Liliane Weissberg, Ernst Osterkamp. Die herrliche Disciplin

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DISCIPLIN

Liliane Weissberg und Ernst Osterkamp widmen sich dem Leben und dem Werk des berühmten Gelehrten Michael Bernays, der im Mai 1873 ein Extraordinariat an der Universität München antrat und ab Februar 1874 ebendort Ordinarius war. In einer Germanistik, die sich noch nicht in eine ältere und eine neuere Abteilung ausdifferenziert hatte, war seine Schwerpunktsetzung in der neueren deutschen Literaturgeschichte ein Novum. Bernays brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass die neue «  herrliche Disciplin  » in München «  für die Zukunft fest begründet sein  » würde. Weissberg und Osterkamp untersuchen die Voraussetzungen und Auswirkungen dieser hoffnungsfrohen Disziplingründung. Frieder von Ammon und Carlos Spoerhase sind Professoren für Neuere deutsche Literatur­ wissenschaft am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Frieder von Ammon | Carlos Spoerhase (  Hg.)

Die herrliche Disciplin

Die herrliche Disciplin

Liliane Weissberg Ernst Osterkamp

Die herrliche Disciplin Michael Bernays und die Anfänge der Neugermanistik in München Herausgegeben von Frieder von Ammon und Carlos Spoerhase





Liliane Weissberg Ernst Osterkamp

Die herrliche Disciplin Michael Bernays und die Anfänge der Neugermanistik in München

Herausgegeben von Frieder von Ammon und Carlos Spoerhase

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Inhalt Vorwort .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liliane Weissberg Michael Bernays in München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ernst Osterkamp Michael Bernays als Historiker der neueren und neuesten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49



Vorwort Diese Publikation ist einer besonderen Gelegenheit gewidmet: der Gründung der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität München, die sich im Frühjahr 2024 zum 150. Mal jährt. Wir fühlen uns außerordentlich geehrt, dass Liliane Weissberg (Philadelphia) und Ernst Osterkamp (Berlin) sich bereit erklärt haben, dieses Jubiläum mit uns in München zu feiern. Die Beiträge von Liliane Weissberg und Ernst Osterkamp, die sich hier abgedruckt finden, sollten das Jubiläum der Münchner Neugermanistik aber ausdrücklich nicht zum Anlass einer unkritischen Selbstfeier nehmen. Vielmehr bieten sie Ausgangspunkte einer fachhistorischen Selbstsituierung und kritischen Selbstbefragung der Neugermanistik. Beide Beiträge widmen sich dem Leben und dem Werk des Gelehrten Michael Bernays, der am 1. Mai 1873 ein Extraordinariat an der Universität München antrat und ab dem 1. Februar 1874 ebendort Ordinarius war. In einer Germanistik, die sich noch nicht in eine ältere und eine neuere Abteilung ausdifferenziert hatte, war seine Schwerpunktsetzung in der neueren deutschen Literaturgeschichte ein Novum. Michael Bernays brachte damals die Hoffnung zum Ausdruck, dass die neue «herrliche Disciplin» in München «für die Zukunft fest begründet sein» würde – eine Hoffnung, die sich erfüllt hat. Im Rahmen der neuen Disziplin befasste Bernays sich intensiv mit Fragen, die heute einerseits im Bereich der analytischen Druckforschung und der germanistischen Editionsphilologie und andererseits im Feld der Übersetzungsforschung und der transnationalen Literaturgeschichte situiert wären. Seine akademischen Interessen waren vielfältig: Sie reichten vom Zeitalter Homers bis zur Goethezeit. In der vergleichenden Erforschung 7


der europäischen Literaturen galten seine Interessen nicht nur Gottsched, Klopstock, Herder, Lessing, Goethe, Uhland sowie August Wilhelm und Friedrich Schlegel, sondern auch Dante, Corneille, Racine, Molière, ­ Cervantes und Shakespeare. Er träumte davon, einmal eine große Studie über «Homer in der Weltliteratur» zu schreiben. In einer Epoche, in der sich die Neuere deutsche Literaturgeschichte als eigene Disziplin erst etablieren musste, situierten sich Bernays Interessen in einer Vielzahl von Spannungsfeldern: zwischen philologischer Detailforschung in spezialisierten Fachorganen und populären literaturhistorischen Vorträgen und Vorlesungen; zwischen einer druckhistorisch orientierten kritischen Editorik und der Produktion von Leseausgaben für ein größeres Publikum; zwischen der historisch ausgerichteten Kontextua­ lisierung literarischer Werke und einer programmatisch ahistorischen ästhetischen Würdigung eminenter Texte; zwischen der Orientierung an einer überindividuellen strengen philologischen Methode und einem Bemühen um persönliche Einfühlung. Die von Bernays praktizierte Neuere deutsche Literaturgeschichte muss uns heute als eine äußerst heterogene Pluralität von Anliegen und Interessen erscheinen. Im Hinblick auf die genaue Ausgestaltung der universitären Erforschung der Neueren deutschen Literatur bestand damals noch viel Klärungsbedarf. In Teilen besteht dieser Klärungsbedarf allerdings heute noch. In der Neugermanistik befassen wir uns auch in der Gegenwart mit einer heterogenen Pluralität von Problemen und Methoden, deren Verhältnis nicht immer leicht zu bestimmen ist: Neugermanistinnen und Neugermanisten widmen sich der Erschließung des großen Archivs der überlieferten Vor- und Nachlässe, bibliografieren die literarische Überlieferung, beschäftigen sich mit Problemen der historisch-kritischen und mittlerweile auch digitalen Editorik, vertiefen sich in die Beschreibung und Deutung von schwierigen Werken, rekonstruieren ideen-, kul8


tur- und sozialhistorische Kontexte, Epochenformationen und Gattungsgeschichten, analysieren philologische Grundbegriffe, diskutieren generelle ästhetische sowie literatur-, kultur- und medientheoretische Fragen, würdigen literarische Werke in lite­ raturkritischen Besprechungen, vermitteln die Ergebnisse literaturwissenschaftlicher Forschung an ein außerakademisches Pu­blikum und vieles mehr. Wie dies alles systematisch in Verbindung steht, ist eine Frage, die sich uns auch heute noch stellt. Das Jubiläum von 150 Jahren Neuerer deutscher Literaturwissenschaft in München dürfen wir deshalb als Chance sehen, ein neugieriges Verhältnis zu der Pluralität der Aktivitätsfelder und der Diversität der Herangehensweisen der Neugermanistik in Geschichte und Gegenwart zu gewinnen – um gemeinsam die Klärung der Frage, was eine überzeugende Philologie moderner Literaturen in Zukunft sein könnte, mit Elan voranzutreiben. München, im Januar 2024

Frieder von Ammon Carlos Spoerhase

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Liliane Weissberg

Michael Bernays in München

I. Die Hinterlassenschaft

Abb. 1: Anon., Michael Bernays (1834–1897), Fotografie (ohne Datum), Holborn Gray Special Collections Research Center, University of Chicago Library (Inv.-Nr. apf1-05681)

Will man sich heute dem Literaturwissenschaftler Michael Bernays nähern, so muss man sich aus München herausbegeben. In dem fotografischen Archiv der University of Chicago etwa ist ein undatiertes Bild von Bernays zu entdecken (s. Abb. 1). Es gelangte dorthin dank Julius Rosenwald. Rosenwald war ein amerikani11


scher Unternehmer, der die Sears Roebuck Waren- und Versandhäuser zu großem Erfolg führte; er ist heute aber auch als bedeutender Philanthrop bekannt. Inspiriert durch die Schriften und die Person des Bürgerrechtlers Booker T. Washington spendete Rosenwald große Summen zur Förderung von Einrichtungen für die schwarze Bevölkerung Chicagos und gründete ab 1910 etwa 5.000 Schulen in den amerikanischen Südstaaten.1 «Ein Rassenvorurteil ist nur destruktiv», erklärte er in einer Rede für die American Missionary Association, «es bietet nichts anderes als hoffnungslose Auseinandersetzungen und einen blanken Pessimismus».2 Bereits 1904 unterstützte Rosenwald, dessen jüdische Eltern aus Deutschland stammten, den Ankauf einer deutschen Sammlung von 6.500 Büchern, die er der University of Chicago übergab. Diese Bücher waren Teil der Bibliothek von Michael Bernays, der 1897 verstorben war. Zu diesem Zeitpunkt enthielt sie auch Bände, die sich zuvor im Besitz seines älteren Bruders, des Altphilologen Jacob Bernays, befanden, denn dieser war bereits 1881 verstorben und hatte Michael Bernays einen Teil seines Buchbesitzes testamentarisch vermacht.3 Mit dem Ankauf und der Übereignung dieser Bibliothek legte Rosenwald einen Grundstock für das German Department der noch neuen, 1892 gegründeten Universität. Emil Gustav Hirsch, ein in Luxemburg gebürtiger Reformrabbiner, fungierte dabei als ein Berater Rosen­ walds. Das Ziel beider war wohl nicht nur die Bewahrung eines 1 2 3

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Stephanie Deutsch: You Need a Schoolhouse: Booker T. Washington, Julius Rosenwald, and the Building of Schools for the Segregated South. Evanston 2015. Siehe die Website der University of Chicago Library, https://www.lib. uchicago.edu/collex/exhibits/building-long-future/julius-rosenwald/ (letzter Zugriff 23. August 2023). Jacob Bernays überließ einen Teil seiner Bibliothek dem Rabbiner­ seminar in Breslau; Bonn erhielt Manuskripte, die allerdings nur zum Teil erhalten sind. Ein Teilnachlass befindet sich an der New York Public Library.


Abb. 2 a, b: Eingeklebtes ExLibris eines Buches der Emil G. Hirsch and Bernays Library, University of Chicago und ExLibris der Bibliothek von Michael Bernays

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deutschen, sondern auch eines deutsch-jüdischen Kulturerbes. Die Sammlung der University of Chicago trägt heute den Namen Hirsch-Bernays Library. Die Bücher tragen das ­Exlibris Michael Bernays’, die Abbildungen der Büsten Homers und ­Johann Wolfgang Goethes (s. Abb. 2a, b). 1913, nur wenige Jahre nach diesem Transfer von Büchern, übergaben Michael Bernays’ Witwe Louise und ihre Kinder Marie Bernays, eine Erziehungswissenschaftlerin und Politikerin, und Ulrich Bernays, ein Altphilologe und Gymnasiallehrer, den schriftlichen Nachlass Bernays’ an das literaturwissenschaftliche Seminar der Universität Kiel zu Händen von Eugen Wolff. Wolff, der sich in Kiel habilitiert hatte und dort zunächst als außerordentlicher Professor lehrte, wurde 1904 zum ordentlichen Professor der Germanistik an der Christian-Albrechts-Universität ernannt und trug später den Titel eines Professors für Neuere deutsche Literatur. Er war vor allem ein Goethe-Forscher. Heute ist Wolff durch seine Popularisierung des Begriffs der literarischen ‹Moderne› bekannt,4 damals allerdings auch als Gründer zweier studentischer Organisationen: 1883 der «Burschenschaft Neogermania Berlin», und, nach seinem Studienortswechsel, der «Burschenschaft Tuiskonia Leipzig». Wolff, der diese national gesinnten Verbindungen unterstützt hatte, stammte aus einer jüdischen Familie aus Frankfurt / Oder. In Kiel war Wolff nun für ein Konvolut von Papieren verantwortlich, das die Familie bereits in 40 Kästen geordnet und damit als Archiv vor- und aufbereitet hatte. Es befindet sich heute nicht in der Universitätsbibliothek, sondern in einem Safe des Literaturwissenschaftlichen Seminars. Die aufbewahrten Kästen

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Eugen Wolff: Die Moderne. Zur «Revolution» und «Reform» der Litteratur. In: Deutsche academische Zeitschrift (Organ der Deutschen academischen Vereinigung) 3, 33 (26. September 1886) Erstes Beiblatt 4; Zweites Beiblatt 1–2.


Abb. 3: Franz von Lenbach, Professor Michael Bernays. Halbfigur Öl auf Malkarton, 1890. Kunstsammlung, Ludwig Maximilians-Universität München (Inv.-Nr. 0034) © Fotografie: Gero Storz (LMU)

enthalten Notizen und Briefe sowie eine unvollständige Liste der Titel der Bernays’schen Bibliothek, die einst etwa 30.000 Bände umfasst hatte. Die Existenz des Nachlasses wird auf der Bibliotheksseite des Seminars nicht vermerkt. In München befindet sich aber ein Gemälde von Franz von Lenbach, das Michael Bernays zeigt (s. Abb. 3). Bernays und ­Lenbach waren befreundet. Bernays emeritierte 1890 als Professor der Münchner Universität, und nur kurz zuvor bat der Maler Bernays, ein Porträt von ihm anfertigen zu dürfen. Lenbach behielt das Bild als Andenken an seinen Freund in seinem Privatbesitz. Auch dies war eine Art Hinterlassenschaft, denn Bernays 15


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