Im Mass der Moderne

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Er war einer der weltweit gefeierten Pultstars seiner Zeit, langjähriger Chefdirigent der Wiener Philharmoniker und Leiter bedeutender europäischer Opernhäuser. Seine vieldiskutierten Kompositionen waren fester Bestandteil der Opernspielpläne und des Konzertrepertoires. Mit seinen Büchern zur Musik und vor allem zum Dirigieren erwies er sich als ebenso streitbarer wie weitsichtiger Autor. Heute ist Felix Weingartner (1863 – 1942) allerdings nurmehr Liebhabern historischer Schallplattenaufnahmen und spezialisierten Musikhistorikern ein Begriff.

Im Mass der Moderne

Im vorliegenden Buch, das auf reichhaltigem Quellenmaterial beruht, begeben sich Musikologen, Publizisten und Zeitzeugen auf die Spurensuche nach einer schillernden Persönlichkeit und ihrer Rolle im kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Moderne. Essays und Dokumente ermöglichen dabei Einblicke in ein überraschend vielseitiges Schaffen und regen zur Diskussion darüber an, welche kulturgeschichtliche Bedeutung Weingartner, dem Künstler der ‹natürlichen Autorität› (Curt Paul Janz), heute zugewiesen werden kann.

Felix Weingartner – Dirigent, Komponist, Autor, Reisender

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Im Mass der Moderne Felix Weingartner – Dirigent, Komponist, Autor, Reisender

Simon Obert Matthias Schmidt (Hg.)

I S B N 978-3-7965-2519-3

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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783796 525193

Schwabe

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Im Mass der Moderne Felix Weingartner – Dirigent, Komponist, Autor, Reisender

Herausgegeben von Simon Obert und Matthias Schmidt

Schwabe Verlag Basel


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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung folgender Institutionen:

Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung, Basel Dreyfus Söhne & Cie AG, Banquiers, Basel Ernst Göhner Stiftung, Zug Freiwillige Akademische Gesellschaft, Basel Goethe-Stiftung für Kunst und Wissenschaft, Zürich Österreichisches Kulturforum, Bern Schweizerische Musikforschende Gesellschaft Spendenstiftung Bank Vontobel, Zürich Universitätsbibliothek Basel

© 2009 Schwabe AG, Verlag, Basel Gestaltung und Satz: hartmann bopp, Basel Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2519-3

Alle Abbildungen entstammen, sofern nicht anders angegeben, dem Nachlass Felix Weingartner in der Universitätsbibliothek Basel.

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Inhalt

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Simon Obert und Matthias Schmidt Im Mass der Moderne

17

Peter Gülke Wer war Felix Weingartner? Schwierigkeiten mit der Physiognomie eines bedeutenden Musikers

29

Felix Weingartner Modernität

33

Peter Hagmann An der Zeitenwende: Felix Weingartner

Ausmasse des Lebens: Plurale Identitäten 45

Felix Weingartner Mein bisheriger Lebenslauf (1888)

51

Leila Zickgraf Verträge, Streit und Ehrgefühl Die prekäre Beziehung zwischen Felix Weingartner und Berlin

69

Isabel Münzner und Simon Obert Felix Weingartner und der Aufruf ‹An die Kulturwelt!›

85

Wolfgang G. Vögele «… ein tiefes Bedürfnis, das mich zu Ihnen treibt.» Zum Verhältnis Felix Weingartner – Rudolf Steiner

97

Clemens Höslinger Dreimal Operndirektor in Wien


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107

Harald Goertz Der ferne Onkel

111

Felix Weingartner Meine Beziehungen zur Schweiz

117

Felix Weingartner Basler Reminiszenzen Aus den Lebenserinnerungen

Vermessene Erfahrungen: Der Autor 147

Thomas Seedorf Reflexionen eines Kapellmeisters – Über das Dirigieren

163

Felix Weingartner Originalität

171

Manuel Dür Der Musiker als Literat Überlegungen zur Aufführung von Felix Weingartners Terra

Im Mass der Zeit: Der Komponist 183

Felix Weingartner Offener Brief

187

Simon Obert Komponieren im Krieg Felix Weingartners Ouvertüre ‹Aus ernster Zeit›

217

Arne Stollberg Der «Tragiker unter den Tondichtern» Felix Weingartners Schubert-Bild im Spiegel der sechsten Symphonie

265

Markus Böggemann Anmerkungen zur Streicherkammermusik Felix Weingartners

Massstäbe: Der Dirigent 283

Felix Weingartner Without Showmanship

285

Curt Paul Janz Eine natürliche Autorität Erinnerungen an Felix Weingartner


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297

Lena-Lisa Wüstendörfer Felix Weingartner und die Interpretationsgeschichte Eine Verortung

327

Silvan Moosmüller Stiltreues und wirkungstreues Interpretieren Felix Weingartner, Gustav Mahler und die neunte Symphonie Ludwig van Beethovens

351

Matthias Schmidt Die ‹Selbstschöpfung› der Moderne Felix Weingartner und Gustav Mahler als Dirigenten

387

Felix Weingartner Prophezeien?

Anhang 391

Stéphanie Berger Zeittafel

405

Simon Obert Werkverzeichnis Felix Weingartner

433

Silvan Moosmüller Diskografie

443

Simon Obert Bibliografie

465

Autorinnen und Autoren

466

Register


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Vorhergehende Doppelseite: Felix Weingartner dirigiert die Wiener Philharmoniker im Grossen Saal des Musikvereins, 1930er Jahre; am Pult des Konzertmeisters: Arnold RosĂŠ


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Im Mass der Moderne

Zu Lebzeiten war er ein Dirigent von Weltruf, ein geachteter Komponist, ein weitsichtiger Theoretiker des Dirigierens und Leiter renommierter musikalischer Institutionen – gegenwärtig ist Felix Weingartner (1863 – 1942) nurmehr findigen Plattenliebhabern und spezialisierten Historikern ein Begriff. Allein diese Diskrepanz könnte Grund genug sein, manches von demjenigen neuerlich ins Bewusstsein zu rufen, was der Künstler Weingartner hervorgebracht hat. Jedoch legen es der Facettenreichtum seiner Persönlichkeit, die zahlreichen Orte seines Wirkens und seine vielseitigen künstlerischen Veranlagungen als Schriftsteller, Komponist und Dirigent nahe, Weingartner in den Blick einer umfassenderen mitteleuropäische Kulturgeschichte vor und nach 1900 zu nehmen. Beide Ziele verfolgt der vorliegende Band: Vorrangig geht es ihm um die Spurensuche nach einer schillernden Persönlichkeit und ihrer Bedeutung innerhalb des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens jener Epoche um 1900, welche gemeinhin mit dem Begriff der ‹Moderne› in Verbindung gebracht wird. Der Anspruch des Vorliegenden ist es, Diskussionsmaterial zur Verfügung zu stellen und Fragen anzustossen, die Weingartner biografisch, künstlerisch und kulturgeschichtlich eine aktuelle Relevanz verleihen. Weingartner stiess angesichts der überaus eindringlichen Rezeptionsgeschichte der mitteleuropäischen Moderne in vergangenen Jahrzehnten auf vergleichsweise minimales Interesse – auch wenn kein Geringerer als Igor Strawinsky sich noch 1966 erinnerte, von Dirigaten Weingartners begeistert gewesen zu sein. 1 Dieser stand gleichwohl als Vertreter einer – zumeist abschätzig beurteilten, dabei jedoch bestenfalls vage definierten – ‹gemässigten Moderne› im Windschatten einer vorrangig an der Avantgarde seiner Zeit ausgerichteten Forschung. Das 11


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Klischee vom neuerungsfeindlichen Reaktionär hat sich dabei – hervorgegangen aus den musikpolitischen Richtungskämpfen der Zeitgenossen – bis heute bedenkenlos gehalten. Zudem gab es seinerzeit keine angemessene theoretische Systematik der Interpretationsforschung, mit deren Hilfe das Werk eines so vielseitigen Dirigenten fundiert hätte gewürdigt werden können. Die Interpretationsforschung stellt einen erst in den letzten Jahren in der Musikwissenschaft vorangetriebenen Forschungszweig dar, welcher, nach Jahrzehnten der vorrangigen Beschäftigung mit Musik anhand von Partiturtexten, seinen Gegenstand als klingende Realität nachgerade neu entdeckt hat.2 Auch hier aber zeigen die Aussagen zu Weingartner, dass sie (unbewusst oder bewusst) weiterhin Argumentationsmustern verhaftet sind, die den Frontreportagen der Musikkritik aus der heroischen Phase der ‹Neuen Musik› zu entstammen scheinen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war in solchem Sinne von musikpolitischen Flügelkämpfen geprägt, welche heute jedoch kaum mehr dazu dienen können, einen Gegenstand in seinen komplexen historischen, kulturell-sozialen und ästhetischen Beziehungen kenntlich zu machen. So ist beispielsweise der Versuch, Weingartners Dirigierleistung einer ‹klassizistischen› beziehungsweise ‹neusachlichen› Ästhetik zuzuordnen und sie damit von einem ‹Espressivo›-Ideal abzusetzen,3 das Produkt eines solchen Denkens, das unausgesprochen vom Geschichtsmodell eines linearen Fortschrittsbewusstseins zehrt. Die Dialektik von Klassizismus und Ausdruckskunst verbindet sich unterschwellig mit dem schablonenhaften Werturteil von Rückständigkeit und Innovationskraft. Solche Polarisierung zielt jedoch nicht nur am Kern der Epoche um 1900 vorbei, sondern auch an einer Figur wie Weingartner, dessen ästhetische Ökonomie als ebenso ‹fortschrittlich› für die Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann, wie sie von einem Geist des ‹Espressivo› durchdrungen war. Dabei begünstigt gerade Weingartner ein grundlegend differenziertes historiografisches Verständnis der Zeit um 1900, in der sich Vergangenheitsbewusstsein und Zukunftsgerichtetheit durchdringen, ja einander wesentlich ergänzen. Ein Verständnis von Moderne in solchem Sinne hat nichts mit einer Fortschrittsidee als forsch zukunftsfroher Ideologie zu tun. Das zugleich Rück- und Vorwärtsgewandte des modernen Denkens bedingt vielmehr, dass Aktuelles, Transitorisches stets von einem Bewusstsein für das Unveränderliche und allzeit Gegenwärtige begleitet und von ihm gemessen, gewichtet und gerechtfertigt wird.4 Wesentlich findet sich eine solche Denkweise als Gleichgewicht von Besitzen und Verlieren in der Zeit um 1900, die den Historismus als Machtmittel über die Geschichte ebenso kennt wie den Wunsch, sich radikal von ihren einengenden Zwängen zu lösen. Die Moderne 12


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als Epoche und als Denkweise bildet mithin das Scharnier zweier Jahrhunderte: Sie erscheint im Bewusstsein der meisten Hörer noch als Teil des 19. Jahrhunderts, zeitigt aber – womöglich gerade deswegen – ein Ausmass an Experimentier- und Wandlungsbereitschaft, das den Anbruch des 20. Jahrhunderts als besonders spannungs- und widerspruchsvollen Zeitabschnitt kennzeichnet. Moderne aber feiert in solchem Sinne nicht, was kommen wird, sondern ist zuallererst das grelle Bewusstsein für die eigene Vergänglichkeit.5 Dieses Bewusstsein ist vielleicht bei denjenigen Künstlern am ausgeprägtesten, die sich mit nichts anderem beschäftigen als damit, Musik zu immer neuer Gegenwart zu verhelfen: den Dirigenten. Als janusköpfige Epoche erscheint die mitteleuropäische Kultur um 1900 in der nachschöpferischen Kreativität von Dirigenten nachgerade beispielhaft zugespitzt. Das Rückwärtsgewandte und das Visionäre, das Gegenwärtige und das Vergängliche, erscheinen für den Dirigenten oft als simultan auftretende Phänomene, denn er misst zunächst und vor allem die Zeit. Dirigieren ist zum einen Nachvollzug einer abstrakten Zeiteinteilung: eines vorgegebenen Grundmetrums, eines Tempomasses. Zugleich bedeutet dieser Nachvollzug aber auch, sich mit und in der Musik gegen die in der Partitur verkörperte Statik des Vorgegebenen, die Schematik eines vermeintlich unveränderlichen Notentextes aufzulehnen. Dirigieren in seinem modernen Verständnis seit Wagner bedeutet den verlebendigenden Widerstand gegen die Abstraktion der Zeit; eine Abstraktion, die gleichwohl Grundlage jeder rhythmisch-metrischen Gestaltbildung in der Musik ist. Der Dirigentenstab ist das Symbol solcher Doppelfunktion: Er dient als mechanisches Metronom und Instrument des Taktschlags, zugleich aber auch als Einspruchsinstanz zugunsten des Komponisten, dessen Notentext zunächst kaum mehr als ein Stück vorgeordnete Zeit zu sein scheint. Die gestische Präsenz des Dirigentenstabes richtet sich mit den Mitteln des gleichgewichtigen Messens gegen das Gleichmass selbst. Dirigieren ist ein Akt des kunstvoll exekutierten Paradoxons, der Zeit mithilfe von Musik eine plastische Gestalt zu verleihen. Diese Beobachtungen zeigen ihre Spuren auch in der Geschichte des Dirigierens: Ist das Auftreten des Dirigenten im 18. Jahrhundert bereits als Signum der Moderne zu begreifen, so erfährt es mit dem Wandel vom taktschlagenden Kapellmeister zum klang- und zeitgebietenden Neuschöpfer eine fundamentale Neubewertung. Um 1900 steht auch der Dirigent zwischen dem Anspruch, «die subjektive Seite des modernen Menschen zum Ausdruck zu bringen»6, und der gleichzeitig zunehmenden Beschränkung seiner Lebenswelt durch die Zwänge 13


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einer rational ‹entzauberten› Gegenwart. Musikalisch zeigt sich dies in einer diffizilen Gemengelage aus organischer, ja sprachähnlicher Ausdrucksgestaltung und einem mechanisierten Taktverständnis von mathematischer Regularität.7 Auch hier sind Dirigenten Musterbeispiele historischer Modernität: Denn stets muss das Immaterielle und Flüchtige ihrer künstlerischen Produktion durch Gestus und Taktschlag gemessen, gewichtet und ästhetisch als hörwürdig gerechtfertigt werden. Die Doppelgestalt der Moderne – zwischen dem Neuerungsbedürfnis und dem Bewusstsein für die Relativität alles Hervorgebrachten – ist hierin aufs Äusserste zugespitzt. An diesem Massstab wird eine Gestalt wie Weingartner gewinnbringend zu messen sein. * * * Das vorliegende Buch entstand auf der Grundlage eines reichen Quellenfundus zu Leben und Werk Felix Weingartners, der zum Teil noch unaufgearbeitet in der Universitätsbibliothek Basel liegt. Konkret ist es aus einer Ausstellungsinitiative des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Basel hervorgegangen. Studierende aller Semester haben in ihrem Rahmen eine Schau zu Leben und Schaffen Weingartners erarbeitet, die im Herbst und Winter 2008/09 in den Räumlichkeiten der Universitätsbibliothek Basel der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und mit verschiedenen Begleitveranstaltungen flankiert wurde. Weiterführende Absicht war es dabei, die geleistete Arbeit der Studierenden unmittelbar in einem wissenschaftlich breitenwirksamen Kontext mit dem vorliegenden Buch fruchtbar zu machen. Es ist dadurch nicht nur als Impuls zur Weingartner-Forschung, sondern auch, in seiner Verbindung von Texten Lehrender und Studierender des Musikwissenschaftlichen Instituts sowie von ausgewählten Beiträgen auswärtiger Wissenschaftler, als Frucht eines didaktischen Publikationsexperiments gedacht. Unser Dank gebührt daher zuerst allen Autorinnen und Autoren, besonders aber den beteiligten Studierenden des Musikwissenschaftlichen Instituts – namentlich dem unermüdlich aktiven Silvan Moosmüller – für ihren Anteil am gesamten Projekt. Christoph Ballmer, Musikreferent der Universitätsbibliothek Basel, und Ueli Dill, Leiter der Handschriftenabteilung, wo der umfangreiche Nachlass Felix Weingartners verwahrt wird, haben das Projekt tatkräftig unterstützt, wofür ihnen herzlich gedankt sei. Ferner gilt unser Dank Eckhardt van den Hoogen (Grevenbroich), der dem Projekt immer wieder hilfreich zur Seite stand. Schliesslich sei der Berta HessCohn-Stiftung (Basel), der Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung (Basel), der Dreyfus Söhne & Cie AG, Banquiers (Basel), der Ernst Göhner Stiftung (Zug), der 14


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Freiwilligen Akademischen Gesellschaft (Basel), der Goethe-Stiftung für Kunst und Wissenschaft (Zürich), dem Österreichischen Kulturforum bei der Österreichischen Botschaft (Bern), der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, der Spendenstiftung Bank Vontobel (Zürich) und der Universitätsbibliothek Basel dafür gedankt, dass sie die dem Projekt jene finanzielle Unterstützung zukommen liessen, ohne die es nicht hätte verwirklicht werden können. Nicht zuletzt sei Dieter Bopp und Lukas Hartmann ein besonderer Dank für die angenehme Zusammenarbeit bei Konzeption und Gestaltung von Buch und Ausstellung ausgesprochen. Die Herausgeber

Anmerkungen 1

«Felix Weingartner […] was a near idol of mine in my youth. I heard him direct a Beethoven cycle in Berlin in 1900, and was thrilled by it». Igor Stravinsky, Robert Craft, Themes and Episodes, New York 1966, S. 147 f.

2

Vgl. Carolyn Abbate, ‹Music—Drastic or Gnostic›, in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 505 – 536.

3

So beispielsweise jüngst Detlef Giese, ‹Espressivo› versus ‹(Neue) Sachlichkeit›. Studien zu Ästhetik und Geschichte der musikalischen Interpretation, Berlin 2006.

4

Vgl. Albrecht von Massow, Musikalisches Subjekt. Idee und Erscheinung in der Moderne, Freiburg im Breisgau 2001.

5

Vgl. zu diesen Gedanken insgesamt: Jean Clair, Avantgarde zwischen Terror und Vernunft. Die Verantwortung des Künstlers, Köln 1998, S. 20 ff.

6

Wolfgang Ruppert, Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, S. 582.

7

Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt am Main 1989, S. 39 bzw. S. 49.

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Wer war Felix Weingartner? Schwierigkeiten mit der Physiognomie eines bedeutenden Musikers Peter Gülke

«Hätte ich einen jungen Dirigenten zu prüfen, so ließe ich mir nicht etwa eine der modernen Riesenpartituren von ihm vordirigieren, […] ja nicht einmal Wagner, […] sondern Haydn, Mozart, Weber, dann aber auch Schubert und Brahms»1. Der dies schrieb und sich in einem Aufsatz über Brahms’ Instrumentationskunst zu einer Kunst bekannte, die «nicht auf Effekten und Strebereien, sondern auf Schönheit, Maß, Formvollendung, Größe der Gesinnung, Naivetät der Empfindung und Güte des Herzens»2 beruht, lässt sich in seiner letzten Einspielung von Brahms' erster Symphonie vom Jahre 19393 durchaus wiederfinden – grosso modo musiziert er straff und eindringlich, ohne «Effekte und Strebereien», auf hochintelligente Weise sachbezogen und besonders, wo dies geboten ist – etwa im Andante sostenuto –, mit viel Wärme. Dies sind pauschalisierende Charakteristiken, welche kaum Antwort geben auf Fragen, die wir einem Generationsgenossen unter anderen von Mahler und Strauss gern stellen würden, der noch von Liszt gefördert worden ist, über 30 Jahre gemeinsame Lebenszeit mit Brahms hat, mehrere Spitzenpositionen im österreichisch-deutschen Musikleben besetzt und vielerlei theoretische Rechenschaft abgelegt hat – seine mehrbändigen Ratschläge für Aufführungen klassischer Symphonien 4 gehören zu den Klassikern der Aufführungspraxis und lohnen die Lektüre selbst dann, wenn man, wie mitunter später er selbst, den Ratschlägen nicht folgt. In der Introduktion der Symphonie beachtet er, nicht verführt von der voluminösen Klanglichkeit, das von Brahms vorgeschriebene ‹un poco sostenuto› genau, so dass die notwendig zu dirigierenden Achtel dennoch von der gross atmenden Zweischlägigkeit hinterlegt bleiben, verzögert die überleitenden Takte 19/20 und gibt damit, mit präzise wiederaufgenommenem Tempo I, den Takten 17


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21 ff. das Gewicht, dessen sie als vage Vorwegnahmen des Hauptthemas bedürfen. Den Allegro-Beginn macht er auf eine Weise dringlich, welche die Erinnerung an das nächstliegende Modell, den ersten Satz von Beethovens fünfter Symphonie, unfehlbar aktiviert, ganz und gar, unbeschadet der anderen Taktart, in den hämmernden Dreiachtel-Figuren. Er verlangsamt auf dem Hinweg zum zweiten, an Schumanns Manfred-Ouvertüre anklingenden Thema; der Bezug der Takte 121 ff. auf die Introduktion stellt sich unschwer her, weil diese nicht feierlich-pompös zelebriert war. Drängendes Tempo ist Weingartner so wichtig, dass er in das H-Dur des Durchführungsbeginns nahezu hineinstürzt, was um so mehr auffällt, als er die Exposition nicht wiederholt – hier übrigens kann man das Zurücksteuern ins c-Moll des Expositionsbeginns gewaltsamer finden als den Gang vom es-Moll der Takte 185 ff. nach H-Dur. Wie in der Hinleitung zum zweiten Thema der Exposition nimmt Weingartner das Tempo im Vorfeld der zum Ende hin dramatisch gesteigerten Durchführung wiederum zurück (Takte 273 ff.) und schliesst damit, der musikalischen Struktur entsprechend, abermals an die Introduktion an – fast könnte man sagen: er setzt sie fort. Gewiss lässt sich die Passage leicht in den Griff bekommen – hier indessen fällt dennoch die zwingend-gleichmässige Beschleunigung auf, welche die Wiedergewinnung des Hauptthemas, allemal die Crux der Sonatenform, zu einem mit letzter Energie bewältigten Durchbruch macht. Mit feinem Gespür für das Konvergierende der Reprise dosiert Weingartner das dem zweiten Thema vorangehende Rallentando sparsamer als in der Exposition und treibt die Coda unnachsichtig in den jähen Abriss im Takt 474 – die erste jener wild-undomestizierten Coden, welche, Hochdruckventilen vergleichbar, im Nachhinein verdeutlichen, was im vorangehenden Satz gebändigt werden musste; das letzte Tempo (Takte 495 ff.) dirigiert Weingartner deutlich geschwinder als die Introduktion; er mag von Brahms' Änderung von ‹Poco sostenuto› zu ‹Meno Allegro› gewusst haben – «weil die Leute immer das Tempo der Introduktion nehmen»5. Für den zweiten Satz braucht er im Jahre 1939 fast zwei Minuten mehr als 1923, das mit ‹Andante sostenuto› angesprochene ‹gehalten Gehende› indes bleibt in einem durchaus klassischen Vortrag gewahrt, welcher genaue Balance hält zwischen kantabler Erfüllung und einer mit sparsamen Nuancierungen umgehenden Geradlinigkeit, die dank solcher Diskretion sehr innerliche Momente erreicht und der nahezu liedhaften Intonation des Satzbeginns treu bleibt – neben der Disposition der Tempi ein zweites Charakteristikum einer reifen, erfahrungsgesättigten, auf Ostensionen nicht angewiesenen Interpretation. 18


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Diskrete Beweglichkeit auch im dritten Satz, dessen entspanntem Fluss von vornherein ein sanfter ‹nisus vorwärts› einbeschrieben ist: Weingartner steigert ihn in der Wiederholung des Mittelteils (Takte 87 ff.) wie zur Verdeutlichung, dass wiederholte Musik nicht dieselbe, sondern dank des Bezugs aufs erste Erklingen, sei es als Steigerung, Zurücknahme oder Kommentierung, eine andere ist; die Takte 109 ff. machen es leicht, ins Tempo I zurückzugelangen. Zu den Delikatessen der Temponahme gehört der Übergang in die kleine Coda: Brahms schreibt ab Takt 152 ‹poco a poco più tranquillo› vor; dem folgt Weingartner sogleich und ein wenig zu sehr – um bei den Takten 154 vorsichtig drängend in Erinnerung zu rufen, dass die Triolen im Mittelteil stets gedrängt hatten; danach kommt er aufs ‹più tranquillo› zurück. Nach der feierlich portalöffnenden Introduktion am Werkbeginn vor dem Finale eine zweite, ungleich avanciertere, zerrissene, deren Tempi der dirigierende Brahms überdies schroff gegeneinander gesetzt hat: 6 Dass es ihm unter anderem darauf ankam, das unzweideutig an Beethoven erinnernde Hauptthema des Finale gewissermassen in einer ‹Brunnentiefe› unterhalb aller konkreten Historizität abzuholen, der Charakter einer captatio benevolentiae im Hinblick auf erwartbar hämische Beethoven-Denunziationen liegt auf der Hand .7 Sah Weingartner diese, die gewiss ‹unklassischste› Musik von Brahms, zu ‹klassisch›, dirigierte er an der hochriskanten Grenzgängerei vorbei? Jedenfalls liefert er hier Anhalte für die in Berlin und Wien vehementen Einwände gegen sein Operndirigieren und Bruno Walters Auskünfte hinsichtlich Defiziten beim «dramatischen Sinn des Musizierens» 8. Wenngleich bei der Bewertung einer siebzig Jahre zurückliegenden Aufnahme Tempofragen ungebührlich in den Vordergrund rücken, weil andere Momente, insbesondere klangliche, kaum angemessen transportiert werden können – das De profundis dieses Satzbeginns scheint hier ebenso wenig Platz zu finden wie der Schock des Umbruchs zu den trockenen Pizzikati, welche Weingartner sehr selbstverständlich, nahezu flott daherkommen lässt; das trächtige ‹Chaos›, der scheinbar ziellosumwegige Werdeprozess mutet eher zitiert als nachvollzogen an. So erweist sich das im Voraus bescheidwissende Kommando des erfahrenen Dirigenten fast als Manko, zum Beispiel anhand des Unterschiedes der beiden Stringendi (Takte 8 ff. bzw. 18 ff.) – das zweite müsste steiler und heftiger ausfallen, nun ‹string. molto› innerhalb von zwei Takten gegenüber ‹string. poco a poco› innerhalb von vieren; angesichts des vergleichsweise raschen Eintritts des ersten lässt sich das kaum herstellen. 19


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Mit feinem Gespür für einen Auftritt wie von aussen lässt Weingartner den ‹Choral› der Takte 47 ff., über das vorgeschriebene ‹p dolce› hinausgehend sehr verhalten, in der Nähe einer De-lontano-Wirkung spielen, auch kontrastierend zum energischen Zugriff beim Allegro-Beginn: von vornherein zügig, Alla breve gedacht und dirigiert, weitab von aller füllig-satten, billig herstellbaren Sonorität und übertrieben hymnischer Gehobenheit, offenbar genau das ‹poco› der Anweisung ‹poco f› beachtend. Von diesem Ansatz aus hat er es nicht weit zu dem im Takt 84 angezeigten ‹animato›, einer jener bei Brahms häufigen Bezeichnungen, welche nicht das Tempo allein betreffen. Das gilt auch für das beim Wiedereintritt des ersten Themas in Takt 186 angezeigte, auch den breiten melodischen Fluss meinende ‹largamente›. Insgesamt hält Weingartner die Tempi durchaus ‹klassisch› nahe beieinander. Lediglich vor jenem ‹largamente› staut er auffällig, wie um den Anschein eines Repriseneintritts zu begünstigen, um den es sich nicht handelt. Die Vermutung, dass er einer formalen Verfehlung glaubte entgegenarbeiten zu müssen, könnte man durch die auffällig diskrete Handhabung der Takte 285 ff. bestätigt sehen, welche alle Emphase eines Repriseneintritts an sich ziehen, mit dem Alphorn indessen das ‹falsche› Thema haben. Wie penibel er formale Sachverhalte wahrnimmt, zeigt sich wenig später bei dem im Takt 301 ‹zu früh› gesetzten ‹animato›: Das – vom Alphorn herkommende – Thema beginnt, mit ‹dolce› angezeigt, erst im folgenden Takt; erst in diesem beschleunigt Weingartner das Tempo, dem im Takt 118 angewiesenen ‹animato› entsprechend, und betont dies gar, indem er das ‹calando› im Takt 301 breit auslaufen lässt . 9 Ausgesprochen klassisch orientiertes Formbewusstsein zeigt und bewährt sich auch in einer den üblichen Breitwandwirkungen abholden Handhabung des Satzendes – kein überzogenes Stretto ab Takt 391, sondern das vorgeschriebene ‹più Allegro›, kein falsch pathetisierender, überdehnter ‹Choral›, keine Hatz in die Endrunde danach; es sieht ganz danach aus, als habe Weingartner Clara Schumanns Vorbehalte hinsichtlich eines allzu angehängt wirkenden Schlusses beherzigen wollen – der Briefwechsel mit ihr war 1927 erschienen.10 Dokumentiert sich hier auch, wie in anderen Details, eine bewusst bezogene Gegenposition, um so näherliegend, als die Brahms-Symphonien besonders prominent durch den sehr eigenmächtigen Bülow bekannt geworden waren? Von ihm hat der schreibende Weingartner, die jungen Dirigenten vor «Bülowiaden» warnend, sich scharf distanziert.11 Die Vermutung fände Bestätigung unter anderem in der Enthaltsamkeit bei üblichen Temposchwankungen im ersten Satz der zweiten Symphonie oder dortselbst im Allegretto grazioso bei peinlich genau be20


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