Jeweils rund 16 bzw. 17 % der Befragten mit Kindern gaben an, dass die Kinder allein zu Hause waren, dass der oder die Partner(in) die Kinder entweder im Homeoffice oder ohne zu arbeiten betreut hat, oder dass die Betreuung auf beide Elternteile gleichmäßig verteilt war. Die Notbetreuung konnte von etwa jedem zehnten Befragten in Anspruch genommen werden, ebenso wie die Unterstützung durch Freunde, Bekannte oder Verwandte. Mit Blick auf ausschließlich berufstätige Eltern wird sehr deutlich, dass die Hauptlast der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch in der Corona-Krise vor allem bei den Frauen lag (Abb. 6). 17 % der befragten Mütter und 8 % der befragten Väter gaben ihr Kind in die Notbetreuung. Dieses Ergebnis ist sicherlich auch dadurch getrieben, dass vor allem Alleinerziehende, die zum größten Teil weiblich sind, und Personen aus Berufen der kritischen Infrastruktur, die auch häufig von Frauen ausgeübt werden, ihre Kinder in die Notbetreuung geben konnten. Interessant ist auch, dass die Einschätzung darüber, ob die Betreuung auf beide Elternteile gleichmäßig verteilt war zwischen den Geschlechtern deutlich abweicht. Dieser Meinung sind 21 % der Männer, aber nur 15 % der Frauen. Letztlich gab knapp ein Drittel der berufstätigen Väter an, dass ihr Partner oder, wahrscheinlich zumeist ihre Partnerin, die Kinder zu Hause betreut hat ohne zu arbeiten. Ob diese Betreuungsperson berufstätig war, geht aus den Daten jedoch nicht hervor. Mit Blick auf das Homeschooling sticht ein Ergebnis besonders heraus. Mehr als drei Viertel der Kinder in den befragten Haushalten, die im Homeschooling unterrichtet werden mussten, besaßen den dafür oftmals notwendigen Zugang zum Internet, die entsprechende Hardware und einen eigenen Schreibtisch (Abb. 7). Zudem verfügten zwei Drittel und mehr über einen ruhigen Platz zum Lernen oder ein eigenes Zimmer. Es ist jedoch alarmierend, dass nur gut die Hälfte der Befragten angab, dass es im Haushalt eine Person gäbe, die bei den Aufgaben im Bedarfsfall Unterstützung bieten kann. Dieses Ergebnis unterstreicht die Bedeutung geöffneter Schulen. Längerfristige Schließungen können dazu führen, dass einige Kinder abgehängt werden und sich die Bildungsungleichheit verstärkt. Zu den unterschiedlichen Aspekten der Umsetzung des Homeschoolings äußerten sich die meisten Eltern tendenziell

Abbildung 6: Wie berufstätige Eltern die Kinderbetreuung während des Lockdowns im Frühjahr organisiert haben nach Geschlecht (in % der Befragten mit Kindern, Mehrfachantworten möglich)

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

Abbildung 7: Voraussetzungen des Homeschoolings (in % der Befragten mit Kindern im schulpflichtigen Alter)

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

Abbildung 8: Bewertung verschiedener Aspekte des Homeschoolings (in % der Befragten mit schulpflichtigen Kindern, Mehrfachantworten möglich) Unterstützung durch Lehrkräfte

digitale Bereitstellung Lernmaterial

38 41

36

Häufigkeit Aufgabenbereitstellung

22

herausfordernde Aufgaben

22

49

Menge der Aufgaben

21

49

0% zu wenig

passend

5 9

39

47 39

neuer Lernstoff

25

46

48

analoge Bereitstellung Lernmaterial

24

42

52

Kommunikation mit der Schule

19

3 13

12

59

20%

40%

zu viel

18 25 60%

80%

10 7 11 6 100%

weiß nicht

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

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Schwerpunkt Corona

positiv (Abb. 8), da ein Großteil von ihnen die Umsetzung des Homeschoolings als durchaus passend empfand. Vor dem Hintergrund der sehr kurzfristigen Schließung der Schulen ist dieses Ergebnis für die Schulen in Nürnberg positiv zu bewerten. Da die Pandemie unser Leben noch einige Zeit begleiten wird, bedarf es vor allem einiger Verbesserungen bei der Organisation des digitalen Unterrichts und der Kommunikation mit Schülerinnen und Schülern bzw. Eltern. Auswirkungen der Corona-Krise auf den Arbeitsalltag und Zukunftsperspektiven Es gibt unterschiedliche Faktoren, die in der Corona-Krise als belastend empfunden werden können. Vor dem Hintergrund einer stark gestiegenen Arbeitslosigkeit, drohenden Insolvenzen (die bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht im Detail absehbar sind) und der Zurückhaltung von Betrieben neue Arbeitskräfte einzustellen, kann die persönliche Sorge um den eigenen Arbeitsplatz zu einem extrem belastenden Faktor werden. In einem Teil des Fragebogens wurden die Befragten gebeten, Auskunft über den Einfluss der Corona-Krise auf ihre berufliche Situation zu geben. In Abbildung 9 ist zu erkennen, dass die Pandemie zwischen März und Juni bei nur 28 % der Befragten keinen Einfluss auf die berufliche Situation hatte. Ein Viertel berichtet, dass sie im Homeoffice gearbeitet haben, 13 % waren in Kurzarbeit oder selbstständig mit reduzierter Arbeit tätig. Für jede(n) Zehnten sind Aufträge oder Projekte weggefallen und ebenfalls etwa jede(r) Zehnte berichtete, dass Überstunden und Mehrarbeit notwendig geworden sind. Für etwa 9 % der Befragten hatte die Corona-Krise andere Auswirkungen: Sie waren mit oder ohne Lohnfortzahlung freigestellt, haben ihre Arbeit verloren oder eine neue gefunden. Hierbei handelt es sich jeweils um zwischen 2 und 3 % der Befragten. Abbildung 10 zeigt, welche Befragten, die sich zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf ihre berufliche Situation von

März bis Juni geäußert haben, die Corona-Krise als emotional belastend erlebt haben. Es wird deutlich, dass sich vor allem die Personen am meisten psychisch belastet gefühlt haben, die ihre Arbeit verloren haben, ohne Lohnfortzahlung freigestellt waren, denen Aufträge weggebrochen sind oder die Überstunden leisten mussten. Es sind entsprechend nicht zuletzt die Sorgen um den Arbeitsplatz und die eigene wirtschaftliche Zukunft, die zu emotionalen und psychischen Belastungen führen. Im Befragungszeitraum zwischen September und November hat sich das Bild aus dem Frühjahr etwas verschoben. Zum Befragungszeitpunkt gibt gut ein Drittel der Befragten an, dass die Pandemie keinen Einfluss mehr auf ihr Berufsleben hat (Abb. 9). Auch die Heimarbeit und die Kurzarbeit sind zurückgegangen. Recht unverändert zeigt sich der Anteil der Befragten, denen Aufträge weggebrochen sind oder die Überstunden leisten müssen. Es ist erwartbar, dass sich die Situation zwischen den systemrelevanten Berufen der kritischen Infrastruktur und den anderen Wirtschaftsbereichen unterscheidet. Eine präzise Abgrenzung beider Bereiche ist anhand der vorliegenden Daten leider nicht möglich, es kann jedoch eine Annäherung erreicht werden: Als Wirtschaftsbereiche mit systemrelevanten Berufen wurden der medizinische Bereich, Pflege, Erziehung, Bildung, Landwirtschaft sowie Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst definiert. Die anderen Bereiche bilden das Handwerk, die Industrie, Gastronomie, Hotel, Tourismus, andere (private) Dienstleistungen (Handel, Verkehr etc.), die öffentliche Verwaltung, Kunst, Kultur, Freizeit, Sport, Selbständige und freiberufliche Tätigkeit. Auch wenn diese Zusammenfassung keineswegs trennscharf ist, so geben die Ergebnisse dennoch Hinweise darauf, dass es deutliche Unterschiede gibt (Abb. 11). Im Herbst wird der Unterschied zwischen den beiden Berufsbereichen noch deutlicher. Nahezu zwei Drittel der Befragten in den systemrelevanten Bereichen spüren keine Auswirkungen der Pandemie mehr, es sind aber nach wie vor

Abbildung 9: Auswirkungen auf die berufliche Situation im Zeitraum März bis Juni und und zum Befragungszeitpunkt (in % der Befragten, Mehrfachantworten möglich)

Abbildung 10: Auswirkungen auf die berufliche Situation von März bis zum Befragungszeitpunkt nach psychischer und körperlicher Belastung (in % der Befragten, Mehrfachantworten möglich)

Arbeit/ Job verloren ohne Lohnfortzahlung freigestellt

24

in Kurzarbeit/reduzierte Arbeit

12

neue Arbeit/neuen Job gefunden

0

mit Lohnfortzahlung freigestellt

0

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

41 35 35 35

im Homeoffice gearbeitet

9

keine Auswirkungen

9 0

emotionale Belastung

38

42

13

Überstunden leisten/Mehrarbeit

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

46

0

Aufträge/Projekte sind weggefallen

in %

51

25

28 25 20

40

60

körperliche Belastung

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat


Schwerpunkt Corona

Abbildung 11: Auswirkungen auf die berufliche Situation systemrelevanten Bereichen und anderen Bereichen von März bis Juni und und zum Befragungszeitpunkt (in % der Befragten)

mehr als 20 % von ihnen, die Überstunden leisten müssen. Alle anderen Kategorien haben massiv an Bedeutung verloren. Mit Blick auf die nicht-systemrelevanten Bereiche zeigen sich diese sehr deutlichen Veränderungen nicht. Zwar ist der Anteil der Befragten, die keine Auswirkungen mehr spüren, gestiegen, die Kurzarbeit und die Homeoffice-Arbeit sind zurückgegangen, die anderen Aspekte haben sich gegenüber dem Frühjahr jedoch nur wenig verändert. Sorgen zum Befragungszeitpunkt und vor Beginn der Corona-Pandemie Welche Sorgen bewegen die Menschen während der Pandemie-Zeit und haben sie sich zu diesen Themen bereits vor der Corona-Pandemie Sorgen gemacht? Die Sorgen sind nicht gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt. Ganz allgemein sorgen sich Personen, die sich bereits in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befinden, während der Corona-Pandemie stärker um die verschiedenen Lebensbereiche. Am weitesten verbreitet sind Sorgen um den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Bereits vor Beginn der Corona-Pandemie waren diese Sorgen am größten, jedoch auf wesentlich niedrigerem Niveau. Die Hälfte der Nürnberger Befragten macht sich derzeit große Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Lage. Noch

Abbildung 12: Inwiefern unterschiedliche Lebensbereiche den Befragten Sorgen bereiten, vor der Pandemie und und zum Befragungszeitpunkt (in % der Befragten) sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft (derzeit) sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft (vor Pandemie)

allgemeine wirtschaftliche Lage (derzeit)

eigene Gesundheit (derzeit)

finanzielle Situation (derzeit)

persönliche Beziehungen (derzeit) persönliche Beziehungen (vor Pandemie)

Verlust des Arbeitsplatzes* (vor Pandemie) in % 0 * Auswahl: berufstätige Befragte

große Sorgen

3

69

24

2

56

28

14 3

2

47

36

15

Verlust des Arbeitsplatzes* (derzeit)

1

61

31

5

2

43

38

17 6

2

78

17 20

geringe Sorgen

40 keine Sorgen

60

1

2

68

24

6

1

2

46

32

20

finanzielle Situation (vor Pandemie)

43

46

10

einsam zu sein, soziale Isolation (derzeit) einsam zu sein, soziale Isolation (vor Pandemie)

21

54

2 2

31

51

24

eigene Gesundheit (vor Pandemie)

11

45

42 15

4 3

45

41

Gesundheit von Angehörigen und Freunden (derzeit) Gesundheit von Angehörigen u. Freunden (vor Pandemie)

12

35

49 11

4 5

27

48

21

allgemeine wirtschaftliche Lage (vor Pandemie)

10

31

55

80

100

weiß nicht

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

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Schwerpunkt Corona

wesentlich höher ist der Anteil erwartungsgemäß bei Personen, die sich bereits in schwierigen wirtschaftlichen Situationen befinden. Frauen machen sich etwas häufiger große Sorgen (52 %) als Männer (44 %). Um die Gesundheit von Angehörigen und Freunden macht sich ein fast doppelt so hoher Anteil (42 %) große Sorgen wie um die eigene Gesundheit (24 %). Überdurchschnittlich hoch sind die Sorgen um die Gesundheit der Familie und Freunde unter Alleinerziehenden und Befragten mit Migrationshintergrund (jeweils die Hälfte). Um die eigene Gesundheit ist ein Viertel der befragten Nürnbergerinnen und Nürnberger in hohem Maß besorgt. Es war zu erwarten, dass sich ältere Personen, die auch im Falle einer Covid-19-Erkrankung ein höheres Risiko eines schweren Verlaufs haben, mehr Sorgen um die eigene Gesundheit machen. Tatsächlich sind Personen ab 50 Jahren und älter überdurchschnittlich von gesundheitlichen Sorgen geplagt (28 %). Sorgen um Einsamkeit und soziale Isolation macht sich jede fünfte befragte Person, jede(r) Siebte sorgt sich sehr um die persönlichen Beziehungen. Dass der Anteil unter Singles deutlich erhöht ist (28 %), war zu erwarten. Aber auch für Alleinerziehende (29 %) ist die Sorge über eine mögliche soziale Isolation überproportional hoch. Insgesamt jede sechste befragte Person ist derzeit über die eigene finanzielle Situation besorgt und 14 % der berufstätigen Befragten machen sich große und 28 % geringe Sorgen um ihren Arbeitsplatz. Davon massiv betroffen sind Personen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage aktuell bereits als nicht gut einschätzen.

sondere die Kontaktbeschränkungen während des Lockdowns im Frühsommer das Urteil wesentlich beeinflussen. Mit den Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen ist knapp die Hälfte einverstanden. Es war zu erwarten, dass die Einschätzungen der direkt betroffenen Eltern von der Gesamtverteilung abweichen. Tatsächlich findet die Hälfte der befragten Alleinerziehenden und Paarfamilien die Schließungen von Kitas und Schulen zu weitgehend. Neben dem eigenen gegenwärtigen Verhalten bezüglich des Einhaltens der Regeln und nach der Nutzung der Corona-Warn-App wurden auch Absichten, Meinungen und Einschätzungen erbeten. Praktisch alle an der Bürgerumfrage teilnehmenden Personen bestätigen, dass sie die geltenden Verhaltensregeln einhalten (Abb. 14). Dies zeigt einen überragend breiten Konsens über das angemessene persönliche Verhalten auf. Der Eindruck einer Polarisierung in der Bevölkerung in Bezug auf die Corona-Verhaltensregeln, der durch die laufende Berichterstattung entstehen könnte, scheint daher nicht zuzutreffen. Die Corona-Warn-App steht seit Juni 2020 in Deutschland zur Verfügung. Ein Drittel der Befragten hat sie offenbar heruntergeladen, zwei Drittel nutzen sie nach eigenen Aussagen nicht. Bei der Nutzung der Corona-Warn-App ist eine deutliche Abstufung nach dem Alter der befragten Personen zu erkennen. Mehr als ein Drittel der jüngeren Hälfte der Befragten bis unter 50 Jahre nutzt die App, dagegen ist es unter den Älteren ab 65 Jahren nur jeder Fünfte. Der Anteil der App-Nutzer ist unter den online Befragten fast doppelt so hoch wie unter denjenigen, die einen Papierfragebogen ausgefüllt haben. Zum Thema Impfstoff bestand während der Durchführung der Bürgerumfrage überwiegend noch Unklarheit. Erst gegen Ende des Befragungszeitraums wurde über bevorstehende Anträge auf Zulassung mehrerer Impfstoffe berichtet. Die Aussagen der befragten Personen sind also vor dem Hintergrund einer Unsicherheit über die Wirksamkeit und Verträglichkeit eines künftig bereitstehenden Impfstoffs zu bewerten. Immerhin knapp die Hälfte ist dazu entschlossen, sich impfen zu lassen. Ausdrücklich abgelehnt wird die Impfung von jeder fünften befragten Person. Die Impfbereitschaft ist unter Seniorinnen und Senioren ab 65 Jahren weit überdurchschnittlich (60 %). In den jüngeren und mittleren Altersjahrgängen bis 50 Jahren wird zugleich die Impfung von einem Viertel abgelehnt.

Einschätzungen zu den Corona-Maßnahmen und der Interventionspolitik Gefragt wurde nach den in Bayern ergriffenen, d. h. auch für die Stadt Nürnberg geltenden Maßnahmen. Die zum Schutz der individuellen Gesundheit in Bayern ergriffenen Maßnahmen, wie z. B. Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht, halten drei Viertel der Befragten für genau richtig (Abb. 13). Als zu weitreichend werden Maßnahmen zum individuellen Gesundheitsschutz von jungen Leuten ab 18 bis unter 35 Jahren (18 %) wahrgenommen. Auch Befragten mit Kindern im Haushalt waren sie häufiger zu viel (Alleinerziehende 24 %, Paarfamilien 18 %). Hier kann vermutet werden, dass insbe-

Abbildung 13: Bewertung der Maßnahmen, die zur Pandemiebekämpfung in Bayern ergriffen wurden (in % der Befragten) Schutz der individuellen Gesundheit

10

Schließung von Kitas und Schulen

6

Einschränkung des gesellschaftl. Lebens

6

Verminderung der wirtschaftlichen Schäden Kommunikation mit der Bevölkerung in % 0

zu wenig

40

75

13

47

26

22

59

28

23

43

27 20

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

40 zu viele

6

14

20

55

genau richtig

3

7 60

weiß nicht

80

11 100

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat


Schwerpunkt Corona

Unter Befragten mit Migrationshintergrund und in Haushalten mit Kindern ist der Anteil derjenigen, die sich noch unsicher sind, am höchsten (29 %). Uneingeschränktes Vertrauen in das staatliche System in Deutschland hat die Mehrheit der befragten Nürnbergerinnen und Nürnberger, ein weiteres Drittel vertraut teilweise den deutschen Institutionen. Ältere Befragte ab 65 Jahren sowie Personen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut einschätzen bzw. eine Verbesserung im kommenden Jahr erwarten, bringen dem staatlichen System deutlich mehr Vertrauen entgegen als wirtschaftlich schlechter Gestellte. In Bezug auf die öffentliche Berichterstattung sind die Werte etwas schlechter. Der Frage, ob Eltern zusätzliche Möglichkeiten der Freistellung mit finanziellem Ausgleich erhalten sollten, stimmen 43 % voll und ein Viertel teilweise zu. Es ist nicht erstaunlich, dass eine zusätzliche Unterstützung für Eltern bei zwei Drittel aller Haushalte mit Kindern Zuspruch findet. Die staatlichen Maßnahmen sieht die Hälfte von den unterschiedlichsten Verantwortlichen teilweise gut umgesetzt. Weitere 41 % bescheinigen den verantwortlichen Arbeitge-

bern, Restaurants, Supermärkten etc. eine gute Umsetzung der Hygienemaßnahmen. Die Corona-Pandemie hat bestehende gesellschaftliche Problemfelder offengelegt bzw. verschärft. So wurden z. B. schlechte Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen und anderen als „systemrelevant“ erkannten Branchen sowie der Rückstand im Bereich Digitalisierung im Zusammenhang mit Homeoffice und Homeschooling sichtbar gemacht. Andere Politikfelder, wie Umwelt und Klima, waren bereits vor der Pandemie Gegenstand aktueller Diskussionen. Der Wunsch nach einem verantwortungsvolleren Konsumverhalten wäre eine gesellschaftliche Entwicklung, die mit 79 % den höchsten Zustimmungsanteil erreicht (Abb. 15). Frauen sehen das noch etwas häufiger so als Männer. Fast ebenso hoch ist der Wunsch nach mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft. Bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung für systemrelevante Berufe werden ebenfalls von drei Vierteln der Befragten insgesamt gewünscht. Besonders dringlich ist auch der Wunsch nach grundsätzlichen Verbesserungen im Bereich Schule und Bildung – wie zu erwarten noch stärker bei Familien mit Kindern (ca. 90 %).

Abbildung 14: Zustimmung zu verschiedenen Aussagen bezüglich der Akzeptanz von Maßnahmen (in % der Befragten) (in % der Befragten)

93

Ich halte mich an die weiterhin geltenden Verhaltensregeln

54

Ich habe Vertrauen in das staatliche System in Deutschland Wenn es einen Impfstoff gibt, werde ich mich impfen lassen

45

Ich habe Vertrauen in die öffentliche Berichterstattung

43

für Eltern zusätzl. Möglichkeiten der Freistellung mit finanz. Ausgleich

43

in % 0

nein

13

8 2

20

23

41

13

26

11

5

3

20

48

29

Die Corona-Warn-App nutze ich

teils/ teils

36

41

die staatl. Maßnahmen wurden von allen Verantwortlichen gut umgesetzt

ja

6 1

6

5

66

20

40

60

80

100

weiß nicht, kann ich nicht beurteilen

Abbildung 15: Wünsche nach gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen (in % der Befragten)

73

grundsätzliche Verbesserungen im Bereich Schule und Bildung

72

in % 0

ja

teils/ teils

20 nein

weiß nicht

7

36 40

60

7

9

30

53

mehr Beteiligung der Bürger bei politischen Entscheidungen

6 3 7

24

57

mehr Zeit für Familie und Freunde

9

3

24

61

schnellere Fortschritte bei Digitalisierung und Netzausbau

3 5

19 16

67

mehr Umweltschutz und Maßnahmen zum Erreichen der Klimaziele

23

18

77

mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft bessere Arbeitsbedingungen/ Entlohnung für "systemrelevante" Berufe

23

16

79

verantwortungsvolleres Konsumverhalten

80

5 4 100

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die CoronaPandemie unser Leben verändert hat

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

41


Schwerpunkt Corona

denke

kultur

gesellschaft

gut unterstü�ung umse�ung

öffentlichen

kindern

kontrolliert

situation kinderabstand halten meinung bezug

finanzielle

einschränkungen

richtig

thema

digitalisierung

maske

lockdown

leben

maskenpflicht

eltern anfang

folgen

kitas

fehlt

gerade

bayern

große kontrolle

insbesondere

krise

schulen

finde

strafen

covid

kontrollen

zeit

leute

stadt

halte

bereich

medien

wirtschaft

bürger

bessere

regeln

menschen

schule

maßnahmen corona

berichtersta�ung

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

personen

pandemie kommunikation

42

bevölkerung

gesundheit

masken

Auf ein offenes Wort: Ergänzungen und Anregungen der Befragten Um einen Einblick in weitere Themen und Probleme zu erlangen, die für die Befragten im Kontext der Pandemie von Bedeutung sind, wurde eine offene Frage gestellt. Dort wurden die Befragten aufgefordert, Aspekte zum Thema zu nennen, die ihnen besonders wichtig sind. Um die textlichen Ausführungen der Befragten quantitativ auswertbar zu machen, wurde anhand einer fortschreitenden Analyse der Antworten aus der offenen Frage aller eingegangenen Fragebögen (online und schriftlich) ein Kodierschema entwickelt, das die Aussagen bestmöglich abstrahiert und den Kern der Aussage widerspiegelt.2 Die 492 Antworten der offenen Frage aus den online eingegangenen Fragebögen liegen zudem als digitaler Text vor. Dies ermöglicht einen Überblick über das Themenspektrum mit Hilfe einer statistischen Auswertung der abgegebenen Kommentare und aller darin vorkommenden Wörter (Lexikometrie). Abbildung 16 zeigt eine so genannte Schlagwortwolke (Word-Cloud) der 55 am häufigsten genannten Wörter, bei der die Größe der Wörter mit ihrer Häufigkeit einhergeht.3 Zunächst ein Blick auf die Eintragungen in das Freitextfeld der online ausgefüllten Fragebögen: Als häufigster Begriff aus dem knapp 21 000 Wörtern großen Textkorpus sticht eindeutig „Maßnahmen“ (103) hervor, gefolgt von „Corona“ (101) und „Pandemie“ (73). Die Begriffsfamilie „Maske/n“ und „Maskenpflicht“ wird zusammen 95 Mal erwähnt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es sich bei vielen der Bemerkungen um kritische Meinungen und Einschätzungen rund um die getroffenen Eindämmungsmaßnahmen handelt. Auch der Begriff „Corona“ wird in diesem Zusammenhang häufig im Sinne der Gesamtsituation oder im Kontext von Maßnahmen oder ihren Effekten erwähnt, zum Teil aber auch in konkretem Bezug auf das Virus. Begriffe und Wortstämme wie „Gesundheit*“ (39) oder „Angst“ (12), „risik*“ (24) oder „Infek*“ (12) und „krank“ (2), die auf die Diskussion persönlicher Gesundheitsrisiken hindeuten könnten, treten rein quantitativ betrachtet eher zurück.4 Die häufig genannten Wortstämme wie „Kind*“ (70), „Schul*“ (88), „Lehr*“ (32) und „Eltern“ (18) sind weitere Indizien für die besondere Auswirkung der Situation auf Haushalte mit (schulpflichtigen) Kindern. Die Häufigkeit der Begriffe „Menschen“ (49), „Gesellschaft“ (30) und „Personen“ (24) kann ein Hinweis darauf sein, dass die Perspektive auf die Gesamtgesellschaft oder das Verhalten anderer Menschen von besonderer Bedeutung ist.

Abbildung 16: Die am häufigsten von den Befragten genannten Begriffe im Freitextfeld (nur Online-Fragebögen)

politik

Für mehr Umweltschutz und Anstrengungen zum Erreichen der Klimaziele sprechen sich zwei Drittel aus und für einen schnelleren Netzausbau plädieren 61 %. Umweltschutz und Klimaziele sind besonders wichtige Themen für junge Leute unter 35 Jahren (75 %). Schnellere Fortschritte bei Digitalisierung und Netzausbau befürworten Männer (69 %) zu einem höheren Anteil als Frauen (56 %). Das Thema ist für die jüngere Generation unter 35 Jahren wichtiger (66 %) als für den Durchschnitt. Auch für mehr Zeit für das persönliche Umfeld und für mehr Bürgerbeteiligung finden sich knappe Mehrheiten, doch die Anteile derjenigen, die das nur teilweise befürworten, sind mit etwa einem Drittel sehr hoch.

deutschlandfragen lehrer

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat

Dieser grobe Überblick aus der Schlagwortwolke bezieht sich ausschließlich auf die online ausgefüllten Fragebögen. Um den Blick auf die gesamten abgegebenen Kommentare der offenen Frage zu erweitern, werden im Folgenden die vergebenen Themen-Codes aus allen 4 275 eingegangenen Fragebögen analysiert. Den quantitativen Auswertungen der Codes sei allerdings vorangestellt, dass eine deskriptive Analyse nur bedingt Aussagen darüber treffen lässt, wie sich die in der offenen Frage geäußerte Einstellung oder thematische Priorität tatsächlich in der Grundgesamtheit verteilt, hauptsächlich deshalb, weil die Angabe freiwillig war. Einen Überblick über das Themenspektrum der Antworten aus der offenen Frage gibt Abbildung 17. Am häufigsten wurden Aussagen im Themenspektrum „Bessere politische Prioritätensetzung“ getroffen, die auf einen umsichtigeren, sensibleren Einsatz von Eindämmungsmaßnahmen oder Unterstützungsleistungen bzw. auf eine veränderte Prioritätensetzung abzielten (555). Das Spektrum der Aussagen und Wünsche ist sehr breit und spricht Themen der Sozialpolitik, der Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit an. Insbesondere traten Aussagen hervor, die eine bessere Gleichbehandlung bei Wirtschaftshilfen oder Einschränkungen fordern (60). Oft äußerten die Befragten hier konkrete Beispiele, wie die Vergabe von umfassenden Wirtschaftshilfen an Lufthansa bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Privatpersonen oder kleineren Unternehmen. Weiter finden sich eine Vielzahl von Aussagen, die von der Politik eine stärkere Berücksichtigung bestimmter Gesellschaftsbereiche oder besonders vulnerabler oder benachteiligter Gruppen einfordern. Insgesamt wurden 374 derartige Aussagen getroffen. Die als besonders zu berücksichtigend genannten Gruppen sind vor allem Ärmere und Arbeitslose (47), Kinder und Jugendliche (49), Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende (45). Eine 50–64-jährige Person schreibt beispielsweise: „Es muss aktuell viel mehr für die Kulturbranche getan werden (mindestens so viel wie für die Fußball-Lobby)“. Auch die besondere Belastung von Familien und Alleinerziehenden (30) sowie Seniorinnen und Senioren


Schwerpunkt Corona

Abbildung 17: Häufigkeiten der Themen im Freitextfeld (N = 2 088) Bessere politische Prioritätensetzung Einschätzungen zum Krisenmanagement Strengere Maßnahmen/Kontrolle Kritik an Mitmenschen Persönliche Sorgen/Ängste/Strategien Krise als Chance nutzen Kritik an Maßnahmen Sonstiges Forderungen an Medien und Wissenschaft 0

100

200

(27) liegt vielen am Herzen, ebenso wie die Forderung nach einer besseren Berücksichtigung des Gesundheitssystems und der (Kranken-)Pflegekräfte (50). Eine weibliche Person (ab 65) drückt dies energisch aus: „Mehr in Bildung und Schulen investieren!! Pflegekräfte (ob in Krankenhaus oder Pflegeheim) von Bürokratie entlasten, damit mehr Zeit für die Arbeit am Patienten ist. Keine zu voreilige [sic!] Entscheidungen treffen – in allen Bereichen“. Auch Kleinunternehmen/Soloselbstständige (35) und Hotel- und Gastronomiegewerbe (26) wurden häufig erwähnt. Weiter gab es häufiger den Wunsch nach einer stärkeren Berücksichtigung des menschlichen Bedürfnisses nach sozialen Kontakten (13) sowie die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung bei der Maßnahmengestaltung (19). Ein weiteres für die Nürnbergerinnen und Nürnberger sehr wichtiges Themenfeld beinhaltet (meist kritische) Einschätzungen zum Krisenmanagement (343). Am häufigsten wurde hier die als mangelhaft, verspätet oder widersprüchlich empfundene Krisenkommunikation angesprochen, wobei z. T. auch auf eine fehlende Transparenz der Entscheidungen aufmerksam gemacht wird (105). Oftmals vermischen sich verschiedene Kritikpunkte, wie folgendes Beispiel der Aussage einer männlichen Person zwischen 35 und 49 zeigt: „Sportliche Einrichtungen wurden viel zu restriktiv geschlossen. Es wurde nicht auf sonstige Probleme wie Psyche, Fitness usw. geachtet bei Festlegung der Einschränkungen. Die Wortwahl der Politik ist anmaßend bis überheblich: »Zügel anziehen«, »covidioten« usw. Es wird mit zweierlei Maß gemessen: Sommertage5 mitten in der Stadt, aber keine Sportveranstaltungen mit Zuschauern. Keine klare Kommunikation: welcher Wert steuert welche Entscheidung? R-Wert, Auslastung Kliniken, Todesfälle?“ Weiter empfand eine Vielzahl der Befragten die Koordination und Abstimmung zwischen verschiedenen politischen Ebenen als mangelhaft, oft mit Bezug auf die daraus resultierende Regel- und Strategienvielfalt (54). Ähnlich ließen sich auch Irritationen durch eine nicht eindeutige Faktenlage der Wissenschaft (12) einordnen. Neben harschen Vorwürfen wie z. B., dass die Maßnahmenpolitik zu weit von der Lebensrealität entfernt sei (22) oder vereinzelten Vorwürfen der Desinformation (8), gab es aber auch vielfach explizites Lob für

300

400

500

600

Quelle: Bürgerumfrage Leben in Nürnberg 2020 – Wie die CoronaPandemie unser Leben verändert hat

das deutsche bzw. bayerische Pandemie-Krisenmanagement (39). Eine weibliche Person zwischen 35 und 49 meint hierzu: „Grundsätzlich wäre eine bessere Abstimmung unter den Bundesländern wünschenswert. Innerhalb Bayerns/Nürnbergs wurde meiner Ansicht nach gut und umsichtig gehandelt.“ Beinahe ebenso häufig äußerten sich die Nürnbergerinnen und Nürnberger zum Themengebiet „Strengere Maßnahmen/ bessere Kontrolle“ (341). Dieses Feld fasst Themen zusammen, in denen es um Maßnahmen, Kontrolle, Sanktionierung und Verschärfung der Eindämmungsmaßnahmen geht. Sehr häufig fanden sich Aussagen, die eine strengere Kontrolle der AHA-Regeln fordern (179). Dazu zählen z. B. auch Forderungen, die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln oder den Abstand im Einzelhandel besser (polizeilich) zu kontrollieren. Eng verwandt damit ist die konkrete Forderung nach härteren Strafen bei Verstößen gegen die AHA-Regeln (76) und der Wunsch nach einer Verschärfung der Regeln (38). Die Forderungen nach verschärften Strafen werden teilweise durch beobachtetes Fehlverhalten oder Beispiele untermauert. Exemplarisch ist hierfür die Aussage einer weiblichen Person zwischen 18 und 34: „Ich finde, dass es höhere Strafen für Maskenverweigerer und Missachtung von staatlichen Vorgaben geben sollte und Restaurants/Imbisse sich mehr an die Vorgaben halten. Teilweise wurden Personen bedient, die keine Maske getragen haben, teilweise wurde die Maske vom Personal nicht korrekt getragen. Das geht nicht!“. Das negative Bild von einer bestimmten Gruppe von „verantwortungslosen“ bzw. „rücksichtslosen“ Personen, insbesondere mit Blick auf die „Corona-Gegner“ aber auch auf sonstige Mitmenschen scheint dabei verbreitet zu sein: „Ich als immunkranker Mensch muss mich jeden Tag über meine rücksichtslosen Mitmenschen ärgern. Ganz viele Menschen tragen beim Einkauf die Masken nicht über der Nase und halten keinen Abstand mehr ein. Das Supermarktpersonal kümmert sich nicht um die Einhaltung, spricht man die Personen selbst an, wird man angefahren und beleidigt“. Während die Forderungen nach mehr Kontrolle und Strafe meist sehr eng gefasst formuliert sind und auf eine Kontrolle „von oben“ abzielen, richten sich Aussagen im Themenfeld „Kritik/Forderungen an Mitmenschen“ an das Verhalten bzw.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

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Schwerpunkt Corona

das Verantwortungsbewusstsein der Mitmenschen (101). Eine Bürgerin im Alter zwischen 35 und 49 Jahren meint hierzu: „Ich vermisse bei etlichen Mitbürgern Disziplin, Solidarität und vor allem eigenes Verantwortungsbewusstsein. Waren es zunächst die »Alten«, die sich weniger an die Regeln gehalten haben, sind es jetzt die Jungen. Die Politik sollte unseren jungen Mitbürgern klarmachen, dass SIE es sind, welche die finanziellen Folgen von Corona über Jahrzehnte tragen werden“. Viele der Befragten äußerten darüber hinaus beispielsweise den Wunsch, dass sich Menschen angesichts des Infektionsrisikos vernünftiger verhalten (51) und z. B. auf gefährliche Aktivitäten (etwa Feiern) verzichten. Generell zeigte sich neben dem Wunsch nach mehr Solidarität in der Gesellschaft (10) auch ein gewisses Misstrauen, welches sich durch Aussagen zu mutmaßlichen (wirtschaftlichen) Vorteilsnehmende der Pandemie äußerte (28). Ein weiteres großes Themenfeld bilden Aussagen über persönliche Ängste, Sorgen und Bewältigungsstrategien (170). Meist äußerten sich die Befragten hierbei zu ihrer Angst vor einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung (siehe „Sorgen“) oder vor potentiell antidemokratischen Kräften, welche aus ihrer Sicht durch die Pandemie-Situation befeuert werden könnten (22). Eine Bürgerin im Alter zwischen 50 und 64 formuliert es so: „Corona spaltet in hohem Maße die Gesellschaft. Der Dialog mit Kritikern sollte mehr gesucht werden. Dadurch dass sie als »Böse« abgestempelt werden, agieren sie immer verbissener. Das tut der Gesellschaft nicht gut.“ Viele berichteten darüber hinaus von den vielfältigen negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf ihr alltägliches Leben. So wird die Situation beispielsweise oft als Zerreißprobe für die Familie mit gesteigerten Abhängigkeiten beschrieben (21). So sorgt sich eine junge Frau über mögliche Schließungen: „Die schlimmste wärs die Kita und Spielplatz Schließung. Für uns als junge Familie könnten wir das organisieren, dass wir beide arbeitet etwas und dann auf das Kind (2 Jahre alt) passt, aber ein Arbeitsplatz Schutz oder Freistellung mit einem Lohn wäre besser. Vollzeit zu Hause zu Arbeiten und auf ein Kind gleichzeitig aufzupassen ist einfach oft nicht möglich. [sic].“ Auch Stress, Frustration und Ängste vor Jobverlust (17) oder generelle Zukunftsängste (18) spielen eine wichtige Rolle. Neben all den kritischen Stimmen brachten einige der Befragten aber auch ihren Optimismus zum Ausdruck, indem sie die „Krise als Chance“ sehen und nutzbar machen möchten (148). Ganz oben steht hier der Wunsch und die Hoffnung, dass die Corona-Pandemie als Chance für den Klima- und Umweltschutz sowie das Vorantreiben des Mobilitätswandels genutzt wird (66). Auch im Bildungssystem (45) und in der Arbeitswelt (12) sehen die Befragten Verbesserungspotential und Lerneffekte, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Ausbau der Digitalisierung, oft im Kontext von Homeschooling/-office. Wie oben schon deutlich wurde, spielte das Themenfeld der Maßnahmen eine zentrale Rolle bei der offenen Frage. Im Feld „Kritik an Maßnahmen“ (139) bewegten das Auswertungsteam vor allem die teilweise sehr ausführlich geschilderten Problematiken des Besuchsverbots in Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern (36). Die Schilderungen gingen hier bis hin zu persönlichen Berichten und Klagen über die verunmöglichte Sterbebegleitung von engsten Angehörigen. Aber auch knappe Aussagen wie „Krankenhausbesuche des

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Ehemanns bei Fehlgeburt zulassen. Das war unmöglich!!!“ lassen die Dramatik der Situationen erahnen und die Texte zeigen auch noch einmal, dass eine rein quantitative Betrachtung der Aussagen nur wenig über die Tiefe und Schwere der in der Krise gemachten Erfahrungen darlegen kann. Weiter finden sich in dieser Kategorie kritische Aussagen über die AHA-Regeln (27) sowie über die negativen (wirtschaftlichen) Auswirkungen des Lockdowns (19) oder der negativen psychischen und sozialen Effekte des Social Distancing (20). Ein älterer Mann (ab 65 Jahre) bezieht dies beispielsweise auf Pflegeeinrichtungen und kritisiert dabei gleichzeitig die mangelnde Bedeutsamkeit dieses Themas im Fragebogen: „Die Situation der Pflegebedürftigen, ob alt oder jung, wird in der Öffentlichkeit und vor allem von der Exekutive nur unter einem Gesichtspunkt behandelt: Maximale Sicherheit gegen Ansteckung. Die psychischen Folgen der Isolation werden nicht bedacht. Mit schlimmen Folgen. Für mich der zentrale Verlust durch die Pandemie. Typischer[w]eise kommt dieser Sachverhalt auch in diesem Fragebogen gar nicht vor“. Weiter erwähnenswert ist die häufigere Äußerung, dass die Medien „seriöser“ und mit weniger „Panikmache“ über die Pandemie oder das Virus berichten sollen (53). Die Wissenschaft soll zudem eindeutigere Informationen bereitstellen (17). In einigen Fällen wurden in diesem Kontext auch Aussagen getroffen, die die Neutralität der Medien generell in Frage stellen: „Jedem Recht machen ist nicht einfach, jedoch finde ich die Panikmache über die Medien schon krass. Ich hätte gerne eine ehrliche Berichterstattung und nicht die offensichtliche von der Politik gesteuerte.“, schreibt beispielsweise eine Bürgerin eine über 64-jährige Bürgerin. Insgesamt ergibt sich aus dieser ersten Analyse der Antworten aus der offenen Frage der Eindruck, dass viele Personen eine sehr differenzierte und fundierte Kritik zur Situation insgesamt, zu den Maßnahmen im Speziellen und zu den Auswirkungen auf ihre alltägliche Situation abgegeben haben. Erfreulich ist die Tatsache, dass Beiträge mit eindeutigen Bezügen zu Verschwörungstheorien oder misanthropischen oder fremdenfeindlichen Einstellungen in der Minderheit waren (15). Vielmehr möchte ein Großteil der Befragten aktiv und konstruktiv auf die von ihnen erlebten Belastungs- und Problemsituationen, aber auch auf Lösungsmöglichkeiten hinweisen. Es zeichnet sich so ein Bild von einer reflektierten, aber auch stark beanspruchten und teils ungehörten bzw. frustrierten Bürgerschaft Nürnbergs. Fest steht, dass aus Perspektive der Befragten vor allem den (negativen) Effekten der Krisenintervention auf die persönliche bzw. gesamtgesellschaftliche Situation eine große Bedeutung zukommt. Außerdem sind die Risiken und Probleme, die sich aus der Nicht-Beachtung der Regeln ergeben, ein sehr wichtiges Thema. Die individuellen Risiken und Ängste in Bezug auf die Virusinfektion treten dahinter zurück. Dies ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive gut nachvollziehbar, denn die alltäglichen Probleme, die sich aus den Einschränkungen ergeben, wirken sich direkt und unmittelbar auf den Lebensalltag aus und sind somit von höherer Priorität für die Betroffenen als die weitgehend unabsehbaren gesundheitlichen Risiken und Folgen einer Infektion. Nicht zu vernachlässigen ist dabei das umfangreiche praktische Wissen der Betroffenen über die Problematiken, die sich im Umgang mit den individuellen Ri-


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siken (in Bezug auf die Gesundheit und den unbeabsichtigten Effekten der Eindämmungsmaßnahmen) ergeben, sowie über Möglichkeiten, diese Risiken abzuwenden. Um dieses Wissen in die Strategien der Pandemiebekämpfung zu integrieren, eignen sich partizipative Ansätze. Hier werden Betroffene bei der Konzeption der Maßnahmen beteiligt. Dies können neben relevanten Entscheidenden betroffener Institutionen (z. B. Krankenhäuser, Schulen, Jugendzentren etc.) auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen (z. B. Menschen mit Behinderungen, Alleinerziehende, Alleinlebende, psychisch/körperlich Labile) sein. Auf die Dringlichkeit einer aktiven Bevölkerungsbeteiligung weist auch das Sendai Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge hin, ein zentrales internationales Strategiekonzept der UN (Vereinte Nationen) für eine erfolgreichere Bewältigung von Krisen und zur Vermeidung von Katastrophen (UNDRR 2015: 10).

Fazit Seit nunmehr einem Jahr beschäftigt uns die Corona-Pandemie. Zunächst als Phänomen im fernen Wuhan, dann als erschreckendes Ereignis im nicht mehr ganz so fernen Italien und nun als Teil des Alltags, der zunehmend belastend und beängstigend direkt in unseren Familien, unserem Zuhause und im Freundeskreis wirkt. Ein baldiges Ende ist nicht absehbar. Wie stark die Pandemie und die aus ihr resultierende Krise auf das Leben und den Alltag der Nürnbergerinnen und Nürnberger wirkt, konnte anhand dieser im Herbst 2020 durchgeführten Erhebung wenigstens ansatzweise gezeigt werden. Viele Menschen in der Stadt fühlen sich durch die Pandemie und die daraus resultierenden Maßnahmen stark eingeschränkt, haben Angst um ihren Arbeitsplatz, finanzielle Nöte, sorgen sich um die Gesundheit, vor allem von Angehörigen. Frauen sehen sich oft zusätzlich mit einer erschwerten Vereinbarkeit von Beruf und Familie konfrontiert. All diese und mehr Faktoren, die in dieser Befragung gar nicht erfasst werden konnten, spiegeln sich in einer vor allem emotionalen Belastung wieder, die von vielen Bürgerinnen und Bürgern empfunden wird. Die Nürnbergerinnen und Nürnberger beschäftigt aber auch die Frage, ob der gesellschaftliche Zusammenhalt unter der Corona-Krise leiden wird, und wie sich die allgemeine wirtschaftliche Lage entwickelt. Viele der Befragten äußern sich im

Fragebogen konstruktiv und weisen auf die Belastungen und Probleme hin, die sich durch die Interventionsmaßnahmen ergeben. Nur sehr wenige sind nicht bereit diesen Maßnahmen zu folgen. Zum größten Teil besteht in der Bevölkerung Verständnis dafür, dass die Pandemie wohl nur durch die drastische Reduktion von Kontakten in den Griff bekommen werden kann, auch wenn häufig Ungerechtigkeiten und eine falsche Prioritätensetzung angemahnt werden. Während noch an diesem Bericht gearbeitet wird, erleben Nürnberg und ganz Deutschland erneut einen strengen Lockdown, der dem des Frühjahrs 2020 nicht unähnlich ist. Wie die Bevölkerung dieses erneute Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens verarbeitet, bleibt abzuwarten und kann nur Gegenstand folgender und sogar langfristiger Untersuchungen sein. Während sich wirtschaftliche Folgen der Corona-Krise bereits abzeichnen lassen, sind die (langfristigen) sozialen, gesellschaftlichen und psychischen Folgen dieser ungewöhnlichen Zeit noch gar nicht abzusehen. Die Anzahl der Veröffentlichungen mit Fokus auf diese bisher in der öffentlichen Debatte eher vernachlässigten Themen nimmt jedoch zu. Das in dieser Studie entstandene Bild von besonders betroffenen Gruppen wie den jungen Erwachsenen und Frauen (mit Kindern) scheint sich auch in Studien aus Spanien und Italien zu bestätigen (vgl. Gismero-Gonzáles et al. 2020, Pesce und Sanna 2020). Es ist also sicherlich irreführend von einer „neuen Normalität“ oder „neuem Alltag“ zu sprechen, denn die augenblickliche Situation ist zumindest für bestimmte Gruppen in vielerlei Hinsicht eine erhebliche Belastung. Im Moment scheint jedoch eine Rückkehr zur „Normalität“, wie sie sie für uns alle bis zum Februar 2020 selbstverständlich war, kaum vorstellbar. Durch eine größere Sensibilität der Entscheidenden für die unbeabsichtigten Nebeneffekte der Maßnahmen, oder auch durch eine bessere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei ihrer Gestaltung, kann den Belastungen in der Krisensituation jedoch möglicherweise entgegengewirkt werden.

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Die Chronik der Ereignisse beruht weitgehend auf einer Zusammenfassung des „Corona-Tickers“ des BR Pro Antwort max. zwei Themen-Codes (insgesamt 2 088) Wenig aussagekräftige Wörter (z.B. „und“) wurden gefiltert Wortpaare/stämme mit * markiert („risik*“ für Risiko, Risikogruppen etc.) Die „Nürnberger Sommertage“ waren eine dezentrale Ersatzveranstaltung für das wg. der Pandemie abgesagte Volksfest

Literatur Andresen, Sabine, Lea Heyer, Anna Lips, Tanja Rusack, Wolfgang Schröer, Severine Thomas und Johanna Wilmes (2020): „Die Corona-Pandemie hat mir wertvolle Zeit genommen“ – Jugendalltag 2020. Universitätsverlag Hildesheim. URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:hil2opus4-11660 (14.12.2020). BR (2020): Alle Entwicklungen zur Corona-Krise im Rückblick. URL: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/rueckblick-entwicklung-der-coronakrise,RoxMtok (23.12.2020). Clausen, Lars (1992): Social Differentiation and the Long-Term Origin of Disasters. In: Natural Hazards 6 (2): 181–90.

Douglas, Mary, und Aaron Wildavsky (1983): Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers. 1. Aufl., Univ. of California Press. Gismero-González, Elena, Laura Bermejo-Toro, Virginia Cagigal, Angustias Roldán, María Jesús Martínez-Beltrán, und Lucía Halty (2020) „Emotional Impact of COVID-19 Lockdown Among the Spanish Population“. In: Frontiers in Psychology 11: 616978. doi:10.3389/ fpsyg.2020.616978. Orlowski, Benedikt (2021): Rivalling Disaster Experiences. The Case of the Seismo-Volcanic Crisis of El Hierro, Canary Islands. Transcript.

Pesce, Giancarlo, und Francesca Sanna (2020). “Family, Home, Work and Lifestyle Factors Influenced the Mental Well- Being during the COVID-19 Lockdown in Italy” (Preprint). URL: http://rgdoi.net/10.13140/ RG.2.2.36359.62886 (20.01.2021). Slovic, Paul (1987): Perception of Risk. In: Science 236 (4799): 280–85. doi:10.1126/science.3563507. UNDRR (2015): Sendai Framework for Disaster Risk Reduction 2015–2030. UN: United Nations Office for Disaster Risk Reduction.

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Gerhard Bender, Rolf Wagner, David Burger

COVID-19-Monitoring: Statistik im Spannungsfeld der Akteure Dargestellt am Beispiel der Hansestadt Lübeck Im Zuge der COVID-19-Pandemie sahen sich die Gesundheitsämter neuen Aufgaben gegenüber. Neben der Hauptaufgabe, der Kontaktverfolgung von Infektionsketten und Anordnung häuslicher Quarantäne, waren EDV-technische Fragestellungen zu lösen, wie die Beschaffung einer neuen Fachsoftware mit der Bereitstellung von EDV-technischen Schnittstellen zwischen den beteiligten Laboren, der kassenärztlichen Vereinigung und dem Robert-Koch-Institut (RKI). Bezüglich der Öffentlichkeitsarbeit galt es, den neuen und drängenden Informationsbedarf seitens der Politik, der Öffentlichkeit und den eingerichteten Krisenstäben zu bedienen. In der Hansestadt Lübeck wurde das Gesundheitsamt insbesondere hinsichtlich Datenerfassung und Berichterstattung frühzeitig und umfassend durch die kommunale Statistikstelle unterstützt.

Dr. Gerhard Bender Dipl.-Geograph, von 1991–2017 wiss. Mitarbeiter in der kommunalen Statistikstelle und im Wahlamt der Hansestadt Lübeck, seit 2017 Sozialberichterstattung im Bereich Soziale Sicherung und Gesundheitsberichterstattung im Gesundheitsamt : gerhard.bender@luebeck.de Rolf Wagner B. Sc. Geographie, seit Frühjahr 2020 wiss. Mitarbeiter in der kommunalen Statistikstelle, seit Herbst 2020 im Gesundheitsamt der Hansestadt Lübeck : rolf.wagner@luebeck.de David Burger M. Sc. Geographie, seit 2018 Leitung der kommunalen Statistikstelle : david.burger@luebeck.de Schlüsselwörter: Corona-Monitoring – COVID-19 – Kommunalstatistik – Gesundheitsberichterstattung – Informationsmanagement

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Die Aufgabenstellung „… womit die Zahl der bisher Erkrankten so hoch war wie noch nie.“ Derartige zu Beginn der Pandemie getätigte Aussagen, die zwar nicht falsch aber auch nicht so ganz sinnig waren, zeigten, dass das Volk der potenziellen Bundestrainer trotz der regelmäßig wiederkehrenden winterlichen Grippewellen noch kaum über epidemiologisches Grundwissen verfügte. Dies hat sich inzwischen etwas geändert. Warum hat Deutschland 0:6 gegen Spanien verloren? Weil alle 80 Millionen Bundestrainer derzeit als Virologen tätig sind. Begriffe wie 7-Tage-Inzidenz oder Abkürzungen wie RKI gehören heute zum alltäglichen Sprachgebrauch. Diese launig gehaltenen einführenden Anmerkungen sollen jedoch nicht vernebeln, dass es sich in der COVID-Berichterstattung nicht nur um eine ernste, sondern auch um eine der wichtigsten Aufgaben handelt, die einem in der Statistik beschäftigten Menschen im Laufe des Berufslebens widerfahren kann: Aufklärung und Information. Epidemiologische Grundbegriffe wie Inzidenz, 7-Tage Inzidenz, Reproduktionszahl oder Positivrate galt es zu erklären. Eine Aufgabe, die nicht nur den Virologen, sondern auch der Statistik zufiel und nicht deren einziges Problem bleiben sollte. Für die im virologischen Berichtswesen tätigen Statistikerinnen und Statistiker stellte sich die Frage nach den diversen Datenquellen. Wie und wann wurde was an wen gemeldet? Wie sind die Daten am besten darzustellen: tabellarisch, in Graphiken oder in Karten? Welche Daten sind wichtig, welche Kennziffern (s.o.) gibt es und wie häufig und wie ausführlich soll berichtet werden? Welche räumlichen Vergleichsebenen bieten sich an und welche zeitlichen Vergleiche sind sinnvoll? Wer gibt die Daten schließlich frei und ist der Datenschutz ausreichend berücksichtigt? Und als zentrale Fragestellung: Wie können wir als Statistiker*innen das jeden Tag um neue Daten anwachsende epidemiologische Verwaltungsregister nutzen, dessen Satzaufbau gerade in der Anfangsphase einem fast täglichen Wandel unterlag? Welche Softwarelösungen gibt es, sind diese für die aktuelle Aufgabenstellung nutzbar oder gibt es bereits speziell auf COVID-19 hin entwickelte Module am Markt? Wer sind die Anbieter und wie weit sind diesbezüglich andere Städte oder Landkreise? Nachdem die ersten Daten ermittelt, analysiert, verglichen und veröffentlicht wurden, blieb es in der Hektik der Ereignisse


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nicht aus, dass zum Teil widersprüchliche Daten, die aus der Verwendung unterschiedlicher Datenquellen resultierten, publiziert wurden, was dem Vertrauen in die Validität der Daten nicht förderlich war. Daneben sorgten Übermittlungsverzögerungen dafür, dass Stadt und RKI zum Teil abweichende Daten veröffentlichten – ein Problem, das nicht nur allein in der Hansestadt Lübeck zu beobachten war. Auch hier waren die Statistikerinnen und Statistiker mit den notwendigen Erklärungen gefordert.

Von der Entdeckung des Virus in China zum ersten statistischen Lagebericht – eine kurze Chronologie der Ereignisse Im Dezember 2019 registrierten die chinesischen Gesundheitsbehörden erste Infektionen mit einer unbekannten Lungenkrankheit. Am 9. Januar 2020 wird der SARS-CoV-2-Erreger identifiziert, der die Krankheit COVID-19 verursacht. Am 22. Januar riegeln die chinesischen Behörden die Großstadt Wuhan ab und zwei Tage später wird das Virus erstmals in Frankreich nachgewiesen. Am 27. Januar bestätigt das bayerische Gesundheitsministerium den ersten Fall in Deutschland. Am Freitagmorgen des 13. März 2020 werden die Gesundheitsämter in Schleswig-Holstein schließlich in den Krisenmodus versetzt. Zur Koordinierung der städtischen Ressourcen erfolgt ein Aufruf innerhalb der Verwaltung hinsichtlich möglicher personeller Unterstützung. Die kommunale Statistikstelle der Hansestadt Lübeck bietet ihre Mithilfe an und bezieht kurz darauf Räume des Gesundheitsamtes. Aufgrund des hohen Informationsbedarfes etabliert sich innerhalb kürzester Zeit eine enge Zusammenarbeit mit dem kommunalen Krisenstab. Bereits am 19. März 2020 erscheint ein erster zweiseitiger Lagebericht der kommunalen Statistikstelle, der sich fortan nahezu täglich den sich ändernden Anforderungen und entwickelnden Informationsbedarfen anpassen sollte. Schon bald umfasste der Bericht mehrere Seiten, die es täglich zu aktualisieren galt. Personell bestand die sogenannte Task-Force Statistik zu diesem Zeitpunkt aus drei Personen, wobei zwei aus der Statistikstelle kamen, was zur Folge hatte,

dass die dortigen laufenden Arbeiten zunächst einmal ruhten. Ergänzt wurde das Team um eine externe ehrenamtliche Initiativbewerberin. Weitere Zuarbeit erfolgte personell – aus Zeitgründen jedoch nur punktuell – vom Gesundheitsamt seitens der Gesundheitsberichterstattung. Inhaltlich umfasste der tägliche Lagebericht vier Themenbereiche: 1. Das lokale Infektionsgeschehen, 2. die kommunalen bzw. regionalen Bettenkapazitäten, 3. Vergleichszahlen für übergeordnete Raumebenen (Land, Bund, ausgewählte europäische Länder mit hohen Infektionszahlen), 4. kleinräumige kartographische Darstellungen auf Basis des Wohnortes. Die für die Verfolgung von Infektionsketten wichtigen Informationen, wie z. B. Ausbrüche in Gemeinschaftseinrichtungen, waren im statistischen Sinne kein Thema, was auch dem Datenschutz geschuldet war. Zu 1: Das kommunale Infektionsgeschehen In Anlehnung an die Darstelllungen des Covid-Monitorings des RKI wurden diverse Elemente übernommen. Die aktuellen Zahlen sollten auf einen Blick sofort erkennbar sein und wurden mit farbigen Elementen herausgehoben. Laborbestätigte Fälle, aktiv Erkrankte, Genesene und Verstorbene wurden kumulativ und in der Veränderung zum Vortage dargestellt. Die Zahl der Kontaktpersonen und der infizierten Kontaktpersonen ist ebenfalls hervorgehoben. Die Zahl der Neu-Erkrankten und die der Aktiv-Erkrankten ist als Zeitreihe enthalten. Um wochenendbedingte Schwankungen auszugleichen, wurde die Zahl der Neu-Erkrankten zusätzlich nach Kalenderwochen erfasst, eine Zeitspanne, die für rückblickende epidemiologische Berichte, wo nicht so sehr die Tagesaktualität zählt, durchaus üblich ist. Daneben durfte natürlich die Entwicklung der 7-TageInzidenz nicht fehlen. Schließlich sind auch demographische Auswertungen, wie z. B. nach Geschlecht und Altersgruppen der Erkrankten wie der Verstorbenen aus der verwaltungsinternen Datenbank des Gesundheitsamtes enthalten.

Abbildung 1: Zeitreihen für die neu sowie die aktiv an Covid-19 Erkrankten in der Hansestadt Lübeck, 29. Februar bis 2 Dezember 2020

Quelle: Hansestadt Lübeck, Gesundheitsamt

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Mit dem Fokus auf die aktuellen Fallzahlen hat sich in der allgemeinen Berichterstattung in Deutschland eine Darstellung über einen Zeitraum von ca. zwei Wochen etabliert, die den täglichen Vergleich der Fallzahlen mit den Werten der vorangegangenen Woche erlaubt. Auch diese Darstellungsweise soll demnächst übernommen werden.

Zu 3: Räumliche Vergleiche und Zeitreihen Die ersten Lageberichte enthielten die Entwicklungen der Fallzahlen für verschiedene Raumebenen: Stadt-Land-BundEuropa-Welt. Eine wichtige Datenquelle waren hier die Lageberichte des RKI und für den internationalen Blickwinkel die Daten der Johns-Hopkins-Universität.

Zu 2. Bettenkapazitäten Am 26.03. wurden erstmalig Daten der Krankenhäuser zu den Betten- und Beatmungskapazitäten aufgenommen. Nach der Erfassung der örtlichen Krankenhäuser (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und die Sana-Klinik), kamen bald auch die Daten der regionalen Klinik-Kapazitäten im südöstlichen Schleswig-Holstein hinzu (Cluster Süd-Ost).

Der Blick auf die betroffenen Nachbarländer wurde im weiteren Verlauf der Berichterstattung jedoch zurückgefahren, da diese Daten auch anderweitig publiziert werden und es nicht Aufgabe einer kommunalen Statistikstelle sein kann, neben der kommunalen Berichterstattung auch noch umfangreiche Darstellungen oder Analysen zu europäischen oder gar globalen Entwicklungen zu leisten. Hier sind Verlinkungen auf die entsprechenden Internetseiten vollkommen ausreichend.

Die ausführlichen Daten zu den Krankenhäusern können nach einer Registrierung über das Serviceportal des Landes abgerufen werden. Bundesweit werden die Daten im DIVIIntensivregister gemeldet, welches Daten aus rd. 1.300 AkutKrankenhäuser enthält. Seit dem 16.04.2020 ist die Meldung für alle intensivbettenführenden Krankenhausstandorte verpflichtend. Über die Kartenansicht lassen sich die Basisdaten zur Bettenbelegung bis auf Kreisebene ermitteln. Hinsichtlich der Beatmungsplätze ist der Begriff ECMO relevant. Bei der extrakorporalen Membran-Oxygenierung (ECMO) wird das venöse Blut außerhalb des Körpers in einer Maschine mit Sauerstoff angereichert und dann ins arterielle Blutgefäßsystem zurückgeleitet. Das Verfahren funktioniert also wie eine externe Lunge. Bei der herkömmlichen künstlichen Beatmung wird die Luft dagegen in die Lungen gepumpt.

Zu 4: Kleinräumige kartographische Darstellungen Die thematischen Karten zur weltweiten Verteilung der Corona-Fälle und die interaktiven Karten zu den Fallzahlen bzw. zur Inzidenz auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte sind bekannt und haben sich etabliert. Wie jedoch stellt sich die Situation kleinräumig bzw. unterhalb der Ebene des Stadtgebietes dar? Die in den örtlichen Gesundheitsämtern ermittelten Daten zur Nachverfolgung von Infektionsketten und zur Anordnung von Quarantänemaßnahmen erlauben in Abhängigkeit von den erfassten Merkmalen zahlreiche Auswertungsmöglichkeiten. Dieser Datenbestand ist datenschutzrechtlich jedoch hochsensibel. Die Daten wurden daher innerhalb des Gesundheitsamtes auf einige wenige Merkmale (kumulierte Fälle, aktive Fälle und als Hilfsmerkmal die Adresse des Wohnortes)

Abbildung 2: Beatmungsplätze im südöstlichen Schleswig-Holstein (Cluster Süd-Ost)

Quelle: Hansestadt Lübeck, Gesundheitsamt, nach Angaben des DIVI-Registers

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reduziert. Über eine Referenztabelle aus dem Raumbezugssystem der Stadt wurden die Daten auf Ebene der Statistischen Bezirke der Stadt aggregiert (n = 173 bei insgesamt rd. 220.000 Einwohnern). Das Hilfsmerkmal Adresse kann nun bereits gelöscht werden, womit die Daten (auch bei Vorkommen von Einzelfällen) anonymisiert sind. Spätestens jetzt, wenn nicht auch schon vorher, könnte eine weitere kartographische Aufbereitung oder auch weitere räumliche Aggregation der Da-

ten zu größeren Gebietseinheiten durch eine abgeschottete kommunale Statistikstelle erfolgen. Über die Filterung von Datumsfeldern in der aktiven Datenbank oder aus den Sicherungskopien der Datenbank ließen sich rückwirkend zeitliche Abläufe abbilden. Der berufsethischen Vorgabe der Kommunalstatistik, keine Werte unterhalb von drei zu veröffentlichen, kann durch eine entsprechende Gruppierung in der untersten Klassifikation entsprochen werden.

Abbildung 3: Kleinräumige Verteilung von Covid-19-Fällen im Stadtgebiet nach dem Wohnort

Quelle: Hansestadt Lübeck, Gesundheitsamt

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Ergebnisse Bereits die ersten kartographischen Darstellungen zu Beginn der Pandemie mit geringen Fallzahlen zeigten auf, dass sowohl die üblichen täglichen Bewegungsmuster (Wohnen-ArbeitenEinkaufen-Freizeit) als auch Reisen innerhalb kürzester Zeit für eine weitgehende Verteilung der Covid-19-Fälle im gesamten Stadtgebiet sorgten. Im zeitlichen Verlauf zeigten sich wiederholt diverse räumliche Konzentrationen in den Stadtteilen. Deren Interpretation ist jedoch vorsichtig anzugehen und kann nur im Zusammenhang mit dem ursprünglichen, alle erfassten Merkmale enthaltenden Datenbestand erfolgen. Durch die Beschränkung auf den Wohnort der Personen sind z. B. arbeitsplatzbezogene Infektionsketten nicht zu erkennen. Dies war jedoch nie Zweck der Darstellung, sollte diese doch zunächst nur ein Bild über die kleinräumige Verteilung der Infektionen im Stadtgebiet liefern – nicht mehr und nicht weniger. Was darüber hinaus möglich sein kann, z.B. durch das Hinzufügen soziodemographischer Aggregatdaten, wäre zu prüfen. Im konkreten Fall wären hierfür jedoch größere Fallzahlen notwendig. Über die weitere räumliche Aggregation der Daten zu größeren Gebietseinheiten ließen sich derartige Darstellungen jedoch – vorbehaltlich der noch folgenden Ausführungen – ggfs. auch publizieren bzw. weitergeben, was im Falle einer adressgenauen Geokodierung nicht möglich wäre.

Der Datenschutz und die Gefahren der Fehlinterpretation Es ist zu beachten, dass sich die Fallzahlen in den erzeugten thematischen Karten auf bestätigte Covid-19-Erkrankungen beziehen. Gehen die Fallzahlen nun zurück bzw. in einigen Gebietseinheiten sogar auf „Null“, wächst bei einer Veröffentlichung der Daten die Gefahr einer massiven Fehlinterpretation in der Bevölkerung. Vor dem Hintergrund, dass das Virus unsichtbar und unerkannt im Umlauf ist, weist das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein die Verwaltungen des Landes zu Recht darauf hin, „dass eine Veröffentlichung der genauen Zahlen […] kontraindiziert wirken könnte. Bürgerinnen und Bürger, die für den eigenen Wohnort die Fallzahl „Null“ lesen, könnten sich in falscher Sicherheit wiegen und aufhören, die bestehenden Regeln und Empfehlungen einzuhalten. […] Vor dem Hintergrund, dass das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz (ULD) gerade in diesem Zusammenhang selbst bei Forschungsvorhaben mit anonymisierten Patientendaten bei einer postleitzahlenmäßigen Zuordnung sehr strikt agiert“, wird hier eine stringente Beachtung des Datenschutzes und ein Unterlassen der Aufschlüsselung nach Wohnorten eingefordert. Der Begriff „Wohnort“ bedarf hier jedoch einer Explikation, insbesondere da sich die kartographischen Darstellungen diverser Institute bzw. Bundes- und Landesbehörden bis zur Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte auch als Grundlage beschränkender Maßnahmen als unverzichtbare Informationsgrundlage etabliert haben. Zumindest hinsichtlich der kreisfreien Städte sind die Darstellungen durchaus als wohnortbezogen zu bezeichnen, denn im Allgemeinen be-

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zeichnet der Wohnort die politische Gemeinde, in der eine natürliche Person ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Trotzdem hat sich die Hansestadt Lübeck im Dezember 2020 nach Absprache mit dem kommunalen Datenschutz dazu entschieden, die aufsummierten Fallzahlen nach Stadtteilen zu veröffentlichen, da seitens der Öffentlichkeit und der Politik Informationsbedarf nach kleinräumigen Darstellungen formuliert worden war, was seitens der Verwaltung jedoch lange abgelehnt worden war. Die Darstellung nach Stadtteilen erlaubt weder Rückschlüsse auf einzelne Personen noch auf einzelne Standorte. Entsprechende Erläuterungen warnen auch vor den Gefahren der Fehlinterpretation in Anbetracht einer hohen Dunkelziffer. Statistische Informationen, die unter Berücksichtigung des Datenschutzes publiziert werden, können jedoch weiteren Informationsbedarf bzw. Fragen hervorrufen: „Warum sind die Fallzahlen in diesem Stadtteil so hoch?“ Wenn diese dann auf anderer Ebene kommuniziert werden, kann es durchaus zur Benennung dieser Hotspots in der Presse kommen, wie z. B. der namentlichen Erwähnung von Kindertagesstätten, Seniorenheimen oder bestimmten Wohnsiedlungen. Es ist aber auch zu berücksichtigen, dass eine sehr restriktiv ausgelegte Informationspolitik das Vertrauen der Bevölkerung in die Verwaltung schwächt, die Bürger*innen quasi für unmündig erklärt werden und ggfs. Misstrauen wenn nicht sogar die Entstehung von Verschwörungstheorien gefördert wird.

Beruhigung der Fallzahlen im Sommer und Wiederanstieg im Herbst Nach der ersten Welle im März 2020 sanken die Fallzahlen und befanden sich im Mai 2020 nahezu bei null. Es war die Zeit, als sich einige Gemeinden etwas voreilig bereits als Corona frei bezeichneten. In der Hansestadt Lübeck wurden die im März 2020 aufgebauten 47 Arbeitsplätze zur Kontaktverfolgung zum Teil wieder abgebaut, da die genutzten Räume anderweitig gebraucht wurden. Die EDV-technische Hardware wurde hinsichtlich eines zu erwartenden Wiederanstiegs der Fallzahlen jedoch vor Ort zwischengelagert. Hinsichtlich der statistischen Arbeiten zeigte sich spätestens jetzt, dass der Arbeitsaufwand zur Erstellung des umfangreichen täglichen Lageberichtes ziemlich groß war, insbesondere weil inzwischen auch der statistische Personaleinsatz auf eine Person zurückgefahren werden musste, da das Personal nun für liegengebliebene Arbeiten in der Statistikstelle benötigt wurde. Die täglichen Lageberichte reduzierten sich auf eine Seite und beschränkten sich nun auf einige wenige Basisinformationen. Einmal wöchentlich erschien jedoch weiterhin ein ausführlicher Lagebericht. Mit dem Anstieg der Fallzahlen im Herbst 2020 wurde dann wieder verstärkt Personal zur Kontaktverfolgung eingestellt. Die Zahl der Arbeitsplätze wurde im Dezember auf über 50 erhöht, wobei über 100 Personen im Schichtbetrieb an der Kontaktverfolgung arbeiteten. Neben Bundeswehrsoldaten waren Mitarbeiter*innen aus anderen städtischen Bereichen wie den geschlossenen Schwimmbädern oder den Museen im Einsatz. Mittlerweile war ein professionelles Pandemiemodul


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im Einsatz, wodurch nun Datenerfassung und Arbeitsabläufe wesentlich strukturierter abliefen. Auch die Verfahren zur statistischen Auswertung des Datenbestandes wurden dadurch vereinfacht.

Stellung der Gesundheitsstatistik im städtischen Berichtswesen Das Kapitel Gesundheit war schon immer ein Thema der kommunalstatistischen Berichterstattung, ist es doch die Aufgabe der Statistik, Daten zur Kommune zu sammeln und in Beziehung zu setzen, auch um zeitliche und räumliche Vergleiche zu ermöglichen. Die Kommunalstatistik ist bezüglich der Gesundheitsstatistiken im Wesentlichen auf die amtlichen Statistiken der statistischen Landesämter bzw. auf die Gesundheitsberichterstattung der Länder und des Bundes angewiesen, denn selten wird in den Gesundheitsämtern selbst eine ausführliche Statistik betrieben. Auf kommunaler Ebene basiert die Gesundheitsberichterstattung auf § 6 des Gesetzes über den Öffentlichen Gesundheitsdienst (GDG), wonach zur Unterrichtung über die gesundheitlichen Verhältnisse, insbesondere über Gesundheitsrisiken und Gesundheitsverhalten der Bevölkerung die hierfür notwendigen nichtpersonenbezogenen Daten von den Kreisen und kreisfreien Städten gesammelt und nach epidemiologischen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Die Daten sind in regelmäßigen Abständen in Gesundheitsberichten zusammenzuführen. Trotzdem wird die kommunale Gesundheitsberichterstattung (GBE) mit sehr unterschiedlicher Intensität und Methodik betrieben, denn wenn die Kreise und kreisfreien Städte nicht zur Erhebung von Daten in der Lage sind oder die Erhebung mit unverhältnismäßig hohem Aufwand verbunden ist, wirken sie darauf hin, dass die entsprechenden Daten von anderen Behörden erhoben werden (GDG, § 6 Abs. 1 Satz 2). Auf Länderebene hat die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden auf Empfehlung der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) von 1991 einen Indikatorensatz für die GBE der Länder erarbeitet. Auf Länderebene werden die Empfehlungen zur GBE recht unterschiedlich umgesetzt. Während sich einige Länder recht stark an dem Indikatorensatz orientieren, legen andere Länder den Schwerpunkt auf eine textliche Berichterstattung oder die Durchführung eigener Studien und Surveys. Manchmal wird die GBE auch mit der

Sozial- oder Umweltberichterstattung verschmolzen und der Indikatorensatz entsprechend modifiziert, ebenso ist die GBE institutionell oftmals unterschiedlich angesiedelt. Auf Bundesebene haben sich in der Gesundheitsberichterstattung einerseits mit der regelmäßigen textlichen Berichterstattung in Form der Bundesgesundheitsberichte von 1998, 2006 und aktuell 2015, den Spezialberichten, mit eigenen Studien und Survey und anderseits mit der Einrichtung einer umfangreichen interaktiven Gesundheitsdatenbank zwei klar umrissene komplementäre Berichtszweige etabliert.

Fazit und Ausblick Mit der Corona-Pandemie rückten nicht nur die eigentlichen Infektionszahlen ins öffentliche Blickfeld, sondern auch weitere Gesundheitsdaten, wie die Kapazitätsberechnungen für die Intensivmedizin, die Personalsituation in den Krankenhäusern und mit der Betrachtung gefährdeter Bevölkerungsgruppen vor allem auch die Personalsituation in den Pflegeheimen. Mit dem Vorliegen der amtlichen Statistiken des Statistischen Landesamtes, die nach Meldung aller Daten und anschließender Aufbereitung der Daten zeitverzögert erscheinen, wird sich ein weiteres Aufgabenfeld für die Kommunalstatistik auftun. In der nachträglichen Analyse der amtlichen Veröffentlichungsreihen wird es darum gehen, die Auswirkungen der Corona-Krise hinsichtlich der demographischen, gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung zu sichten und bezüglich der eigenen Kommune zu analysieren. Daneben ist zu hoffen, dass auch die kommunale Gesundheitsberichterstattung zukünftig wieder einen höheren Stellenwert im öffentlichen Interesse erhält. Die Voraussetzungen dafür sind wahrlich gegeben: Morbidität und Mortalität betreffen die Menschen in ihrer elementaren Existenz. Daneben ist mit dem Klimawandel ein Thema vorübergehend in den Hintergrund getreten, welches spätestens im nächsten Sommer wieder relevant werden wird. In gesundheitlicher Hinsicht wird es hier speziell auch um Auswirkungen von Hitzewellen auf die menschliche Gesundheit gehen. Verschiedene Städte haben diesbezüglich bereits Hitzeaktionspläne erstellt. Auch hier wird die Kommunalstatistik in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern vor Ort wieder die notwendigen Datengrundlagen sowie das methodische Fachwissen beisteuern müssen.

Literatur Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und RKI (2020): DIVI-Intensivregister, https://www. intensivregister.de/#/aktuelle-lage/reports, Stand 04.12.2020. Hansestadt Lübeck (2020): Tagesaktuelle COVID-19 Fallzahlen für Lübeck, https://www. luebeck.de/de/rathaus/verwaltung/gesundheitsamt/infektionsschutz/covid19-statistik. html

Johns-Hopkins-University (2020): Global COVID-19-Dashboard, https://gisanddata.maps. arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/ bda7594740fd40299423467b48e9ecf6, Stand 04.12.2020. Robert-Koch-Institut (2020): Startseite zu COVID-19 in Deutschland, https://www.rki. de/DE/Home/homepage_node.html, Stand 04.12.2020. Robert-Koch-Institut (2020): COVID-19-Dashboard mit täglich aktualisierten Fallzahlen,

https://experience.arcgis.com/experience/4 78220a4c454480e823b17327b2bf1d4, Stand 04.12.2020. Robert-Koch-Institut (2020): Tägliche Situationsberichte, https://www.rki.de/DE/Content/ InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html Robert-Koch-Institut (2020): Gesundheitsberichterstattung, https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/gbe_node.html

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Jan Uwe Lemm, Jennifer Kreklow, Robin Hüskes

Regionalisierte Modellierung szenariobasierter Covid-19 Epidemieverläufe unter Berücksichtigung der lokalen demographischen Struktur Epidemiologische Modelle dienen der Vorhersage möglicher Verläufe von Epidemien oder Pandemien unter Annahme unterschiedlicher Szenarien. Am Beispiel der Stadt Wolfsburg wird in dieser Studie eine regionale Anpassung eines generalisierten S-E-I-R Modells der Universität Basel unter Berücksichtigung lokaler demographischer Strukturen und möglicher Maßnahmen zur Eindämmung vorgestellt. Die Studie zeigt, dass eine Regionalisierung eines S-E-I-R Modells auf kommunaler Ebene möglich ist und den Einfluss getroffener Maßnahmen auf die Ausbreitungsdynamik abbilden kann.

Jan Uwe Lemm M. Sc. – Mitarbeiter der Stadt Wolfsburg im Referat Strategische Planung, Stadtentwicklung und Statistik – Mitglied in der KOSIS Lenkungsgruppe SIKURS und beratendes Mitglied der KOSIS Lenkungsgruppe KO.R : jan-uwe.lemm@stadt.wolfsburg.de Dr. Jennifer Kreklow rer. nat. – Mitarbeiterin der Stadt Wolfsburg im Referat Strategische Planung, Stadtentwicklung und Statistik : jennifer.kreklow@stadt.wolfsburg.de Robin Hüskes M. Sc. – Mitarbeiter der Stadt Wolfsburg im Referat Strategische Planung, Stadtentwicklung und Statistik – Mitglied in der KOSIS Lenkungsgruppe DUVA : robin.hueskes@stadt.wolfsburg.de Schlüsselwörter: Covid-19 – Epidemiologie – Prognose – Modellierung – Szenarien – altersspezifisches S-E-I-R Modell – Krankenhausbedarf – Multidisziplinarität

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

Einleitung Das Coronavirus SARS-CoV2, das die Atemwegserkrankung Covid-19 auslöst, wurde Ende Januar 2020 erstmals in Deutschland nachgewiesen und breitete sich anschließend schnell im ganzen Land aus. Zur Eindämmung der Ausbreitung und zum Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung wurden während der „ersten Welle“ im Frühjahr 2020 zahlreiche Infektionsschutzmaßnahmen ergriffen, darunter ein sogenannter „harter Lockdown“. Die Auswirkungen derartiger Maßnahmen sind seitdem Gegenstand intensiver Forschung (z. B. Khailaie et al. 2020), um die Wirksamkeit der Maßnahmen und die Ausbreitungsdynamik des Virus besser zu verstehen. Die vorliegende Studie stellt die Modellierung und Analyse von drei Szenarien unter Annahme unterschiedlicher Infektionsschutzmaßnahmen vor, welche die Entwicklung der Covid19-Epidemie und die Belastung des Gesundheitssystems unter Berücksichtigung der regionalen Altersstruktur in der Stadt Wolfsburg mit 125.408 Einwohner*innen (Stichtag 31.12.2018) abbilden. Die Modellierung erfolgte mit einem generalisierten S-E-I-R Modell (Susceptible - Exposed - Infectious - Recovered), das um Informationen zu den einzelnen Stadien des Infektions- und Krankheitsverlaufs erweitert wurde. Zeitlich bilden die modellierten Szenarien die Ausbreitung von Covid-19 während der „ersten Welle“ in Deutschland ab (Anfang März bis Mitte Juni 2020). Während der ersten Welle bestanden noch erhebliche wissenschaftliche Kenntnislücken, sowohl zum Schweregrad einer COVID-19-Erkrankung als auch zur absoluten Infektionssterblichkeit (IFR – infection fatality rate). Da die Schwere der Krankheitsverläufe stark vom Alter abhängig ist, sind gesicherte Erkenntnisse hierzu unerlässlich. Eine gesonderte Betrachtung von etwaigen Risikogruppen erfolgt in dem verwendeten Modell nicht. Dieser Einflussfaktor wird im Modell vollständig über das Merkmal Alter abgebildet. Ziel der Analysen war eine allgemeine Einschätzung zum epidemiologischen Verlauf der Pandemie auf kommunaler Ebene unter Annahme verschiedener Szenarien: (1) ohne Maßnahmen, (2) mit einem fortwährenden, strengen „Lockdown“ und (3) bei schrittweiser Lockerung von Maßnahmen. Außerdem sollten die Auswirkungen der verschiedenen Pandemieverläufe auf das lokale Gesundheitssystem mitberücksichtigt werden. Großskalige Modellierungen vernachlässigen häufig lokale Besonderheiten wie lokale demographische Strukturen oder Kapazitäten des lokalen Gesundheitswesens. So weicht bei-


Schwerpunkt Corona

spielweise die demographische Struktur Deutschlands insbesondere in der höchsten Altersgruppe (80 Jahre und älter) stark von der lokalen demographischen Struktur in Wolfsburg ab. Mit 7,8 % lag der Anteil der 80-Jährigen und älter an der Gesamtbevölkerung in Wolfsburg zum Stichtag 31.12.2018 um einen Prozentpunkt bzw. 14,6 % höher als auf Bundesebene (6,8 %) (DESTATIS 2020). Da der Schweregrad der Krankheitsverläufe von Covid-19 stark altersabhängig ist, sind nationale Modellierungen somit nur schwer übertragbar auf die kommunale Ebene. Der hier vorgestellte regionalisierte Ansatz soll diese Lücke füllen, um epidemiologische Verläufe auch auf kommunaler Ebene modellieren zu können. Diese Informationen können Entscheidungsträger*innen dabei unterstützen, Maßnahmen mit Rücksicht auf lokale Besonderheiten hin anzupassen.

Datengrundlage Die Modellierung der drei Szenarien für die Stadt Wolfsburg erfolgte mit dem Online Tool „Covid-19 Szenarios“ (https:// covid19-scenarios.org/), welches von der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Richard Neher am Biozentrum der Universität Basel entwickelt wurde. Eine detailliertere Beschreibung des verwendeten Modells folgt im Abschnitt „Methodik“. In der Modellierungsumgebung selbst und in der dazugehörigen PrePrint-Veröffentlichung (Noll et al. 2020) werden ein Überblick über die im Modell berücksichtigten Parameter gegeben sowie detaillierte Parameterbeschreibungen bereitgestellt. Die Eingangsparameter des Modells untergliedern sich in die übergeordneten Themen • „Bevölkerung“, • „Krankenhauskapazitäten“, • „Epidemiologie“, • „Maßnahmen“ und • „altersspezifische Parameter“.

Die Regionalisierung umfasst in dieser Studie zum einen die Anpassung der Modelle an die lokale demographische Struktur und zum anderen die Interpretation der Ergebnisse mit Berücksichtigung der lokalen Kapazitäten des Gesundheitssystems. Bei den epidemiologischen Parametern gab es Bedarf an Expertenwissen, da das Virus und die daraus resultierende Krankheit noch sehr neu waren und epidemiologisches wie auch virologisches Fachwissen nicht durch die Autor*innen abgedeckt werden konnte. Fachliche Unterstützung gab es von Herrn Dr. Tanmay Mitra aus der Arbeitsgruppe um Herrn Prof. Dr. Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Es ist zu beachten, dass die verwendeten Parameter-Ausprägungen den Stand der Forschung aus dem Frühjahr 2020 darstellen und seitdem weitere intensive Forschung zu Covid-19 stattgefunden hat. Die zum Zeitpunkt der Modellierung verwendeten Ausprägungen von Parametern sind also nur beispielhaft zu sehen und stellen nicht mehr den aktuellen Stand der Forschung dar. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die in den Modellen verwendeten Parameter und deren Ausprägungen. In den folgenden Abschnitten werden die Eingangsparameter der verschiedenen übergeordneten Themen näher erläutert. Bevölkerung Die lokale Altersstruktur spielt in der Modellierung der epidemiologischen Verläufe von Covid-19 eine zentrale Rolle. Die verwendete Verteilung ist in Abbildung 1 zu sehen. Das Alter kann als zentraler Proxy für die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs herangezogen werden. Allgemein gilt mittlerweile als gesichert, dass die Anzahl der schweren Verläufe und auch der Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19 loglinear mit dem Alter zunehmen (Levin et al. 2020). Als Proxy

Tabelle 1: Übersichtstabelle über Eingangsparameter Parameter

Themenbereich

Wert

Schweregrad der Erkrankung

altersspezifische Parameter Abhängig von Altersklasse

Altersverteilung

Bevölkerung

lokal angepasst, s. Abb. 1

Einwohner*innenzahl (Stand: 31.12.2018)

Bevölkerung

125.408

Importierte Fälle pro Tag (von außerhalb des Stadtgebietes)

Bevölkerung

0,1

Basisreproduktionszahl R0 am Anfang der Epidemie

Epidemiologie

Min: 2,8 Max: 3,2

Durchschnittliche Zeit in normalen Krankenhausbetten [Tage]

Epidemiologie

10

Infektiöse Periode [Tage]

Epidemiologie

6

Latenzzeit [Tage]

Epidemiologie

2,1

Saisonale Variation der Übertragbarkeit

Epidemiologie

0,05

Durchschnittliche Zeit auf der Intensivstation [Tage]

Epidemiologie

14

Positiv getestete Menschen am Start der Epidemie

Epidemiologie

5

Anzahl Intensivbetten (Betten extrem hoch gewählt, um Maximalbedarf zeigen zu können)

Krankenhauskapazitäten

500

Krankenhausbetten

Krankenhauskapazitäten

1.000

Maßnahmenphasen mit Start- und Enddatum zur Reduzierung der Übertragung [%] Maßnahmen

Variiert je nach Szenario

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

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Schwerpunkt Corona

wird das Alter deshalb bezeichnet, weil sich hinter der Information Alter verschiedene Aspekte einzelner Biographien von Menschen verbergen, die in den Eingangsparametern nicht detailliert oder gar nicht abgebildet werden. Dazu zählen vor allem Vorerkrankungen, deren Anzahl tendenziell mit steigendem Alter zunimmt.

Abbildung 1: Absolute Anzahl an Personen je Altersklasse.

Anzahl Einwohner*innen

15000

10000

5000

0 0−9J

10−19J

20−29J

30−39J

40−49J

Altersklasse

50−59J

60−69J

70−79J

80J+

Krankenhauskapazitäten Die Anzahl der Krankenhausbetten und der Intensivbetten wurde bewusst auf einen unrealistisch hohen Wert von 1.000 bzw. 500 gesetzt, um abbilden zu können, wann welcher Bedarf vorhanden ist. Außerdem führt im Modell ein Überlauf, also eine volle Intensivstation, zu steigenden Sterberaten. Von diesem Fall wurde nicht ausgegangen, da selbst bei vollen Intensivstationen die Möglichkeit der Verlegung von Patient*innen als wahrscheinlich angesehen wurde. Kommt es allerdings zu einer Situation, in der eine Verlegung nicht mehr möglich ist, kann die Erhöhung der Sterblichkeit über den Parameter Severity of ICU overflow im Modell simuliert werden. Epidemiologie Die Werte der epidemiologischen Eingangsparameter wurden, wie bereits erläutert, mit Hilfe von Experten abgeschätzt und stellen nicht mehr in allen Fällen den aktuellen Stand der Forschung dar. Der Parameter Positiv getestete Personen am Start der Epidemie wurde unter Berücksichtigung der Dunkelziffer erweitert. Dabei wurde der Modellbeginn zehn Tage vor der ersten nachgewiesenen Infektion in Wolfsburg angesetzt und die Dunkelziffer für diesen Anfangswert mit Faktor 5 berücksichtigt. Es wird folglich angenommen, dass lediglich 20 % der gesamten Infektionen durch einen PCR Test nachgewiesen wurden (Surveillances 2020). Die Basisreproduktionszahl R0 am Anfang der Epidemie beschreibt, wie viele andere Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, wenn auf Grund fehlender Immunitäten und Infektionsschutzmaßnahmen die gesamte Bevölkerung für das Virus empfänglich ist (RKI 2021). In diesem Zusammen-

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hang spielt auch der Parameter Latenzzeit eine wichtige Rolle. Dieser beschreibt die Dauer von der Ansteckung einer Person bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese Person selbst infektiös wird und somit andere Menschen anstecken kann. Die saisonale Variation der Übertragbarkeit beschreibt die jährliche Amplitude von erhöhter oder niedrigerer Saisonalität in Winter und Sommer. Der Wert repräsentiert die maximale Veränderung der mittleren Basisreproduktionszahl, ausgelöst durch saisonale Effekte. Der in dieser Studie gewählte Wert von 0,05 ist sehr gering, d.h. die Saisonalität wurde nicht berücksichtigt, da die saisonale Variation der Übertragbarkeit zu Beginn der Epidemie noch schwer abzuschätzen war. Darüber hinaus zählen die durchschnittliche Zeit in normalen Krankenhausbetten, die durchschnittliche Zeit auf der Intensivstation sowie die infektiöse Periode zu den epidemiologischen Parametern. Maßnahmen Maßnahmen werden im Modell mathematisch als Reduktion der Übertragungsraten von einer Person auf weitere Personen definiert. In der Realität umfassen die Maßnahmen unter anderem persönliche Maßnahmen der sozialen Distanzierung und Hygiene sowie politische Maßnahmen. Eine genaue Quantifizierung einzelner und kombinierter Maßnahmen ist mit dem verwendeten Modell nicht möglich. Stattdessen werden Maßnahmenphasen über ein Start- und Enddatum mit einer relativen Reduzierung der Übertragung, normiert auf 100 % angegeben. Diese Maßnahmenphasen und -intensitäten sind Grundlage der in dieser Studie angenommenen Szenarien. Altersspezifische Parameter Altersgruppenspezifische Parameter umfassen neben den Angaben zur Altersstruktur der lokalen Bevölkerung auch die unterschiedliche Schwere der Krankheitsverläufe verschiedener Altersklassen (hospitalisiert, intensiv-medizinische Behandlung, tödlich). Die allgemeine Altersstruktur ist wichtig für die regionale Anpassung des Modells an die lokalen demographischen Gegebenheiten. Das Modell verwendet einen Korrekturfaktor zum Abschätzen der Dunkelziffer, um die Gesamtinfektion abzuschätzen. Es ist noch einmal zu betonen, dass die gewählten Werte nur als Schätzer zu betrachten sind.

Methodik Modell Das verwendete Modell ist ein generalisiertes S-E-I-R-Modell mit Erweiterungen um Informationen zu den einzelnen Stadien des Infektions- und Krankheitsverlaufs (Universität Basel – Covid19-scenarios). Das S-E-I-R Modell ist ein einfaches Modell aus der mathematischen Epidemiologie, mit dem die Dynamik einer Epidemie oder Pandemie beschrieben werden kann (Kermack u. Mc Kendrick 1927). Das Modell unterteilt die Bevölkerung in vier Klassen: Infizierbare (Susceptibles), Exponierte (Exposed), Infizierte (Infected) und Geheilte (Recovered). Die Modellierung erfolgte in einer interaktiven, browserbasierten Modellierungsumgebung (https://covid19-scenarios. org/, Noll et al. 2020), in der die Eingangsparameter direkt eingegeben werden können und die einen Export der Ergeb-


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nisse im Format *.tsv ermöglicht. Für weiterführende Analysen wurde die Statistiksoftware R (R Core Team 2020) verwendet. Im verwendeten Modell werden anfällige Personen durch den Kontakt mit infektiösen Personen exponiert oder infiziert. Jedes infektiöse Individuum verursacht im Durchschnitt R0Sekundärinfektionen, während es infektiös ist. R0 ist ein Begriff aus der Infektionsepidemiologie (Basisreproduktionszahl) und gibt an, wie viele Menschen durch eine infektiöse Person durchschnittlich angesteckt werden, wenn kein Mitglied der Population gegenüber dem Erreger immun ist. Die Basisreproduktionszahl des Virus ist von zahlreichen Einflussfaktoren wie z.B. Verhaltens- und Hygienemaßnahmen, Jahreszeit sowie Kreuzimmunitäten abhängig. Da im Frühjahr noch keine sicheren Erkenntnisse über Saisonalität und Grundimmunität der Bevölkerung vorlagen, werden diese Parameter bei der Modellierung nicht berücksichtigt. Exponierte Personen entwickeln sich nach einer durchschnittlichen Latenzzeit in einen symptomatischen/infektiösen Zustand. Diese Progression erfolgt modellintern in drei Stufen, um sicherzustellen, dass die Verteilung der im exponierten Kompartiment verbrachten Zeit realistischer ist als eine einfache exponentielle Verteilung. Infizierte Personen erholen sich oder entwickeln einen schweren Verlauf. Das Verhältnis von Genesung und schwerer Progression hängt vom Alter ab und ein schwerer Verlauf geht im Modell immer mit einer Behandlung im Krankenhaus einher. Schwerkranke Personen erholen sich entweder wieder oder ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich und wird kritisch. Kritisch kranke Personen werden modellintern auf die Intensivstation eingewiesen, können sich entweder erholen und kehren in ein reguläres Krankenhausbett zurück oder sterben. Laut Levin et al. (2020) hängt die Infektionssterberate zu nahezu 90 % von Unterschieden in der Altersstruktur und den altersspezifischen Prävalenzen ab. Das Alter ist damit der wichtigste Einzelfaktor im Hinblick auf unterschiedliche Krankheitsverläufe, wird von den Autor*innen aber wie schon erläutert eher als Proxyvariable gesehen, hinter der sich eine Vielzahl klinisch relevanter Informationen verbirgt. Kalibriert wurde das Modell mit Hilfe von realen Sterbefällen der räumlich nächst-größeren Ebene, welche im konkreten Anwendungsfall dem Bundesland Niedersachsen entsprach. Auf kommunaler Ebene gab es zu geringere Fallzahlen, um eine valide Kalibrierung sicherstellen zu können. Der betrachtete Zeitraum für die Kalibrierung lag zwischen dem 23. März 2020 und dem 11. Mai 2020. Die Sterbefälle wurden für die Kalibrierung gewählt, da sie eine deutlich kleinere Dunkelziffer aufweisen als die laborbestätigten Fälle mit Hilfe von PCR-Tests. Zur korrekten Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass das verwendete S-E-I-R Modell, wie jedes Modell, nur eine stark vereinfachte Abbildung der Realität darstellen kann. Demzufolge ist es sehr wichtig, die Potenziale, aber auch die Grenzen und Schwächen des eingesetzten Modells zu kennen. Zu den Grenzen des verwendeten S-E-I-R Modells zählt u. a., dass singuläre Ausbrüche, wie sie vermehrt in Altenheimen vorkommen, nicht abgebildet werden können. Des Weiteren sind nicht alle Modellparameter mit Sicherheit bekannt, u.a. da sie sich regional unterscheiden können, sich über die Zeit verändern und es sich um ein neues Virus und eine neue

Krankheit handelt. Darüber hinaus gibt es einige sehr sensible Parameter, die einen großen Einfluss auf die Modellierung haben. Zu den Wichtigsten zählen dabei jene Parameter, die die Dynamik der Ausbreitung und die Wirksamkeit von Maßnahmen bestimmen. Szenarien Um unterschiedliche Verläufe der Epidemie in Wolfsburg zu betrachten, wurden drei Szenarien konstruiert, die im Folgenden kurz erläutert werden. Szenario A: „Worst Case“ Szenario Dieses Szenario geht davon aus, dass ab dem 11. Mai keine Maßnahmen zur Minimierung der Ausbreitungsgeschwindigkeit mehr getroffen werden. Dieses Szenario soll die „natürliche“ Dynamik der Epidemie ohne wirksame Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 veranschaulichen und ist rein theoretisch. Szenario B: „Status Quo“ Szenario In diesem Szenario werden die Maßnahmen, die seit dem 23. März gelten (Kontaktverbot etc.), bis zum Ende des modellierten Zeitraums (Mitte Juni 2020) fortgeführt.

Abbildung 2: Verlauf der Epidemie unter Berücksichtigung der drei Szenarien. Abgebildet sind die Anzahl an Neuinfektionen und die kumulierte Anzahl an genesenen Personen im Modellzeitraum.

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Folglich wurde eine relative Reduktion der Übertragung von einer Person auf die nächste von bis zu 65 % über den gesamten Untersuchungszeitraum angenommen. Vorrangiges Ziel dieses Szenarios ist eine Abschätzung, ob es mit den getroffenen Maßnahmen möglich ist, unter der Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems zu bleiben. Zu beachten ist, dass tatsächlich jedoch Lockerungen beschlossen wurden, sodass das Szenario C der Realität am nächsten kommt. Szenario C: Schrittweise Lockerung der Maßnahmen In diesem „realistischen“ Szenario werden die „Lockdown“Maßnahmen ebenso berücksichtigt wie die ersten Lockerungen Anfang Mai 2020. Dieses Szenario folgt derselben Maßgabe wie das Szenario B. Die Intensivkapazitäten des Gesundheitssystems sollen nicht überschritten werden. Der Unterschied zu Szenario B liegt darin, dass in diesem Szenario die Zahl der Infizierten nicht so gering wie möglich gehalten werden soll. Stattdessen soll die Intensivkapazität über einen längeren Zeitraum nahezu vollständig ausgeschöpft werden. Dies hatte zum einen den Hintergrund, dass ermittelt werden sollte, inwiefern es möglich ist, eine spürbare Immunität in der Gesellschaft aufzubauen. Zum anderen sollte ermittelt werden, ob es möglich ist, die Maßnahmen in nennenswertem Umfang zurückzufahren ohne eine Überbelastung des Gesundheitssystems zu verursachen.

Abbildung 3: Verlauf der Epidemie mit Blick auf die schweren und kritischen Verläufe. Kritische Verläufe entsprechen Patient*innen auf der Intensivstation. Covid−19 Verlauf bei Szenario A

400

300

200

100

0 Mrz

Apr

Mai

Jun

Covid−19 Verlauf bei Szenario B 8

6

4

2

0 Mrz

Apr

Mai

Jun

Covid−19 Verlauf bei Szenario C 15

10

5

0 Mrz

Apr Schwere Verläufe

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Mai Kritische Verläufe

Jun Sterbefälle (kumuliert)

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Ergebnisse Die Modellergebnisse zeigen teilweise deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Szenarien. In Abbildung 2 sind die Epidemie-Verläufe für die Anzahl an infizierten und genesenen Personen aufgetragen. In Abwesenheit von Maßnahmen zur Kontaktreduzierung (Szenario A) kommt es zu einem deutlich größeren Infektionsgeschehen als in den anderen beiden Szenarien. In Verbindung mit Abbildung 2 und 3 wird der Einfluss von Maßnahmen zur Kontaktreduzierung noch deutlicher. In Szenario A wäre es im Modellzeitraum zu einer Überbelastung der Intensivstationen gekommen. Die Anzahl der Sterbefälle ist in Szenario A am Ende des Untersuchungszeitraums gering. Diese Zahlen würden im weiteren zeitlichen Verlauf jedoch schnell anwachsen, da über 100 Intensivbetten zu diesem Zeitpunkt belegt wären und die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, mit Eintritt eines kritischen Krankheitsverlaufs ansteigt. 100 Intensivbetten liegen bereits deutlich über den lokal verfügbaren Kapazitäten. Diese lagen im Modellierungszeitraum bei 20 Intensivbetten und 80 Betten auf der Normalstation; es wäre bei weiter steigenden Belegungszahlen aber sicherlich noch zur Schaffung weiterer Kapazitäten gekommen. Bei diesen Zahlen ist jedoch zu beachten, dass das Klinikum in Wolfsburg überregional Patienten aufnimmt. Unseren Schätzungen zufolge umfasst

Abbildung 4: Altersgruppen-spezifische Ergebnisse der drei Szenarien für Sterbefälle, schwere und kritische Verläufe.


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der vom Klinikum versorgte Bereich etwa 200.000 Menschen, inklusive der 125.408 Einwohner*innen Wolfsburgs. Es wäre im angenommenen Szenario somit eine Verlegung von Covid-19 Patient*innen nötig und/oder es würde zu einer erhöhten Sterberate kommen, da eine bestmögliche Behandlung vieler Patient*innen nicht mehr gewährleistet werden könnte. Die Unterschiede zwischen Szenario B und C sind insgesamt deutlich geringer als im Vergleich zu Szenario A. Dennoch führt eine Lockerung von Maßnahmen unmittelbar zur Dynamisierung des Infektionsgeschehens. Eine Überbelastung der Intensivstationen ist in beiden Szenarien nicht eingetreten. Eine sukzessive Durchseuchung der Bevölkerung findet weder in Szenario B noch in Szenario C statt. Die Lockerung der Maßnahmen, wie in Szenario C angenommen, führt zum Ende des Prognosezeitraums jedoch wieder zu einem Überschreiten des Schwellenwerts von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen in 7 Tagen. Zwischen Szenario B und C entwickelt sich der Epidemieverlauf von einem linearen Wachstum wieder zurück zu einem exponentiellen Wachstum.

Fazit Die Modellierung von epidemiologischen Verläufen ist auch auf kommunaler Ebene möglich und informativ. Mit Hilfe von Szenarien zu möglichen Verläufen einer Epidemie kann abgeschätzt werden, ob die städtische Infrastruktur – insbesondere im Gesundheitswesen – ausreicht, wenn bestimmte Maßnahmen zur Kontaktreduzierung nicht angewendet werden, wieder zurückgenommen werden oder sich die Bevölkerung nicht an Maßnahmen hält. Des Weiteren ist auch eine Betrachtung des „worst-case“ Szenarios hilfreich, um zu vermitteln, welche Auswirkungen eine unkontrollierte Ausbreitung bei gegebener Demographie nach sich ziehen könnte. Bei der aktuellen Covid-19 Epidemie ist das Alter ein zentraler Proxy für die Wahrscheinlichkeit, ob eine Person einen schweren oder kritischen Krankheitsverlauf entwickelt. Die lokale demographische Struktur unterscheidet sich zumeist stark von der auf Bundes- oder Landesebene. Das hat Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen und das Gesundheitssystem, über die Politik und Mitglieder von Krisenstäben un-

bedingt auf kommunaler Ebene informiert sein sollten. Dabei sind die Anteile der älteren Bevölkerung ebenso wichtig wie die Anteile der hochgradig mobilen mittleren Altersjahrgänge und auch der oft symptomfreien jüngeren Altersjahrgänge. Das verwendete Modell birgt aber auch viele Unsicherheiten. Gerade auf kommunaler Ebene können lokale Ausbrüche in Alten- oder Pflegeheimen das Infektionsgeschehen prägen. Diese Ausbrüche können mit den hier verwendeten Methoden nicht modelliert werden. Außerdem ist es schwierig, mit den auf kommunaler Ebene vergleichsweise geringen realen Fallzahlen ein Modell zu kalibrieren. Darüber hinaus kann in derartigen Modellierungen der Parameter „Krankenhauspersonal“ nicht berücksichtigt werden, der neben den Krankenhaus- und Intensivbetten insbesondere bei starkem Infektionsgeschehen und zunehmender Dauer einer Epidemie einen zusätzlichen limitierenden Faktor für die Kapazität des Gesundheitssystems darstellen kann. Der Übergang von linearem zu erneut exponentiellem Wachstum konnte in den beiden Szenarien B und C modelliert werden. Dieses Ergebnis zeigt, wie schnell die Dynamik einer Epidemie sich erneut erhöhen kann und neue Maßnahmen notwendig werden. Diese Erkenntnisse spiegeln sich in der Realität im Laufe der zweiten Welle im Herbst 2020 vielerorts in Deutschland wider. Die hier vorgestellten Modellierungen können den schmalen Grat zwischen linearem und exponentiellem Infektionsgeschehen eindrücklich aufzeigen. Des Weiteren zeigt der Vergleich der Szenarien (Abb. 4) bereits auf, dass sich hohe Infektionsraten bei der gegebenen Altersstruktur rasch in den Fallzahlen der kritischen und tödlichen Verläufe niederschlagen. Daraus folgt, dass die volle Auslastung der Kapazitäten im Gesundheitssystem mittel- und langfristig sehr ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht. Dieses Wissen sollte mit einem regelmäßigen Monitoring der realen Situation kombiniert werden, um möglichst frühzeitig Maßnahmen einzuführen, die Bevölkerung zu sensibilisieren und Ausbrüche in Infektionsclustern so früh wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen eindrücklich, dass es letztlich an jeder einzelnen Person liegt, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt, da das Verhalten jeder Person über die Ausbreitungschance des Virus entscheidet.

Literatur DESTATIS (Statistisches Bundesamt) (2020): Bevölkerung nach Altersgruppen, Deutschland. https://www.destatis.de; letzte Aktualisierung: 19.06.2020, Abruf: 28.01.2021. Levin, Andrew T.; Hanage, William P.; OwusuBoaitey, Nana; Cochran, Kensington B.; Walsh, Seamus P.; Meyerowitz-Katz, Gideon (2020): Assessing the age specificity of infection fatality rates for COVID-19: systematic review, meta-analysis, and public policy implications. European Journal of Epidemiology. https:// doi.org/10.1007/s10654-020-00698-1 Kermack, William O. und Mc Kendrick, Aanderson G. (1927): A contribution to the mathematical theory of epidemics. Proceedings of the Royal

Society of London. Series A, Vol. 115. S. 700– 721. http://doi.org/10.1098/rspa.1927.0118 Khailaie, Sahamoddin; Mitra, Tanmay; Bandyopadhyay, Arnab; Schips, Marta; Mascheroni, Pietro; Vanella, Patrizio; Lange, Berit; Binder, Sebastian C.; Meyer-Hermann, Michael (2020): Development of the reproduction number from coronavirus SARS-CoV-2 case data in Germany and implications for political measures. medRxiv. doi: https://doi. org/10.1101/2020.04.04.20053637 (PrePrint) Noll, Nicholas B., Aksamentov, Ivan, Druelle, Valentin; Badenhorst, Abrie; Ronzani, Bruno; Jefferies, Gavin; Albert, Jan; Neher, Richard A. (2020): COVID-19 Scenarios: an interacti-

ve tool to explore the spread and associated morbidity and mortality of SARS-CoV-2. medRxiv 2020.05.05.20091363; doi: https://doi. org/10.1101/2020.05.05.20091363 (PrePrint) R Core Team (2020): R: A language and environment for statistical computing. R Foundation for Statistical Computing, Vienna, Austria. https://www.R-project.org/ RKI (Robert Koch Institut) (2021): FAQ Virus und Epidemiologie. https://www.rki.de; Letzte Aktualisierung: 06.01.2021, Abruf: 28.01.2021. Surveillances, Vital (2020): The epidemiological characteristics of an outbreak of 2019 novel coronavirus diseases (COVID-19), China CDC Weekly 2 (8), 113–122.

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

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Schwerpunkt Corona

Florian Bernardt, Frederik Parton, Anja Sonnenburg, Philip Ulrich

Neue Indikatoren zur Erfassung der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Einzelhandel am Beispiel der Stadt Osnabrück Die im Rahmen der Corona-Krise beschlossenen Einschränkungen für das öffentliche Leben haben den innerstädtischen Einzelhandel bereits zu Beginn des Jahres 2020 vor große Herausforderungen gestellt. Obwohl statistische Informationen für eine Berücksichtigung bei politischen Maßnahmen zeitnah und regionalspezifisch verfügbar sein sollten, liegen Auswertungsergebnisse der Wirkung dieser Einschränkungen im Zuge einer etablierten statistischen Erhebung leider nur stark verzögert vor. Für eine Berücksichtigung bei politischen Maßnahmen sollten statische Informationen jedoch zeitnah und regionalspezifisch verfügbar sein. Hilfreich sind in diesem Fall Daten zur Geschäftsentwicklung in der Branche – vor allem aber zum Mobilitäts- und Einkaufsverhalten. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Wirkungen der Corona-Krise auf die Geschäftstätigkeit des innerstädtischen Einzelhandels und wertet neue Datenquellen und Indikatoren für ihre Erfassung aus.

Florian Bernardt seit 2016 wiss. Mitarbeiter, Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung mbH : bernardt@gws-os.com Frederik Parton seit 2018 wiss. Mitarbeiter, Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung mbH : parton@gws-os.com Anja Sonnenburg seit 2014 wiss. Mitarbeiterin, Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung mbH : sonnenburg@gws-os.com Philip Ulrich seit 2006 wiss. Mitarbeiter, Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung mbH : ulrich@gws-os.com Schlüsselwörter: Corona-Lockdown – Einzelhandel – neue Datenquellen – Konjunktur – Branchenumsatz

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

Einleitung Die Auswirkungen des Coronavirus auf die deutsche Wirtschaft sind drastisch. Branchen sowie Regionen sind aber unterschiedlich stark betroffen, womit differenzierte Analysen der Auswirkungen gefordert sind. Außerdem ist ein Zugang zu Daten ohne lange Verzögerung notwendig, um die Erkenntnisse rechtzeitig für politische Entscheidungsträger bereitstellen zu können. Die Veröffentlichungsfrequenz der herkömmlichen amtlichen Statistik auf regionaler Ebene wird der Abfolge von „Lockdown-Verordnungen“ und ihrer unmittelbaren ökonomischen Auswirkungen daher nicht gerecht. Dieser Beitrag widmet sich dem Bedarf an ökonomischen Analysen über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf regionaler Ebene. Ziel ist es, die Auswirkungen der CoronaPandemie anhand der deskriptiven Auswertung von neuen Indikatoren, wie z. B. Passanten-/Passantinnenfrequenz- und GPS-Daten, für den Einzelhandel der Stadt Osnabrück abzuschätzen. Darüber hinaus gilt es, auf Ebene von Städten – hier am Beispiel Osnabrück – Indikatoren zu finden, welche die kurzfristige Entwicklung der Geschäftstätigkeit des innerstädtischen Einzelhandels erfassen. Die Referenzgröße ist hierbei der Umsatz – auch, weil die amtliche Statistik die entsprechenden Konjunkturdaten1 bereitstellt. Schwerpunktmäßig werden drei Indikatoren bzw. Datenquellen vorgestellt, die das Potenzial haben, kurzfristige Entwicklungen – wie die Wirkung von Einschränkungen im Rahmen einer Pandemie – frühzeitig auf lokaler bzw. regionaler Ebene zu erfassen: • GPS-Daten von Google über die Bewegung von Personen, • Daten zur Passanten-/Passantinnenfrequenz sowie • Statistiken über die gemeldeten Stellen im Einzelhandel. Im Zuge der Beschreibung wichtiger Entwicklungen im Einzelhandel in der Corona-Krise wird die Umsatzentwicklung aus der Konjunkturstatistik dargestellt. Im Anschluss erfolgt ein analytischer Abgleich eines Mobilitätsindikators, der Passanten-/Passantinnenfrequenzen und Daten der Arbeitsmarktstatistik mit der Umsatzentwicklung in Niedersachsen. Der Beitrag schließt mit einer Bewertung der Datenlage und der neuen Indikatoren sowie einem Ausblick.


Schwerpunkt Corona

Entwicklungen im Einzelhandel Mit den Beschlüssen vom 16. März2, die von der Bundesregierung und den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Bundesländer vereinbart wurden, begann für viele Betriebe im Einzelhandel eine Zeit, die von Umsatzeinbußen und fehlender Planungsperspektive geprägt war. Beschlossen wurden die Schließungen vieler Verkaufsstellen mit dem Ziel, den Publikumsverkehr zu minimieren und die Ausbreitung der Corona-Pandemie zu verringern. Nach einem Rückgang der Infektionszahlen wurde am 15. April bei einem erneuten Treffen beschlossen, dass der Einzelhandel unter Auflagen wieder öffnen darf. Bis zum 15. Dezember konnten die Kundinnen und Kunden wieder überall stationär einkaufen, sofern sie einen Mund-Nasen-Schutz trugen und die Zahl der Personen im Geschäft3 kontrolliert und limitiert wurde. Nach dem Lockdown im Frühjahr 2020 folgte ab Ende Oktober ein „Teil-Lockdown“. Seitdem haben die Innenstädte erneut mit besonderen Herausforderungen umzugehen. Vielerorts gilt die generelle Maskenpflicht, Geschäfte müssen die Zahl der anwesenden Kundinnen und Kunden regulieren, Gaststätten und Kultureinrichtungen müssen geschlossen bleiben und die Weihnachtsmärkte wurden abgesagt. Für den Bummel durch die Innenstädte gibt es seither weniger Anlässe, was sich für den stationären Einzelhandel vor allem negativ auf das Weihnachtsgeschäft ausgewirkt hat. Die Konjunkturstatistiken im Handel werden nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht. Erste Zahlen deuten darauf hin, dass die umsatzstärkste Branche „Einzelhandel mit Waren verschiedener Art, in Verkaufsräumen (WZ 47.1)4“ das Jahr 2020 auch auf-

grund der Ausnahme von den Ladenschließungen mit einem erneuten Umsatzwachstum beenden konnte. Ungleich härter ist der „Einzelhandel mit sonstigen Gütern, in Verkaufsräumen“ (WZ 47.7) betroffen, welcher für rund 25 % des Einzelhandelsumsatzes5 steht und oft in den Innenstädten zu finden ist. Die diesem Wirtschaftszweig zugeordneten Handelsbereiche Bekleidung (WZ 47.71), Schuhe (WZ 47.72), Kosmetikprodukte (WZ 47.75) und Schmuck (WZ 47.77) profitieren üblicherweise von einer guten konjunkturellen Lage und einer hohen Kundinnen- bzw. Kundenfrequenz. Die Wechselwirkung zwischen den Kontaktbeschränkungen und der Nachfrage vor Ort fordert den Osnabrücker Einzelhandel vor allem in der Innenstadt heraus, in der rund zwei Drittel der Bekleidungs- und Schuhhandelbetriebe ansässig sind (CIMA 2019). Die Einkaufsmeile rund um die „Große Straße“ lockt mit einer Verkaufsfläche von 120 000 m² bzw. fast 400 Einzelhandelsbetrieben üblicherweise auch Kundschaft aus der umliegenden Region an und konnte an den Adventssamstagen 2019 im Schnitt rund 70 000 Passantinnen und Passanten6 verzeichnen. Ein fortschreitender Strukturwandel ist im Einzelhandel seit Jahren beobachtbar. Das Statistische Bundesamt gibt für den gesamten Einzelhandel (WZ 47) einen Anstieg des ECommerce Anteils von 3,3 % im Jahr 2009 auf 12,2 % im Jahr 2018 an. Der Onlinehandel wirbt mit breiten Sortimenten, einem bequemen Einkauf und vermeintlich günstigen Preisen. Steigende Umsatzanteile des Onlinehandels führen zu sinkenden Umsätzen im stationären Handel und langfristig zu Ladenschließungen, die die Attraktivität der Innenstädte verringern und die Kundenfrequenz weiter reduzieren. Ein Teufelskreis, für den die Corona-Pandemie wie ein Treibhaus wirkt.

Abbildung 1: Wöchentliche Online-Transaktionen im Verlauf des Jahres 2020

Quelle: „Experimentelle Daten“ des Statistischen Bundesamtes 2020

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Dies belegen die in Abbildung 1 dargestellten Online-Transaktionen7 des Jahres 2020 aus dem experimentellen Datensatz des Statistischen Bundesamtes. Es zeigt sich, dass diese mit dem Start des Lockdowns anstiegen. Nach einem erst geringen Anstieg der Zahl der Online-Transaktionen in der Kalenderwoche (KW) 12 (Beginn: 16. März) steigt diese rasant an und erreicht in der 16. KW ein Plus von mehr als 60 % im Vergleich zur Vorjahreswoche. Anschließend sinken die Werte bis zur 28. KW im Juli. Bei der Interpretation ist zu berücksichtigen, dass nicht unmittelbar auf den Handel geschlossen werden kann, da auch andere Anbieter wie beispielsweise StreamingDienste Online-Transaktionen auslösen. Doch welche Daten zeigen uns die konkreten Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit im stationären Einzelhandel allgemein und speziell in Osnabrück?

Umsatzentwicklung des (landesweiten) Einzelhandels Eine Darstellung der Umsätze des Einzelhandels für die Stadt Osnabrück auf Basis der Konjunkturstatistik ist nicht möglich, da der Stichprobenumfang keine tiefere Regionalisierung zulässt. Für eine Annäherung an die Konjunktur in der Osnabrücker Einzelhandelsbranche werden deshalb im Folgenden die Daten des WZ 47.7 für Niedersachsen zum Abgleich in die Analyse aufgenommen. Diese lagen zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels bis zum August 2020 vor. Abbildung 3 zeigt u. a. die prozentuale Veränderung der Umsätze des WZ 47.7 gegenüber dem Vorjahresmonat von Juli 2019 bis August 2020 in Niedersachsen. Noch im zweiten Halbjahr 2019 konnte der Umsatz gesteigert werden, sodass sich die Branche positiv entwickelte. Auch die preisbereinigten Umsätze im Januar und Februar 2020 lagen noch über den Werten des Jahres 2019. Während des ersten Lockdowns von März bis April verzeichneten die Umsätze einen starken Einbruch und lagen im April um 18,4 % unter dem Wert des Vorjahres. In den Monaten Mai und Juni setzte eine schrittweise Erholung ein, allerdings konnte erst im Juli der Wert des Vorjahresmonats übertroffen werden. Tabelle 1 stellt die prozentualen Veränderungen der Umsätze des WZ 47 und des WZ 47.7 gegenüber dem Vorjahresmonat für das Jahr 2020 in Niedersachsen dar. Es zeigt sich, dass der Einzelhandel insgesamt (WZ 47) deutlich weniger

vom Lockdown betroffen war als der WZ 47.7. So waren im übergeordneten WZ 47 Umsatzrückgänge nur in den Monaten des Lockdowns gegenüber den Vorjahresmonaten zu verzeichnen. Diese fielen mit 0,1 % (März) und 4 % (April) deutlich geringer aus als jene des untergeordneten WZ 47.7 (-11,7 % bzw. -18,4 %). Dies ist damit zu erklären, dass der WZ 47.7 „Einzelhandel mit sonstigen Gütern (in Verkaufsräumen)“ besonders von den Lockdown-Verordnungen betroffen war, da die Verkaufsräume dieser Branche für die Zeit vom 15. März bis zum 15. April geschlossen werden mussten. Die geringeren Umsatzverluste des übergeordneten WZ 47 „Einzelhandel insgesamt“ erklären sich dadurch, dass andere, diesem 2-Steller untergeordneten Einzelhändlerinnen und Einzelhändler auch während des Lockdowns Artikel des täglichen Bedarfs anbieten konnten. Zudem erfuhr der ebenfalls dem WZ 47 untergeordnete Onlinehandel einen starken Zugewinn (s. o.) durch die Lockdown-Verordnungen.

Mobilfunk- und Standortdaten Mobilfunkdaten werden seit einigen Jahren verstärkt in der Statistik – vor allem im Bereich Mobilität – genutzt (vgl. Hauf et al. 2020, Bachmann 2020). Der Zweck von Bewegungen der Nutzer zwischen Funkzellen wird jedoch nicht erfasst, sodass keine Rückschlüsse auf Einkaufsverhalten möglich sind. Um die Entscheidungsträger in Gesundheitsbehörden weltweit bei der Evaluierung der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu unterstützen, veröffentlicht Google aktuell Daten in Form von Mobilitätsberichten basierend auf der Anwendung Google-Maps. Die Berichte stellen aggregierte, anonymisierte Bewegungsmuster von Mobilfunknutzern, die die Funktion „Standort verfolgen“ auf ihrem Mobilfunkgerät aktiviert haben, in Diagrammform dar. Darüber hinaus sind sie als Datensatz für weitere eigene Analysen verfügbar. Sie sind aufgeschlüsselt nach geographischen Regionen und Kategorien von Orten wie zum Beispiel Einzelhandel und Freizeit, Läden des täglichen Bedarfs, Parks, Bahnhöfe und Haltestellen, Arbeitsstätten und Wohnorte. Da die Daten die täglichen Veränderungen im Mobilitätsverhalten von Personen an den Orten „Einzelhandel und Freizeit“ wiedergeben, und diese zurzeit mit einer Verzögerung von lediglich vier Tagen im Internet zur Verfügung stehen, soll im Folgenden die Möglichkeit überprüft werden, inwieweit

Tabelle 1: Umsatzentwicklung im Einzelhandel in Niedersachsen, monatlicher Umsatz, preisbereinigt seit Januar 2020 WZ

Wirtschaftszweige

Jan.

Febr.

März

April

Mai

Juni

Juli

Aug.

Veränderung in % ggü. Vorjahresmonat 47

Einzelhandel insgesamt

1,8

6,9

-0,1

-4,0

2,8

4,4

8,3

1,7

47.7

Einzelhandel mit sonstigen Gütern (in Verkaufsräumen)

2,4

6,7

-11,7

-18,4

-8,5

-3,8

4,1

-3,4

Index (2015 = 100) 47

Einzelhandel insgesamt

100,4

100,2

104,9

103,9

111,1

111,4

116,2

110,0

47.7

Einzelhandel mit sonstigen Gütern (in Verkaufsräumen)

101,5

98,4

92,1

87,6

99,0

102,7

110,5

101,4

Quelle: Statistisches Landesamt Niedersachsen

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sie sich als schnell verfügbarer Indikator für die regionalen Einzelhandelsaktivitäten eignen. Die Daten sind seit dem 15. Februar 2020 in täglicher Frequenz auf der Webseite https://www.google.com/covid19/ mobility/ frei verfügbar. Sie geben konkret an, wie sich die Besucherzahlen an kategorisierten Orten prozentual im Vergleich zu Referenztagen ändern. Die sieben Werte der Referenzwochentage sind die jeweiligen Medianwerte der fünf Wochen vom 3. Januar bis 6. Februar 20208. Der folgenden deskriptiven Auswertung liegen tägliche Daten des Google Mobility Reports für den Zeitraum 1. März 2020 bis 30. November 2020 für das Bundesland Niedersachsen zugrunde. Eine tiefere regionale Gliederung steht aktuell nicht zur Verfügung. Diese Zeitreihe wird mit den monatlichen Umsätzen des WZ 47.7 aus der Konjunkturstatistik auf Ebene des Bundeslandes Niedersachsen zum Vergleich in der Analyse dargestellt. Aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften der Datenreihen hinsichtlich ihrer Frequenz und des Referenzzeitraumes ist eine Transformation der Daten für einen Vergleich notwendig. Bei den in Abbildung 2 dargestellten Daten wurde zunächst auf Grundlage der Mobilitätsdaten aus den täglichen Aufenthaltsorten ein Mittelwert für jeden Monat gebildet. Es wird so die durchschnittliche prozentuale Abweichung des Aufenthalts an Orten des „Einzelhandels und der Freizeit“ zum

Referenzmonat dargestellt. Um eine möglichst gute Vergleichbarkeit mit den monatlichen Umsatzzahlen herzustellen, wurden diese zu einem möglichst ähnlichen Referenzzeitraum in Bezug gesetzt. Konkret wurde hier aus dem Durchschnittswert der Umsätze in den Monaten Januar und Februar des Jahres 2020 der Referenzwert gebildet. Die dargestellten Werte für die Monate März bis August 2020 zeigen die prozentualen Abweichungen zu den Umsätzen des Referenzzeitraums. Es zeigt sich, dass sich die auf den stationären Einzelhandel bezogene Mobilität im Vergleich zum Referenzzeitraum während des Lockdowns in den Monaten März (-27,5 %) und April (-50,5 %) erwartungsgemäß stark verringerte. Aber auch im Mai (-28,7 %) und Juni (-12,4 %) lag der Aufenthalt an den Orten „Einzelhandel und Freizeit“ in Niedersachen noch deutlich unter dem Niveau des Referenzzeitraums. In der Periode Juli bis September werden ähnliche Werte wie im Referenzzeitraum erreicht. Der starke Rückgang im November (-28,6 %) könnte sich schon aus dem in Niedersachsen zu diesem Zeitpunkt geltenden Teil-Lockdown herleiten.9 Auch die Umsätze des WZ 47.7 zeigen in den Monaten März bis Mai 2020 in Niedersachsen negative Veränderungen gegenüber dem Referenzzeitraum. Allerdings fallen diese mit Rückgängen von knapp 8 % im März bzw. rund 12 % im April nicht so stark aus wie bei der Mobilitätsaktivität. In den Monaten Juni bis August liegt der betrachtete Umsatz mit

Abbildung 2: Veränderungen des Aufenthalts an den Orten „Einzelhandel und Freizeit“ nach Google-Mobility-Report sowie Entwicklung des Umsatzes im WZ 47.7 in Niedersachsen

Quelle: Google Mobility Report 2020, eigene Berechnung und Darstellung

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bis zu 10,6 % (Juli) über den Werten des Referenzzeitraums. Die in Abbildung 2 dargestellten Zeitreihen zu Umsatz und Mobilitätsaktivitäten unterscheiden sich zum Teil recht deutlich hinsichtlich ihrer Ausprägung. Die Verläufe der beiden Indikatoren weisen aber durchgängig in dieselbe Richtung. Die Differenzen legen die Vermutung nahe, dass aufgrund der gebotenen Kontaktreduzierung gezielter eingekauft wurde – also bei selteneren Besuchen von Einzelhandelsgeschäften umfangreichere Einkäufe getätigt wurden. Zusammenfassend lässt sich zu den Daten des Mobility Reports von Google festhalten, dass diese sich aufgrund ihrer tagesgenauen Frequenz, der schnellen Verfügbarkeit mit einer Verzögerung von lediglich vier Tagen und der Ortskategorie „Einzelhandel und Freizeit“ mit Einschränkungen als schneller Indikator für Einzelhandelsaktivitäten eignen. Anzumerken bleibt, dass aufgrund der von Google festgelegten Referenzperiode ein direkter Vergleich zu anderen in der öffentlichen Statistik veröffentlichten Größen (z. B. dem Vorjahresmonatsvergleich) nicht ohne Weiteres möglich ist. Dafür müsste die von Google verwendete Referenz erst anhand der über mehrere Jahre beobachteten saisonalen Dynamiken im Einzelhandelsgeschehen (z. B. des kalenderwöchentlichen Umsatzes) auf ein ganzes Jahr geschätzt werden. Für detaillierte regionale Auswertungen wäre es zudem

wünschenswert, wenn die Daten auch auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte vorlägen. Unsicherheit besteht zudem darüber, ob die Daten zukünftig auch über das Ende der Corona-Pandemie hinaus öffentlich zur Verfügung stehen.

Daten zur Passantinnen- und Passantenfrequenz In vielen Innenstädten werden Frequenzen von Passierenden heute automatisch gemessen. Die lasergestützten Scanner sind an den Hausfassaden im Bereich der Fußgängerzonen angebracht und registrieren Personenbewegungen in den Fußgängerbereichen und Durchgängen. Mittels spezieller Laserdetektoren wird die Bewegungsrichtung aller im Erfassungsbereich befindlicher Personen registriert und daraus die Anzahl der ein- und ausgehenden Personen ermittelt. Die generierten Daten können ohne große Verzögerung stundengenau übermittelt und ausgewertet werden. Neben der zunehmenden Anzahl von Scannern gehört eine gute, teilweise öffentliche Verfügbarkeit der Daten zu den neuen Entwicklungen. Der Datenanbieter hystreet.com veröffentlicht aktuell die Passantinnen- und Passantenfrequenzen von 134 Standorten in 63 Städten in Deutschland. Zum einen stellt sich hier die Frage, wie diese Daten genutzt werden können,

Abbildung 3: Veränderung der Anzahl der Passantinnen und Passanten an Geschäftstagen, Veränderung der preisbereinigten Umsätze im Einzelhandel (WZ 47.7) in Niedersachsen, jeweils im Vergleich zum Vorjahresmonat; unterschiedliche Standorte in der Osnabrücker Innenstadt

Quelle: www.hystreet.com, Statistisches Landesamt Niedersachsen

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die Nutzung von verkehrsberuhigten innenstädtischen Arealen im Allgemeinen und speziell in der Corona-Pandemie zu analysieren. Zum anderen gilt es auszuloten, inwiefern diese Daten auch Frühindikatoren für konjunkturelle Entwicklungen sein können. Die Besonderheit ist – neben der schnellen Verfügbarkeit – die spezifische Erfassung für einzelne Städte und einzelne Bereiche von Innenstädten. Die frühzeitige Erfassung individueller Verhaltensänderungen in für den Einzelhandel zentralen Bereichen der Stadt wäre wichtig für Rückschlüsse auf zu erwartende Umsatzentwicklungen, für Veränderungen der Innenstädte und möglicherweise auch im Hinblick auf Volumen wie Struktur der Abgaben- und Steuereinnahmen der Kommunen. Für eine deskriptive Auswertung wurden fünf Standorte in der Innenstadt Osnabrücks ausgewählt. Sie liefern teilweise bereits seit dem Jahr 2015 Zahlen. Um die Verbindung zwischen den Personenbewegungen und der Geschäftstätigkeit des stationären Einzelhandels herzustellen, ist es notwendig, die Eigenschaften der Scannerdaten zu berücksichtigen, um sie zu bereinigen bzw. die Ergebnisse richtig zu interpretieren. Für unsere Auswertung wurden nur Passantinnen und Passanten berücksichtigt, die von Montag bis Samstag außerhalb von Feiertagen gezählt wurden. Ferner ist bei Vergleichen zu beachten, dass die Passantinnen und Passantenfrequenz – wie auch der Umsatz – einer saisonalen Schwankung unterliegen. Außer kalendarischen Effekten gibt es andere Einflüsse, welche die intertemporale Vergleichbarkeit einschränken. Technische Fehler an den Geräten oder vorübergehende Sperrungen im gescannten Bereich führen zu falschen oder fehlleitenden Daten. Außerdem gibt es Events im innerstädtischen Bereich, welche, falls sie unregelmäßig oder einmalig stattfinden, zu Verzerrungen führen. Das Wetter hat generell einen Einfluss auf die Zahl der Passantinnen und Passanten in der Innenstadt. Da ein direkter Abgleich mit den Umsätzen vor Ort – insbesondere an den gewählten Scannerstandorten – nicht möglich ist, werden wie zuvor die Umsätze des Einzelhandels (WZ47.7) aus der Konjunkturstatistik als Referenz herangezogen, um die Entwicklungen der Passantinnen- und Passantenfrequenzen einzuordnen und Vergleiche anzustellen. Beim Abgleich mit den Umsätzen in Niedersachsen lässt sich feststellen, dass die Frequenzen für fünf Standorte in Osnabrück während der uns hier interessierenden Periode eine ähnliche Entwicklung (vgl. Abbildung 3) zeigen. Im zweiten Halbjahr 2019 zeigte sich ein leichtes Umsatzwachstum bei variierenden Frequenzen. Im ersten Lockdown ging die Zahl der Passantinnen und Passanten jedoch deutlich stärker zurück als der Referenzwert – im April lagen die Frequenzwerte bei allen Standorten um rund 60 % unter dem Vorjahresmonat. Im März und Juni lagen die Werte um rund 40 % niedriger. Nach diesen dramatischen Rückgängen für Passantinnen-/Passantenfrequenz und Umsätze deutet sich im Sommer eine Erholung an, als die Veränderung der Frequenzen nur noch um -20 % gegenüber dem Vorjahreswert lag. Nur an zwei Standorten in zwei Monaten wurden seit Februar 2020 mehr Passantinnen und Passanten gezählt als im Vorjahresmonat. Im November ist bereits die Wirkung des zweiten, zunächst „leichten“ Lockdowns zu erkennen. Den Entwicklungen im ersten Halbjahr folgend läge der Umsatz im November wieder um mindestens 8 % unter dem Wert des Novembers 2019. Deutlich wird jedoch auch, dass die

Entwicklung der Passantinnen- und Passantenzahlen die Umsatzentwicklungen in wenig von Corona geprägten Monaten nicht gut treffen. Dies kann an der spezifischen Entwicklung in Osnabrück liegen, oder an einem langjährigen Trend, dass Passantinnen- und Passantenzahlen auch bei wachsenden Umsätzen nicht zunehmen.

Daten zum Arbeitsmarkt Eine Ergänzung der vorgestellten neuartigen Datensätze mit Daten aus der amtlichen Statistik bietet sich an, da letztere in Bezug auf Harmonisierung, Erfassung und Methodik stärker ausgereift sind und damit meist eine bewährte Qualität aufweisen. Ein Datensatz der amtlichen Statistik, der sich hierfür eignet, ist jener der Bundesagentur für Arbeit (BA) zur Zahl der gemeldeten Arbeitsstellen in Handelsberufen in der Stadt Osnabrück. Der Vorteil dieser in einer Vollerhebung durch Verwaltungsprozessdaten bereitgestellten Statistik liegt in ihrer monatlichen Verfügbarkeit ohne Wartezeit und ihrer regionalen Tiefe auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte. Die gemeldeten Arbeitsstellen umfassen sozialversicherungspflichtige, geringfügige und sonstige Arbeitsstellen und stellen einen Großteil des gesamten Stellenangebotes für Handelsberufe dar. Sie geben damit den Umfang der ungedeckten Arbeitskräftenachfrage wieder und könnten als Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung im Handelssegment in der Stadt Osnabrück dienen. Eine schwache Konjunktur sorgt für einen niedrigeren Bedarf an Arbeitskräften, weil Unternehmen ihre Nachfrage anpassen und seltener neue Stellen ausschreiben. Infolge dieses Prozesses müsste die Zahl der bei der BA gemeldeten Arbeitsstellen für Handelsberufe zumindest mit einer gewissen Verzögerung nach Ausrufung der Geschäftsschließungen im innenstädtischen Einzelhandel sinken. Die folgende Abbildung stellt daher die im Jahr 2020 beobachteten Veränderungen der Zahlen der gemeldeten Arbeitsstellen für Handelsberufe in Osnabrück und Niedersachsen zusammen mit der Referenzgröße (Umsatz im WZ 47.7 in Niedersachen) dar. Mit Beginn der Corona-Maßnahmen im März 2020 sinkt die Zahl der gemeldeten Arbeitsstellen für Handelsberufe in der Stadt Osnabrück merklich ab (-12 %), nachdem sie im Februar noch stabil war und erreicht im Juni 2020 einen Tiefstand, der mehr als ein Drittel (-35 %) unter dem Niveau des Vorjahresmonats liegt. In Niedersachen insgesamt ist ein ähnlicher Trend zu erkennen, wobei der Einbruch des Stellenmarktes für Handelsberufe etwas weniger drastisch ausfällt. Die niedersächsische Umsatzentwicklung zeigt im März und April eine ähnlich abfallende Bewegung wie jene der Zahl der gemeldeten Stellen. Zu Beginn der Krise entspricht die Entwicklung auf dem Stellenmarkt also der Umsatzentwicklung in diesem Segment, denn die Handelsunternehmen passten ihre Nachfrage nach neuen Arbeitskräften im Frühjahr umgehend an die neue wirtschaftliche Lage an. Im Sommer stabilisieren sich die Verläufe der Zahlen der gemeldeten Arbeitsstellen sowohl in Osnabrück als auch in Niedersachsen insgesamt auf einem niedrigen Niveau, das rund ein Drittel unter den Vorjahreszahlen liegt. Zu gleicher Zeit erholt sich die Umsatzentwicklung wieder und markiert

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Abbildung 4: Veränderung der Zahl gemeldeter Stellen in Handelsberufen in der Stadt Osnabrück und in Niedersachsen insgesamt sowie Veränderung der Einzelhandelsumsätze in Niedersachen, Januar bis November 2020 gegenüber dem Vorjahresmonat in %

Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2020

nur noch ein schwach rückläufiges Niveau bzw. im Juli sogar ein leichtes Plus von 4 % gegenüber Juli 2019. In dieser Phase verläuft die Geschäftsentwicklung im Handel besser als der entsprechende Stellenmarkt. Die Handelsunternehmen agieren bei Neueinstellungen demnach weiterhin vorsichtig. Im Herbst geht der Trend bei den gemeldeten Stellen für Handelsberufe leicht nach oben. Im Oktober und November suchen die Osnabrücker wie auch die niedersächsischen Handelsunternehmen wieder mehr neues Personal als in den schwachen Vormonaten, dennoch ist das Stellenangebot in diesem Segment weiterhin deutlich kleiner als im Vorjahr (-25 % im November 2020 gegenüber November 2019). Zwar liegen für die Monate seit September keine niedersächsischen Umsatzzahlen mehr vor, der Entwicklung des Stellenangebots zufolge müssten die Erwartungen der Unternehmen an die Geschäftsentwicklung aber gestiegen sein, was u. a. mit dem für den Einzelhandel bedeutsamen Weihnachtsgeschäft zusammenhängen könnte. Im Herbst könnte die Umsatzentwicklung auf niedersächsischer Ebene demnach wieder auf Vorjahresniveau liegen. Die Zahl der gemeldeten Arbeitsstellen für Handelsberufe insgesamt ist damit bedingt als Indikator für die derzeitige wirtschaftliche Entwicklung im Handel geeignet. Zu Beginn der Krise zeichnet sich ein enger Zusammenhang der Größen ab, da die Zahl der gemeldeten Stellen parallel mit dem Umsatz zurückgeht. Danach löst sich der enge Zusammenhang auf, weil die Entwicklung des Stellenangebots träger verläuft

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als jene des Umsatzes. Zahlen zu den gemeldeten Arbeitsstellen können im Frühstadium der Krise ein nützliches Indiz sein, um auf entsprechende Umsatzentwicklungen zu schließen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Größe der gemeldeten Arbeitsstellen noch eine sehr reagible Größe. Für den Handelsumsatz in Osnabrück lässt sich somit abschätzen, dass er im März und April eine ähnliche Entwicklung nimmt wie das Äquivalent in Niedersachsen. Im Zusammenhang mit den zuvor hier vorgestellten neuen Daten ist diese Statistik als sinnvolle Ergänzung zu sehen. Ein Abgleich der Datensätze kann hilfreich sein, da diese Statistik sich abzeichnende Entwicklungen in den noch wenig erprobten Datensätzen aufgrund ihrer hohen Datenqualität untermauern kann.

Fazit Die Ergebnisse der Konjunkturstatistik zeigen bereits starke Umsatzeinbußen im (stationären) Einzelhandel im Rahmen des Corona-Lockdowns im Frühjahr. Die darauffolgende Phase mit moderaten Corona-Maßnahmen hat nur für eine schwache Erholung gesorgt. Um die spezifischen Auswirkungen in Städten zu analysieren, sind weitere Daten notwendig. Vorgestellt wurden vier Datenquellen, die sich in ihren Eigenschaften jedoch deutlich unterscheiden (vgl. Tabelle 2). Die vermutlich nur temporär verfügbaren Daten zur Bewegung von Mobil-


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Tabelle 2: Zusammenfassende Bewertung der neuen Datenquellen und Indikatoren Indikator/Datenquelle

Umsatzentwicklung im Einzelhandel

Mobilitätsstandortdaten

Passantinnen- u. Gemeldete Arbeitsstellen Passanten-frequenzen für Handelsberufe

Quelle

Statistische Ämter der Länder

google.com

hystreet.com

Bundesagentur für Arbeit

Zeitliche Auflösung

Monatlich

Täglich

Stündlich

Monatlich

Regionale Verfügbarkeit

- (bis Länderebene)

- (bis Länderebene)

+ (einzelne Standorte)

+ (bis Kreisebene)

Zeitliche Verzögerung der Veröffentlichung

Ca. 3 Monate

4 Tage

1 Stunde

Wenige Tage

Inhaltliche Nähe zur Geschäftstätigkeit des innerstädtischen Einzelhandels

+ (Unterteilung bis WZ-3-Steller)

+

+

+/- reagiert stärker auf Konjunktureintrübung als Umsatz und erholt sich langsamer

Öffentliche Verfügbarkeit (aktuell/in Zukunft)

+/+

+/ungewiss

+/ungewiss

+/+

Vergleichbarkeit der Daten, freie Indexierung

+

- (festgelegter + Referenzzeitraum)

funkendgeräten haben einen direkten Bezug zur Häufigkeit des Einkaufs im stationären Einzelhandel und liefern zeitnah Daten. Hier sind jedoch längere Zeitreihen und ein besserer räumlicher Bezug notwendig, um spezifische Wirkungen zu analysieren. Den stärksten räumlichen Bezug haben aktuell die Daten zu Passantinnen und Passanten in den Innenstädten. Sie zeigen eine ähnliche Bewegung wie die Branchenumsätze, was angesichts der fehlenden Übereinstimmung des regionalen Bezugs mit Vorsicht zu interpretieren ist. Die Statistik zu gemeldeten Arbeitsstellen kann eine sinnvolle Ergänzung zu experimentellen Daten sein. Im Frühstadium der Krise zeigt sie eine große Ähnlichkeit zu den Umsätzen im Handel. Insgesamt reagiert die Größe aber elastischer auf Konjunktureintrübungen als der Umsatz und ist deshalb nur als Ergänzung und zum Abgleich geeignet. Die Vorteile der amtlichen Statistik liegen im spezifischen Branchenbezug und in der freien Verfügbarkeit. Letztere ist bei den noch wenig erprobten neuen Daten nicht gesichert. Es gilt, im Austausch mit den Datenanbieterinnen und -anbietern Nutzungsmöglichkeiten in spezifischen Auswertungsformaten zu sichern. Ferner gilt es aus den bestehenden Datenquellen Zeitreihen zu generieren, die sachlich und räumlich nahe genug beieinanderliegen, um den Zusammenhang zwischen Indikatoren des Konsumverhaltens und der Geschäftstätigkeit des innerstädtischen Einzelhandels in statistischen Modellen zu prüfen. Dies ermöglicht die Isolierung von Einflusszusammenhängen und wichtigen Treibern der Veränderungen in den Innenstädten. Auch ist die bessere Kenntnis um die Reaktion der Branchenumsätze auf (zukünftige) pandemiebedingte Einschränkungen bereits ein Fortschritt gegenüber den Unsicherheiten zu Beginn der aktuellen Sondersituation.

1 2

3

4 5 6 7 8 9

+

Das Statistische Bundesamt stellt auf Basis einer Stichprobe 8,5 % der Unternehmensstatistiken über die monatlichen Umsatzentwicklungen bereit. Für eine chronologische Auflistung der Beschlüsse des Bundes und der Länder vgl.: https://einzelhandel.de/themeninhalte/coronavirusmenue/12610-allgemeinverfuegungen-der-laender-zu-infektionsschuetzenden-massnahmen, zuletzt abgerufen am 10.12.2020. Bei einer Verkaufsfläche von bis zu 800 qm insgesamt höchstens eine Person pro 10 qm Verkaufsfläche und auf der 800 qm übersteigenden Fläche höchstens eine Person pro 20 qm Verkaufsfläche (Beschluss vom 25.11.2020). Hierunter fallen die Supermärkte und Warenhäuser. Vgl. Statistisches Unternehmensregister 2018 des Statistischen Bundesamtes Gemessen an der Großen Straße (www.hystreet.com) Vor der Freigabe eines Kaufs auf Rechnung wird die Identität und Bonität des Käufers überprüft. Die dargestellte Entwicklung basiert auf der Zahl der Auskünfte. Vgl. https://www.google.com/covid19/mobility/, abgerufen am 17.12.20 https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Diese-CoronaRegeln-gelten-im-November-in-Niedersachsen,corona5046.html, abgerufen am 21.12.2020.

Literatur Bachmann, Günther (2020): Stadt und Verkehr. Neue Verkehrsanalysen mit Mobilfunkdaten – ein Zwischenbericht. Stadtforschung und Statistik, Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker 33/1. CIMA (2019): Fortschreibung des Märkte- und Zentrenkonzeptes der Stadt Osnabrück – Beschluss des Rates der Stadt Osnabrück. Studie vom 05.11.2019 Statistisches Bundesamt (2020): Monatsstatistik im Handel 2020 – Qualitätsbericht. Wiesbaden. Hauf, Stefan, Stehrenberg, Shari & Zwick, Markus (2020): EXDAT – Experimentelle Daten und Methoden für eine innovative Statistik. Wirtschaft und Statistik 4/2020, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.

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Ilka Kürbis

Einwohnerentwicklung 2020 während der Coronavirus-Pandemie – Auswirkungen auf die Münchener Wanderungsbeziehungen Aus Sicht der Demografie zählt die Coronavirus-Pandemie zu den Ereignissen, die bedeutende Auswirkungen auf die Einwohnerentwicklung haben, aber in Zeitpunkt und Ausmaß nicht zu prognostizieren sind. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie veränderten die Rahmenbedingungen für einen möglichen Wanderungsaustausch. Lockdown und länderspezifische Einreise- und Ausreisebeschränkungen betrafen verstärkt die Auslandswanderung und bestimmte Branchen der berufsmotivierten Zuwanderung. Zuzüge und Wegzüge wurden nachgemeldet, verschoben oder aufgegeben. Insgesamt kam es in München zu weniger Wanderungsbewegungen als in den Jahren zuvor und nach 20 Jahren erstmals zu einem schwachen Wanderungsverlust. Im Jahr 2020 war für München dennoch ein geringes Einwohnerwachstum zu verzeichnen, das bemerkenswerterweise auf Geburtenüberschüssen basierte.

Dr. Ilka Kürbis Dipl.-Geogr., DESS Eco-Développement (F), seit 1999 im Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Landeshauptstadt München zum Thema Bevölkerungsprognosen tätig. : ilka.kuerbis@muenchen.de Schlüsselwörter: Einwohnerentwicklung – Pandemie – Coronavirus – SARS-CoV-2 – Wanderungsbewegungen – Landeshauptstadt München

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Die Coronavirus-Pandemie hat das Leben und die Arbeitswelt im Jahr 2020 geprägt wie kein anderes Ereignis der letzten Jahrzehnte. COVID-19 (coronavirus disease 2019) oder auch kurz Corona ist eine infektiöse Atemwegserkrankung, die durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 entsteht. Nach dem Robert Koch-Institut, das die zentrale Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention ist, stellt COVID-19 eine hohe Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung dar. Der erste Ausbruch der Infektionskrankheit wurde Ende Dezember 2019 in China registriert, entwickelte sich dort bereits im Januar zu einer Epidemie und wurde am 11. März 2020 von der WHO aufgrund eines mittlerweile weltweiten Ausbruchs zu einer Pandemie erklärt. In Deutschland trat der erste Coronavirus-Fall am 27. Januar 2020 im Münchener Umland auf. Während im März 2020 die Zahl der CoronavirusNeuinfektionen in China zurückging, verlagerte sich das Infektionsgeschehen nach Europa. Ab Mitte März waren auch die USA von der Pandemie betroffen. Im weiteren Verlauf zählten im Mai und Juni Lateinamerika und im August Indien zu den Hot-Spots der Coronavirus-Pandemie. Im September wurde in den europäischen Ländern ein erneuter Anstieg der Infektionszahlen und Sterbefälle festgestellt, der kontinuierlich anhält und als zweite Welle bezeichnet wird. Seit Dezember 2020 treten auch Virusvarianten auf, die als aggressiver eingestuft werden. Um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen, beschlossen weltweit zahlreiche Länder umfangreiche Maßnahmen, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben im Sinne eines Lockdowns einschränkten. In Deutschland begann der für mindestens 14 Tage angesetzte Lockdown am 22. März mit dem Beschluss von Bund und Ländern zu einem umfassenden Kontaktverbot. Erste Lockerungen der CoronaSchutzmaßnahmen wurden ab dem 15. April angekündigt und schrittweise umgesetzt. Mit dem erneuten Anstieg des Coronavirus-Infektionsgeschehens wurde von der Bundesregierung ein zweiter Teil-Lockdown ab dem 2. November beschlossen. Trotz weiterer Verschärfung der Kontaktbeschränkungen blieb das Infektionsgeschehen weiter hoch, so dass ein harter Lockdown ab dem 16. Dezember 2020 beschlossen wurde, der mehrmals verlängert wurde. Ende Dezember 2020 starteten in Deutschland die ersten Impfungen. Aus Sicht der Demografie zählt die Coronavirus-Pandemie zu den Ereignissen, die in Zeitpunkt und Ausmaß nicht zu prognostizieren sind, aber bedeutende Auswirkungen auf


Schwerpunkt Corona

die Einwohnerentwicklung haben. Dies wurde im Jahresverlauf der Monatswerte und in der Jahresbilanz 2020 deutlich. Während die Coronavirus-Erkrankung direkt auf die Sterbefälle wirkt, sind es vor allem die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die auf die Wanderungsbewegungen wirken. Seit März 2020 haben sich die Rahmenbedingungen für einen Wanderungsaustausch grundsätzlich geändert. Lockdown und Reisebeschränkungen sind Gründe dafür, dass Wanderungen nachgemeldet, verschoben oder aufgegeben werden.

Einwohnerentwicklung Die Landeshauptstadt München befindet sich seit über 20 Jahren in einer Phase mit Einwohnerwachstum. Seit 1999 sind steigende Einwohnerzahlen zu verzeichnen, die lediglich durch Registerkorrekturen der Jahre 2006, 2009 und 2017 unterbrochen wurden. Dabei basiert das Einwohnerwachstum in München auf Wanderungsgewinnen und Geburtenüberschüssen. In den Jahren 2011 bis 2015 war ein verstärktes Einwohnerwachstum mit 1,8 % bis 2,1 % pro Jahr zu beobachten, das auf eine hohe Zuwanderung aus dem Ausland zurückzuführen war. Seit 2017 hat sich die hohe Wanderungsdynamik etwas abgeschwächt und die Einwohnerentwicklung zeigt ein moderates Wachstum, das 2018 bei 1,0 % und 2019 bei 1,2 % lag. Nach Einwohnerzuwächsen Anfang 2020 wurden von März bis August Einwohnerverluste in München registriert. Grund waren reduzierte Wanderungsbewegungen, die im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie standen und zunächst verstärkt die Zuzüge betrafen. Wanderungsgewinne und damit verbundene Einwohnerzuwächse wurden erst wieder in den Monaten September bis November gemeldet. In der Jahresbilanz 2020 wurden leichte Wanderungsverluste festgestellt, die aber durch Geburtenüberschüsse kompensiert wurden und in der Summe zu einem schwachen Einwohnerwachstum führten. Ende Dezember 2020 waren 1.593.488 Einwohnerinnen und Einwohner mit Haupt- oder Nebenwohnsitz in München gemeldet. Dies waren +2.517 Personen bzw. 0,16 % mehr als Ende 2019.

Geburten und Sterbefälle Im Jahr 2020 verstarben 12.451 Münchnerinnen und Münchner, davon 4,7 % bzw. 579 mit COVID-19. Die höchsten Sterbefallzahlen mit COVID-19 wurden im Dezember 2020 mit 221 (18,9 %), im November mit 108 (10,3 %) und zu Anfang der Pandemie im April mit 161 (13,5 %) Sterbefällen registriert. Hingegen wurden in den vier Monaten Juni bis September nur 12 (0,3 %) Sterbefälle mit COVID-19 festgestellt. Insgesamt wurden im Jahr 2020 mehr Sterbefälle als in den Jahren zuvor gemeldet. 2020 waren es 12.451 und 2019 11.714 Sterbefälle in München. Die rohe Sterberate (CDR) fiel 2020 mit 782 höher aus als 2019 mit 741 Sterbefällen auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner gerechnet. Auch unter Berücksichtigung der Altersstruktur zeigte sich 2020 eine höhere Sterblichkeit. Theoretisch betrachtet würde die Zahl der Sterbefälle für 2020 bei nur 12.014 liegen, wenn die altersspezifischen Sterberaten von 2019 für die (durchschnittliche) Einwohnerzahl 2020 angenommen werden.

Mit 17.593 Geburten in München lag das Jahr 2020 auf einem ähnlich hohen Niveau der beiden Vorjahre. Im Jahresverlauf 2020 war die hohe Geburtenhäufigkeit im September mit 1.878 Geburten auffällig. Hingegen wurden im April nur 1.197 Geburten gemeldet. In München sind die Geburtenzahlen zu einem Großteil durch die starke Zuwanderung junger Menschen zu erklären. Wie für Großstädte typisch, liegt die Fertilität in München vergleichsweise niedrig und mit einer Fertilitätsrate (TFR) von 1,3 Kindern pro Frau unter dem Bayern- und Bundesdurchschnitt. Auswirkungen infolge der Pandemie auf die Geburtenfallzahlen waren noch nicht erkennbar. In der Jahresbilanz für 2020 ergab sich mit den Sterbefällen ein Geburtenüberschuss von insgesamt +5.142 Personen.

Wanderungsmotive Die Zuwanderung nach München hat vielfältige Gründe und setzt sich aus verschiedenen Wanderungsströmen unterschiedlicher Motivation zusammen. Motor für eine Zuwanderung nach München sind vor allem Ausbildung und Beruf. Während der berufsmotivierte Zuzug verstärkt im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung steht, sind es die Ausbildungsstätten und Universitäten, die alljährlich junge Erwachsene motivieren, nach München zu ziehen. Attraktive Großstädte wie München sind bevorzugte Ankunftsorte für Zuwandernde aus dem Ausland, die über bereits bestehende Verbindungen verstärkt werden. Hierbei ist München als Teil des Wanderungsaustausches in übergeordnete Prozesse eingebunden und von externen Faktoren abhängig, die zum Teil in den Herkunftsländern entstehen. In den letzten Jahren stand die Auslandswanderung im Kontext der EU-Osterweiterung, der Eurokrise und den anhaltenden Konflikten im Nahen Osten und in Afrika. Daneben zeigten auch die Aufhebung der EU-Visapflicht und die wirtschaftliche Globalisierung Auswirkungen auf die Wanderungsbewegungen in München. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben die bisherigen Wanderungsmotive eingeschränkt. Systemrelevante Branchen waren weniger stark betroffen als andere Branchen wie Gastronomie, Tourismus oder Einzelhandel. Hier ist anzunehmen, dass die wirtschaftliche Entwicklung der stärker betroffenen Branchen einen Teil der berufsmotivierten Zuwanderung einschränkte. Aber auch die unsichere Situation und Perspektive während der Pandemie können Gründe für eine geringere Wanderungsmotivation gewesen sein. Die Reisebeschränkungen und die Grenzschließungen reduzierten erwartungsgemäß die Möglichkeit eines Wanderungsaustauschs mit dem Ausland. Dabei waren die Pandemieentwicklung und die länderspezifischen Maßnahmen der jeweiligen Herkunftsländer von Bedeutung, die an Grenzen gebunden waren und sich in Ausmaß, Zeitpunkt, Dauer und Wiederholung unterschieden. Über das Jahr betrachtet waren die Maßnahmen zur Eindämmung der CoronavirusPandemie sehr unterschiedlich. Auch innerhalb Deutschlands unterschieden sich die Maßnahmen je nach Bundesland und zusätzlich lokal mit weiteren Auflagen für Hot-Spots mit hohen Inzidenzwerten.

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Grafik 1: Einwohnerentwicklung, Geburten und Sterbefälle und Zu- und Wegzüge von Januar 2018 bis Dezember 2020 Einwohnerentwicklung Einwohnerinnen und Einwohner mit Haupt- oder Nebenwohnsitz in München

Geburten und Sterbefälle Die COVID-19 Sterbezahlen enthalten Sterbefälle, die mit oder an COVID-19 verstorben sind

Zu- und Wegzüge Wanderungsbewegungen über die Stadtgrenze Münchens

Anmerkungen Die Daten beziehen sich auf die Meldung eines Ereignisses. Die Anzahl und Lage von Feiertagen eines Kalendermonats haben Einfluss auf die Meldung und den Eintrag im Melderegister. Einwohner- und Einwohnerinnen mit Haupt- oder Nebenwohnsitz, Geburten und COVID-19 Sterbefälle am Hauptwohnsitz. Für Mai 2018 liegt kein Abzug der Einwohnerdaten vor. In der Grafik wurde der Wert interpoliert. Ein Großteil der Bevölkerungsbewegungen von November 2019 wurde erst im Dezember 2019 berichtet. In den Grafiken erfolgte eine nachträgliche Umverteilung in Anlehnung der Vorjahre. Datenquellen: Statistisches Amt der Landeshauptstadt München, ZIMAS-Datenbank; Sterbefälle mit oder an COVID-19: muenchen.de/coronazahlen

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Schwerpunkt Corona

Grafik 2: Wanderungsbewegungen nach Räumen von Januar 2018 bis Dezember 2020 Herkunft der Zuzüge innerhalb Deutschlands aus anderen Gemeinden Deutschlands nach München

Ziele der Wegzüge innerhalb Deutschlands von München in andere Gemeinden Deutschlands

Herkunft der Zuzüge Auslandswanderung aus dem Ausland nach München

Ziele der Wegzüge Auslandswanderung von München ins Ausland

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Wanderungsbewegungen Städte wie München leben von der Zuwanderung. In München haben die Wanderungen ein vielfach höheres Volumen als die natürlichen Bevölkerungsbewegungen und direkten Einfluss auf die Einwohnerzahl und -struktur. Da sich die Zuzugs- und Wegzugsstruktur altersspezifisch unterscheiden, ist neben dem Saldo auch das Wanderungsaufkommen für den Bevölkerungsaufbau von Bedeutung. Im Jahresverlauf der Wanderungsbewegungen wird die ausbildungsbezogene Zuwanderung nach München in den Monaten September und Oktober deutlich. Hingegen überwiegen im August oftmals die Wegzüge. Von März bis August 2020 wurden weniger Zu- und Wegzüge als in den Jahren zuvor gemeldet. Die Zuzüge erreichten im April und Mai nur die Hälfte der Monatswerte des Vorjahres 2019. Ab August stiegen die Zuzugszahlen und betrugen zwischen 85 % und 100 % der Vorjahreswerte. Bei den Wegzügen fiel die Reduzierung weniger stark aus. Im April wurden 62 % und im Mai bereits 86 % der Vorjahresmonatswerte erreicht. Zum Jahresende hin lagen die Wegzugszahlen teilweise über den Vorjahreswerten. Insgesamt war die Wanderungsdynamik 2020 reduziert. Im Vergleich zum Vorjahr 2019 wurden 82 % der Zuzüge und 94% der Wegzüge erreicht. Abgesehen von den Registerkorrekturen wurden nach 20 Jahren erstmalig Wanderungsverluste in München registriert. Die Bilanz für 2020 zeigte mit 94.751 Zuzügen und 98.537 Wegzügen ein Wanderungsdefizit in Höhe von insgesamt -3.786 Personen.

Wanderungen innerhalb Deutschlands Die Reduzierung der Wanderungen innerhalb Deutschlands begann mit dem ersten Lockdown im März 2020 und war im April am deutlichsten. Die Zuzüge aus anderen Gemeinden Deutschlands nach München lagen im April und Mai um ein Drittel niedriger als in den Vorjahresmonaten. Mit Lockerungen der Maßnahmen stiegen auch die die Zuzugszahlen ab Juni wieder und lagen teilweise sogar über den Monatswerten von 2019. Bei den Wegzügen konzentrierte sich der Einschnitt auf den April. Bereits ab Mai 2020 lagen die Monatswerten der Wegzüge über denen des Vorjahres 2019. Die vergleichsweise hohe Wanderungsdynamik zum Jahresende deutet darauf hin, dass es sich zum Teil um Nachmeldungen und um verschobene bzw. nachgeholte Zu- und Wegzüge handelte. Der Wanderungsaustausch mit dem Münchener Umland erreichte nach starken Zuzügen von August bis Oktober sogar das Vorjahresniveau. Mit den ebenfalls starken Wegzügen fiel der Wanderungsverlust in das Umland geringfügig höher aus. Eine Zunahme der Stadt-Umland-Wanderung, die durch veränderte Arbeitsformen wie Home-Office ausgelöst werden könnte, war nicht erkennbar. Ein Zuzug in die Landeshauptstadt blieb weiter attraktiv. Der Trend, dass München Bevölkerung durch Zuwanderung aus anderen Bundesländern gewinnt und an das Umland und Oberbayern verliert, war auch 2020 zu beobachten. Der Saldoverlust im Wanderungsaustausch innerhalb Bayerns lag bei -12.210 Personen. Mit den anderen Bundesländern erzielte München Wanderungsgewinne in Höhe von +1.916 Personen.

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In der Jahresbilanz für die Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands ergab sich mit insgesamt 58.794 Zuzügen und 69.088 Wegzügen ein Wanderungsdefizit in Höhe von -10.294 Personen. Aufgrund der vergleichsweise höheren Wegzugszahlen fiel das Defizit 2020 stärker aus als 2019 mit -3.787 Personen. Im Vergleich zum Vorjahr wurden 2020 insgesamt 95 % der Zuzüge aus anderen Gemeinden Deutschlands nach München und 105 % der Wegzüge aus München in andere Gemeinden Deutschlands erreicht. Die erhöhte Anzahl der Wegzüge deutet darauf hin, dass es sich auch um neu motivierte Wanderungen handeln könnte, die im Zusammenhang mit der Pandemie ausgelöst wurden. Es ist anzunehmen, dass ein Teil der zuvor nach München Zugezogenen ihre ursprüngliche Zuzugsmotivation aufgrund der Pandemie nicht realisieren konnten und wieder zurückkehrten bzw. von München fortzogen. Im weiteren Kontext der Wanderungen sind auch die Umzüge innerhalb der Stadtgrenze Münchens von Bedeutung. Mit 115.032 Umzügen in München waren es sogar mehr Bewegungen innerhalb der Stadt als im Vorjahr. Dabei lagen die Umzugszahlen zu Beginn der Pandemie von März bis Mai unter dem Durchschnitt und ab August wiederum über dem Durchschnitt der Vorjahresmonate.

Auslandswanderung Stärkere Auswirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie betrafen die Wanderungsbeziehungen mit dem Ausland. Dabei war der Wanderungsaustausch mit dem Ausland grundsätzlich von den länderspezifischen Maßnahmen mit Einreise- und Ausreisebeschränkungen geprägt, die sich hinsichtlich Zeit und Ausmaß unterschieden und an Ländergrenzen orientierten. Die Rückgänge der Zu- und Wegzüge waren deutlich sichtbar, hielten länger an und lagen bis zum Jahresende weiter unter dem Niveau der Vorjahre. Die Zuzüge waren auch bei der Auslandswanderung stärker betroffen als die Wegzüge. 2020 wurden 67 % der Zuzüge und 78 % der Wegzüge der Vorjahreswerte der Auslandswanderung erreicht. Dabei wurden Wanderungen nachgemeldet und verschoben. Ein Teil des in den Vorjahren stattgefundenen Wanderungsvolumens blieb 2020 aber aus. Die Differenzierung der Wanderungsdaten nach Räumen zeigte auch eine entfernungsabhängige Komponente. Der Rückgang der Zuzüge aus Ländern Asiens war am stärksten, was sich bereits im Februar 2020 ankündigte. Im Mai erreichten die Zuzüge nur ein Fünftel der Vorjahreswerte. Mit 5.330 Zuzügen aus Asien nach München hatte sich die Zuwanderung 2020 aus Ländern Asiens fast halbiert. Dies zeigte sich beispielhaft bei den zuzugsstarken Ländern Indien und China, die beide von der Coronavirus-Pandemie betroffen waren. China traf es verstärkt zu Beginn der Pandemie und Indien ab August 2020. Die Zuwanderung aus Indien betrug 2019 noch 2.708 und reduzierte sich 2020 auf 1.067 Personen; aus China waren es 2019 1.731 und 2020 nur 746 Zuzüge. Die Reisebeschränkungen innerhalb der EU waren weniger hoch und betrafen mehr die privaten oder touristisch veranlassten Reisen als die berufsmotivierten Wanderungen.


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Entsprechend waren die zahlenmäßig bedeutenden Wanderungsbeziehungen mit Ländern der EU weniger stark beeinträchtigt. Im Jahresverlauf der Wanderungsbewegungen war nach dem Lockdown im Frühjahr wieder der ausbildungsbezogene Zuzug in den Monaten September und Oktober erkennbar. Bis zum Jahresende wurde 74 % der Zuwanderung aus Ländern der EU des Vorjahres erreicht. Die Zuwanderung aus Rumänien betrug 2019 insgesamt 3.516 und 2020 2.363 Personen; aus Italien waren es 2019 insgesamt 3.181 und 2020 2.170 Zuzüge nach München. Der temporäre Einreisestopp aus europäischen Ländern außerhalb der EU wirkte sich wiederum etwas mehr aus. Aus diesen Ländern wurden 2020 66 % der Zuzüge des Vorjahres gemeldet. Mit insgesamt 33.483 Zuzügen aus dem Ausland und 20.147 Wegzügen in das Ausland wurde ein Wanderungsgewinn von +13.336 Personen in München erreicht. Das war etwa die Hälfte des Saldos von 2019 mit +24.284 Personen. Den Gewinnen aus der Auslandswanderung stehen die Verluste aus der Wanderung innerhalb Deutschlands gegenüber. Für die Gesamtbilanz sind zusätzlich die Datensätze ohne räumliche Zuordnung zu berücksichtigen, dessen Saldo 2020 bei -6.828 Personen lag.

Ausblick Die Coronavirus-Pandemie hat das Leben und die Arbeitswelt im Jahr 2020 geprägt und auch die Einwohnerentwicklung in München beeinflusst. Dabei ist die Pandemie ein Ereignis, das nicht vorhersehbar war und für das es an vergleichbaren Ereignissen in den letzten Jahrzehnten fehlte. Die vorliegende Beschreibung und Auswertung der Monatsdaten geben eine erste Einschätzung zu den demografischen Auswirkungen der Pandemie in München. Die Kenntnis der aktuellen und zukünftig zu erwartende Einwohnerentwicklung ist in der Stadtentwicklungsplanung generell für planerische Strategien und Maßnahmen bedeutend und eine Grundlage für fachliche und räumlich differenzierte Prognosen und Infrastrukturplanungen. Nach dem jetzigen Kenntnisstand zum weiteren Pandemieverlauf werden die Einschränkungen auch das Jahr 2021 treffen und das bisher bekannte Einwohnerwachstum in München abschwächen. Es ist zu erwarten, dass mit Aufhebung der Einreise- und Ausreisebeschränkungen die Wanderungsdynamik mit dem Ausland wieder steigen wird. Für die berufsmotivierten Wanderungen hingegen werden die folgenden wirtschaftlichen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt entscheidend werden. Von der Pandemie direkt oder erst im weiteren Verlauf ausgelöst, ist auch mit langfristen Veränderungen zu rechnen, die beispielsweise die Wohnpräferenzen, veränderte Arbeitsformen oder den Trend zur wirtschaftlichen Globalisierung betreffen. Weitere Veränderungen sind für das Fertilitätsverhalten oder die Mortalität denkbar. Zukünftig wird der Fokus auf der Abschätzung nachhaltiger Auswirkungen liegen und inwiefern sich Trends abzeichnen, die sich auch in den Einwohnerdaten wiederspiegeln.

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Ulrich Rendtel, Steffen Sebastian, Nicolas Frink

Ist der Berliner Mietspiegel 2019 qualifiziert? – Ein alternativer Mietspiegel mit Daten des Mikrozensus In diesem Aufsatz vergleichen wir den Berliner Tabellenmietspiegel 2019 mit einem Regressionsmietspiegel unter Verwendung der Daten des Wohnmoduls aus dem Mikrozensus. Dieser Vergleich gestattet die Abschätzung einer möglichen Verzerrung der Ergebnisse des Mietspiegels, unter anderem durch die sehr hohen Non-Response-Raten bei der Umfrage für den Berliner Mietspiegel 2019. Wir zeigen so auf, welche hohe Bedeutung die in der aktuellen Mietspiegelreform geplante Auskunftspflicht hat. Weiterhin benutzen wir diesen alternativen Regressionsmietspiegel, um mögliche weitere Fehlerquellen in der Berechnung des Berliner Mietspiegels zu identifizieren. Insbesondere überprüfen wir, ob die im offiziellen Mietspiegel genutzte Einteilung Berlins in drei Wohnlagen die regionale Streuung der Mieten realistisch beschreibt. Ausgehend von den hier präsentierten Ergebnissen kommentieren wir überdies Aspekte der aktuellen Regierungsentwürfe zur Mietspiegelreform.

Wir danken Birgit Pech, Jörg Feilbach, Ricarda Nauenburg und Hartmut Bömermann vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg für die Unterstützung dieses Projekts und hilfreiche Ratschläge. Ein spezieller Dank gilt Michael Fürnrohr vom Bayerischen Landesamt für Statistik für den Hinweis auf die Testerhebung zur Erhebung von Mieten im Zensustest 2001. Weiterhin danken wir Ute Braun, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen des Landes Berlin für die Einräumung der Abdruckrechte an den Abbildungen 1 und 4.

Prof. Dr. Ulrich Rendtel Freie Universität Berlin : ulrich.rendtel@fu-berlin.de Prof. Dr. Steffen Sebastian Universität Regensburg; Vorsitzender der Mietspiegelkommission der gif Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung. Alle Ausführungen geben nur die Meinung der Autoren und nicht der gif-Mietspiegelkommission wieder. : steffen.sebastian@irebs.de Nicolas Frink Freie Universität Berlin : nicolas.frink@fu-berlin.de

Schlüsselwörter: Mietspiegel – Mikrozensus – Non-Response – Mietspiegelreform

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Einleitung Mietspiegel sollen die ortsübliche Vergleichsmiete darstellen. Sie sind eine wichtige Orientierungshilfe sowohl für Mieter als auch für Vermieter. Insbesondere bei Mieterhöhungsverlangen gemäß § 558 BGB wird ein Mietspiegel zur Begründung der Forderung herangezogen. Als besonders verlässliches Begründungsmittel gilt ein „qualifizierter Mietspiegel“ nach § 558d BGB. Dieser soll nach „anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen“ erstellt und von den Interessenvertretern der Vermieter und Mieter oder der Gemeinde anerkannt werden. Er muss alle vier Jahre neu erstellt und nach zwei Jahren entweder über einen Preisindex oder eine neue Stichprobe an die Entwicklung der Mieten angepasst werden. Diese Rahmenbedingungen sichern die „Vermutung, dass die im qualifizierten Mietspiegel genannten Entgelte die ortsübliche Vergleichsmiete wiedergeben“ (§ 558d Abs. 3). Einen aktuellen Überblick über Mietspiegel in Deutschland findet man in der Auswertung der Mietspiegelsammlung des BBSR (2020) sowie dem gif-Mietspiegelreport 2020 (vgl. Sebastian/Memis 2020). Demnach existiert unter den 200 größten deutschen Städten in 73 Fällen ein qualifizierter Mietspiegel, in 91 Fällen ein einfacher Mietspiegel mit geringeren Qualitätsanforderungen sowie in 36 Fällen gar kein Mietspiegel. In einigen Städten wird der Mietspiegel von der Kommunalstatistik erstellt, andere Städte beauftragen ein privatwirtschaftliches Institut mit der Durchführung der Umfrage und der Erstellung eines Mietspiegels. Zudem unterscheiden sich die Methodik der Umfrage und des benutzten statistischen Verfahrens bei der Erstellung des Mietspiegels zum Teil erheblich: So basieren die Mietspiegeldaten auf Mieterbefragungen oder auf Befragungen der Vermieter bzw. auch auf einer Mischung beider Befragungsquellen. Hinsichtlich der statistischen Methodik haben sich zwei Varianten herauskristallisiert: die Tabellenmethode und die Regressionsanalyse. Nach dem gif-Mietspiegelreport 2020 nutzen 62 % der qualifizierten Mietspiegel das Instrumentarium der Regressionsanalyse, um den Einfluss von vielen Merkmalen auf die Miete zu messen (vgl. Sebastian/Memis 2020, S. 8–18). Im Gegensatz dazu benutzt ein Tabellenmietspiegel in der Regel nur die Wohnungsgröße, das Baualter, die Wohnlage sowie manchmal auch die Ausstattung (alle Merkmale in klassierter Form) und gibt für jede Kombination der so entstehenden Tabelle einen Mittelwert für die Vergleichsmiete an. Der Berliner Mietspiegel ist ein typischer Tabellenmietspiegel.


Stadtforschung

Alle Mietspiegel werden auf Grundlage von Umfragen mit freiwilliger Beteiligung erhoben. Allerdings sind die Ausfälle durch Non-Response hier durchgängig sehr hoch, was die Gefahr verzerrter Stichproben mit sich bringt. Diese Ausfallraten hängen von einer Vielzahl von größtenteils unbekannten Faktoren ab (vgl. Kauermann et al. 2020, S. 151, 158 f.). Auch zeigt sich bei der Berechnung der Non-Response-Raten eine spezifische Schwierigkeit von Mietspiegelumfragen: Da für die Ermittlung der ortsüblichen Miete nur die Neuvermietungen oder Mietverhältnisse mit Mietanpassung während der letzten vier Jahre1 relevant sind, muss erfasst und dokumentiert werden, warum auch ein erfasstes Mietverhältnis möglicherweise nicht in der Nettostichprobe berücksichtigt wird, d. h., ob das Mietverhältnis nicht für den Mietspiegel relevant ist oder ob der Haushalt nicht auskunftswillig ist (vgl. Sebastian 2016, S. 246). Zudem ist die Grundgesamtheit regelmäßig unbekannt. Eine hohe Non-Response-Rate kann die Ergebnisse stark verfälschen, insbesondere wenn (wie im Berliner Mietspiegel) entgegen dem üblichen Standard in Umfrageerhebungen keinerlei Non-Response-Korrekturen durchgeführt werden. Von daher ist der Vergleich mit einer Erhebung mit gesetzlicher Auskunftspflicht eine wertvolle Orientierungshilfe bei der Einschätzung der Zuverlässigkeit eines Mietspiegels. Hier bietet sich der Mikrozensus an. Der Mikrozensus ist eine Erhebung mit Auskunftspflicht, bei der alle vier Jahre im Rahmen einer Zusatzerhebung die Wohnungsmiete und weitere Merkmale der Wohnung erfragt werden (vgl. Bihler/Zimmermann 2016). Allerdings konnte früher das wichtige Merkmal der Lage nicht bestimmt werden, da die Wohnadresse im Mikrozensus kein Analysemerkmal war und nach der Umfrage gelöscht werden musste. Dieser Sachverhalt hat sich erstmalig für den Mikrozensus 2018 geändert, so dass es jetzt möglich ist, die Lage der Wohnung auf einem 100 × 100-Meter Gitter für Auswertungen zu nutzen. Damit lässt sich die Wohnlage der Wohnung hinreichend genau bestimmen, um direkte Vergleiche zwischen einem Tabellenmietspiegel und einer alternativen Fassung über den Mikrozensus zu ermöglichen. Erstmalig ist dies für das Jahr 2018 erfolgt, in dem die Erhebung für den Berliner Mietspiegel 2019 stattfand und in dem gleichzeitig das Mikrozensus-Wohnmodul realisiert wurde. Die hier vorgestellten Ergebnisse folgen dem Ansatz von Frink/ Rendtel (2019). Wir erweitern diese Analyse um die Berechnung eines alternativen Mietspiegels für die Stadt Berlin und einer Beurteilung der Prognosequalität für die ortsübliche Vergleichsmiete. Weiterhin liefern wir Aspekte für die Beurteilung des Berliner Mietspiegels 2019 als qualifizierter Mietspiegel und geben Anregungen für zukünftige Mietspiegel sowie Kommentare zur geplanten Mietspiegelreform.

Der Berliner Mietspiegel Historie Das Hamburger Unternehmen „F+B Forschung und Beratung für Wohnung, Immobilien und Umwelt“ hat bereits die Mietspiegel für die Jahre 2011, 2013, 2017 und 2019 erstellt.2 Die

Frage der Wissenschaftlichkeit des Berliner Mietspiegels war wiederholt Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Auch ist der Berliner Mietspiegel nicht nur der Mietspiegel, der mit Abstand am häufigsten Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen war, sondern auch der einzige qualifizierte Mietspiegel Deutschlands, bei dem bereits mehrfach gerichtlich geurteilt wurde, dass er nicht nach anerkannten wissenschaftlichen Methoden erstellt wurde.3 Es muss zuerkannt werden, dass die Ursache für die Häufigkeit der Gerichtsverfahren sicherlich nicht allein die häufig kritisierte Qualität des Berliner Mietspiegels ist, sondern auch die Tatsache, dass Berlin der größte deutsche Mietwohnungsmarkt ist. Damit allein lässt sich die hohe Anzahl der Prozesse jedoch nicht erklären. Es muss in aller Deutlichkeit in Frage gestellt werden, ob die von den Verantwortlichen wiederholt vorgebrachte Behauptung, dass sich das Konzept des Berliner Mietspiegels „bewährt“ habe, vor dem Hintergrund der jahrelangen anhaltenden gerichtlichen und außergerichtlichen Debatte tatsächlich aufrechterhalten werden kann. Wir hoffen daher, mit unserem Aufsatz einen konstruktiven Beitrag für die Versachlichung der Diskussion zu leisten. Der Zeitpunkt könnte nicht günstiger sein: Derzeit ist der Berliner Mietspiegel 2019 durch den Mietendeckel ohnehin außer Kraft. Unsere – durchaus kritische – Beurteilung hat also keine unmittelbare Auswirkung auf aktuelle Verfahren. Die Probleme des von GEWOS erstellten Mietspiegels 2009 wurden bereits von Schlittgen (2017) ausführlich dokumentiert. Dies betraf vor allem die Dokumentation der Arbeitsschritte und die fachliche Korrektheit der Kombination von Tabellenmietspiegel und der Spanneneinordnung auf Basis eines Regressionsansatzes.4 In dieser Arbeit thematisieren wir verschiedene methodische Aspekte, vor allem den Zugang zur Datenbasis, den Umgang mit Stichprobenausfällen und die Lagedefinition. Veröffentlicht wurde der Mietspiegel 2019 im Mai 2019, der zugehörige Methodenbericht jedoch erst 6 Monate später im Januar 2020 (F+B 2020). Ausweislich des Berichts wurde der Datensatz des Mietspiegels bereits im November 2019 gelöscht, weil die Zweckbestimmung der Datenerhebung (Erstellung des Mietspiegels 2019) erfüllt sei. Damit sind keine Validierungsarbeiten mehr möglich. Angesichts der in dem Bericht dokumentierten sehr hohen Ausfallraten wäre die Prüfung alternativer Ansätze zur Kontrolle der Non-ResponseRaten angemessen gewesen. Generell widerspricht bereits die Löschung eines derart wichtigen Datensatzes grundsätzlichen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens. Auch datenschutzrechtliche Aspekte liefern hierzu u. E. keine Rechtfertigung: Die Daten hätten ohne Weiteres in anonymisierter Form archiviert werden können. Stichprobendesign Der Berliner Mietspiegel 2019 ist eine Fortschreibung des Mietspiegels 2017 mittels einer repräsentativen Zufallsstichprobe sowie Wiederholungbefragungen der Mieter und Vermieter aus der Datenerhebung zum Berliner Mietspiegel 2017. Die Daten des Berliner Mietspiegels 2019 basieren auf 4.017 Interviews aus einer Mieterbefragung sowie Auskünften über

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Stadtforschung

11.045 Wohnungen aus einer schriftlichen Befragung der Vermieter. Die Befragungen sind disjunkt angelegt, d. h., es gibt keine Wohnungen, für die sowohl Angaben aus der Mieter- als auch der Vermieterstichprobe vorliegen. Dies ist aber keine ausreichende Korrektur. Die sonst sehr ausführliche, in diesem Punkt aber unpräzise Dokumentation lässt vermuten, dass es sich um kombinierte Umfragen aus verschiedenen Stichproben handelt. In derartigen Erhebungen können sich die Inklusionswahrscheinlichkeiten ändern, womit eine ausgleichende Gewichtung erforderlich wäre (vgl. Kauermann et al. 2020, S. 152). Auch hierüber finden sich in der Dokumentation zum Berliner Mietspiegel keine Angaben. Sofern diese unterlassen wurden, sind die Ergebnisse mutmaßlich verzerrt. Non-Response-Raten Die Mieterbefragung umfasst eine bereinigte Bruttostichprobe von 121.183 Mietwohnungen. Begonnen wurde mit einer schriftlichen Screening-Umfrage, ob die Wohnung für den Mietspiegel relevant ist, d. h., ob eine Neuvermietung oder Mietanpassung innerhalb der letzten vier Jahre vorlag. Etwa 9,2 % der befragten Mieter führten das Screening bis zum Ende durch. Aus diesem Screening ergaben sich 8.562 mietspiegelrelevante Wohnungen (Nettostichprobe für die Haupterhebung). Bei dem anschließenden Interview (persönliche Befragung mit Interviewer) betrug die Responsequote 47 %, so dass final 4.017 Interviews durchgeführt wurden (vgl. F+B 2020, S. 18). Leider wurde nicht, wie in der Umfrageforschung üblich, eine Non-Responder-Analyse durchgeführt. Auch über Nachfassen durch Erinnerungsschreiben, auch dies ein Standard in der Umfrageforschung, sagt die Dokumentation nichts aus. Daher wurden die Ausfälle durch fehlende Rückmeldung nicht weiter analysiert. Somit konnte hier nicht festgestellt werden, ob der Ausfall auf Nichtzugehörigkeit zur Befragungspopulation (d. h. nicht mietspiegelrelevant) oder auf echte Teilnahmeverweigerung zurückzuführen ist. Daher kann die Responsequote für die Mieterstichprobe nicht exakt bestimmt werden. Im ungünstigsten Fall liegt sie bei ca. 5 %. Die niedrige Responsequote selbst haben die Ersteller der Umfrage (nach Maßgabe aller verfügbaren Informationen) natürlich nicht zu vertreten. Die wissenschaftliche Qualität des Mietspiegels wird hierdurch nicht beeinträchtigt; sehr wohl aber durch die fehlende Non-Responder-Analyse. Tabelle 1 zeigt für die Vermieterstichprobe eine deutliche Abhängigkeit der Responsequote von der Größe des Vermieters, gemessen über die Anzahl seiner Wohnungen in der Stichprobe:

Tabelle 1: Antwortraten in der Vermieter-Umfrage zum Berliner Mietspiegel 2019 (Quelle F+B 2020, S. 15) Anzahl Wohnungen in Stichprobe

Responsequote

1–9 Wohnungen

11 %

10–49 Wohnungen

17 %

50 und mehr Wohnungen

58 %

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Derartig geringe und vor allem stark abweichende Antwortraten plädieren stark für eine Modellierung des Teilnahmeverhaltens mittels üblicher, statistischer Standardverfahren. Dies kann zum einen über eine Schätzung der Antwortwahrscheinlichkeiten anhand von regionalen Merkmalen oder Merkmalen der Vermieter geschehen, die auch für die Nonrespondenten bekannt sind, oder man kann Kalibrationsansätze nutzen, bei denen anhand einer Gewichtung der Stichprobe bekannte Populationswerte erreicht werden (vgl. Särndal/Lundström 2005 und Särndal 2007). Allerdings ergibt sich hierbei ein spezielles Problem der Mietspiegelerstellung: Legt man als Grundgesamtheit die Population aller mietspiegelrelevanten Wohnungen zugrunde, so sind für diese Population keine Eckwerte bekannt. Deren Kenntnis ist aber eine Voraussetzung für jedes Kalibrationsverfahren. Ein ähnliches Argument gilt für die Schätzung von Response-Wahrscheinlichkeiten. Da hier für die ausgefallenen Wohnungen nicht bekannt ist, ob diese mietspiegelrelevant ist oder nicht, lassen sich keine Responseraten für die Mietspiegelumfrage schätzen. Dies wäre nur möglich, wenn man für alle Wohnungen ermittelte, ob die Wohnung mietspiegelrelevant ist oder nicht. Diese Information wird auch für die nicht teilnahmebereiten Haushalte benötigt. Die übliche Vorgehensweise bei Non-ResponseAnalysen ist es, die nicht teilnahmebereiten Haushalte erneut zu befragen und lediglich um diese eine Angabe zu bitten. Dies ist aber beim Berliner Mietspiegel nicht geschehen. Berlin ist allerdings kein Einzelfall. Kauermann et al. (2020, S. 158) identifizieren unter den 22 qualifizierten Mietspiegeln der 30 größten Städte Deutschlands weitere 6 Mietspiegel ohne Non-Response-Analyse. Insgesamt weist der Methodenbericht zum Berliner Mietspiegel 2019 keine einzige Non-ResponseAnalyse oder -korrektur auf. Mit anerkannten wissenschaftlichen Grundlagen, hier in Bezug auf den anerkannten Stand der Technik in der Umfrageforschung und -praxis, ist dies nur sehr bedingt vereinbar. Die Berliner Mietspiegeltabelle Abbildung 1 zeigt die Berliner Mietspiegeltabelle des Jahres 2019. Die einzelnen Tabellenfelder weisen drei Werte aus. Im oberen Teil steht der Median6 der um Ausreißer bereinigten Nettokaltmiete pro Quadratmeter. Die hier verwendete Ausreißerbereinigung entspricht aber nicht statistischen Standardverfahren. Üblicherweise werden Werte, die um mehr als das 1,5-Fache des Interquartilsabstands vom unteren 25- beziehungsweise oberen 75-Prozentpunkt der Verteilung entfernt sind, als Ausreißer – also nicht plausible Werte – betrachtet. Bei dem in Berlin verwendeten Verfahren müssen die ausgeschlossenen Werte zusätzlich um mehr als 0,50 Euro von einem gültigen Wert entfernt sein. Im unteren Teil ist ein Intervall, die sogenannte „Mietspanne“, angegeben. Diese Mietspanne ergibt sich aus dem 12,5-Prozentpunkt (unterer Wert) der validen Werte in der jeweiligen Zelle. Der obere Wert ist durch den 87,5-Prozentpunkt gegeben. Insgesamt umfasst das Intervall zwischen dem unteren und dem oberen Wert also 3/4 aller validen Werte in der jeweiligen Zelle der Mietspiegeltabelle. Der Abstand dieser beiden Grenzwerte zum Median kann also durchaus verschieden sein.


Stadtforschung

Abbildung 1: Die Berliner Mietspiegeltabelle 2019

Berliner Mietspiegeltabelle 2019

Ortsübliche Vergleichsmieten (Stichtag 01.09.2018) Netto-Kaltmiete in Euro je Quadratmeter monatlich

Altbau

Bezugsfertig

bis 1918

Ausstattung Wohnfläche Wohnlage

bis unter 40 m2

40 m2 bis unter 60 m2

60 m2 bis unter 90 m2

90 m2 und mehr

Spalte Sp Zeile

Neubau

1919 - 1949 1950 - 1964 1965 - 1972 1973 - 1990 1973 - 1990 1991 - 2002 2003 - 2017 West a Ost a mit Wendewohnungen

ohne Wendewohnungen

mit Sammelheizung (SH), Bad und WC in der Wohnung (IWC)

mit SH, Bad und IWC

mit SH, Bad und IWC

mit SH, Bad und IWC

mit SH, Bad und IWC

mit SH, Bad und IWC

mit SH, Bad und IWC

mit SH, Bad und IWC

1

2

3

4

5

6

7

8

7,90

7,80 *

6,43

6,80

7,57 *

7,14

einfach

A

mittel

B

gut

C

6,54 - 14,23

einfach

D

5,26 - 9,94

mittel

E

5,41 - 10,25

gut

F

5,99 - 10,97

einfach

G

4,83 - 10,00

mittel

H

4,84 - 10,00

5,09 - 7,32

5,28 - 7,08

5,08 - 6,40

5,70 - 9,11

4,60 - 5,76

6,73 - 9,03

8,91 - 12,20

7,49

7,10

6,54

6,65

8,32

5,57

9,09

10,22

5,50 - 12,97

8,43

6,72 - 12,24

11,44 * 6,75 7,43 8,04 6,33 6,77

6,00 - 8,68

7,66 *

6,44 - 8,55

7,50 **

6,44 - 9,48

6,40

5,42 - 8,19

6,74

5,63 - 7,76

6,90

6,01 - 9,14

5,87

5,06 - 7,27

6,24

gut

I

5,62 - 10,92

einfach

J

4,79 - 9,14

5,14 - 7,16

6,77

6,01

6,23

mittel

K

4,88 - 9,80

gut

L

5,48 - 10,48

7,33

5,91 - 9,15

5,54 - 9,03

6,85

5,65 - 9,05

7,47

6,36 - 9,31

6,00

5,38 - 8,00

6,11

5,39 - 7,64

6,52

5,65 - 7,85

5,58

4,83 - 6,81

6,00

5,50 - 8,37

6,13 *

5,10 - 8,51

6,69

5,69 - 8,93

5,99 - 8,83

6,57

5,89 - 8,24

8,90

8,15 - 9,75

5,88

5,05 - 7,01

5,98

5,43 - 6,94

7,13

5,29 - 10,00

5,45

4,89 - 6,08

5,71

5,20 - 8,31

5,47

6,77 **

5,62 - 11,41

8,23

6,69 - 9,30

7,43 - 8,85

7,73 **

5,33 - 8,16

8,31 **

7,47 - 10,09

7,46

6,20 - 8,65

7,73

6,36 - 8,77

8,42 *

7,38 - 9,22

7,27

6,08 - 9,00

8,00

6,61 - 9,84

7,19

6,85 - 7,97

7,13

6,70 - 8,73

6,01 5,95

5,40 - 6,70

6,01

5,83 - 6,96

5,27

4,99 - 5,73

5,27

5,11 - 6,29

5,23

8,36

7,71 - 10,20

8,18

7,43 - 9,17

9,75

8,14 - 11,12

7,72

6,23 - 8,59

7,90

7,45 - 11,02

7,96

11,61 *

9,70 - 15,11

9,85 9,88

7,75 - 11,98

12,89

8,49 - 14,83

10,09

8,84 - 12,75

11,95

5,83 - 8,28

4,78 - 5,48

6,64 - 9,32

8,52 - 13,77

5,40

7,64

5,25

8,19

10,08

8,30

7,54 - 8,89

5,97 - 8,66

9,00

7,06 - 11,94

So erhält man in der Größenklasse 90 m2 und größer für Altbauten bis 1918 in guter Lage den Median 7,33 Euro und eine Spanne von 5,33 Euro bis 10,40 Euro. Die Unterstützung durch den Berliner Mietspiegel bei der Bestimmung der ortsüblichen Vergleichsmiete ist also gering, da die Spanne eine Breite von über 5,00 Euro hat. Bei Mietspiegeln auf Basis eines Regressionsmodells wird die Spanne über die Größe der Residualvarianz bestimmt. Diese Spannen sind in der Regel deutlich kleiner.6 Auffällig sind auch die Sprünge in den Mietwerten beim Übergang von einer Klasse zur nächsten. Für Wohnungen von 60–90 m², einfache Wohnlage, Baujahr 1991–2002 wird eine ortsübliche Vergleichsmiete mit einem Mittelwert von 7,72 Euro/m² ausgewiesen. Für eine gleichartige Wohnung der Baualtersklasse 2003–2017 weist der Mietspiegel einen Mittelwert von 12,89 Euro/m² aus, mithin also einen Sprung von 5,17 Euro/m². Dies würde bei einer Wohnung von beispielsweise 80 m² einen Unterschied von monatlich 413,60 Euro ausmachen, auch wenn die Wohnung ggf. nur ein paar Wochen später bezugsfähig wurde. Derartige Sprünge, wenngleich in geringerem Umfang, finden sich auch an anderen Stellen dieses Mietspiegels. Auch dies ist eine typische Schwäche der Tabellenmethode. Bei Regressionsmietspiegeln finden sich derartige Sprünge nicht.

4,61 - 5,56

5,32

5,08 - 5,93

7,21 - 9,54

9,80

8,17 - 11,70

Für Neubauwohnungen (bezugsfertig 1950 bis 1964) mit Sammelheizung oder mit Bad, mit WC in der Wohnung (IWC) liegt die ortsübliche Vergleichsmiete je Quadratmeter Wohnfläche monatlich 1,45 Euro unter den Beträgen der ausgewiesenen Spalte 3***.

7,28 - 12,50

4,89 - 6,05 5,06 - 6,14

Für Altbauwohnungen (bezugsfertig bis 1918) mit Sammelheizung oder mit Bad, mit WC in der Wohnung (IWC) liegt die ortsübliche Vergleichsmiete je Quadratmeter Wohnfläche monatlich 1,41 Euro unter den Beträgen der ausgewiesenen Spalte 1***. Für Altbauwohnungen (bezugsfertig 1919 bis 1949) mit Sammelheizung oder mit Bad, mit WC in der Wohnung (IWC) liegt die ortsübliche Vergleichsmiete je Quadratmeter Wohnfläche monatlich 0,43 Euro unter den Beträgen der ausgewiesenen Spalte 2***.

6,93

6,45 - 7,23

5,72 - 6,55

Für Altbauwohnungen (bezugsfertig bis 1918 und 1919 bis 1949) ohne Sammelheizung, ohne Bad, mit WC in der Wohnung (IWC) liegt die ortsübliche Vergleichsmiete je Quadratmeter Wohnfläche monatlich 2,20 Euro unter den Beträgen der ausgewiesenen Spalte 1 für Bezugsfertigkeit bis 1918*** bzw. der ausgewiesenen Spalte 2 für Bezugsfertigkeit 1919 bis 1949***.

8,80 - 12,73

11,50

9,34 - 13,69

a Die Zuordnung West-Staakens basiert auf dem Gebietsstand 02.10.1990. Die Zuordnung der Bezirke basiert auf dem Gebietsstand 31.12.2000 vor der Gebietsreform (siehe Erläuterung unter Nr. 3). Bei Leerfeldern lag für eine verlässliche Aussage keine genügende Zahl von Mietwerten vor (unter 10 Mietwerte). Die mit * und ** versehenen Daten haben wegen geringer Zahl erhobener Mietwerte nur bedingte Aussagekraft (* = 15 - 29 Mietwerte, ** = 10 - 14 Mietwerte). Die mit *** versehenen Angaben haben wegen geringer Zahl erhobener Mietwerte nur bedingte Aussagekraft. Diese Abschläge können daher nicht dem Anwendungsbereich des qualifizierten Mietspiegels zugeordnet werden. In den Tabellenfeldern werden der jeweilige Mittelwert (Median) sowie die 3/4-Spanne dargestellt.

www.berlin.de/mietspiegel

Bemerkenswert ist aber vor allem, dass im Anwendungsbereich des qualifizierten Mietspiegels aufgrund geringer Fallzahl im Mietspiegel keine Zu- oder Abschläge für die Ausstattung festgestellt werden können. Der Mietspiegel Berlin 2019 berücksichtigt somit die Ausstattung der Wohnungen nicht, obwohl es sich hier um ein nach § 558 Abs. 2 BGB verpflichtend zu berücksichtigendes Merkmal handelt. Die Ausstattung hat – ausweislich der Hinweise in den Orientierungshilfen – auch in Berlin wesentlichen Einfluss auf die Miethöhe. Dass dem Berliner Mietspiegel die Berücksichtigung der Ausstattung trotzdem nicht gelingt, liegt ausschließlich an den methodischen Beschränkungen der hier verwendeten Tabellenmethode. Das gleiche Defizit findet sich im Übrigen beim Hamburger Mietspiegel, der ebenfalls auf der Tabellenmethode basiert. Der Berliner Mietspiegel ist somit nur in Bezug auf die Pflichtmerkmale „Art, Größe, Lage und Beschaffenheit“ ein qualifizierter Mietspiegel; bezüglich des Pflichtmerkmals „Ausstattung“ aber nur ein einfacher Mietspiegel (§ 558 Abs. 2 BGB). Es ist damit auch mehr als fraglich, ob der Mietspiegel damit insgesamt noch ein qualifizierter Mietspiegel sein kann. Mittels Regressionsanalyse hätten die Auswirkungen unterschiedlicher Ausstattungen auf die ortsübliche Vergleichsmiete mit hoher Wahrscheinlichkeit nach anerkannten wissenschaftlichen Methoden bestimmt werden können.7 Allein dies verdeutlicht, dass die Tabellenmethode zumindest für den Berliner Miet-

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

75


Stadtforschung

markt nicht die geeignete Methode für die Erstellung eines qualifizierten Mietspiegels ist. Im Anhang C zum Berliner Mietspiegel 2019 findet sich eine so genannte „Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung“, mithilfe derer der eigentliche Richtwert für die ortsübliche Vergleichsmiete einer Wohnung festgelegt wird. Diese ist jedoch nicht nach wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt und somit nicht Teil des qualifizierten Mietspiegels. Die Orientierungshilfe definiert bzgl. der Ausstattung fünf Qualitätsdimensionen: Ausstattung des Bads/WC, Ausstattung der Küche, Ausstattung der Wohnung, des Gebäudes sowie die Qualität des Wohnumfeldes. Jede der fünf Qualitätsdimensionen zählt 20 % der Differenz von Median zum oberen bzw. unteren Spannenwert (zusammen 100 %). In jeder Qualitätsdimension werden Positiv- gegen Negativmerkmale aufgerechnet. Überwiegen die Positivmerkmale, so wird das 0,2-Fache der Differenz zum oberen Spannenwert addiert. Im gegenteiligen Fall wird das 0,2-Fache der Differenz zum unteren Spannenwert abgezogen. Überwiegen beispielsweise in allen fünf Dimensionen die Positivmerkmale, so ist die zulässige Miete durch den oberen Spannenwert gegeben. Diese Rechenregeln folgen zwar einer gewissen Heuristik, aber dem Verfahren mangelt es an jeglicher wissenschaftlichen Begründung. Diese ist allerdings auch nicht zwingend erforderlich, da dieser Teil des Mietspiegels nur die Qualität eines einfachen Mietspiegels aufweist.

Die Messung der Wohnungsmieten im Mikrozensus Vergleichsmöglichkeiten mit dem Mietspiegel Der Mikrozensus ist eine jährliche Stichprobe von 1 % der Haushalte. Eine detaillierte Beschreibung des Mikrozensus findet man etwa bei Bihler/Zimmerman (2016). Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass alle Haushalte mit derselben Wahrscheinlichkeit in die Stichprobe gelangen und dass eine Teilnahmepflicht besteht. Die Angaben werden über eine Befragung durch Interviewer gewonnen. Es sind damit durchgängig Mieterangaben. Die Angaben aus dem Wohnmodul gestatten u. a. die Bestimmung von Wohnungsgröße, Gesamtmiete, Betriebskosten, der Baualtersgruppe der Wohnung, des Eigentümerstatus und, ob die Wohnung untervermietet ist sowie, ob es sich um ein Einfamilienhaus handelt. Leider finden sich keine Informationen über die Ausstattung der Wohnung. Erstmalig kann für 2018 die Lage der Wohnung auf einem 100 × 100-Meter-Gitter bestimmt werden. Dies ermöglicht die Bestimmung der Einteilung nach den Lagewerten „einfach“, „mittel“ und „gut“ des Berliner Mietspiegels.8 Der Mikrozensus erhebt den Beginn des Mietverhältnisses für die jeweilige Wohnung. Allerdings fehlt die Angabe, ob die Miete in den letzten vier Jahren angepasst wurde. Damit können zwar die Neuvermietungen der letzten vier Jahre identifiziert werden, nicht jedoch die mietspiegelrelevanten Haushalte mit Mietanpassungen während der letzten vier Jahre.

76

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

Aufgrund dieser fehlenden Angaben ergeben sich zwei Möglichkeiten:9 1. Aufnahme nur der Neuvermietungen der letzten vier Jahre in den Datensatz. Dies würde zum einen der Definition der ortsüblichen Vergleichsmiete schon in rechtlicher Hinsicht eklatant widersprechen, zum anderen würde hierdurch die ortsübliche Vergleichsmiete stark nach oben verzerrt werden.10 Mieterhöhungen machen zudem etwa 61 % der Datensätze aus, die für die Berechnung des Berliner Mietspiegels 2019 verwendet wurden (vgl. F+B 2020, S. 47). 2. Der Datensatz wird unverändert übernommen. Die Datenbasis enthält dann alle am Markt beobachtbaren Mietverhältnisse und entspricht somit dem von Mietervertretern geforderten „Echten Mietspiegel“.11 Es ist zu erwarten, dass durch diese Abweichung der MikrozensusStichprobe gegenüber der Grundgesamtheit die ortsübliche Vergleichsmiete eher zu niedrig geschätzt wird. Die Auswirkungen sind aber voraussichtlich eher gering und in jedem Fall deutlich weniger stark als im o. a. Fall.12 Wir haben uns daher für die zweite Möglichkeit entschieden. Ergebnisse des Vergleichs Mikrozensus-Mietspiegel und Berliner Mietspiegel 2019 Die nachfolgend dargestellten Mietspiegeltabellen weichen aufgrund der etwas anderen Baualtersklassen in einigen Fällen geringfügig von der Einteilung des Berliner Mietspiegels 2019 ab.13 Je nach verwendeter Population ist die Fallzahl in den Zellen des Mikrozensus-Mietspiegels recht unterschiedlich. Bei Verwendung der Neuvermietungen der letzten vier Jahre sind es 2.795 Wohnungen (vgl. Tabelle 1 in Frink/Rendtel 2019). Bei Verwendung aller Mietverhältnisse sind es 10.060 Wohnungen (vgl. Tabelle 3 in Frink/Rendtel 2019). Dies entspricht 2/3 der Fallzahl des Mietspiegels. Zellbesetzungen unter 30 wurden in beiden Versionen gesondert markiert: Zellen mit 15–29 Beobachtungen mit * sowie Zellen mit 10–14 Beobachtungen mit **. Die Mikrozensus-Version des Mietspiegels weist neben dem Median auch eine Mietspanne aus, die analog zum Berliner Mietspiegel berechnet wurde.14 Insgesamt liegen die Mikrozensuswerte bei Berücksichtigung der Neuvermietungen der letzten vier Jahre um 1,86 Euro über den Werten des Mietspiegels. Auch innerhalb der vergleichbaren Tabellenfelder des Mikrozensus liegt der Wert bei Neuvermietungen in den letzten vier Jahren durchgängig über dem entsprechenden Wert des Mietspiegels. Dieses Ergebnis ist kompatibel mit der Erwartung, dass die Mietpreise bei Neuvermietung höher sind als die Mietpreise bei einer Anpassung an den Mietspiegel. Anders sieht es bei der Berücksichtigung aller Mietverhältnisse aus. Hier liegt im Mikrozensus der Median um 0,31 Euro pro m2 über dem entsprechenden Wert im Mietspiegel. Beispielsweise erhält man in der Größenklasse „90 m2 und mehr“ bei mittlerer Lage und einem Baujahr bis 1918 im Mikrozensus einen Median von 7,10 Euro, während im Mietspiegel ein Median von 6,77 Euro ausgewiesen wird. Auch die Mietspanne des Mikrozensus liegt bei ungefähr gleicher Länge um 0,40 Euro


Stadtforschung

über der Mietspanne des Mietspiegels. Insgesamt liegt der Mikrozensuswert in 36 von 62 vergleichbaren Tabellenfeldern über dem Mietspiegelwert. Dies ist ein unplausibles Resultat. Des Weiteren zeigt sich auch beim Mikrozensus-Mietspiegel die für Tabellenmietspiegel typische hohe Zahl von leeren Tabellenfeldern. Diese ist höher als beim Berliner Mietspiegel, was dem gleichen Auswahlsatz des Mikrozensus von 1 % über alle Auswahlbezirke geschuldet ist. Im Gegensatz hierzu wendet der Mietspiegel eine nach Baualtersgruppe und Wohnlage geschichtete Stichprobe (F+B 2020, S.12) an. Mögliche Ursachen für Differenzen zwischen Mikrozensus und Mietspiegel Messfehler Ein Ansatz für die Erklärung der Differenzen zwischen Mikrozensus und Mietspiegel liegt in möglichen Messfehlern bei den Mieterangaben zur Nettokaltmiete. Während man bei den Vermietern davon ausgehen kann, dass diese die unterschiedlichen Komponenten der Miete wie Neben- und Heizkosten von der eigentlichen Miete, der so genannten Nettokaltmiete, unterscheiden können, ist es bei den Mieterangaben durch-

aus vorstellbar, dass hier einige Komponenten irrtümlich der Nettokaltmiete zugeschlagen werden. Dies würde in höheren Werten für die Nettokaltmiete resultieren. Überprüfen ließe sich die Größe eines solchen Effekts, wenn man Mieter- und Vermieterangaben für dieselben Wohnungen vergleichen könnte. Dieser Vergleich ist aber aufgrund der disjunkten Anlage der Mieter- und Vermieterumfrage im Mietspiegel nicht möglich. Daher muss man auf ein Experiment aus den Zensus-Test von 2004 zurückgreifen, bei dem Mieter- und Vermieterangaben für identische Haushalte miteinander verglichen wurden (vgl. Statistische Ämter 2004). Der Vergleich offenbarte zum Teil große Abweichungen bei den Einzelangaben. Jedoch ergaben sich im Mittel nur Abweichungen von 3,9 % der Mietangaben. Weiterhin enthält der Mietspiegel eine Befragung zu den Nebenkosten, die separat im Mietspiegel ausgewiesen werden. Der Durchschnittswert der Nebenkosten im Mietspiegel unterscheidet sich praktisch nicht von dem entsprechenden Wert im Mikrozensus (1,66 Euro im Mietspiegel vs. 1,61 Euro im

Abbildung 2: Tabellenmietspiegel für Berlin auf Basis des Mikrozensus 2018 für Neuvermietungen innerhalb der letzten vier Jahre nach Baujahr, Wohnlage und Wohnfläche in Euro/m². Altbau

Neubau

Baujahr

bis 1918

1919–1948

1949–1978

1979–1990

1991–2000

2001–2010

2011–2015

seit 2016

Wohnfläche Wohnlage

1

2

3

4

5

6

7

8

8,06 6,38–11,70

8,75 7,08–14,40

8,50 6,70–10,60

7,35 6,12–8,91

9,27* 7,72–13,70

8,91** 7,61–10,80

bis unter 40 m2

40 m2 bis unter 60 m2

60 m2 bis unter 90 m2

90 m2 und mehr

einfach A

9,21 7,72–15,90

mittel B

9,47* 6,90–12,40

gut C

8,57** 7,54–11,40

einfach D

8,51 6,41–11,60

7,94 6,05–11,40

7,40 5,68–9,66

6,72 5,75–8,21

8,55** 7,22–9,64

mittel E

8,27 6,18–12,20

7,95 6,04–10,50

7,16 5,71–9,25

6,70 5,79–8,67

7,82* 6,48–9,40

gut F

10,00* 7,21–12,60

7,72* 6,65–10,20

8,47 6,62–12,20

einfach G

8,13 5,30–11,50

6,97 5,27–10,50

6,54 5,02–8,57

5,87 5,14–7,93

8,67* 7,31–9,58

mittel H

8,48 5,98–11,90

7,69 5,92–10,20

6,94 5,55–9,16

5,75 5,13–8,10

8,09 6,86–9,43

13,50* 9,27–16,10

gut I

8,58 6,58–11,40

8,44 7,46–10,60

8,56 6,25–10,060

8,75** 7,04–12,00

einfach J

8,01 4,70–11,10

7,40** 5,91–10,10

6,63* 4,13–7,96

7,10** 6,11–9,27

mittel K

9,78 7,53–12,40

9,38* 6,74–11,80

7,76* 6,09–9,65

6,51** 4,04–7,73

7,71* 6,29–9,25

10,10* 8,72–13,50

gut L

9,44 7,32–11,30

8,93** 5,57–9,72

8,74* 7,18–11,00

19,20** 16,50–19,90 11,70** 9,16–19,90

12,10* 7,98–15,90 14,00* 8,93–15,50

10,90* 9,52–13,70

9,02** 7,83–11,40 Quelle: Frink/Rendtel (2019, Tabelle 2)

STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

77


Stadtforschung

Mikrozensus). Damit scheiden Messfehler als Erklärung für die aufgezeigte unplausible Relation von mietspiegelrelevanten Mieten zu allen Mieten aus. Selektionsbias Ein klassisches Argument zur Erklärung von Non-Response ist der Antwortaufwand (Response Burden). Je höher der Antwortaufwand ist, desto geringer dürfte die Bereitschaft der Befragten zur Antwortgewährung sein. Gegensätzlich wirkt das Interesse der Befragten an den Ergebnissen der Befragung. Je höher das Interesse der Vermieter an den Ergebnissen des Mietspiegels, desto höher ist ihre Bereitschaft, die geforderten Mietdaten zu liefern. Hinzu kommt noch ein technisches Argument: Der Aufwand zur Beantwortung der Fragen zum Mietspiegel nimmt mit steigender Anzahl der Vermietungen ab, da größere Vermieter in der Regel über eine gut strukturierte Datenbank mit den Daten ihrer Wohnungen verfügen. Weiterhin sind große Vermieter eher an einen geschäftsmäßigen Umgang mit dem Instrument des Mietspiegels gewöhnt als Kleinvermieter, die eher sporadisch von diesem Instrument Gebrauch machen. Von daher verwundert es nicht, wenn die Responsequote bei den

Vermietern mit zunehmender Anzahl der Wohnungen zunimmt, wie dies im Methodenbericht dokumentiert wird. Gleichzeitig sind bei den großen Vermietern aber die städtischen Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften stark repräsentiert: So stammen 32 % der Daten des Mietspiegels aus diesen Quellen (vgl. F+B 2020, S. 26). Der öffentliche Charakter dieser Vermieter dämpft deren Mietpreispolitik. Es wäre möglich gewesen, die Vermieterstichprobe stärker auf Selektionseffekte hin zu untersuchen, da über die Vermieter einige Merkmale bekannt sind, die für eine Gewichtung genutzt werden können. Der Mikrozensus gestattet ebenfalls die Unterscheidung nach privaten und öffentlichen Vermietern. Hierbei sind Wohnungen von privaten Vermietern im Mittel um 1,50 Euro/m2 teurer als die von öffentlichen Vermietern (vgl. Feilbach 2019). Für die im Mietspiegel freiwillige Beteiligung der Mieter gelten andere Motivationsanreize. Eine Möglichkeit besteht darin, dass Mieter die Angabe einer hohen Miete als preistreibend antizipieren und aus diesem Grund eher die Teilnahme an der Mietspiegelerhebung verweigern. Allerdings kann diese Vermutung nicht direkt belegt werden.

Abbildung 3: Tabellenmietspiegel für Berlin auf Basis des Mikrozensus 2018 für alle Mietverhältnisse nach Baujahr, Wohnlage und Wohnfläche in Euro/m² Altbau

Neubau

Baujahr

bis 1918

1919–1948

1949–1978

1979–1990

1991–2000

2001–2010

2011–2015

seit 2016

Wohnfläche Wohnlage

1

2

3

4

5

6

7

8

einfach A

8,23 5,56–14,20

8,03* 5,60–9,94

7,53 5,89–10,10

7,84 6,08–12,80

mittel B

7,57 5,64–10,80

8,11 6,70–9,60

7,38 5,72–9,91

6,92 5,65–8,54

gut C

8,20** 6,77–10,90

8,74** 7,91–10,30

8,09 6,27–10,10

8,01* 6,95–9,54

einfach D

6,90 4,94–9,83

6,51 5,07–9,12

6,70 5,31–8,49

6,05 5,09–7,85

8,11 6,10–9,74

mittel E

7,24 5,09–9,62

6,90 5,40–8,95

6,26 5,00–7,76

6,12 5,35–7,45

8,10 6,40–9,43

gut F

7,90 6,03–11,20

7,00 5,30–8,50

7,20 5,83–9,81

7,97** 6,82–9,53

8,77* 7,58–9,71

einfach G

6,30 4,15–9,95

6,10 4,72–8,00

5,98 4,75–7,75

5,71 4,74–7,37

7,28 5,95–8,94

9,62** 7,51–13,60

mittel H

6,87 4,93–9,88

6,50 5,09–8,41

6,00 4,97–7,68

5,45 4,59–7,31

7,75 6,12–9,09

7,57* 6,43–10,70

gut I

7,32 5,47–9,48

7,68 5,50–9,59

7,14 5,59–9,65

8,45 6,24–11,10

8,17* 7,20–10,00

einfach J

5,89 4,29–8,98

5,61 4,56–7,33

6,22 4,72–7,89

6,33 4,56–7,71

7,07* 6,24–8,90

mittel K

7,10 4,86–10,50

6,26 4,85–9,33

6,58 5,00–8,71

5,54 4,43–7,57

8,16 6,10–10,30

gut L

7,51 5,10–10,30

6,89 5,45–9,05

8,08 6,54–9,82

8,89 7,62–10,60

9,27* 8,00–11,50

bis unter 40 m2

40 m2 bis unter 60 m2

60 m2 bis unter 90 m2

90 m2 und mehr

19,20** 16,50–19,90 11,70** 8,36–19,70

12,10* 7,98–15,90 9,24* 6,48–11,50

14,00* 8,93–15,50

10,90* 9,52–13,70 12,90* 9,23–16,00

9,07** 6,80–10,60

Quelle: Frink/Rendtel (2019, Tabelle 4)

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Stadtforschung

Insgesamt liefert der Vergleich des Berliner Mietspiegels mit dem Mikrozensus ein starkes Indiz dafür, dass der Berliner Mietspiegel die tatsächliche ortsübliche Vergleichsmiete eher unterschätzt. Daher soll abschließend eine grobe Abschätzung der Größe dieses Selektionsbias gegeben werden. Im Mikrozensus beträgt der Unterschied zwischen den Neuvermietungen und allen Mietverhältnissen im Mittel 1,55 Euro. Insgesamt ist es schwierig, den Abschlag der Miete durch die Einbeziehung aller Haushalte mit Mietpreisanpassung abzuschätzen. Der Anteil dieser Mietverhältnisse am Berliner Mietspiegel 2019 macht etwa 60 % aus (vgl. F+B 2020, S. 47). Vergrößert man die Wohnungen mit Neuvermietungen auf den Zeitraum der letzten 6 Jahre, ergibt sich im Mikrozensus eine Verringerung der durchschnittlichen Mieten um 0,33 Euro (vgl. Frink/Rendtel 2019). Die durchschnittliche Dauer eines Mietverhältnisses beträgt ungefähr 8 Jahre (vgl. Haus und Grund 2018, S. 4). Extrapoliert man die Senkung der Mieten auf einen Zeitraum von 8 Jahren, so ergibt sich eine Reduktion von ungefähr 0,66 Euro. Diese Absenkung könnte sich eventuell aufgrund des höheren Anteils an Haushalten mit Mietanpassungen noch etwas vergrößern. Schätzt man den Mittelwert der mietspiegelrelevanten Haushalte durch die Mitte zwischen diesen beiden Werten, so liegt dieser Wert um 0,78 Euro oberhalb des Mikrozensus-Werts für alle Haushalte. Da das Niveau der Angaben im Mietspiegel aber um 0,31 Euro unterhalb des Mikrozensus-Werts für alle Haushalte liegt, ergibt sich insgesamt eine Differenz von ca. 0,78 + 0,31 = 1,09 Euro für die Unterschätzung der durchschnittlichen ortsüblichen Miete durch den Berliner Mietspiegel.

Ein Berliner Regressionsmietspiegel auf Basis des Mikrozensus Die Vorteile von Regressionsmietspiegeln Mittlerweile wird die Mehrheit der qualifizierten Mietspiegel als Regressionsmietspiegel erstellt. Die Vorteile sind in der Literatur vielfach aufgezeigt worden und zumindest aus statistischer Sicht eindeutig geklärt.15 Ein bedeutsamer Vorteil von

Regressionsmietspiegeln liegt in ihrer höheren Effizienz der Nutzung der Stichprobeninformation. Auch lassen sich Merkmale der Wohnungsausstattung und der Lage in der Stadt mühelos über den Regressionsansatz integrieren. Eine heuristische und damit weitgehend willkürliche Spanneneinordnung wie im Berliner Mietspiegel wird damit überflüssig. Weiterhin ist es möglich, räumliche Abhängigkeiten der Mietpreise in das Modell mit aufzunehmen und so das Konzept der Lage der Wohnung im Stadtraum entsprechend den Auswirkungen auf den Mietpreis korrekt abzubilden. Nach der üblichen normativen Vorgabe sollten für jedes Tabellenfeld mindestens 30 Mietwerte vorhanden sein. Dies erzwingt, dass zur Erstellung eines Tabellenmietspiegels ein Vielfaches an Daten erhoben werden muss. So weist der Berliner Tabellenspiegel 2017 mehr als das Sechsfache (N = 19.240) der Fallzahlen des Münchener Regressionsspiegels 2019 (N = 3.140) auf. Trotz des größeren Stichprobenumfangs ist in den Mietspiegeln von Berlin und Hamburg nur eine rudimentäre Erfassung der wohnwertrelevanten Merkmale der einzelnen Wohnungen möglich, während die Regressionsmietspiegel in München und Frankfurt/Main eine sehr detaillierte Berücksichtigung der Unterschiede ermöglicht.16 Besonders auffällig ist dies beim Merkmal Ausstattung: In Berlin und Hamburg wird dieses gar nicht berücksichtigt, in München und Frankfurt/ Main hingegen in sehr hohem Detailgrad. Auch bei Lagen und Größenklassen sind die Unterschiede eklatant. Sebastian/ Memis (2020) kommentieren dies wie folgt: „Somit ergibt sich hier das Paradoxon, dass in den Mietspiegeln der nach Fläche und Einwohnerzahl mit Abstand größten Städte (Berlin und Hamburg) die kleinste Anzahl an Lagen verwendet werden. Die Anzahl der Lagen ist in diesen Städten allerdings auch nicht das Ergebnis einer Wohnlagenermittlung nach wissenschaftlichen Methoden, sondern wurde von vorneherein auf zwei bzw. drei Lagen begrenzt, da die in beiden Städten verwendete Tabellenmethode keine weitergehende Berücksichtigung von unterschiedlichen Lagen zulässt.“ Nachfolgende Tabelle gibt hierzu eine Übersicht.

Tabelle 2: Eigenschaften der Mietspiegel von Berlin, Hamburg, München und Frankfurt/Main

Jahr Berechnung Nettostichprobe Anzahl Tabellenfelder Felder <30 Werte

Berlin

Hamburg

München

Frankfurt/Main

2017

2017

2019

2018

Tabellenmethode

Tabellenmethode

Regression

Regression

19.240

20.291

3.140

7.961

96

81

770

186

17 (18%)

24 (30%)

--

--

Größenklassen (m²)

4

4-5

70

31

Ausstattung (mögliche Merkmalskombinationen)

1

1

1,8 Mio.

50,3 Mio.

Lagen

3

2

6

10

Quelle: Waltersbacher/Sebastian (2020), S. 12.

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Stadtforschung

Ein Lagekonzept auf Basis von Postleitzahlenbereichen Das Berliner Konzept der Wohnlage basiert auf einer Einteilung der gesamten Stadt in drei Wohnlagen: „einfach“, „mittel“ und „gut“. Die Zuordnung der einzelnen Wohnung zu diesen Wohnlagen erfolgte in früheren Jahren anhand von nicht formalisierten Gutachterentscheidungen. Für den Mietspiegel 2019 wurden erstmalig formalisierte statistische Konzepte angewendet, um eine möglichst homogene Bewertung der Wohnungen17 in jeder Lage zu erreichen (vgl. F+B 2020, Abschnitt 3). Kriterien waren hierbei beispielsweise Verkehrslärm, die Nähe zu öffentlichen Parkanlagen, die Verkehrsanbindung, die Dichte der Bebauung etc. Die Entscheidung, das Berliner Stadtgebiet in nur drei Lagen aufzuteilen, wird ohne nähere Begründung oder wissenschaftliche Fundierung vorgegeben. Die Stadt Hamburg benutzt sogar nur zwei Wohnlagen für ihren Mietspiegel. In beiden Fällen ist die Begrenzung auf zwei bzw. drei Lagen Voraussetzung für die in diesen Städten angewendete Tabellenmethode. Die methodischen Schwächen der Tabellenmethode lassen die eigentlich erforderliche differenzierte Berücksichtigung der Lage nicht zu.18

Abbildung 4: Die Wohnlagen des Berliner Mietspiegels 2019.

Wohnlagenkarte

Berliner Mietspiegel 2019 überwiegend einfache Wohnlage überwiegend mittlere Wohnlage überwiegend gute Wohnlage Gebiete ohne betroffenen Wohnraum

Achtung: Die Karte soll lediglich eine erste Orientierung über die mögliche Wohnlagezuordnung geben. Die genaue Wohnlagezuordnung ergibt sich aus dem Straßenverzeichnis zum Berliner Mietspiegel 2019, veröffentlicht im Amtsblatt für Berlin. Über die genaue Einordnung Ihres Wohnhauses in die zutreffende Wohnlage gibt Ihnen auch Ihr Bezirksamt oder die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Auskunft. Kartengrundlage: Übersichtskarte von Berlin 1 : 50 000 (ÜK 50), Stand 6/2016 Herausgegeben von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen III

www.berlin.de/mietspiegel

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Kauermann/Windmann (2016) fordern für große Städte eine spezielle Einteilung nach der Lage im Stadtgebiet, der so genannten Makrolage. Hiervon unterscheiden die Autoren die so genannte Mikrolage, die die lokale Wohnqualität – also Verkehrslärm, Baudichte etc. – misst. Die Makrolage misst im Münchener Mietspiegel im Wesentlichen die Entfernung zum Stadtzentrum. Für Berlin, eine großräumige Stadt mit mehreren Zentren, ist eine noch deutlich komplexere Struktur zu erwarten, was den Ansatz von nur drei Wohnlagen gänzlich ungeeignet erscheinen lässt. Im Prinzip ist hier eine Modellierung auf Basis von Geokoordinaten möglich, die glatte Übergänge zwischen den einzelnen Stadtquartieren ermöglicht (vgl. Kauermann/Windmann 2016). Für die praktische Umsetzung ergibt sich jedoch das Problem, dass den Anwendern des Mietspiegels die genauen Geokoordinaten einer Wohnadresse nicht bekannt sind und daher eine Berechnung des Lageeffekts mit Ungenauigkeiten19 behaftet ist. Aus diesem Grund haben wir uns für eine Modellierung des Makrolagen-Effekts über Postleitzahlbereiche entschieden. Da für Berlin insgesamt 193 Postleitzahlenbereiche existieren, ist diese Einteilung hinreichend flexibel. Andererseits ist jedem Mieter und Vermieter die Zugehörigkeit


Stadtforschung

zum jeweiligen Postleitzahlenbereich bekannt, so dass keine Probleme bei der Bestimmung der ortsüblichen Vergleichsmiete beststehen. Allerdings muss die Schätzung dieser 193 Postleitzahleffekte stabilisiert werden. Dies geschieht über eine Straffunktion, die Schwankungen zwischen nebeneinanderliegenden Postleitzahlgebieten bestraft. Der Einsatz dieser Penalized Regression für Lageeffekte wird bei Frink/Rendtel (2019) näher beschrieben. Insgesamt handelt es sich um ein Structured Additive Regression (STAR) Model (vgl. Fahrmeir et al. 2009). Die abhängige Variable mieteqmi ist die Nettokaltmiete pro m2 in Wohnung i, baujahrg,i ist der Indikator für die Baujahrsgruppe g der Wohnung i. wohnlagew,i ist der Indikator für die bisherigen Wohnlagen w für Wohnung i. flaechei ist die Fläche der Wohnung i und einzugj,i ist das Jahr des Einzugs, d.h. des Abschlusses eines Mietvertrages. Schließlich ist PLZi der Postleitzahlbereich der Wohnung i. Bei dem Jahr des Einzugs (bzw. der Mietdauer) handelt es sich um ein so genanntes außergesetzliches Merkmal, d. h. eine Größe, von der zwar anzunehmen ist, dass diese einen Einfluss auf die Miethöhe hat, die aber aufgrund der Beschränkungen des § 558 BGB bei der Berechnung der ortsüblichen Vergleichsmiete nicht berücksichtigt werden dürfen. Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 des Regierungsentwurfs zur geplanten Mietspiegelverordnung (MsV)20 können außergesetzliche Merkmale insbesondere zur Wahl des Regressionsmodells und bei der Bemessung von Spannen herangezogen werden. Wir schätzen das Modell daher zunächst unter Einbeziehung der Mietdauer. Die Regressionsbeziehung ist somit durch

gegeben. Hierbei bezeichnet f1 (flaeche) eine glatte Funktion der Wohnfläche und f3 (einzug) den glatten Effekt des Einzugsjahrs. f2 (PLZi ) ist eine diskrete Funktion auf den Postleitzahlgebieten, deren Variation auf geographisch benachbarten Gebieten möglichst klein sein soll. Schließlich gibt

den Effekt der Baualtersklassen wieder, während

den Effekt der im Mietspiegel festgelegten drei Lagebereiche auf die Miete wiedergibt. Das Modell wird zunächst für Wohnungen mit Neuvermietung in den letzten 4 Jahren geschätzt. In diesem Fall wird der Term mit dem Jahr des Einzugs nicht in das Modell aufgenommen. Danach wird das Modell für alle Wohnungen geschätzt. Für die Schätzung wurden einzelne unplausible Werte, z. B. 1 Euro/m2 oder Werte über 20 Euro/m2, von der Analyse ausgeschlossen.

Ebenso wurde die Wohnfläche auf Werte zwischen 20 und 150 m2 begrenzt. Dies verringerte den Datensatz der Neuvermietungen von 2.891 auf 2.840 Wohnungen. Zusätzlich wurden noch schwach besetzte Baualtersgruppen zur Stabilisierung der Schätzung zusammengefasst. Da in einigen wenigen Postleitzahlgebieten keine Neuvermietungen im Datensatz vorkamen, wurden diese Gebiete von der Schätzung ausgeschlossen und in der Karte mit den Postleitzahlgebieten weiß dargestellt. Hinsichtlich der Baualtersklassen zeigt sich eine Höherbewertung der Wohnungen, die vor 1918 gebaut wurden, vgl. Tabelle 3. Erst Wohnungen, die nach 1990 gebaut wurden, erreichen wieder ein höheres Mietniveau. Diese Entwicklung wird vom Berliner Mietspiegel ebenfalls abgebildet. Tabelle 3: Regressionsmodell mit Mikrozensus. Geschätzte Effekte der Baualtersklasse bei Neuvermietungen. Referenzkategorie: Baujahr 2011 und jünger Variable

Koeffizient

Standardabweichung

Intercept

11,94

0,23

baujahr_bis1918

-3,07

0,23

baujahr_1919bis1948

-3,35

0,22

baujahr_1949bis1978

-3,86

0,22

baujahr_1979bis1990

-3,89

0,27

baujahr_1991bis2000

-2,39

0,29

baujahr_2001bis2010

-1,85

0,42

Beim Effekt der Wohnungsgröße sind die Mietpreiseffekte in den Mietspiegel-Größenklassen 40–60 m2 und 60–90 m2 relativ homogen (vgl. Abbildung 5). Aber in der Klasse „unter 40 m2“ und in der Klasse „90 m2 und größer“ zeigen sich noch erhebliche Preisunterschiede, die durch die Diskretisierung der Wohnfläche in nur vier Größenklassen nicht sichtbar werden. Vor allem für kleine Wohnungen sind die im Mietspiegel 2019 verwendeten Größenklassen daher unzureichend. Das Merkmal Wohnlage gemäß Berliner Mietspiegel wird bei der Modellsuche für die Neuvermietungen als insignifikant verworfen. Dies ist schon aus dem Boxplot über die Wohnlage zu ersehen, vgl. Abbildung 6. Insbesondere zwischen der einfachen und der mittleren Wohnlage sind keine Unterschiede in der Verteilung der Mieten erkennbar. Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis. Es zeigt, dass bereits die sehr einfache Modellierung der Makrolage über Postleitzahlen die Preisbildung in Abhängigkeit von der Lage sehr viel besser erklärt als die aufwändig hergeleitete Wohnlagenverortung mit der offensichtlich unsachgemäßen Begrenzung auf nur drei Wohnlagen. Gleichzeitig zeigt die starke Bewertung der Lage über die Postleitzahlgebiete, dass die Lage für die Miethöhe sehr relevant ist Abbildung 8 zeigt die Berliner Postleitzahlgebiete und die geschätzten Lage-Effekte. Insgesamt betragen die räumlich bedingten Mietunterschiede bis zu 5,35 Euro/m2. Diese erheb-

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Stadtforschung

lichen Unterschiede werden vom jetzigen Berliner Mietspiegel aufgrund der unzureichenden Lageortung nicht berücksichtigt. Wirft man einen Blick auf die Postleitzahlgebiete mit den höchsten Regionalzuschlägen21, so stellt man fest, dass es sich hierbei um „angesagte“ Gebiete mit einem hohen Anteil an Altbausubstanz handelt. In vielen Fällen, z. B. im Prenzlauer Berg, ist das erhöhte Preisniveau bei Neuvermietungen ein Indikator für die Gentrifizierung bestimmter Stadtbereiche.

Auch bei Zugrundlegung aller Mietverhältnisse erhält man ein ähnliches Bild der lokalen Mietunterschiede (vgl. Abbildung o in Frink/Rendtel 2019). Bei der Zugrundelegung aller Mietverhältnisse ergibt sich zusätzlich die Möglichkeit, den Einfluss des Einzugsjahrs auf die Miethöhe zu schätzen. Dieser Effekt wird in Abbildung 7 dargestellt. Hier zeigt sich über lange Zeiträume überhaupt kein systematischer Effekt des Einzugsjahrs.

Abbildung 5: Geschätzter Flächeneffekt bei Neuvermietungen im Mikrozensus

Abbildung 6: Boxplots der Nettokaltmiete nach den drei Wohnlagen des Berliner Mietspiegels. Basis: Neuvermietungen im Mikrozensus.

Abbildung 7: Preiseffekt des Jahrs des Einzugs. Basis: Alle Wohnungen im Mikrozensus

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Stadtforschung

Jedoch steigen ab 2006 die Preise bei Neuvermietungen deutlich an. Man beachte hierbei, dass die Effekte des Baualters der Wohnung schon berücksichtigt sind. Der Beginn des Anstiegs der Mietpreise im Jahr 2006 liefert gleichzeitig auch eine Erklärung für das Anziehen der Mietpreise: Seit 2005 ist der Saldo der Einwohnerzahlen in Berlin positiv. Seit 2012 nahm die Einwohnerzahl jährlich etwa um durchschnittlich 48.000 Einwohner pro Jahr zu.22 Der Anstieg der Mieten durch diesen Zuwanderungsdruck wird auf 2,70 Euro/m2 geschätzt. Zum

Tabelle 4: Regressionsmodell mit Mikrozensus (ohne Mietdauer). Geschätzte Effekte der Baualtersklasse (Referenzkategorie: Baujahr 2011 und jünger) und Wohnlage (Referenzkategorie: Einfach/Mittel). Variable

Koeffizient

Standardabweichung

Intercept (Referenz)

11,71

0,16

baujahr_bis1918

-4,42

0,17

baujahr_1919bis1948

-4,61

0,17

baujahr_1949bis1978

-4.84

0,17

baujahr_1979bis1990

-4,47

0,18

baujahr_1991bis2000

-3,12

0,18

baujahr_2001bis2010

-2,04

0,24

Wohnlage_gut

0,62

0,07

Vergleich: Der Mietspiegel 2007 weist eine durchschnittliche Kaltmiete von 4,75 Euro/m2 aus, während der Mietspiegel 2019 eine durchschnittliche Kaltmiete von 6,72 Euro/m2 angibt. Diese Differenz von etwa 2 Euro unterschätzt die Dynamik am Wohnungsmarkt also deutlich.23 Auch zeigt Abbildung 8, dass die Einführung der Mietpreisbremse24 in 2015 keinerlei Bremswirkung für die Vergrößerung der Preise bei Neuvermietungen hatte (vgl. hierzu ausführlich Thomschke 2019). Alternativer Mietspiegel Nach den gesetzlichen Vorschriften darf das Bezugsjahr (und damit die Mietdauer) bei der Berechnung des Mietspiegels selbst nicht berücksichtigt werden. Wir haben daher das Regressionsmodell nochmals ohne diese Variable geschätzt. Die Ergebnisse der anderen Koeffizientenschätzer erweisen sich dabei als überaus robust. Nachfolgende Tabelle gibt die Koeffizientenschätzer für die bereits in Tabelle 2 verwendete Referenzkategorie wieder. Auch in Bezug auf den Einfluss der Wohnlage zeigen sich keine großen Veränderungen. Nachfolgende Abbildungen stellen die beiden Modelle gegenüber. Vergleichbare Effekte lassen sich auch für den Einfluss der Wohnungsgröße feststellen (vgl. Abbildungen 10a und 10b). Es lässt sich somit zeigen, dass sich mit den Daten des Mikrozensus ein alternativer Mietspiegel berechnen lässt, der bereits als Tabellenmietspiegel eine große Anzahl von Tabel-

Abbildung 8: Regionaler Effekt des Postleitzahlbereichs auf die Nettokaltmiete. Basis Neuvermietungen im Mikrozensus.

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Stadtforschung

Abbildung 9a: Regionaler Effekt des Postleitzahlbereichs auf die Nettokaltmiete (Modell mit Mietdauer, alle Mietverhältnisse)

Abbildung 9b: Regionaler Effekt des Postleitzahlbereichs auf die Nettokaltmiete. (Model ohne Mietdauer, alle Mietverhältnisse)

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lenfeldern abdeckt, obwohl diese Daten ohne Bezug zum Mietspiegel erhoben wurden. Die Verwendung der Regressionsanalyse ermöglicht dann auch eine genaue Schätzung der Einflüsse für die einzelnen Baualtersstufen, Wohnungsgrößen und insbesondere der Wohnlage. Unser alternativer Mietspiegel auf Basis der Daten des Mikrozensus kann natürlich nicht für sich in Anspruch nehmen, bereits ein qualifizierter Mietspiegel zu sein. Zum einen handelt es sich bei den Daten nicht um eine Primärerhebung. Zum anderen berücksichtigen wir nicht nur die mietspiegelrelevanten, sondern alle Mietverhältnisse. Dennoch zeigt unser Ansatz zum einen die Vorzüge eines Regressionsmietspiegels gerade in Bezug auf die Wohnlagenverortung für eine Stadt wie Berlin auf, die als „Groß-Berlin“ seit 1920 ohnehin eher ein großstädtischer Ballungsraum als eine einheitliche Stadt ist. Die Existenz vieler verschiedener lokaler Zentren benötigt einen differenzierteren Ansatz als der bisher übliche Ansatz mit nur drei Wohnlagen. Wir konnten zeigen, dass bereits ein trivialer Ansatz wie die Verwendung von Postleitzahlen dem im Mietspiegel Berlin 2019 verwendeten Ansatz deutlich überlegen ist.

Berlin hat augenscheinlich eine recht aufwändige Wohnlagenverortung vorgenommen, die auf etwa 50 Seiten auch detailliert dokumentiert ist. Die dort verwendete wissenschaftliche Methodik entspricht dem Niveau der dort auch zitierten statistischen Lehrbücher und damit genau der von Gesetzgeber intendierten Verwendung „anerkannter wissenschaftlicher Grundsätze“ (§ 558d BGB). Ein höheres Niveau, etwa in Form der Berücksichtigung der jüngsten statistischen Forschungsergebnisse, wird gerade nicht gefordert.25 Die Bemühungen werden aber insgesamt ad absurdum geführt, da die Untersuchung zur Wohnlagenverortung von der wissenschaftlich gerade nicht gestützten Prämisse ausgehen muss, dass es nicht mehr als drei Wohnlagen geben darf. Die Anzahl der erforderlichen Wohnlagen hätte aber erst durch die Wohnlagenverortung bestimmt werden müssen. Eine Untersuchung, die den wesentlichen Teil des Ergebnisses bereits vorab bestimmt, widerspricht unseres Erachtens anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen. Wir haben daher die Wohnlagenverortung auch nicht vertieft geprüft und können entsprechend über deren methodische Adäquanz nicht näher referieren.

Abbildung 10a: Geschätzter Flächeneffekt bei allen Mietverhältnissen (Modell mit Mietdauer, alle Mietverhältnisse)

Abbildung 10b: Geschätzter Flächeneffekt bei allen Mietverhältnissen (Modell ohne Mietdauer, alle Mietverhältnisse)

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Stadtforschung

Schlussfolgerungen Gibt der Berliner Mietspiegel 2019 die ortsübliche Vergleichsmiete wieder? Bei der Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete ergeben sich aus unserer Sicht sechs wesentliche Fehlerquellen: 1) Non-Response. Offensichtlich wird die Dynamik der Mietpreisentwicklung in Berlin unterschätzt. Jedenfalls liegt der geschätzte Effekt einer Neuvermietung 2018 gegenüber 2007 deutlich über dem Anstieg der mittleren Mietspiegelpreise zwischen 2007 und 2019. Zu einem großen Teil wird die Verzerrung aber mutmaßlich auf NonResponse zurückzuführen sein. Dies liegt in der Natur der aktuell noch freiwilligen Teilnahme an der Umfrage zur Mietspiegelerstellung und ist von den Mietspiegelerstellern nicht zu verantworten. Es zeigt hingegen deutlich die erhebliche Bedeutung der geplanten Auskunftspflicht für die Aussagekraft von Mietspiegeln. 2) Kombinierte Stichprobe. Es wird bei den Erhebungen zum Mietspiegel Berlin seit einigen Jahren eine kombinierte Stichprobe aus Mieter- und Vermieterdaten verwendet. Im Mietspiegel 2019 kommt eine Stichprobe auf Basis von zur Wiederholungbefragung bereiten Mietern und Vermietern der Datenerhebung zum Berliner Mietspiegel 2017 hinzu. Eine derartige Kombination mehrerer Stichproben in einer Auswertung kann zu ungleichen Auswahlwahrscheinlichkeiten für die einzelnen Wohnungen führen, die mittels Designgewichtung berücksichtigt werden müssen (vgl. Faulbaum 2019, S. 395 ff.). Hierzu findet sich in der Dokumentation nichts, so dass davon ausgegangen werden muss, dass die Ergebnisse mutmaßlich verzerrt sind. Über das Ausmaß der Verzerrung ist keine konkrete Aussage möglich. Sie kann sehr groß, aber auch sehr klein sein. 3) Gewichtung der Vermietergruppen. Unter anderem war die Gewichtung verschiedener Vermietergruppen Gegenstand eines Urteils des Landgerichts Berlin zum Mietspiegel 2017 (LG Berlin, Urteil vom 14.02.2018, 64 S 74/17). Das Gericht kam zu der Beurteilung, dass die Gewichtung aufgrund geringer Abweichung nicht zu beanstanden sei: „Im Übrigen haben die an der Erstellung des Mietspiegels 2017 beteiligten Experten erkannt, dass die Gewichtung verschiedener Eigentümertypen innerhalb der Ergebnisstichprobe nicht den Anteilen der verschiedenen Eigentümergruppen am gesamten Berliner Mietmarkt entspricht; sie sind jedoch zu dem Schluss gelangt, dass dieser Umstand die Repräsentativität der Erhebung nicht in Frage stelle, ‚da die Verhaltensweisen hinsichtlich der Mietpreisgestaltung auch innerhalb dieser Gruppen sehr unterschiedlich sind‘ (vgl. Methodenbericht, S. 27, 3. Absatz).“ Es ist aber völlig unerheblich, ob die Mietpreisgestaltung innerhalb der Vermietergruppen unterschiedlich ist. Vielmehr sind die Unterschiede in der Durchschnittsmiete zwischen den einzelnen Vermietergruppen relevant. Der Vergleich mit dem Mikrozensus 2018 weist nach wie vor darauf hin, dass für den Mietspiegel eine Übererfassung

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der großen Vermieter vorliegen könnte. Da die Mietpreise der öffentlichen Vermieter im Mittel um ca. 1,50 Euro/ m2 unter den Mietpreisen der privaten Vermieter liegen, resultiert hieraus im Mietspiegel eine Unterschätzung der auf dem Wohnungsmarkt gezahlten Mieten. Eine grobe Schätzung dieses Effekts kommt auf eine durchschnittliche Unterschätzung von 1,10 Euro/m2. Dies ist bei einer geschätzten durchschnittlichen Nettokaltmiete von 7,82 Euro eine Unterschätzung von 14 %. 4) Wohnlagenverortung. Die Einteilung in nur drei Wohnlagen gibt die großen regionalen Mietunterschiede im großflächigen Stadtgebiet Berlins nicht wieder. Die nicht erklärten Preisunterschiede liegen bei Verwendung des Datensatzes des Mikrozensus bei 5 Euro/m2 zwischen dem teuersten und dem preiswertesten Postleitzahlgebiet (bei gleichzeitiger Berücksichtigung der drei Wohnlagen des Mietspiegels 2019). Die Koeffizienten der drei Wohnlagen sind in unserem Regressionsmodell insignifikant. 5) Wohnungsgrößenklassen. Die Diskretisierung nach nur vier Wohngrößenklassen ignoriert substanzielle Mietpreisunterschiede vor allem in der untersten (kleiner als 40 m2), aber auch in der obersten Wohngrößenklasse (größer als 90 m2). Eine empirisch fundierte Festlegung der Größenklassen ist nicht nachvollziehbar. 6) Ausreißerverfahren. Die verwendete Methode zur Bestimmung von Ausreißern in Form von absoluten statt relativen Größen entspricht nicht den in der Statistik üblichen Verfahren. Die sich hieraus ergebenden Verzerrungen sind wahrscheinlich von eher geringem Ausmaß. Ist der Berliner Mietspiegel ein qualifizierter Mietspiegel? Es muss aus mehreren Gründen angezweifelt werden, ob es sich bei dem Berliner Mietspiegel 2019 um einen qualifizierten Mietspiegel im Sinne des § 585d BGB handelt. Das Kriterium, „nach anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt“ worden zu sein, ist aus unserer Sicht mehrfach nicht erfüllt. Das führt uns aber zu einem wissenschaftstheoretischen Dilemma, das nicht in die juristische Beweisführung einbracht werden sollte. Solange der Ersteller seine hohe Sorgfaltspflicht und seinen Beurteilungsspielraum nicht objektiv überschritten hat, kann das kein Grund sein, die Qualifizierung zu verweigern. Ob die Ersteller von den angeführten Problemen wissen konnten oder wissen mussten, ist schlussendlich eine juristische Frage und muss von Gerichten entschieden werden. Aus unserer rein wissenschaftlichen Sicht sind wir der Auffassung, dass die Probleme aufgrund der Dauer und Intensität der Auseinandersetzung in Literatur und Rechtsprechung hätten erkannt werden können und müssen. Eine Vielzahl sehr guter Mietspiegel in Deutschland zeigt, dass Erstellungspraxis und wissenschaftlicher Anspruch deutlich besser vereint werden können. Statistische Perfektion kann niemals gefordert werden. Maßstab ist aber nicht unsere (zugegeben theoretische) Einschätzung über anerkannte wissenschaftliche Grundsätze, sondern zumindest teilweise die real existierende Praxis der Mietspiegelerstellung in Deutschland. Berlin sollte sich diesem Maßstab stellen und stellen müssen.


Stadtforschung

Ein wesentlicher Teil der Probleme beginnt bereits bei der Erhebung. Soweit der Dokumentation entnehmbar, handelt es sich um eine kombinierte Erhebung unter Verwendung einer Mieter- und einer Vermieterstichprobe. Methodisch korrekt hätten hier sogenannte Dual-Frame-Methoden angewandt werden müssen (vgl. Kauermann et al. 2020, S. 152). Zum anderen bedingt die wissenschaftliche Sorgfaltspflicht die rechtzeitige und vollständige Dokumentation der verwendeten Methoden und die Aufbewahrung des (anonymisierten) Datensatzes für mögliche Validierungen. Insbesondere gehört bei Umfragen mit derart hohen Non-Response-Quoten eine sorgfältige Erörterung der Ausfälle und gegebenenfalls eine Non-Response-Analyse und Non-Response-Korrektur zum selbstverständlichen wissenschaftlichen Standard bei Umfragen und ist damit u. E. auch Gegenstand der gesetzlich geforderten anerkannten wissenschaftlichen Grundsätze. Es wurde auch keinerlei Non-Response-Korrektur durchgeführt. Dies kann auch nicht mehr nachgeholt werden, da der Datensatz schon gelöscht worden ist. Auch finden sich keine Angaben über ein Nachfassen durch Erinnerungsschreiben bei Nonrespondern. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass es im Kontext der Vergabe öffentlicher Aufträge immer eine besondere Herausforderung ist, aufwändige und kostenträchtige Zusatzarbeiten im Budget zu integrieren. In Anbetracht der erwartungsgemäß hohen Antwortverweigerungsraten sind diese aber keine optionalen Tätigkeiten mehr, sondern zwingender und zentraler Bestandteil einer Umfrageerhebung. Schlussendlich zeigen sich hier auch die Konsequenzen einer Vergabe an den günstigsten Anbieter ohne detaillierte Qualitätsanforderungen. Weiterhin sind einfache Korrekturgewichtungen nicht durchgeführt worden, ohne dass hierfür eine Begründung gegeben wird. Zur Klarstellung wollen wir aber in aller Deutlichkeit wiederholen, dass die Ersteller den hohen Ausfall durch Ausfallverweigerung nicht zu verantworten haben und dass dieser allein einer Anerkennung als qualifizierter Mietspiegel auch nicht entgegenstehen darf. Die Einteilung von ganz Berlin in nur drei Wohnlagen wird der Komplexität von Berlin als multizentrischem Großstadtraum nicht annähernd gerecht. Selbst die triviale Verwendung von Postleitzahlen als Wohnlageverortung ist der aktuell verwendeten Wohnlagenverortung überlegen; die im Mietspiegel 2019 definierten Wohnlagen sind dann insignifikant. Die Verwendung von Postleitzahlen zur Wohnlageverortung (zusätzlich zur Lageverortung nach dem Berliner Mietspiegel) wurde von uns mangels alternativer Informationen gewählt. Wir halten dies keinesfalls für einen erstrebenswerten Standard. Zu kritisieren ist daher nicht die in Berlin durchgeführte Wohnlagenverortung selbst (vorbehaltlich einer vertieften inhaltlichen Überprüfung), die zumindest in ihrer ausführlichen Dokumentation geradezu vorbildlich ist und in diesem Punkt sogar deutlich besser als die der meisten anderen Großstädte. Zu kritisieren ist aber die völlig willkürliche Prämisse, dass es bei der Wohnlagenverortung nicht mehr als drei Wohnlagen geben darf. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die ein wesentliches Ergebnis ex ante vorgibt, führt sich selbst ad absurdum. Dies kann auch nicht damit entkräftet werden, dass für die Auswertung mit der Tabellenmethode die Anzahl von drei Wohnlagen nicht überschritten werden darf, da mit

der Regressionsanalyse ein ebenfalls zulässiges Verfahren vorliegt, dass deutlich mehr als drei Wohnlagen verarbeiten kann. Die sich hierdurch ergebenden Fehlschätzungen sind u. E. auch von einer Größenordnung, dass von einer Fehlspezifizierung des erstellten statischen Modells gesprochen werden muss. Eine ähnliche Problematik ergibt sich bei der Einteilung der Klassen bzgl. Wohnungsgröße und Baujahr. Weitere erhebliche Bedenken bestehen bzgl. der Auswertung. Unterschiede in der Ausstattung der Wohnungen können im Berliner Mietspiegel 2019 nur durch die „Orientierungshilfen zur Spannenordnung“ oder durch Abschläge auf Basis geringer Fallzahlen berücksichtigt werden. Diese sind aber beide ausdrücklich nicht Bestandteil des qualifizierten Mietspiegels. Da es sich bei der Ausstattung um ein Pflichtmerkmal des § 558 BGB handelt, sind diese zwingend zu berücksichtigen. Der Berliner Mietspiegel ist bezüglich dieses Pflichtmerkmals demnach nur ein einfacher Mietspiegel. Es ist aus unserer Sicht zweifelhaft, ob dieser dann in Gänze dennoch ein qualifizierter Mietspiegel sein kann. Auch dieses Problem hätte mit der Verwendung der Regressionsanalyse einfach gelöst werden können. Auch nach dem Abschluss der Mietspiegelreform wird voraussichtlich neben der Regressionsmethode auch die Tabellenmethode für die Erstellung von Mietspiegeln weiterhin zulässig sein (vgl. § 7 Abs. 1 MsV). Dies entlässt den Anwender aber nicht aus der Verantwortung, die Eignung der Methode für den konkreten Anwendungsfall zu überprüfen. Für Berlin ist die Tabellenmethode ganz offensichtlich nicht geeignet. Es kann aus unserer Sicht durchaus akzeptabel sein, in überschaubaren Mietmärkten mit nur geringen Unterschieden in den Wohnungsqualitäten und Wohnlagen aus pragmatischen Gründen Mietspiegel mit der Tabellenmethode zu erstellen. In einem derart komplexen Markt wie Berlin mit einer ausgesprochen heterogenen Bausubstanz und einer großräumigen Lagestruktur halten wir dies hingegen nicht für vertretbar. Die Frage, ob der Berliner Mietspiegel 2019 aus den oben aufgeführten Gründen ein qualifizierter Mietspiegel ist oder nicht, muss schlussendlich von Juristen beurteilt werden. Aus statistischer Sicht sehen wir jedoch mehr als nur geringfügige Verstöße gegen anerkannte wissenschaftliche Grundsätze. Die Mietspiegelreform 2020/21 Die Bundesregierung hat am 16.12.2020 Regierungsentwürfe für ein Mietspiegelreformgesetz und eine neue Mietspiegelverordnung beschlossen. Ziel dieser Novellierung ist eine Stärkung von qualifizierten Mietspiegeln sowohl bei deren Erstellung als auch bei deren Rolle zur Ermittlung der individuellen ortsüblichen Vergleichsmiete. Während die Grundsätze dieser Novellierung in einem Mietspiegelreformgesetz fixiert sind, werden die spezifischen Umsetzungen der konkreten Mietspiegelerstellung über eine Mietspiegelverordnung geregelt. Obwohl bei der Mietspiegelreform aus wissenschaftlicher Sicht noch einiges zu kritisieren ist,26 enthält die Reform un-

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zweifelhaft sehr wesentliche Verbesserungen. Der hervorstechendste Punkt ist die Einführung einer Auskunftspflicht bei einer Mietspiegelerhebung. Dies würde in der Tat ein gewichtiges Problem bei der Erhebung der Daten lösen – nicht nur für den Berliner Mietspiegel. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass derzeit noch nicht abschließend geklärt ist, wie genau diese Teilnahmepflicht durchgesetzt werden soll. Traditionell werden statistische Ämter mit der Durchführung von Umfragen mit Pflichtbeteiligung eingesetzt. Bei der Mietspiegelerstellung sollen dies aber auch verwaltungsexterne Dienstleister sein. Die Mietspiegelreform löst damit aber nur eines der wesentlichen Probleme der aktuellen Praxis der Erstellung qualifizierter Mietspiegel. Aus wissenschaftlicher Sicht bestehen drei weitere wesentliche Probleme (vgl. Sebastian et al., 2018): 1) Unabhängigkeit der Mietspiegelerstellung 2) Sachkunde der Mietspiegelersteller 3) Verwendung der Tabellenmethode Wir sind der Auffassung, dass Statistiken in einem Rechtsstaat vor allem unabhängig erstellt werden müssen.27 Ein qualifizierter Mietspiegel sollte daher wie ein unabhängiges Sachverständigengutachten oder eine amtliche Statistik ohne Einfluss der betroffenen Parteien erstellt werden. Ein qualifizierter Mietspiegel kann aber ohne Zustimmung von Vertretern der Mieter und Vermieter oder ersatzweise der Gemeinde nicht in Kraft treten. Die so institutionalisierte Politisierung des Mietspiegels wird in der Literatur vielfach kritisiert (vgl. Börsinghaus/Clar 2013, S. 169 m. w. N.) und ist auch aus unserer Sicht nur sehr bedingt geeignet, die Qualität von qualifizierten Mietspiegeln zu erhöhen. Insbesondere die Einigung zwischen Mieter- und Vermietervertretern gerät zur Farce, da die Gemeinde im Zweifelsfalle dem qualifizierten Mietspiegel auch alleine zustimmen kann. Die Gemeinde ist in diesem Prozess jedoch selbst Partei: Zum einen ist sie über die Kosten der Unterkunft (KdU) häufig selbst quasi der größte Mieter der Stadt und damit im Interesse des eigenen Haushalts an möglichst niedrigen Mieten interessiert. Zum anderen besteht ein weiterer Interessenskonflikt aus politischem Interesse, wenn die Mehrheit der Gemeinde Mieter und nicht Vermieter ist. Legitimer politischer Gestaltungswille und unabhängig erstellte Statistiken passen aber nur schlecht zusammen. Wir sind weiterhin der Auffassung, dass Ersteller von Mietspiegeln eine vertiefte Sachkenntnis in allen betroffenen Disziplinen der Mietspiegelerstellung aufweisen sollten. Das betrifft sicherlich in substantieller Form die Statistik, aber auch sehr wesentlich die benachbarte Disziplin der empirischen Sozialforschung, die Rechtswissenschaft und weitere Wissenschaftsbereiche. Es ist aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar, warum Sachverständigengutachten nur von öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen mit entsprechendem Sachkundenachweis erstellt werden dürfen, es an Mietspiegelersteller aber keinerlei Anforderungen gibt. Die fachlichen Anforderungen müssten deutlich höher sein, nicht niedriger.

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Die Bundesregierung konnte sich bislang weder dazu entschließen, den Einfluss der beteiligten Parteien neu zu gestalten, noch, einen Sachkundenachweis für Mietspiegelersteller einzuführen. Die Mietspiegelreform regelt zwar eine Reihe von wichtigen Details, versäumt es jedoch völlig, die tatsächlichen Ursachen der Probleme anzugehen. Es ist aus unserer Sicht unzweifelhaft, dass sich die bisherige Regelung (in Bezug auf Sachkenntnis und Unabhängigkeit) eindeutig nicht bewährt hat. Die oben ausgeführten Defizite des Berliner Mietspiegels mögen als anschauliches Beispiel dienen. Die Mietspiegelreform allein wird den Berliner Bürgerinnen und Bürgern keinen besseren Mietspiegel bescheren. Etwaige Unzulänglichkeiten zukünftiger Mietspiegel werden weiterhin vor Gericht geklärt werden müssen. Um die oben aufgeführten, aus unserer Sicht grundlegenden Probleme dennoch zu beheben, empfehlen wir eine grundlegende Änderung der Verantwortlichkeiten. Auch wir halten es grundsätzlich für sinnvoll, dass die Erstellung von Mietspiegeln in kommunaler Hoheit bleibt. Allerdings sollten Mietspiegel immer als amtliche Statistiken erstellt werden, d. h. unabhängig und weisungsungebunden. Die Vertreter von Mietern und Vermietern sowie der Gemeinde sollten weiterhin angehört werden müssen, aber kein Vetorecht mehr haben. Wie die Unabhängigkeit der Erstellung umgesetzt wird, sollte grundsätzlich den Kommunen überlassen werden. Sofern vorhanden, bieten sich unabhängige kommunale Statistikstellen als Entscheidungs- bzw. als Vergabeträger bei externer Erstellung an. Bei interner Erstellung sollte zumindest eine Verpflichtung eingeführt werden, die fachliche Eignung „in geeigneter Form“ sicherzustellen. Auch bei der Vergabe sollte die fachliche Eignung verpflichtend zu prüfen sein. Idealerweise wäre eine Vergabe allein nach dem günstigsten Preis unzulässig. Als zweitbeste Lösung empfehlen wir zumindest für Großstädte Zertifizierungsstellen, welche die Einhaltung der anerkannten wissenschaftlichen Methoden und der Mietspiegelverordnung unabhängig prüfen und bestätigen (vgl. Cromm/ Koch 2006, S. 237). Ein derartiger „Mietspiegel-TÜV“ wäre ein zusätzlicher hoher Qualitätsausweis und würde Akzeptanz und wahrscheinlich auch Qualität dieser Mietspiegel deutlich steigern. Eine solche Zertifizierung ist zudem gleichzeitig auch geeignet, die zuweilen beobachteten negativen Auswirkungen etwaiger fachlicher Defizite bei Mietspiegelerstellern zu mindern. Zudem würde derartig zertifizierten Großstadt-Mietspiegeln eine Vorbild- bzw. Best-PracticeFunktion zukommen, die Erstellern und Kommunen eine zusätzliche Orientierung geben könnten. Die Anforderungen an Unabhängigkeit und Qualifizierung der zertifizierenden Institutionen sollte dann analog zu Wirtschaftsprüfern oder öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen geregelt werden. Beide Berufsgruppen sind auch mögliche Zertifizierungsstellen. Denkbar (wenngleich weniger unabhängig) wäre es auch, den kommunalen Spitzenverbänden, dem Verband der Deutschen Städtestatistiker oder vergleichbaren Verbänden die Kompetenz einzuräumen, die erforderlichen Anforderungen für ein Prüfsystem selbst vorzuschlagen bzw. die Prüfung notfalls auch selbst durchzuführen (vgl. Sebastian et al. 2020, S. 12).


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Ein neuer Mietspiegel 2023 für Berlin Wir sind in der glücklichen Lage, einen Mietspiegel zu kritisieren, der derzeit außer Kraft gesetzt ist, was hoffentlich die Diskussion versachlicht. Nach dem Ende der Gültigkeit des Berliner Mietendeckels – sei es durch Richterspruch oder den Ablauf der vorgesehenen Geltungsdauer – wird Berlin jedoch wieder einen Mietspiegel brauchen. Die derzeitigen Pläne sehen vor, die Werte des Mietspiegels 2019 durch Indexierung erneut fortzuschreiben. Der Mietspiegel 2019 ist jedoch bereits eine Fortschreibung des Mietspiegels 2017, wenn auch durch eine neue Stichprobenziehung. Der Mietspiegel 2019 soll also im Nachhinein als Neuerstellung deklariert werden, um dem Wortlaut des § 585d Abs. 2 Satz 3 BGB zu genügen, nach dem nach vier Jahren in jedem Fall ein qualifizierter Mietspiegel zu erstellen ist. Wir halten dies für ein gewagtes Unterfangen – Berlin würde hier ein weiteres Mal juristisches Neuland betreten. Allerdings ist auch aus unserer Sicht die Indexierung des Berliner Mietspiegels 2019 aufgrund des Berliner Mietendeckels die sinnvollste Möglichkeit, einen neuen Mietspiegel für Berlin zu erstellen. Dieser sollte aber konsequenterweise als einfacher Mietspiegel erlassen werden. Sofern es die Rechts- und Datenlage nach dem Mietendeckel zulässt, sollte für 2023 wieder ein qualifizierter Mietspiegel geplant werden. Hierbei wird in vielerlei Hinsicht Neues zu regeln sein, u. a. die Berücksichtigung der Mietspiegelreform, aber auch die besondere Situation der Erstellung eines Mietspiegels nach der Preisfestschreibung durch den Berliner Mietendeckel. Aus unserer Sicht ist dies die ideale Gelegenheit, auch in methodischer Hinsicht einen Neuanfang zu wagen. So sollte in einem ersten Schritt die Wohnlagenverortung überarbeitet werden. Dabei kann die bisherige Methode der Wohnlagenverortung grundsätzlich beibehalten werden. Allerdings sollte die unzulässige Beschränkung auf drei Wohnlagen aufgegeben werden. Ein großer Teil der Probleme bei der Datenerhebung wird durch die geplante Auskunftspflicht bei der Mietspiegelerstellung gelöst werden. Die aktuell bestehenden Fehler bei der Gewichtung werden durch die Regelungen der neuen Mietspiegelverordnung bereits berücksichtigt (vgl. § 9 Abs. 3 MsV), so dass sich zumindest die Diskussion darüber erübrigt, ob diese durchzuführen sind oder nicht. Aufgrund der methodischen Komplexität ist dringend anzuraten, künftig auf kombinierte Mieter- und Vermieterbefragungen zu verzichten, also entweder Mieter- oder Vermieterbefragungen durchzuführen (vgl. Kauermann et al. 2000, S. 152). Es ist zu erwarten, dass die Daten durch den Wegfall der Antwortverweigerung eine völlig andere Struktur aufweisen als die bisherigen Erhebungen, so dass ohnehin keine Kontinuität mit früheren Mietspiegeln besteht. Ausreißerbereinigungen, sofern erforderlich, sollten durch statistische Standardverfahren erfolgen. Bezüglich der Auswertung müssen für den Mietspiegel 2023 die Möglichkeiten der Regressionsmethode in jedem Fall berücksichtigt werden. Es ist daher zu fordern, dass ein neuer Mietspiegel zumindest ohne methodische Festschreibung der Tabellenmethode ausgeschrieben wird. Ob ein neuer Mietspiegel dann mit Tabellenmethode oder Regressions-

methode erstellt wird, wäre dann in der Berliner Arbeitsgruppe Mietspiegel mit dem Anbieter zu klären. Alternativ könnte die Ausschreibung auch eine Angebotserstellung für beide Alternativen (Tabellenmethode und Regressionsanalyse) fordern. Hier würde sich dann auch feststellen lassen, welche der beiden Methoden die günstigere ist. Es ist zu erwarten, dass die Regressionsmethode aufgrund des höheren Zeitaufwands in Bezug auf den Auswertungsteil etwas teurer ist, allerdings aufgrund der geringeren Datenanforderungen in der Erhebung insgesamt deutlich weniger Kosten verursacht. Dabei ist zu beachten, dass auch in der Auswertung nur der Stand der „anerkannten wissenschaftlichen Grundsätze“ gefordert wird. Demnach ist auch die Verwendung etablierter, einfacher Standardmethoden weiterhin zulässig. Professoren für Statistik bedarf es hierzu sicherlich nicht. Die Miete ist für die meisten Haushalte in Deutschland der mit Abstand größte Posten innerhalb des Haushaltsbudgets. In Berlin beträgt die Mietbelastungsquote zurzeit durchschnittlich 28,2 %, in Studentenhaushalten sogar 33 % (vgl. Feilbach 2019). Der Berliner Mietspiegel bildet die Struktur des Mietwohnungsmarktes nur rudimentär ab, ist damit unnötig ungenau und zwangsläufig ungerecht. Die Berliner Mieter und Vermieter in Deutschlands größtem Mietwohnungsmarkt mit einer der dynamischsten Preisentwicklung der vergangenen Dekaden haben Anspruch auf einen fehlerfreien Mietspiegel, der mehr als nur näherungsweise dem aktuellen Stand der Mietspiegeltechnik und Mietspiegelpraxis entspricht. Der Berliner Mietspiegel wird mit großem Aufwand und unter erheblichem Kostenaufwand erstellt. Auch ist der Berliner Mietwohnungsmarkt mit Abstand der größte Deutschlands. Es wäre daher nur angemessen, wenn Berlin auch in jeder Hinsicht den besten Mietspiegel Deutschlands hätte. Wir hoffen, hierfür einen konstruktiven Beitrag geleistet zu haben.

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Dieses Intervall wurde zum 01.01.2020 auf sechs Jahre verlängert. In den früheren Jahren war GEWOS Institut für Stadt-, Regional- und Wohnforschung das beauftragte Institut. Die Anzahl der Unternehmen, die Mietspiegel erstellen, ist überschaubar. Unter den Erstellern der Mietspiegel der größten 200 Städte finden sich nur acht Institute, die mehr als einen Mietspiegel erstellen, vgl. Sebastian/Memis (2020), S. 18 f. Vgl. zum Berliner Mietspiegel 2009: LG Berlin Urt. V. 17.7.2015-63 S 220/13; zum Mietspiegel 2011: AG Charlottenburg GE 2014, 325; AG Charlottenburg GE 2014,1458; zum Mietspiegel 2013: LG Berlin Urt. v. 20.4.2015 – 18 S 411/13; LG Berlin WuM 2015, 504; AG Charlottenburg WuM2015, 500; AG Charlottenburg, Urt. v. 17.3.2015 - 233 C 520/14; zum Mietspiegel 2015: LG Berlin, Urt. v. Urteil vom 26.03.2019 – 63 S 230/16, Mietspiegel 2017: BGH 18.11.2020 -– VIII ZR 123/20; vgl. zu weiteren Urteilen zu Berliner Mietspiegeln auch Börstinghaus (2017), RN 119, S. 2011–2014. Die beanstandete Spanneneinordnung über ein Regressionsverfahren wurde später durch das hier diskutierte rein heuristische Verfahren abgelöst. In früheren Fassungen des Berliner Mietspiegels wurde für diesen Wert eine Konvexkombination von Median und arithmetischem Mittel benutzt. Dieser sogenannte „Berliner Mittelwert“ stellte einen Kompromiss der Mieter- und Vermieterseite dar. Allerdings ist ein derartiger Wert in der Statistik völlig unüblich, so dass man von einer weiteren Nutzung dieses Konstrukts absah. Beispielsweise weist der Leipziger Mietspiegel 2018, Tabelle 3, Spannen in der Größenordnung von ca. 1,50 Euro aus.

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Vgl. hierzu die Gegenüberstellung der Tabellenmietspiegel von Berlin und Hamburg mit den Regressionsmietspiegeln von München, Frankfurt und Stuttgart in Sebastian/Memis (2020), S. 29–33. Einzelheiten sind bei Frink/Rendtel (2019) zu finden. Es handelt sich hierbei um ein klassisches Missing-Value-Problem. Komplexere Methoden der Selektion bzw. Imputation sind aber mangels detaillierter Angaben nicht möglich. Dieser Sachverhalt wird weiter unten auch empirisch belegt. Vgl. hierzu Deutscher Mieterbund (2019), S. 2. Vgl. hierzu die Begründungen im Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung des Betrachtungszeitraums für die ortsübliche Vergleichsmiete vom 8. Mai 2019. Die Baualtersklasse 1949–1978 des Mikrozensus fasst in etwa die beiden Altersklassen 1950–1964 und 1965–1972 des Mietspiegels zusammen. Die Baualtersklasse 1979–1990 des Mikrozensus fasst die beiden Altersklassen 1973–1990 (West) und 1973–1990 (Ort) des Mietspiegels zusammen. Die Baualtersklasse 1991–2000 des Mikrozensus stimmt wieder ziemlich gut mit der Altersklasse 1991–2002 des Mietspiegels überein. Lediglich auf die Anwendung der 0,50-Euro-Regel wurde verzichtet, da diese statistisch nicht begründbar ist. Insgesamt werden bei den Neuvermietungen 96 Mietwerte als Ausreißer unter 2.795 Beobachtungen eingestuft. Bei Analyse aller Mietverhältnisse sind es 421 Ausreißer und 10.481 Beobachtungen. Vgl. Aigner/Oberhofer/Schmidt (1993); Klein/Martin (1994); Bock/Matuschewski (2001); Kauermann/Windmann (2016); a. A. Clar, Michael (1992); Krämer, Walter (1992). Vgl. Sebastian/Memis (2020), S. 25–31. Die Lagedefinition bewertet jede Wohnung an einer Adresse gleich. Allerdings kann sich die Lagebewertung nebenstehender Häuser ändern, wenn ein Haus unmittelbar an einer viel befahrenen Kreuzung liegt. In der hier vorliegenden Analyse benutzen wir eine vereinfachte Darstellung, die diese feinen Differenzierungen ignoriert. Diese Darstellung wird auch in der offiziellen Karte des Mietspiegels verwendet. Besonders kritisch ist zu sehen, dass nach §19 Abs. 1 Satz 2 der geplanten Mietspiegelverordnung extra eine „lex Berlin“ eingeführt

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werden soll. Demnach soll es zulässig sein, „unterschiedlich beschriebene Wohnlagen einer Gemeinde“ im Mietspiegel zusammenzufassen, „wenn der lagebedingte Wohnwert vergleichbar ist“. Völlig offen ist hingegen, wann das Kriterium der Vergleichbarkeit erfüllt sein soll. Auch die Tatsache, dass die Mikrozensus-Koordinaten nur auf einem 100 × 100-Meter-Gitter bekannt sind, ist ein Argument gegen die Benutzung eines Lage-Effekts auf Basis der Geokoordinaten. Vgl. Verordnung der Bundesregierung – Verordnung über den Inhalt und das Verfahren zur Erstellung und zur Anpassung von Mietspiegeln sowie zur Konkretisierung der Grundsätze für qualifizierte Mietspiegel (Mietspiegelverordnung – MsV) von 16. Dezember 2020. Hohe Regionalzuschläge bezahlt man in den Postleitzahlgebieten 10115 (Mitte), 10119 (Mitte-Prenzlauer Berg), 10435 (Mitte-Prenzlauer Berg), 10405 (Prenzlauer Berg), 10407 (Prenzlauer Berg), 10437 (Prenzlauer Berg), 14059 (Charlottenburg), 10585 (Charlottenburg), 10629 (Charlottenburg), 10789 (Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf ), 10781 (Schöneberg), 12161 (Friedenau, Steglitz) und 12047 (Neukölln). Die Postleitzahlengebiete mit den am niedrigsten geschätzten Koeffizienten sind 12679 (Marzahn), 12689 (Marzahn), 12685 (Marzahn), 12619 (Hellersdorf ), 13059 (Neu Hohenschönhausen), 12353 (Rudow) und 12307 (Lichtenrade). Vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2021). Vergleiche der durchschnittlichen Mieten werden häufig in den Einleitungen der Mietspiegelbroschüren benutzt, um die Entwicklung der Mietpreise zu beurteilen, vgl. beispielsweise die Einleitung zum Mietspiegel Berlin 2019. Die Mietpreisbremse erlaubte nur eine Miete in Höhe von maximal 110 % der ortsüblichen Vergleichsmiete, d. h. de facto 110 % des Mietspiegelwerts. Vgl. zum Begriff der „anerkannten wissenschaftlichen Methoden“ Sebastian et al. (2020), S. 7–10. Vgl. hierzu die Stellungnahme der gif-Mietspiegelkommission, Sebastian et al. (2020). So das erste der „10 Grundprinzipien der amtlichen Statistik“: „amtliche Statistiken [sind] […] auf unparteiischer Grundlage von Stellen der amtlichen Statistik aufzustellen […], um dem Recht der Bürger auf öffentliche Information zu entsprechen“, Destatis (2021).


Stadtforschung

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Stadtforschung

Martin Axnick

Hitzebedingte Mortalität in Berlin

Eine Folge des Klimawandels ist die Zunahme von ausgeprägten sommerlichen Hitzeperioden. Im vorliegenden Beitrag wird die Auswirkung von Hitze auf die Sterblichkeit in Berlin behandelt. Anhand eines Modells, das Abweichungen von der erwarteten Sterblichkeit mit der durchschnittlichen Lufttemperatur verknüpft, können Tage mit hitzebedingten Sterbefällen identifiziert werden. Dabei wirkt Hitze auf das Sterbegeschehen in den untersuchten Alters- und Geschlechtergruppen verschieden intensiv. Jüngere Personen sind schwächer betroffen als Ältere, Frauen stärker als Männer, wobei es Zusammenhänge zwischen Alter und Geschlecht zu berücksichtigen gilt. Entscheidend ist auch die Länge der auftretenden Hitzewellen.

Dieser Beitrag wurde bereits in der Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg, Heft 1/2021, S. 34–39 veröffentlicht.

Alle reden über das Wetter – wir auch. Das Wetter ist wie kaum ein anderes Thema dauerpräsent in den kleinen und großen Diskussionen der Menschen. Das fängt an bei der Wettervorhersage für die nächste Stunde und hört auf beim globalen Klima. Ganze Teile unserer Volkswirtschaft, wie die Landwirtschaft, der Tourismus oder das Baugewerbe werden vom Wetter beeinflusst. Und selbstverständlich entfaltet das aktuelle Wetter auch seine Wirkung auf das persönliche Wohlbefinden jedes einzelnen von uns. Ein Aspekt, der in den Klimawandeldebatten behandelt wird, ist das häufigere Auftreten von Hitzewellen. Mit ihnen haben nicht nur politische oder ökonomische Entscheidungsträger zu kämpfen. Hitzewellen haben Auswirkungen auf die persönliche Verfassung der Menschen in der Region – vom Schwitzen über Appetitlosigkeit bis hin zum Tod. Entsprechend rückt dieses Thema in den Fokus der Fachverwaltungen. Das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (AfS) hat unter anderem im Auftrag der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Berlin eine Methode zur Schätzung der Auswirkung von Hitze auf die Mortalität in Berlin entwickelt. Das gemeinsame Projekt begann im Februar 2018 mit einer Auftaktsitzung der beteiligten Akteure bei dem die Möglichkeiten der Ermittlung hitzebedingter Sterblichkeit erörtert wurden. Ausgangsbasis sollten die Erkenntnisse des Schlussberichts des Projektes „Etablierung eines Surveillance-Systems für hitzebedingte Mortalität in Hessen (HEAT II)“ (Grewe et al. 2017) sein. Als Ergebnis der durchgeführten Proberechnungen wurde festgehalten, dass das in der Studie ermittelte Verfahren auch für Berlin zur Anwendung kommen sollte. Im Januar 2019 konnten die finalen Berechnungsergebnisse der Senatsverwaltung übermittelt werden.

Methodik Martin Axnick M. Sc. Volkswirtschaftslehre, leitet das Referat Bauen, Wohnen, Verkehr des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg. Bis Oktober 2020 war er als Referent für Bevölkerungsstatistik tätig. : martin.axnick@statistik-bbb.de Schlüsselwörter: Sterblichkeit – Hitze – Klimawandel – Berlin

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Ausgangsmaterial sind die Tagesergebnisse der Sterbefallstatistik und die Tagesmitteltemperaturen. Die verwertbaren Sterbefalldaten reichen bis 1980 zurück und lagen für die Proberechnungen bis 2016 vor. Der Auswertungszeitraum wurde auf die Monate Juni, Juli und August eingeschränkt. Eine Erweiterung auf Mai bis September wurde geprüft und aufgrund der zu geringen Zahl heißer Tage in den Monaten Mai und September verworfen. Die Sterbefallstatistik wird grundsätzlich nach dem Wohnort der verstorbenen Person


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ausgewertet. Das bedeutet, dass die Verstorbenen der Berliner Sterbefallstatistik in Berlin wohnhaft waren und nicht, dass Sie dort zwangsläufig auch gestorben sind. Der Sterbeort ist jedoch von entscheidender Bedeutung für den Einfluss der Temperatur auf das Sterbegeschehen. Für die Berichtsjahre 1980 bis 1999 liegt ausschließlich die Information des Wohnortes der verstorbenen Person vor. Ab dem Berichtsjahr 2000 ist in der Statistik jedoch auch das registrierende Standesamt als Merkmal enthalten. Da das Standesamt für die Beurkundung des Todesfalls verantwortlich ist, in dem der Tod der verstorbenen Person eingetreten ist, liegt somit die Information des Sterbeortes vor. Allerdings bleibt die Einschränkung, dass die jeweilige Sterbefallstatistik für ein Bundesland nur die Sterbefälle enthält, deren Wohnort in dem Bundesland lag. Das heißt, dass beispielsweise der Todesfall einer Person aus Hessen, der sich in Berlin ereignete, zwar in einem Berliner Standesamt erfasst wird, aber nicht in der Berliner Sterbefallstatistik auftaucht. Da das AfS die Sterbefallstatistiken für beide Länder, Berlin und Brandenburg, vorhält, ist somit eine räumliche Unterscheidung der Sterbefälle in der Region möglich. Die Analyse der hitzebedingten Mortalität in Berlin beruht ab dem Berichtsjahr 2000 auf den Sterbefällen, deren Wohnort in Berlin war und deren Sterbeort in Brandenburg oder Berlin lag. Ab dem Jahr 2000 sind somit Sterbefälle aus den Länderanalysen ausgeschlossen, deren Sterbeort nicht in den Ländern Berlin oder Brandenburg lag. Um einzuschätzen, ob und welche Zahl der Todesfälle an einem Tag auf Hitze zurückzuführen ist, muss als hinreichende Bedingung das Temperaturkriterium der Hitze erfüllt sein. Dies gilt als erfüllt, wenn die Tagesmitteltemperatur 23°C überschritten hat. Als notwendige Bedingung muss nun eine Grenze bzw. ein Schwellenwert definiert werden, ab wann die Sterbefallzahl als überdurchschnittlich hoch identifiziert wird. Folgend wird dieser Schwellenwert als Exzessschwelle bezeichnet. Um die Exzessschwelle zur berechnen, braucht es als Hilfsmittel eine Basislinie. Die Basislinie stellt die Zahl der erwarteten Sterbefälle dar. Wenn die notwendige und die hinreichende Bedingung erfüllt sind, ist die Differenz zwischen beobachteter Sterbefallzahl und Basislinie die Zahl der auf Hitze zurückzuführenden Todesfälle. Zur Ermittlung der Basislinie muss ein geeigneter Referenzzeitraum ermittelt werden. Der Referenzzeitraum umfasst zwei Dimensionen. Zum einen muss ein geeigneter Referenzzeitraum für die vergangenen Jahre gefunden werden. Er muss eine ausreichende Zahl von Jahren umfassen, um zufällige Einflüsse, die die Sterbefälle erhöhen oder senken, ausblenden zu können. Der Vergleichszeitraum darf jedoch nicht zu weit gefasst werden, damit langfristige Entwicklungen, wie zum Beispiel technischer oder medizinischer Fortschritt oder eine Veränderung der demografischen Struktur der Bevölkerung, das Ergebnis nicht verzerren. Diese längerfristigen Entwicklungen können sowohl jahresübergreifend als auch saisonal sein. Als saisonale Entwicklung wird die Veränderung der Verteilung der Sterbefälle innerhalb eines Jahres verstanden. Zum anderen sollten die täglichen Sterbefälle in einer geeigneten Form geglättet bzw. standardisiert werden. Auch hier ist das Ziel, den Einfluss zufälliger Faktoren zu reduzieren. Das Ergebnis der Proberechnungen ist, dass die Dimensionen

des Referenzzeitraumes fünf Jahre sowie fünf Tage umfassen. Das heißt für jeden Beobachtungstag wird der Mittelwert aus den Tagessterbefallzahlen der fünf vorangegangen Jahre und der jeweils fünf umliegenden Tage gebildet. Dadurch steht jedem Beobachtungswert ein aus 25 Datenpunkten gebildeter gleitender Mittelwert gegenüber. Bevor die Basislinie gebildet wird, werden die Ausgangswerte punktuell geglättet. Die beobachteten Sterbefallzahlen eines Tages im Referenzzeitraum werden ersetzt, wenn an diesem Tag das Temperaturkriterium erfüllt war. Dazu wird der Median der vorangegangenen drei Jahre und der jeweils umliegenden drei Tage verwendet. Ziel ist die Verringerung des verzerrenden Einflusses von Hitze auf die Ermittlung der Basislinie. Alternativ hätte der Referenzzeitraum (beide oder nur eine Dimension) kürzer oder länger gewählt werden können. In den Proberechnungen stellte sich allerdings heraus, dass ein zu kurzer Referenzzeitraum negative Folgen auf die Qualität der Ergebnisse hatte. Es wurden bei einem kurzen Referenzzeitraum übermäßig viele Tage identifiziert, an denen die Sterblichkeit erhöht war. In der Folge war eine unrealistisch hohe Zahl an heißen Tagen durch Übersterblichkeit geprägt. Gleichzeitig sank der statistische Einfluss der Temperatur auf die Übersterblichkeit insgesamt. Wenn der Referenzzeitraum länger gewählt wurde, waren die Ergebnisse nah an denen des Referenzzeitraumes von fünf Jahren und fünf Tagen. Jedoch wurde mit dem längeren Referenzzeitraum eine zum Teil uneinheitliche Entwicklung des Einflusses der Temperatur auf die Übersterblichkeit festgestellt und der Anteil der heißen Tage, an denen Übersterblichkeit vorlag, sank. Außerdem steigt das Risiko, dass bei einem bezüglich der Dimension der vergangenen Jahre zu lang gewählten Referenzzeitraum der Einfluss von Trends (Bevölkerungsstruktur, medizinischer Fortschritt) den Einfluss von Hitze auf die Sterblichkeit überlagert. Schließlich wurde die Berechnung der Basislinie mit einem Referenzzeitraum von fünf Jahren und fünf Tagen als stabilste Lösung identifiziert. Formal wird die Basislinie, wenn die zuvor genannte Ersetzung der beobachteten Sterbefallzahl an heißen Tagen erfolgte, nach folgender Formel berechnet. (1)

Wobei:

ej,t = Basislinie (erwarteter Wert/expected value) zum beobachteten Wert oj,t = beobachteter Wert (observed value) ōj,t = beobachteter Wert nach Ersetzungsverfahren für heiße Tage j = Jahr t = Tag

Nun muss die Exzessschwelle definiert werden. Das heißt, es ist ein Grenzwert nötig, ab wann die beobachtete Sterbefallzahl als überdurchschnittlich bewertet werden kann. Die Exzessschwelle wird als Summe aus erwartetem Wert (Basislinie) und doppelter Standardabweichung definiert.

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(2)

ten wird, zu einer deutlichen Reduktion der hitzebedingten Mortalität. Wobei: xj,t = Exzessschwelle (Grenzwert) sj,t = Standardabweichung (des erwarteten Wertes). Die Zahl der Exzesssterbefälle, also die Zahl der Sterbefälle, die das erwartete Niveau überschreiten ist die einfache Differenz aus beobachteter Sterbefallzahl und erwarteter Sterbefallzahl (Basislinie).

(3)

Mehr Hitze in Berlin

(4) Wobei: dj,t = d~ j,t = cj,t = k=

Exzesssterbefälle hitzebedingte Exzesssterbefälle Tagesmitteltemperatur Temperaturkriterium (23°C)

Wenn es an einem Tag mit überdurchschnittlicher Sterblichkeit im Mittel wärmer als 23 °C war, wird ein Tag mit hitzebedingter Mortalität identifiziert. Das heißt, wenn das Temperaturkriterium erfüllt und die Exzessschwelle überschritten wurde, sind die ermittelten Exzesssterbefälle auf Hitze zurückzuführen. Ein Tag an dem dies erfüllt ist, wird folgend als hitzebedingter Exzesstag bezeichnet. Sollte lediglich die notwendige Bedingung erfüllt sein, wird dieser Tag lediglich als Exzesstag bezeichnet. Ziel der Rechnungen ist es auch, die hitzebedingte Mortalität für bestimmte Teile der Bevölkerung auszuweisen und damit Risikogruppen zu identifizieren. Dazu wird für jede betrachtete Gruppe die Berechnung gesondert durchgeführt. Bei der Bildung der Gruppen anhand demografischer Merkmale muss zwingend darauf geachtet werden, dass die gewählten Merkmalskombinationen nicht dazu führen, dass zu geringe Fallzahlen beobachtet werden. Es gilt: Je kleiner die beobachtete Sterbefallzahl ist, desto größer ist das Risiko statistisch nicht belastbare Ergebnisse zu produzieren. Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes wurden verschiedene Altersgruppen, differenziert nach dem Geschlecht, gebildet. Für jede Teilgruppe wurde die oben beschriebene Rechenprozedur gesondert durchgeführt. Es wurden Berechnungen für die Altersgruppen der 0- bis unter 65-Jährigen, der 65- bis unter 80-Jährigen, der Hochbetagten (80 Jahre und älter) sowie 65-Jährigen und Älteren jeweils für Männer und Frauen durchgeführt.

Ergebnisse Das erste zentrale Ergebnis der Berechnungen ist wenig überraschend: Ältere sind stärker von hitzebedingter Mortalität betroffen als Jüngere. Das zweite Ergebnis ist, dass Frauen stärker betroffen sind als Männer. Das dritte zentrale Ergebnis ist allerdings nicht so leicht vorhersehbar gewesen wie die oberen beiden Erkenntnisse: Für einen spürbaren Einfluss der Hitze auf das Sterbegeschehen sind zusammenhängende Hitzeperioden entscheidend. Dabei führt bereits ein einziger Tag an dem die Tagesmitteltemperatur von 23 °C unterschrit-

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Seit 1985 starben gemäß dem Berechnungsmodell in Berlin 3 003 Menschen aufgrund von Hitze. Werden diese hitzebedingten Sterbefälle in Bezug zur Gesamtsterblichkeit in diesem Zeitraum gesetzt, ergibt sich für die Sommermonate in Berlin eine Wahrscheinlichkeit an Hitze verstorben zu sein von 1,0 %. Die weiteren hier präsentierten Ergebnisse beziehen sich immer auf die Sommermonate Juni, Juli und August.

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Die Temperaturdaten für Berlin und Brandenburg wurden dem AfS vom Landesamt für Umwelt Brandenburg bereitgestellt. Es handelt sich um die jeweiligen Landesdurchschnittswerte der gemessenen Lufttemperaturen mehrerer Messstationen des Deutschen Wetterdienstes. Der Trend steigender Temperaturen ist erkennbar. Dabei hat die Häufigkeit von heißen Tagen im Zeitverlauf zugenommen, wie aus Abb. 1 ersichtlich wird. Obwohl Berlin mitten in Brandenburg liegt, lag die Tagesdurchschnittstemperatur in der Spreemetropole in den letzten 35 Jahren etwa 0,7 °C über der in Brandenburg. Hier wird der Unterschied zwischen Stadt- und Landklima deutlich. Durch die enge Bebauung heizen sich die Städte in der Sommersonne deutlich mehr auf und halten die Temperatur länger. 1985 bis 2019 erfüllten in Berlin 443 Tage das Temperaturkriterium, waren also wärmer als 23 °C.

Ältere leiden stärker unter Hitzewellen Wird die Population in zwei Altersgruppen geteilt, deren Grenze bei 65 Jahren liegt, wird deutlich, dass bei den Jüngeren bedeutend weniger hitzebedingte Exzesstage auftreten. Bei den Älteren waren es im Beobachtungszeitraum fast drei Mal so viele wie bei den Jüngeren. Werden die Altersgruppen der 65- bis unter 80-Jährigen und der Hochbetagten betrachtet, ergibt sich das durch Abb. 2 vermittelte Bild: Weniger hitzebedingte Exzesstage bei den 65- bis unter 80-Jährigen als bei den Hochbetagten oder auch als bei den 65-Jährigen und Älteren. Das Ausmaß der Unterschiede zwischen den Altersgruppen ist bei den hitzebedingten Sterbefällen deutlicher als bei den hitzebedingten Exzesstagen. Unter den ab 65-Jährigen sind mehr als sieben Mal so viele hitzebedingte Sterbefälle zu beobachten, als bei den unter 65-Jährigen. Hervorzuheben ist, dass die 65- bis unter 80-Jährigen nicht mal doppelt so stark von hitzebedingter Sterblichkeit betroffen sind, wie die unter 65-Jährigen. Das Alter hat einen Einfluss auf die hitzebedingte Sterblichkeit, besonders deutlich wird dies im sehr hohen Alter. Beim Vergleich zwischen hitzebedingten Exzesstagen und Sterbefällen fällt auch auf, dass es auch bei den Jüngeren relativ häufig Tage gibt, an denen eine hitzebedingte Sterblichkeit auftrat (hitzebedingte Exzesstage). Die hitzebedingte Sterblichkeit an sich, war bei den Jüngeren jedoch deutlich schwächer ausgeprägt als bei den Älteren. Das heißt, bei den unter 65-Jährigen wurden an einem hitzebedingten Exzesstag 11,6 hitzebedingte Sterbefälle gezählt. Bei den Hochbetagten lag dieses Verhältnis bei 21,1.


Stadtforschung

Abbildung 1: Durchschnittstemperatur und Anzahl heißer Tage 1985 bis 2019 in Berlin

30

Anzahl heißer Tage

25 20 15 10 5 Tage über 23 °C 0

1985 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 2019

22 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2

Durchschnittstemperatur

°C 0

1985 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 2019

Abbildung 2: Hitzebedingte Exzesstage und Sterbefälle 1985 bis 2019 in Berlin Sterbefälle 0

hitzebedingte Sterbefälle hitzebedingte Exzesstage

hitzebedingte

500

1 000

1 500

2 000

2 500

3 000

20

40

60

80

100

120

insgesamt

unter 65 Jahre 65 Jahre und älter

Exzesstage

hitzebedingte 65 bis unter 80 Jahre Sterbefälle 80 Jahre und älter Tage 0

Abbildung 3: Hitzebedingte Sterbefälle 1985 bis 2019 nach Geschlecht und Alter in Berlin männlich weiblich

insgesamt

unter 65 Jahre 65 Jahre und älter

65 bis unter 80 Jahre Weiblich

80 Jahre und älter 0

200 400 600 800 1 000 1 200 1 400 1 600 1 800

Wer sind die Risikogruppen? Generell scheinen Frauen von Hitzewellen härter getroffen zu werden als Männer. Wird das Alter nicht berücksichtigt, liegt das Geschlechterverhältnis der hitzebedingten Sterbefälle zwischen Männer und Frauen bei 1,5. Das heißt auf einen männlichen hitzebedingten Sterbefall kamen 1,5 weibliche hitzebedingte Sterbefälle. Dies liegt jedoch ausschließlich an den Hochbetagten, wie aus Abb. 3 hervorgeht. Die meisten hitzebedingten Sterbefälle ereigneten sich in dieser Altersgruppe. Allerdings ist das Geschlechterverhältnis des Bevölkerungsbestandes dort bereits zum Vorteil der Frauen ausgeprägt. Dies liegt zum einen in der längeren Lebenserwartung der Frauen begründet. Während heute neugeborene Jungs in Berlin eine Lebensspanne von 78,6 Jahren erwarten können, beträgt sie bei neugeborenen Mädchen 83,4 Jahre. Zum anderen spielt die demografische Struktur der Bevölkerung eine Rolle. In den 1980er bis in die 2000er hinein waren die älteren Kohorten davon geprägt, dass es hohe Frauenüberschüsse gab. Aufgrund der beiden Weltkriege, waren viele Männer bereits verstorben. Daher entfielen 1985 bis 2019 in den Sommermonaten bei den 80-Jährigen und Älteren in Berlin 70,8 % der Sterbefälle auf Frauen. Bei den unter 65-Jährigen war das Verhältnis aufgrund der geringeren Lebenserwartung der Männer umgekehrt: 65,7 % der Sterbefälle von Personen unter 65 Jahren waren männlichen Geschlechts. Um ein genaueres Bild der Auswirkung der Hitze auf die Sterblichkeit zu bekommen, werden die Verteilungen der allgemeinen Sterblichkeit und der hitzebedingten Sterblichkeit für die einzelnen Altersgruppen in Abb. 4 gegenübergestellt.

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Bei den Altersgruppen der unter 65-Jährigen und der 65- bis unter 80-Jährigen liegt der Anteil der hitzebedingten Sterbefälle am Insgesamt unterhalb der allgemeinen Sterblichkeit dieser Altersgruppen. Das heißt, die Hitze hat auf diese jüngeren Altersgruppen einen geringeren Einfluss auf die Sterblichkeit als andere nicht untersuchte Faktoren. Umgekehrt ist das Bild bei den Hochbetagten. Fast zwei Drittel der hitzebedingten Sterbefälle sind auf die 80-Jährigen und Älteren zurückzuführen. An der allgemeinen Sterblichkeit beträgt dieser Anteil knapp 46 %.

Abbildung 4: Verteilung allgemeine und hitzebedingte Sterbefälle 1985 bis 2019 nach Altersgruppen in Berlin Sterblichkeit hitzebedingt allgemein

unter 65 Jahre

65 bis unter 80 Jahre

hitzebedingte

80 Jahre und älter

Sterblichkeit 10

% 0

20

30

40

50

60

70

Heiß ist nicht gleich heiß Der erste Impuls bei der Analyse der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Temperatur und hitzebedingter Mortalität führt zu der Annahme, dass aus der Zunahme der Anzahl heißer Tage die Zunahme der hitzebedingten Mortalität folgt. Der Zusammenhang ist allerdings nicht derart linear ausgeprägt. Obwohl 2006 das Jahr mit den meisten heißen Tagen (30 Tage) war, gehört es nicht zur absoluten Spitzengruppe der Jahre mit den meisten Hitzetoten, wie Abb. 5 zeigt. Die hitzebedingte Sterblichkeit war zwar nicht gering, aber sie war in drei anderen Jahren (1994, 2010, 2018) höher. Das Jahr 2019 war das Jahr mit den zweitmeisten heißen Tagen und lag an fünfter Stelle der Liste der Jahre mit den meisten hitzebedingten Sterbefällen. Eine gewichtige Rolle für das Auftreten hoher Fallzahlen hitzebedingter Mortalität spielen zusammenhängende Hitzewellen. Waren die heißen Tage stärker verteilt und unterbrochen von kühleren Phasen, wurden nur wenige hitzebedingte Sterbefälle registriert oder sogar gar keine. Bereits kurze Unterbrechungen der Hitzewellen sorgten für eine deutliche Reduktion der hitzebedingten Sterblichkeit. Diesen Zusammenhang verdeutlicht der Vergleich der Jahre 1994 und 2019 in Abb. 6. Im Jahr 1994 wurden in Berlin Rekordwerte gesetzt. In diesem Jahr starben laut Rechenmodell 878 Personen aufgrund von Hitze. Das sind 29,2 % aller Hitzetoten von 1985–2019. Im Jahr 1994 wurden aber auch 17 heiße Tage am Stück registriert – so viele wie in keinem anderen Jahr. Das Jahr mit der zweitlängsten Hitzeperiode war 2018 mit 12 heißen Tagen am Stück.

Abbildung 5: Heiße Tage, hitzebedingte Exzesstage und hitzebedingte Sterblichkeit 1985 bis 2019 in Berlin

Anzahl heißer Tage hitzebedingte Exzesstage

30 25 20 15 10 5

Tage über 23 °C 0

hitzbedingte Sterbefälle

1985 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 2019

800 700 600 500 400 300 200 100 0

96

1985 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 2019

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Abbildung 6: Temperatur und Sterblichkeit 1994 und 2019 in Berlin 1994 hitzebedingte Sterbefälle Sterbefälle Temperatur 23 °C

30

300

25

250

20

200

15

150

10

100

5

50

°C 0 1. Jun

2019 hitzebedingte Sterbefälle Sterbefälle Temperatur 23 °C

15. Jun

1. Jul

15. Jul

1. Aug

1994

15. Aug

31. Aug

0

30

300

25

250

20

200

15

150

10

100

5

50

°C 0 1. Jun

15. Jun

1. Jul

15. Jul

1. Aug

15. Aug

31. Aug

0

2019

Am 1. August 1994 wurde sogar eine Tagesmitteltemperatur von 30,0 °C erreicht. An diesem Tag wurden 133 hitzebedingte Sterbefälle gezählt, am Tag darauf waren es sogar 157. Während der Hitzewelle 1994 starben teilweise mehr als doppelt so viele Menschen, wie ohne Hitze zu erwarten gewesen waren. Obwohl 2019 der heißeste Sommer seit 1985 war, wurden vergleichsweise wenige hitzebedingte Sterbefälle beobachtet. Insgesamt wurden 29 Tage – einer mehr als 1994 – mit einer Tagesdurchschnittstemperatur oberhalb von 23 °C gezählt. Im Gegensatz zu anderen Jahren mit hoher hitzebedingter Sterblichkeit waren die heißen Tage aber immer wieder unterbrochen von kühleren Tagen. Die beiden längsten heißen Phasen wurden mit jeweils 7 zusammenhängenden Tagen Ende Juli und Ende September gemessen. Ansonsten war es an 13 Tagen im Juni und an 2 weiteren Tagen im September heiß gemäß Temperaturkriterium, davon aber höchstens 4 Tage am Stück. Die vielen kühlen Unterbrechungen ließen die Sterblichkeit immer wieder auf das zu erwartende Niveau abfallen.

Ausblick Anhand des aufgezeigten Rechenmodells lassen sich die Auswirkungen von Hitze auf das Sterbegeschehen in Berlin relativ leicht ablesen. Es sind lediglich zwei Größen nötig: Die tagesgenauen Sterbefallzahlen der Sterbefallstatistik und die Tagesdurchschnittstemperatur. Eine deutliche Ausweitung der exogenen Variablen würde den Erkenntnisgewinn höchstwahrscheinlich noch etwas steigern. In seiner jetzigen Form ist das Modell jedoch in allen Bundesländern problemlos anwendbar, wodurch die Ergebnisse vergleichbar wären. Im Rahmen des beschriebenen Projektes wurde auch für das Land Brandenburg die hitzebedingte Mortalität ermittelt. Da die Sterbefallstatistik Ergebnisse auf Gemeindeebene liefert, können – wenn keine Gemeindegrenzen geschnitten werden – die Beobachtungsräume beliebig gebildet werden. Dies ist insbesondere ein Vorteil, wenn in einem Bundesland unterschiedliche klimatische Regionen bestehen. Die einzige Limitierung ist das Vorliegen von Wetterdaten für die so gebildeten Regionen. Da uns der Klimawandel mit den einhergehenden Hitzewellen voraussichtlich noch lange beschäftigen wird, bleibt auch die Beobachtung der hitzebedingten Mortalität im Fokus.

Literatur Grewe, Henny Annette et al. (2017): Etablierung eines Surveillance-Systems für hitzebedingte Mortalität in Hessen (HEAT II) – Schlussbericht, Hochschule Fulda, Fachbereich Pflege und Gesundheit.

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Jürgen Göddecke-Stellmann, Teresa Lauerbach, Dorothee Winkler

Innerstädtische Raumbeobachtung – ein kritischer Rück- und Ausblick

Die Innerstädtische Raumbeobachtung (IRB) ist ein kommunalstatistisches Gemeinschaftsprojekt, das auf eine mehr als dreißigjährige Geschichte zurückblicken kann. Das Projekt steht in der Tradition der Sozialindikatorenbewegung und will in den beteiligten Städten eine empirische Grundlage für die Beschreibung von gesellschaftlichen Strukturen und deren Veränderung schaffen. Über die Jahre ist es gelungen, eine in Deutschland einzigartige kommunalstatistische Datenbasis aufzubauen. Der Wert der IRB wird zunehmend auch in der Wissenschaft erkannt. Das Potenzial der IRB für kommunalstatistische Anwendungen wird jedoch noch nicht voll ausgeschöpft. Gerade aus dem Stadtvergleich können Erkenntnisse, zumal für die lokale Politikberatung, erzielt werden, die auf andere Weise nicht gewonnen werden können. Es müssen also Wege und Verfahren gefunden werden, dieses Potenzial zu erschließen.

Jürgen Göddecke-Stellmann Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, Monitoring der Städtebauförderung : juergen.goeddecke@bbr.bund.de Teresa Lauerbach Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: kleinräumige Stadtbeobachtung, wissenschaftliche Begleitung des Städtebauförderungsprogramms „Sozialer Zusammenhalt“ : teresa.lauerbach@bbr.bund.de Dorothee Winkler Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn. Aufgabenschwerpunkte: Datenakquise und Datenaufbereitung zu den Themen kleinräumige Stadtbeobachtung, Städtebauförderung und Verkehr : dorothee.winkler@bbr.bund.de Schlüsselwörter: Innerstädtische Raumbeobachtung – kleinräumiger Stadtvergleich – Monitoring – Indikatoren – Datensammlung

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Die Anfänge der IRB Wenn man aus der heutigen Sicht beurteilen will, welchen Stand das Projekt Innerstädtische Raumbeobachtung (IRB) erreicht hat, muss man sich vergegenwärtigen, mit welcher Motivation dieses Projekt vor mehr als 30 Jahren angegangen worden ist. Die Wurzeln der IRB reichen zurück bis in die späten 1980er Jahre (Böltken, Gatzweiler, Meyer 2007). Anstoß für den Aufbau der IRB war die Diagnose einer „Fehlstelle“ im statistischen System Deutschlands. Die Kommunalstatistik ist originäre Aufgabe der Kommunen. Jede Kommune gestaltet diesen Aufgabenbereich nach eigenen Erfordernissen und Ermessen. Dieser Umstand ist so lange irrelevant, wie keine interkommunale Vergleichsperspektive – egal ob auf gesamtstädtischer oder teilräumlicher Ebene – eingenommen wird. Erst wenn Stadtvergleiche in den Fokus rücken, werden die immanenten Hindernisse dieser in den Kommunen heterogen entwickelten Praxis sichtbar. Ein aus den späten 1980er Jahre stammender Flyer (vgl. Abb. 2), der als Informations- und Motivationsschrift an mögliche teilnehmende Städte der IRB gerichtet war, zeigt die Probleme klar auf: „Vergleichende empirische Stadt- und Regionalforschung scheitert bislang in der Praxis häufig an zwei Grundvoraussetzungen. Erstens mangelt es an einheitlichen Datengrundlagen, die den direkten Vergleich zwischen Städten und ihren regionalen Bezügen zulassen. Zweitens ist selbst bei günstiger Datenlage die Vergleichbarkeit wegen der Unterschiedlichkeit des räumlichen Bezugs in Frage gestellt. Insbesondere verbietet es die Heterogenität von großen Städten, das Stadt- bzw. Gemeindegebiet undifferenziert als räumlichen Bezug zugrunde zu legen. Notwendig sind deshalb vergleichbare Informationen über vergleichbare räumliche Einheiten unterhalb der Gemeindeebene (Stadtteile).“

Abbildung 1: KOSISSchreiben von 1987


Statistik & Informationsmanagement

Abbildung 2: IRB-Flyer aus den 1980er Jahren

BfLR die Daten nutzte, um Stadtentwicklungsprozesse aus kleinräumiger Perspektive zu analysieren und für die Politikberatung des Bundes zu nutzen. Ende der 1990er Jahre standen viele Statistikstellen in den Kommunen aufgrund personeller Einsparungen und der Konzentration auf kommunale Pflichtaufgaben unter erheblichem Druck, was letztlich auch die bestehenden Kooperationsstrukturen bei der IRB ins Wanken brachte, so dass eine Unterbrechung bei der Projektarbeit eintrat. Mit einer veränderten Kooperationsstruktur – so übernahm das BBR als Nachfolgeeinrichtung der BfLR die Funktion als datensammelnde Stelle – und einer (leicht) geänderten Beteiligung der Städte konnte die IRB nach dem Jahr 2000 schrittweise „wiederbelebt“ werden (Böltken, Gatzweiler, Meyer 2007: 12 f.). Das Projekt hat sich seither stetig weiterentwickelt und konsolidiert.

Aktueller Stand der IRB Während sich im Jahr 2002 47 Städte dazu bereiterklärten, ihre kleinräumigen Daten für die IRB zu Verfügung zu stellen, beteiligen sich mittlerweile 56 Städte an der IRB. Während dieser Zuwachs einerseits erfreulich ist, bedeutet er aber auch, dass nicht für alle Städte Analysen bis zum Jahr 2002, dem ersten Berichtsjahr der zweiten IRB-Phase, rückreichend möglich sind, da manche Städte erst später zur IRB dazugekommen sind. In Abbildung 3 sind alle 56 Städte dargestellt. Außerdem zeigt die Karte, dass die meisten deutschen Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern mittlerweile an der IRB beteiligt sind. Unterhalb dieser Gemeindegrößenklasse nehmen nur noch vereinzelt Städte an dem Projekt teil. Mit dem Aufbau der IRB sollte dieser regional- und städtestatistischen Herausforderung begegnet werden. Zusammengefunden haben sich dazu der Verband Deutscher Städtestatistiker (VDSt), der Deutsche Städtetag (DST), das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und die damalige Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR), die eine Rahmenvereinbarung zur Kooperation verabschiedet und die Grundlagen des Projektes erarbeitet haben. Das Ziel der Zusammenarbeit war primär darauf ausgerichtet, eine Datenbasis für eine überlokal vergleichende innerstädtische Raumbeobachtung aufzubauen, um so den beteiligten Kommunen die Möglichkeit zu eröffnen, ihre eigene Entwicklung mit der anderer Städte in innerstädtischer Differenzierung zu vergleichen. Diesem Anspruch entsprechend wurden ein Merkmalskatalog erarbeitet, vergleichbare Raumeinheiten festgelegt und eine abgestimmte Lagetypik für jede Stadt definiert. Für die BfLR lag der Vorzug der IRB darin, die Grenzen der amtlichen Statistik zu überwinden und bei den Großstädten eine sozialräumliche Differenzierung zu erreichen, die im Rahmen der Laufenden Raumbeobachtung nicht möglich gewesen wäre, denn die amtliche Statistik kannte zu diesem Zeitpunkt keine Differenzierung unterhalb der Gemeindeebene.1 Das Statistische Amt der Stadt Stuttgart fungierte anfangs als koordinierende Stelle und war für die Sammlung, Aufbereitung und Bereitstellung der Daten zuständig, während die

Im Berichtsjahr 2019 stehen für städtevergleichende Analysen fast 3.000 Stadtteile zur Verfügung. Je nach Stadt sind diese unterschiedlich groß. So reicht die Spannweite von 0 bis zu knapp 92.000 Einwohnern pro Stadtteil. Die durchschnittliche Stadtteilgröße liegt bei 8.000 Einwohnern, variiert aber von Stadt zu Stadt erheblich. So beträgt das Maximum der durchschnittlichen Stadtteilgröße je IRB-Stadt 18.000 Einwohner, das Minimum liegt bei 2.000 Einwohnern. Jährlich werden über 400 Merkmale erhoben. Aufgrund von verschiedenen Änderungen hat sich die Zusammensetzung der Merkmale über die Jahre hinweg verändert, ist aber im Kern weitgehend konstant geblieben, sodass für viele Variablen lange Zeitreihen vorliegen. Die IRB steht damit ganz in der Tradition der Sozialindikatorenbewegung und ihren Konzepten zur gesellschaftlichen Dauerbeobachtung (Zapf 1977). Anpassungen des Merkmalskatalogs erfolgten aus unterschiedlichen Gründen. So führte beispielsweise im Jahr 2015 eine Ausdifferenzierung der Staatengruppen bei der Erhebung ausländischer Einwohner nach ausgewählter Staatsangehörigkeit zu einer Veränderung im Merkmalskatalog. Teilweise zielen diese Änderungen auf eine verbesserte Auswertbarkeit der Daten ab. Es gibt aber auch Anpassungen am Merkmalskatalog, die auf Änderungen in der Gruppenzugehörigkeit (z. B. Kroatien mit dem Beitritt zur EU im Jahr 2013) und auf

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Abbildung 3: IRB-Städte, Stand 2020

Gesetzesänderungen (z. B. Lebenspartnerschaften) oder der Datenverfügbarkeit zurückzuführen sind und damit durchgeführt werden müssen. Durch die Änderung des Basisvertrages „Arbeitsmarktdaten in kleinräumiger Gliederung“ seitens der Bundesagentur für Arbeit (BA) und die damit einhergehende Einführung strikter Datenschutzbestimmungen können die IRB-Städte nicht mehr alle Merkmale wie ursprünglich definiert bereitstellen. Der Merkmalskatalog musste damit an die neuen Bedingungen angepasst werden. Teilweise mussten die IRB-Städte auch die Lieferebene anpassen und Stadtteile zu größeren Einheiten zusammenfassen. Bei einigen Städten führt dies dazu, dass die Daten auf zwei verschiedenen Gebietsständen bereitgestellt werden, was die gemeinsame Auswertung von BA-Daten und den originären kommunalen IRB-Daten – vor allem für externe Nutzer – erschwert.

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Dies gilt auch für die geometrischen Grundlagen, bei denen die unterschiedlichen Lieferebenen zu Schwierigkeiten führen können. Nichtsdestotrotz ist es erfreulich, dass mittlerweile für 49 Städte die Geometrien der IRB-Stadtteile zur Verfügung stehen, um für wissenschaftliche Auswertungen und Verschneidungen mit anderen raumbezogenen Daten genutzt werden zu können. 31 Geometrien stammen dabei aus den OpenData-Angeboten der Städte. Weitere 18 Städte haben die Freigabe erteilt, dass die amtlichen Geometrien, die dem BBSR vorliegen, für wissenschaftliche Zwecke weitergeben werden dürfen. Dies erweitert die Auswertungsmöglichkeiten der IRB-Daten, da durch Verschneidungen mit anderen Datengrundlagen auf Basis der IRB-Geometrien die Anzahl der auf IRB-Ebene verfügbaren Daten zunimmt.


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Resonanz in der Wissenschaft Die IRB stellt in ihrer jetzigen Ausprägung eine in Deutschland einzigartige Datenbasis bereit, deren Wert nicht nur in der Städtestatistik selbst bekannt ist, sondern auch in der Wissenschaft mehr und mehr Anerkennung findet, da für zahlreiche Analysen Daten auf Gemeindeebene zu grobkörnig sind und die kommerziell angebotenen kleinräumigen Daten wie etwa PLZ-Gebiete für wissenschaftliche Untersuchungen weniger geeignet sind. Die IRB bündelt Daten für 56 (Groß-)Städte und macht somit stadtvergleichende Analysen möglich. Zudem ist die lange Zeitreihenfähigkeit seit 2002 (teilweise sogar bis in die 1980er Jahre zurück) eine wichtige Eigenschaft, die die Beobachtung langfristiger Entwicklungen ermöglicht. Schon seit einigen Jahren besteht für wissenschaftliche Institutionen und Forschungseinrichtungen die Möglichkeit, die Daten der IRB für wissenschaftliche Analysen und Publikationen auf der Grundlage einer gemeinsam mit den Städten erarbeiteten Nutzungsvereinbarung, die die Konditionen der Datenweitergabe regelt, zu nutzen. Über die Jahre lässt sich hier eine Evolution beobachten: Ging es bei anfänglichen Anfragen oft um die Lagetypzuordnung für einzelne Städte oder einfache deskriptive Auswertungen, werden die Daten inzwischen immer häufiger für komplexere Mehrebenenanalysen von hochrangigen wissenschaftlichen Instituten wie dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (wzb), dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) oder verschiedenen Max-Planck-Instituten angefragt. Dafür gibt es wahrscheinlich mehrere Gründe. Es dauert oft viele Jahre bis ein Datensatz in der Wissenschaft breitere Bekanntheit erlangt, da es Referenzprojekte bedarf, die interessante Analysen mit dem Datensatz durchführen und somit das Potenzial und die Möglichkeiten der Daten für weitere wissenschaftliche Forschungsarbeiten aufzeigen. Eine Publikation, die durch ihre sehr medienwirksame Veröffentlichung 2018 viel Aufmerksamkeit erhalten hat, war die wzb-Studie „Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten“ von Marcel Helbig und Stefanie Jähnen (Helbig, Jähnen 2018). Die Studie untersucht, wie sich soziale Segregationstendenzen im Zeitraum zwischen 2002 und 2014 in deutschen Großstädten entwickelt haben und versucht anhand multivariater Analysen die Bestimmungsfaktoren sozialer Segregation zu identifizieren. Aktuell werden die IRB-Daten in einer Reihe von Projekten genutzt, deren thematischer Fokus hier nur kurz angerissen werden soll. Neben der Studie von Helbig und Jähnen beschäftigen sich auch diverse andere Forschungen mit dem Thema (residentieller) Segregation, in Zusammenhang mit der Flüchtlingszuwanderung, steigenden Immobilienpreisen oder auch auf europäischer Ebene. Zudem gibt es erste Analysen, in denen die IRB-Daten mit neuen Datenquellen, in diesem Fall mit Twitter-Daten, verknüpft werden, um Kommunikationsmuster mit soziodemografischen Daten zu hinterlegen. Seit 2019 liegen für einen Großteil der Städte die georeferenzierten Stadtteilgrenzen vor und sind auch für die Nutzung durch die

Wissenschaft freigegeben. So ergibt sich die Möglichkeit der Verschneidung der IRB-Daten mit weiteren georeferenzierten Daten. Dies ist sicher ein weiterer Aspekt, der die Nutzung von IRB-Daten für viele Wissenschaftler attraktiver macht. Hierdurch haben sich interessante Auswertungsmöglichkeiten ergeben, etwa die Verschneidung mit Umfragedaten des SOEP bzw. weiteren Panelbefragungen oder mit Umweltdaten. Häufig dienen die IRB-Daten dabei nur als Kontextinformation, um etwa Modelle zu prüfen, und fließen nur als Hintergrundinformation in die Analysen ein. Vor dem Hintergrund der gewachsenen Nachfrage aus der Wissenschaft hat das BBSR das Datenangebot weiter professionalisiert und eine IRB-Dokumentation erarbeitet, die die Arbeit mit den Daten erläutern und vereinfachen soll. Sie wird regelmäßig aktualisiert und an Neuerungen angepasst. Damit orientiert sich das Datenangebot an üblichen wissenschaftlichen Standards.

Die IRB als stadtvergleichendes Werkzeug für die Kommunalstatistik In der Rückschau auf die Anfänge der IRB und die damals formulierten Ziele ergibt sich ein durchaus heterogenes Gesamtbild. Über die Jahre ist es gemeinschaftlich gelungen, die IRB auf eine solide Basis zu stellen, das Knowhow der Städte und des BBSR zum Vorteil des Projektes zusammenzubringen und funktionsfähige Arbeitsweisen und Kooperationsstrukturen zu entwickeln. Gleichwohl gilt es sich einzugestehen, dass das Potenzial der IRB als stadtvergleichende Datenbasis für kommunale Verwendungszusammenhänge (noch) nicht ausgeschöpft worden ist, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sein mag. Das BBSR verfügt über keinen systematischen Überblick dazu, aber aus Gesprächen und Rückmeldungen einzelner Kolleginnen und Kollegen aus den beteiligten Städten lässt sich folgendes Bild zeichnen: •

Ressourcen: Viele kommunale Statistikämter oder -stellen verfügen über knappe Personalressourcen, die Analysen über das Tagesgeschäft hinaus kaum erlauben. Die Einarbeitung in den IRB-Datensatz sowie die Vorbereitung und Durchführung von Auswertungen erfordern zeitliche Ressourcen, die oftmals nicht zur Verfügung stehen. Auftragslage und Aufgabenspektrum: Die Arbeit der Kommunalverwaltung ist naturgemäß auf die eigene Stadt und ihren Zuständigkeitsbereich ausgerichtet. Stadt- bzw. stadtteilvergleichende Analysen sind ein Aufgabengebiet, das bisweilen der besonderen Begründung bedarf, da es nicht zu den Kernaufgaben gehört. Die Städtestatistik ist darüber hinaus in den beteiligten Städten sehr unterschiedlich organisiert und weist ein breites Aufgabenspektrum auf, was von der Erfüllung von Pflichtaufgaben bis zu anspruchsvollen Stadtforschungsaufgaben reicht und Politikberatungsfunktionen einschließt. Je nachdem variiert der Nutzen der IRB aus kommunaler Sicht. Leistungsvergleiche: Stadtvergleiche können negative Konnotationen auslösen, da sie Differenzen aufzeigen. Zumal auf der stadtpolitischen Ebene bestehen Sensibili-

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täten vor allem da, wo Stadtvergleiche und die aufgezeigten Differenzen auf ein Besser oder Schlechter reduziert werden. Bisweilen erwachsen daraus in der stadtinternen Kommunikation Komplikationen, die zusätzliche Zeit und Aufmerksamkeit binden. Aktualität der Daten: Zum anderen können die Daten der IRB nicht dieselbe Aktualität aufweisen wie in den Städten selbst, da die Datenbereitstellung und -plausibilisierung zeitlich verzögert erfolgt. Häufig sind diese Daten dann z.B. für Anfragen aus dem Stadtrat nicht mehr aktuell genug. Datenspektrum: Zudem ist das Spektrum an Daten in der IRB auf einen Merkmalskatalog begrenzt, der nur einen Teil der in den statistischen Ämtern vorliegenden Daten abbildet. Somit können die Städte mit ihren eigenen Daten sehr viel detaillierte Auswertungen durchführen, die mit Daten der IRB nicht möglich sind.

Bisher gibt es nur vereinzelt Beispiele aus Städten, die bereits umfangreichere Analysen mit den Daten der IRB durchgeführt haben. Hier kann z. B. auf die Auswertungen aus Augsburg verwiesen werden, die mit den IRB-Daten ein Städtecluster erarbeitet haben, um Entwicklungen in Augsburg vergleichbaren Städten in ihrem Cluster gegenüberstellen zu können (Gleich, Staudinger 2013). Diese aufwändigen Analysen sind aber eher die Ausnahme geblieben. Das BBSR hat über die letzten Jahre verschiedene Angebote erarbeitet, die Stadtvergleiche anbieten. Zum einen erhalten die 56 teilnehmenden Städte jährlich einen Jahresbericht, der die Entwicklungen des Projekts für das zurückliegende Jahr zusammenfasst. Dieser enthält einen Datenanhang, in dem die wichtigsten Basisindikatoren wie etwa die Bevölkerungsentwicklung einzeln für jede Stadt nach Lagetyp aufgeführt werden. So können ein erster interkommunaler Vergleich und eine Datenkontrolle stattfinden. Durch die Bereitstellung im PDF-Format sind die Struktur und das Design der Auswertungen allerdings vorgegeben und können nicht individuell angepasst werden.

Hierzu bietet das vom BBSR entwickelte Stadtvergleichstool, das mit der Freeware Tableau Reader bearbeitet werden kann, die Möglichkeit. Darin wurden über 60 verschiedene Indikatoren so aufbereitet, dass sich der Nutzer die für ihn passenden Komponenten über Filter zusammenstellen kann. Allerdings ist auch hier die Darstellungsform der Entwicklung der Indikatoren in Form von Liniendiagrammen und der Anzeige der Städte nebeneinander voreingestellt. Es können lediglich die Indikatoren, mit welcher Stadt man sich vergleichen möchte und die kleinräumige Ebene gewählt werden. Auch wenn die Flexibilität bei diesem Tool höher ist, bergen insbesondere die Software, die nicht in allen beteiligten Städten eingesetzt werden kann oder darf, und auch die etwas „sperrige“ Anzeige nach wie vor Hindernisse, sodass das Tool dem Anschein nach nur eingeschränkt genutzt wird. Alles in allem zeigt sich, dass für die IRB noch nicht die geeigneten Wege gefunden worden sind, für die beteiligten Kommunen nützliche Auswertungen zu entwickeln, die ohne nennenswerten Aufwand in der jeweiligen Stadt Verwendung finden können. Bedarfsgerechte Routinen, die diese Reduktion des Aufwandes leisten, sind noch nicht entwickelt worden. Folgende Anforderungen zeichnen sich ab: • Kommunikative Anschlussfähigkeit / Relevanz der stadtvergleichenden Auswertungen, • (leichte) Integrierbarkeit in eigene kommunale Produkte oder Vorlagen, • technische Offenheit der eingesetzten (Standard-)Routinen. Auch wenn wir in einem „Zeitalter der Vergleichung“ leben (Heintz 2016) und Vergleichen überall begegnen, bedeutet dies nicht zugleich, dass alle durchgeführten Vergleiche sinnvoll sind und eine Relevanz in sich tragen. Es gilt gewisse Regeln einzuhalten, damit Vergleiche Akzeptanz finden, und es gilt sich auch darüber klar zu werden, welche Funktion der Vergleich erfüllen soll, ob er sich an die politische Spitze oder Gremien wendet oder ob er der Information anderer Fachämter dient.

Abbildung 4: Darstellung von Veränderungen absoluter Größen im Zeitverlauf

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Diese Fragen kann das BBSR als Bundesinstitut nicht für die IRB-Städte beantworten. Die beteiligten Städte selbst sind gefragt, Bedarf und Anforderungen an stadtvergleichende Auswertungen der IRB zu artikulieren. Sie müssen abschätzen, wo verwaltungsinterne Verwendungszusammenhänge bestehen, wo und in welcher Form Stadtvergleiche eingebracht werden können. Um das Potenzial der IRB aufzuzeigen, sollen im Folgenden beispielhafte Auswertungen kurz vorgestellt werden. Betont werden muss: Es handelt sich um prototypische Anwendungen, nicht um Endprodukte. Die Funktion des ersten Beispiels (vgl. Abb. 4) liegt mehr darin, absolute Größenordnungen und deren Veränderung über die Zeit zu verdeutlichen. Anders als bei der Betrachtung relativer Veränderungen fällt bei diesem Zugang die Veränderungsdynamik nicht so sehr ins Gewicht. Trotzdem werden Trends sichtbar und es lassen sich auch Probleme in den Datenreihen erkennen. Diese Art der Darstellung und Auswertung ist auf den amtsinternen Gebrauch ausgerichtet. Die Umsetzung ist mit R und R-Shiny erfolgt. Es kann eine Stadt, die farblich (rote Linie) hervorgehoben wird, ausgewählt und mit anderen Städten verglichen werden, wobei eine kombinierte Auswahl über die beiden Merkmale Bundesland und Stadtgröße erfolgt. Das zweite Beispiel (vgl. Abb. 5) ist darauf ausgerichtet, einfach und übersichtlich die Positionierung einer IRB-Stadt in Bezug auf die Ausprägung eines Indikators darzustellen.2 Hier wird der Anteil der SGBII-Leistungsempfänger/innen für verschiedene Städte und zwei Zeitstände im Vergleich dargestellt. Über eine vorgelagerte Filterung kann eine Stadt (blauer Punkt) und eine definierte Vergleichsgruppe (graue Punkte) ausgewählt werden. In diesem Fall handelt es sich um die an der IRB beteiligten NRW-Städte. Label zu Identifikation der Städte können

angebracht werden. Auch weniger statistisch Erfahrenen wird so die inhärente Information verdeutlicht und kann, unterstützt durch die fachliche Interpretation und Einordnung des Statistischen Amtes3, in die verwaltungsinterne Kommunikation eingebracht werden. Im Bedarfsfall ließe sich auch eine textliche Erläuterung direkt in die vorgefertigte Abbildung integrieren. Dieser Schritt ließe sich jedoch nur teilautomatisieren, woraus ein individueller Anpassungsbedarf entstünde. Das dritte Beispiel (vgl. Abb. 6) zeigt auf, wie sich Entwicklungsverläufe vergleichend darstellen lassen. Der demografische Wandel trifft als übergeordneter gesellschaftlicher Trend alle Städte. Die Entwicklungen in der eigenen Stadt sind bekannt und können differenziert beschrieben werden. Mit der IRB könnte, sofern vorgefertigte Auswertungen leicht genutzt werden könnten, die Spezifik der eigenen Stadt in Kontrast zum Verlauf anderer Städte gesetzt werden. Auch in diesem Fall wird die eigene Stadt visuell hervorgehoben und zur Entwicklung in den anderen ausgewählten Städten in Kontrast gesetzt. Basis sind in diesem Beispiel die ostdeutschen IRBStädte. Während beim Jugendquotienten die Unterschiede relativ gering ausfallen, zeigen sich beim Altenquotienten erhebliche Unterschiede über alle drei Lagetypen. Dieser Befund könnte in die Politikberatung eingebracht werden, in dem empirisch fundiert stadtspezifische Besonderheiten, d.h. Abweichungen vom übergeordneten Trend, nachvollzogen und beurteilt werden können. Eine ganz eigene Qualität hätte die Ausarbeitung streng kleinräumig orientierter Auswertungen. Nicht die Stadt und die Zugehörigkeit eines Stadtteils zu einer konkreten Stadt stehen im Fokus der Betrachtung, sondern bestimmte Eigenschaften oder Funktion eines Stadtteils. Bei diesen Auswertungen ginge

Abbildung 5: Darstellungsmöglichkeit Positionsbestimmung einer Stadt im Städtevergleich

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Abbildung 6: Darstellungsmöglichkeit des Entwicklungsverlaufs einer Stadt im IRB-Vergleich

es darum, für Stadtteile mit einer definierten Charakteristik zu prüfen und darzustellen, was stadtübergreifend betrachtet, typische Entwicklungsmuster sind und was davon abweichende wären. Man könnte auf diese Weise „Referenzwerte“ schaffen, mit denen Stadtentwicklungsprozesse eingeordnet und Abweichungen davon beurteilt werden können. Wie entwickeln sich innenstadtnahe Stadtteile mit hohen Anteilen junger Familien? Was passiert in sog. Ankunftsquartieren? Dies würde voraussetzen, dass man über einen Fundus an akzeptierten Stadtteiltypen verfügt oder sich auf bestimmte Abgrenzungskriterien verständigt, die in Auswertungsroutinen eingebracht werden können. Die Lagetypik wäre ein Ansatz dazu, greift aber nicht bei allen Themen und ist in manchen Fällen auch nicht die relevante Dimension. Insofern wären hier noch Vorarbeiten zu leisten und Mittel und Wege zu finden, wie man in stadtteilorientierten Fragestellungen die IRB-Daten gezielt für Erkenntnisgewinne nutzen kann. An diese standardisierten Auswertungsroutinen müssen einige Anforderungen gestellt werden, damit sie für die Städte von Nutzen sein können. Zum einen sollte eine inhaltliche Anbindung vorhanden sein, das heißt das Tool muss stadtpolitisch relevante Fragestellungen in den Städten aufgreifen, die – etwas abstrakt mit den Begriffen der soziologischen Systemtheorie formuliert – Anschlusskommunikation erzeugen. Die interessantesten Analysen nutzen niemandem, wenn sie nicht dazu führen, dass über das Thema diskutiert wird oder sie als Entscheidungsgrundlage für weitere Handlungen dienen. Um Anschlusskommunikation herzustellen, müssen die Analysen – sei es durch Visualisierungen oder andere Darstellungsformen – intuitiv auch für statistische Laien verständlich und – soweit möglich – flexibel an die lokalen Bedarfe anpassbar sein. Über Filterungen bzw. vorherige Einstellungen sollten möglichst

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schnell und unkompliziert die gewünschten Indikatoren, Zeitstände, Raumabgrenzungen oder Vergleichsgruppen auswählbar sein. Wünschenswert wäre auch die Erarbeitung eines „Corporate Design“, um den Wiedererkennungswert als kommunalstatistisches Gemeinschaftsprojekt im Verband der deutschen Städtestatistiker (VDSt) zu stärken. Nicht unterschlagen werden soll eine mögliche Nebenfolge solcher neuen Auswertungsoptionen, wenn die Auswertungen über den engeren Kreis der Statistischen Ämter hinaus kommuniziert werden, nämlich inhaltliche Rückfragen der Art, dass nach den Ursachen, nach erklärenden Faktoren gefragt wird. Insofern ist über die reine Technik hinaus auch immer dieser über die reine Deskription hinausgehende Schritt mitzudenken. Auch hierfür gilt es sich Gedanken zu machen. Die Erarbeitung solcher Auswertungsroutinen kann nur gemeinschaftlich in enger Abstimmung zwischen den Städten und dem BBSR erfolgen. Letztlich wissen nur die Städte selbst, welche Themen und Darstellungsformen für einen Stadtvergleich interessant sein können. Welche Indikatoren, die aus den Daten der IRB errechnet werden können, werden besonders häufig in der Verwaltung, Kommunalpolitik oder Stadtgesellschaft nachgefragt? Welche Darstellungsformen werden bevorzugt, um zeitliche Verläufe oder Strukturunterschiede eingängig zu verdeutlichen? Auf Ebene der Stadtteile oder des innerstädtischen Lagetyps? Mit welchen Städten möchte man sich vergleichen? Mit Städten aus derselben Region oder demselben Bundesland? Mit Städten in derselben Größenklasse? Oder nur mit dem direkten Nachbarn? Diese Fragen sollten gemeinsam erörtert werden, damit die erarbeiteten Auswertungsroutinen am Ende einen Großteil der Städte in ihrer Arbeit unterstützen und Stadtvergleiche schnell und unkompliziert möglich machen.


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Fazit Der spezifische Konstruktionsvorteil der IRB ist, dass sie in dem gegebenen Rahmen eine Dauerbeobachtung von Stadtentwicklungsprozessen auf kleinräumiger Ebene ermöglicht. Der inhaltliche Aufbau der IRB deckt ein breites Themenspektrum ab, selbst wenn die eine oder andere Lücke zu konstatieren ist. Vielfach liegen lange Zeitreihen für Trendanalysen vor. Sozialräumliche Prozesse und deren Entwicklungsrichtungen sind aufgrund dieser Anlage gut beschreibbar und in ihrer Dynamik stadtvergleichend beurteilbar. Erst dadurch wird die Spezifik einzelner Städte überhaupt sichtbar. Damit bietet die IRB trotz der oben genannten Nachteile einen unschätzbaren Vorteil für die beteiligten Städte, nämlich Besonderheiten und Gleichförmigkeiten zu erkennen, um daraus Rückschlüsse für die eigene Stadt und deren Entwicklung zu ziehen. Damit geht auch der Anspruch einher, stadtvergleichende Auswertungen für die Politikberatung auf kommunaler Ebene zu nutzen. Jedenfalls dort, wo es nützlich und der Stadtvergleich angebracht ist. Die IRB bietet darüber hinaus die Möglichkeit, Stadtteilentwicklung (Stadtteiltypen) auf einer breiteren Basis zu untersuchen, um Muster und Verlaufsformen statistisch besser abbilden zu können. Und, um noch einen letzten Aspekt einzuführen, nicht vergessen werden darf, dass es sich bei der IRB um kommunalstatistische Daten handelt, die hohe Standards einhalten und auf Basis von verbindlichen Vorgaben produziert werden. In der Politikberatung ist dies ein zu reklamierender Vorteil, den nicht alle auf dem „Datenmarkt“ befindlichen Zahlen aufweisen. Man kann diesen Zahlen vertrauen (Mau 2019: 28). Die Politikberatungsfunktion ist in den beteiligten Städten jedoch nicht in gleicher Weise ausgeprägt, was es zu berücksichtigen gilt. Vielleicht aber können an der einen oder anderen Stelle Befunde aus der IRB eingebracht werden, wenn der Aufwand vor Ort auf ein Minimum reduziert ist und ein inhaltlich sinnvolles Angebot vorliegt. Das BBSR steht als Partner bereit, gemeinsam mit interessierten Kolleginnen und Kollegen aus den beteiligten Städten die hier nur angerissenen Überlegungen weiterzuentwickeln und

zu konkretisieren. Um das Projekt und auch die ursprüngliche Motivation dahinter weiter voranzutreiben, sollte es Ziel des Gemeinschaftsprojekts sein, die Potenziale des Datensatzes für kommunale Verwendungszusammenhänge weiter auszubauen. Der Aufwand, dies sollte deutlich geworden sein, würde sich lohnen. Ziel sollte es sein, Auswertungsroutinen für verschiedene Softwareprodukte wie SPSS, R oder Tableau zu entwickeln, die den Städten für verschiedene Anlässe schnell und unkompliziert stadtvergleichende Analysen bereitstellen können und deren Ergebnisse in Form von gängigen Bilddateien (jpg, png etc.) leicht in Dokumente eingebaut werden können. Hierzu ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den teilnehmenden Städten und dem BBSR nötig, um ein bedarfsgerechtes und zielführendes Angebot erarbeiten zu können. Man könnte auch darüber nachdenken, Synergien zu erzeugen. So ließe sich beispielweise eine Kooperation mit der neuen KOSISGemeinschaft R denken. Klar ist, die zeitlichen Ressourcen, die in solch ein Projekt eingebracht werden können, sind überall eng begrenzt. Zum Einstieg wäre sinnvoll, mit Themenstellungen zu beginnen, die in ihrem Komplexitätsgrad nicht zu anspruchsvoll sind, um Erfahrungen zu sammeln und einen „pragmatischen“ Einstieg zu erlauben. Corona hat gezeigt, dass neue Formen der Zusammenarbeit wie Videokonferenzen eine effiziente Projektarbeit ohne aufwändige Präsenztermine ermöglichen. Für ein eher technisch ausgerichtetes Vorhaben wie das hier angedachte, ließe sich der Aufwand so für alle Beteiligten erheblich reduzieren. Interessierte sind herzlich eingeladen, sich beim BBSR zu melden.

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Im Rahmen des Zensus 2011 wurden erstmals auch ausgewählte Daten auf unterschiedlichen Rasterebenen bereitgestellt. Diese Form der Datenbereitstellung umfasst somit auch untergemeindliche Gebietseinheiten. Das zweite und dritte Beispiel wurde mit der Software Tableau erstellt. Ggfs. auch im Zusammenspiel mit anderen Fachämtern.

Literatur Böltken, Ferdinand; Gatzweiler, Hans-Peter; Meyer, Katrin (2007): Das Kooperationsprojekt „Innerstädtische Raumbeobachtung“: Rückblick, Ausblick, Ergebnisse. Informationsgrundlagen für Stadtforschung und Stadtentwicklungspolitik. In: BBR (Hrsg.): Innerstädtische Raumbeobachtung: Methoden und Analysen, Bonn. – http://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:0168-ssoar-58554-6 Gleich, Andreas; Staudinger, Thomas (2013): Städtevergleich auf Basis von Clusteranalysen am Bespiel der Demografie-Berichterstattung.

In: BBSR (2013): StadtZoom – Analysen kleinräumig vergleichender Stadtbeobachtung, Informationen zur Raumentwicklung 6.2013. – auch: https://www.bbsr.bund.de/BBSR/ DE/veroeffentlichungen/izr/2013/6/Inhalt/ DL_Gleich_Staudinger.pdf Heintz, Bettina (2016): „Wir leben im Zeitalter der Vergleichung.“ Perspektiven einer Soziologie des Vergleichs. In Zeitschrift für Soziologie, Jg. 45, H. 5, S. 305–323. Helbig, Marcel; Jähnen, Stefanie (2018): Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer

Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten. Discussion Paper P 2018–001. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin. – auch: https:// hdl.handle.net/10419/179001 Mau, Steffen (2019): Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Zapf, Wolfgang (Hg.) (1977): Lebensbedingungen in der Bundesrepublik. Sozialer Wandel und Wohlfahrtsentwicklung. Frankfurt a. M.

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Volker Holzendorf

Optimale Route zu kommunalen Einrichtungen – oder wie kommt das Essen frisch und warm zu den hungrigen Kindern? Dieser Beitrag verweist auf einen zum Download bereitgestellten technischen Report, der in 7 Schritten gut nachvollziehbar aufzeigt, wie das Salesmanproblem mit dem R-Paket OpenTripPlanner gelöst werden kann. Der vorgeschlagene R-Code ist dabei so gestaltet, dass lediglich 10 Angaben individuell gesetzt werden müssen. Interessant ist der Lösungsansatz auch deswegen, weil er einen Routenplaner zur Verfügung stellt, der auf kleinräumiger Ebene Routen in verschiedenen Modalitäten anbieten kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die GTFS-Daten für den lokalen ÖPNV mit eingebunden werden.

Routenplanung in der Kommunalstatistik In der kommunalen Statistik stehen wir oft vor der Herausforderung, eine optimale Route durch die Stadt zu finden. Die Anfragen, die uns als Städtestatistiker dabei erreichen, sind vielfältig: Einmal geht es darum, Wahlunterlagen möglichst effizient in die Wahllokale zu bringen, dann fragt das Büro der Oberbürgermeisterin oder des Oberbürgermeisters an, wie denn all die Außentermine des Tages zu bewältigen sind und dann wollen die kommunalen Kindertagesstätten mit warmem Essen versorgt werden. Neu sind die Anfragen von Medizinlaboren, die auf optimalen Wegen die morgens an Schulen oder Pflegeeinrichtungen gemachten CoVid-19-Tests einsammeln wollen, damit noch vor Ende des Tages das Ergebnis dem Gesundheitsamt gemeldet werden kann. Meist hat bisher irgendein*e Mitarbeiter*in einen bekannten Kartendienstleister angeworfen und Routen berechnen lassen. Was bei wenigen anzufahrenden Orten noch gehen mag, stößt bei wenigen Dutzend Orten bereits an seine Grenzen. Leicht wird ein Ort vergessen, übersieht man eine Einbahnstraße oder denkt nicht an die Poller in der verkehrsberuhigten Zone bei der Routenplanung. Letzteres kann dazu führen, dass zwei an sich nebeneinander liegende Einrichtungen nur mit großen Umwegen erreicht werden können. Was früher nur durch Ortskenntnis in den Amtsstuben – oder gar in tagelangen Märschen durch die Stadt – erstellt werden konnte, ist heute in wenigen Schritten zuverlässig und genau am eigenen Arbeitsplatz umzusetzen. Die gesteigerte Rechenleistung der PCs erlaubt es offene Datenquellen wie OpenStreetMap (OSM) anzuzapfen. Verknüpft man dies mit frei zugänglichen Routingservices, lässt sich jede beliebige Route unter Berücksichtigung der örtlichen Begebenheiten auch für Ortsfremde berechnen.

Volker Holzendorf Stadtverwaltung Jena, Team Controlling und Statistik : statistik@jena.de; volker.holzendorf@jena.de Schlüsselwörter: Routenplanung mit R – Salesmanproblem – Optimierung – kleinräumiger Routenplaner – Open Source

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Die zum Download bereitgestellte Dokumentation liefert eine Lösung für das Problem, das in der Literatur als Problem eines Handlungsreisenden („Salesmanproblem“) beschrieben wird. Mit Hilfe der sehr mächtigen Statistik-Software R (https://cran.r-project.org/) kann es bei entsprechenden Systemvoraussetzungen schnell und zuverlässig gelöst werden. Der Autor hat dazu eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für die interessierende Leserschaft erarbeitet, die auf der Seite der KO.R Arbeitsgemeinschaft (https://www.staedtestatistik.de/


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arbeitsgemeinschaften/kosis/kor/routenplanung-mit-r) zur Verfügung gestellt wird. Mit R wird dabei die Plattform OpenTripPlanner (OTP) angezapft, die eine kostengünstige Möglichkeit darstellt, routingfähige Daten auf kommunaler Ebene bereit zu stellen. Damit lassen sich dann im Straßennetz von OSM die optimalen Routen für das jeweilige Routenproblem finden. In dem technischen Report wird anhand von 7 Schritten genau erklärt, 1 welche Systemvoraussetzungen nötig sind, 2 wie man R konfigurieren muss, 3 welche Vorbereitungen getroffen werden müssen (Standardverzeichnisse, OSM-Daten für die eigene Kommune herunterladen), 4 wie der temporäre Routingserver für die eigene Kommune aufgesetzt wird, 5 in welchem Datenformat die anzufahrenden Objekte vorliegen müssen, 6 wie die „Travel-Time-Matrix“ berechnet wird, die Voraussetzung dafür ist, um die optimale Route zu finden, 7 und wie schließlich die optimale Route berechnet wird.

Als Ergebnis erhält man neben einer Karte, die die Routen in verschiedenen Farben darstellt (und den/die Ortskundige*n ein fürs andere Mal ins Staunen versetzen wird) auch die Metadaten der berechneten Routen. Die Tabellen enthalten beispielsweise die Anzahl der angefahrenen Objekte, die Dauer der Tour und die zu fahrenden Tourenlängen. Das vorgestellte Verfahren bietet dabei die Möglichkeit, die Optimierung nach verschiedenen Kriterien vorzunehmen: Die kürzesten Routen können nach Entfernung oder Zeitbedarf berechnet werden. Stellt man zusätzlich noch die Anzahl der auszuliefernden Dinge (Essen für Kitakinder, Wahlunterlagen pro Wahllokal, einzusammelnde COVID-19-Tests oder ähnliches) in einem bestimmten Format bereit, kann auch die optimale Route nach dem Maximum der auszuliefernden oder einzusammelnden Dinge berechnet werden. Derzeit werden die Routen jeweils vom ersten anzufahrenden Objekt (Kita, Schule, Wahllokal usw.) bis zum letzten anzufahrenden Objekt berechnet und visuell auf der Karte angezeigt. Das Projekt ist allerdings in ständiger Weiterentwicklung und wird demnächst auch Start- und Zielort in die Routenplanung mit aufnehmen. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Routen in einem vorgegebenen Zeitfenster beendet sein sollen. Beispiel: Essensversorgung in Jenaer Kitas: Kartenausschnitt bezüglich Zeitdauer optimierter Routen

In dem technischen Report wird anhand von Jenaer Kindertageseinrichtungen, die von einem fiktiven Essensanbieter beliefert werden, erklärt, wie die optimalen Routen durch das Jenaer Straßennetz sind. Die Kinder in den verschiedenen Einrichtungen wollen zwischen 11:30 und 12:30 Uhr mit dem Essen beginnen. Das Ausliefern des Essens erfolgt über jeweils einen Essenscontainer pro Einrichtung. Dieser wird durch den Fahrdienst in die Einrichtung geschoben. Das Ausladen vor Ort dauert inkl. Parkplatzsuche und Rollcontainer in die Einrichtung bringen 10 Minuten. Die Frage ist, wie viele Touren benötigt der Essensanbieter, damit alle Kinder gut gesättigt den Mittagsschlaf spätestens 13:00 Uhr antreten können und kein Essen vor 11:30 Uhr ausgeliefert wird?

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Entdeckt Projekt

VDSt AG „Kommunale Umfragen“ entwickelt Fragebogenmodul „CORONA“

Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in der Städtestatistik stellten sich in den vergangenen Monaten – und stellen sich auch noch aktuell – der Herausforderung, die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Bürgerinnen und Bürger ihrer Stadt in der Bürgerumfrage zu erfassen. Die Arbeitsgruppe „Kommunale Umfragen“ im VDSt hat für den Einsatz in Bürgerumfragen ein spezielles Fragebogenmodul „CORONA“ entwickelt und stellt dieses auf der Webseite des VDSt zum Download zur Verfügung (https://www.staedtestatistik.de/ fileadmin/media/VDSt/Umfragen/PDF/Fragebogenmodule/3_Modul_Corona.pdf ). Das neun Fragen umfassende Fragebogenmodul enthält die folgenden Themenbereiche: (1) Betroffenheit mit einer Corona-Infektion bzw. eines Verdachtsfalls im eigenen Umfeld; (2) Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit, Home-Office und finanzielle Folgen; (3) Kinderbetreuung und Belastung durch die Schließung von Schulen und Kindergärten; (4) Auswirkungen auf die Lebensqualität; (5) Bewertung der getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie; und (6) Einschätzung zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie. Die Arbeitsgruppe reagiert damit auf den, in vielen Städten bestehenden, Bedarf für einen Fragenkatalog zur CoronaPandemie und adressiert wichtige Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger, wie Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung, die durch die Corona-Pandemie grundlegend verändert wurden. Neben den bereits adressierten Themenfeldern des Fragebogenmoduls, kann ich mir eine Erweiterung um weitere Themen vorstellen, darunter: - Konsumverhalten: Wie wirkt sich die Pandemie auf das Konsumverhalten der Bürgerinnen und Bürger aus und wie nachhaltig ist diese Veränderung? Fragen dazu könnten einen vorsichtigen Ausblick auf mögliche Entwicklungen und damit einhergehende Herausforderungen für den Einzelhandel in unseren Innenstädten erlauben.

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STADTFORSCHUNG UND STATISTIK 1|2021

- Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Wie wird der gesellschaftliche Zusammenhalt während der Corona-Pandemie erlebt? Welche Bevölkerungsgruppen sind in der Pandemie von Einsamkeit besonders betroffen? Und wie findet in dieser Zeit Kommunikation und Austausch statt? Das Fragebogenmodul „CORONA“ ist ein Beispiel für die interkommunale Zusammenarbeit zwischen Kolleginnen und Kollegen der Städtestatistik. Mit der Bereitstellung dieses standardisierten Fragebogenmoduls eröffnet die AG „Kommunale Umfragen“ die Möglichkeit vergleichbare Ergebnisse in Bürgerumfragen verschiedener Städte zu erheben. Voraussetzung dafür ist der breite Einsatz des Fragebogenkatalogs in städtischen Bürgerumfragen. Grit Müller


Entdeckt Bücher

Editorial

Impressum Stadtforschung und Statistik Jahrgang 34 | Heft 1/2021 www.stadtforschung-statistik.de redaktion@stadtforschung-statistik.de Herausgeber Verband Deutscher Städtestatistiker c/o Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt Eberhardstr. 37 70173 Stuttgart Tel.: 0711/216-98542 www.staedtestatistik.de Zeitschriftenleitung Dr. Till Heinsohn Hartmut Bömermann Hermann Breuer Redaktion Günther Bachmann, Nadine Blätgen, Hubert Harfst, Udo Hötger, Dr. Grit Müller, Dr. Jochen Richter, Roland Richter, Dr. Ansgar Schmitz-Veltin, Dr. Gabriele Sturm, Rudolf Schulmeyer Herstellung Schibri-Verlag Milow 60, 17337 Uckerland, Tel.: 039753/22757 E-Mail: info@schibri.de www.schibri.de Bezugsbedingungen Jahresabonnement (2 Ausg.) | 15 Euro Einzelheft | 8,50 Euro Bezug über den Schibri-Verlag oder den Buchhandel ISSN 0934-5868

Seit mehr als einem Jahr hat sich durch die Corona Pandemie unser Leben grundlegend verändert. Dies gilt vor allem für die Erfahrung, den gesundheitlichen Folgen des Corona-Virus selbst bei Einhaltung aller erforderlicher Hygienemaßnahmen ausgesetzt zu sein. Eine Erfahrung, die geprägt ist durch die inzwischen auf über 60.000 angestiegene Zahl von Todesfällen, die bis Anfang Februar 2021 durch, bzw. mit Corona gezählt waren. Neben den gesundheitlichen Folgen sind es vor allem die Maßnahmen zum Schutz vor Ansteckung, die sich auf alle Lebensverhältnisse auswirken. Corona wird eine Brennglas Wirkung zugesprochen, die latent längst stattfindende soziale, ökologisch/klimatische und technologische Wandlungen hervorhebt und deutlicher erkennbar macht. Die Ausbreitung der Pandemie, die Beobachtung der Betroffenheit der Bevölkerung und die unterschiedliche Verteilung der Ausbreitung sind Aufgabenstellungen, denen sich Statistik intensiv widmet. Speziell die Städtestatistik integriert die Corona-spezifischen Fragestellungen in ihre Aufgabenstellungen und analysiert sie mit ihren Methoden, wie Datenbereitstellung, Monitoring, Prognose und demografische Analyse. Ebenso ist die Beobachtung von Betroffenheit, Wertung und Handlungskonsequenzen Teil dieses Schwerpunktes. Der Corona-Schwerpunkt dieses Heftes markiert den Einstieg in die Auseinandersetzung mit den Pandemiefolgen für das System Stadt und Raumstrukturen generell. Ob und wie weit sich diese Pandemie auf die räumlichen Strukturen städtischer Ökonomie und Sozialstruktur, auf die ihr zugrundeliegenden Bildungsstrukturen und -zugänge, das Zusammenleben von Menschen und die Struktur Ihrer Beziehungen, die Immobilienmärkte und nicht zuletzt die Finanzen dauerhaft auswirkt, bleibt eine Aufgabe, mit der sich Städtestatistik und räumliche, ökonomische sowie soziale Forschung auseinandersetzen wird. Der Beginn der Corona Pandemie war ein Erdbeben für unsere Gesellschaft. Die entstandenen Schäden in Gesellschaft und Wirtschaft scheinen derzeit beherrschbar – nicht zuletzt durch die Impfstoffe. Wie bei Erdbeben entfalten bisweilen Nachbeben jedoch weitere, verheerende Schäden. Die Beobachtung von Corona und die Analyse seiner Auswirkungen wird daher in Stadtforschung und Statistik weiterhin den erforderlichen Platz finden. Dr. Grit Müller und Hermann Breuer

Neues Handbuch zu Stadtsoziologie und Stadtentwicklung erschienen: Geballtes Stadtwissen für Wissenschaft und Praxis

Die Herausgabe eines Handbuchs zu Stadtsoziologie und Stadtentwicklung ist ein gewaltiges Unterfangen. Das macht bereits der Blick in das Inhaltsverzeichnis des neuen Handbuchs zu diesem Themenfeld deutlich: Unter den 80 Autorinnen und Autoren findet sich viele bekannte Namen, aber auch die einen oder anderen noch nicht so bekannten. Das ist gut, verspricht diese Mischung doch, dass in dem Buch nicht nur gängige Konzepte und der State of the Art zu finden sind, sondern auch neue und innovative Ansätze der in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnenden Wissenschaft der Städte. Überhaut haben es die Herausgeber – Ingrid Breckner, Albrecht Göschel und Ulf Matthiesen – geschafft, die Vielfalt der Beiträge in fünf zentralen Kapiteln angemessen zu berücksichtigen: Stadtentwicklung in intermediären Aushandlungsprozessen; Urbanität im Spannungsfeld von Heterogenisierung und Integration; Identitätskonstrukte und kulturelle Praktiken in Stadtkulturen; Städte als Akteure von Zukunft; Visionen und Utopien der Stadt. Die Kehrseite der Vielfalt ist der rote Faden, der sich nicht ganz so klar durch den Band zieht, wie man es sich als Leser*in bisweilen wünschen würde. Auch die Tatsache, dass es sechs Seiten Gesamteinleitung bedarf, um den Aufbau des Buches zu beschreiben, mag anfangs irritieren. Da das fast 850 Seiten zählende Buch jedoch eh nicht darauf ausgelegt ist, es von vorne bis hinten zu verschlingen,

kann man diese Unübersichtlichkeit aber verschmerzen. Als Nachschlagewerk zu spezifischen Themen(komplexen) ist das Buch eine wahre Fundgrube. Wie immer, wenn unterschiedliche Autor*innen Beiträge verfassen, gibt es bessere und schlechtere – oder besser: einem mehr und anderen weniger liegende Beiträge. Die Beiträge eint eine starke Textlastigkeit, was nicht grundsätzlich schlecht ist. Doch hätte man durchaus etwas mehr Gewicht auf die Abbildungen legen können, die bisweilen recht klein und schwer zu entziffern sind. Überhaupt: Daten, Indikatoren und deren Darstellungsmöglichkeiten gehören nicht zu den Stärken des Bandes. Statistische Themen kommen deutlich kürzer, als man sich dies aus Sicht der Städtestatistik und angewandten Stadtforschung wünschen würde. Und wenn in eigentlich spannenden Beiträgen Zahlen aus Wikipedia zitiert werden, dann möchte man den jeweiligen Autoren zurufen: In fast allen Großstädten gibt es gut ausgestattete und vernetzte Statistikstellen, die zuverlässigere und aktuellere Daten hätten liefern können. Immerhin, in dem gut gemachten Zusatzkapitel zu den wichtigsten Institutionen der Stadtforschung, findet auch die Kommunalstatistik ihren Platz. Im Großen und Ganzen aber überzeugt das Werk auch aus Sicht der angewandten Stadtforschung. Für die großen Themen, die auch in der Praxis relevant sind – wie beispielsweise demografischer Wandel, Integration, Polarisierung, Gen-

Ingrid Breckner | Albrecht Göschel | Ulf Matthiesen [Hrsg.]

Stadtsoziologie und Stadtentwicklung Handbuch für Wissenschaft und Praxis

Nomos & Ingrid Breckner; Albrecht Göschel, Ulf Matthiesen (Hrsg.): Stadtsoziologie und Stadtentwicklung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. 847 Seiten, 148 Euro.

trifizierung, Nachhaltigkeit und Digitalisierung – lassen sich gut dargestellte Übersichten zu Forschungsstand und aktuellen Fragestellungen finden. Dies ist eine wichtige Grundlage auch für die Analyse- und Interpretationsarbeit in den Städten und Regionen. Ansgar Schmitz-Veltin

Auszugsweise Vervielfältigung und Verbreitung mit Quellenangabe gestattet. Belegexemplare erbeten.

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