Vom Nutzen der Geschichte

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Claudia Opitz-Belakhal, Regina Wecker (Hrsg.)

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Vom Nutzen der Geschichte

Band 181 G

Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft Vom Nutzen der Geschichte

Die Herausgeberinnen Claudia Opitz-Belakhal ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Basel mit Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Regina Wecker ist Professorin für Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Basel.

I S B N 978-3-7965-2592-6

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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Vom Nutzen der Geschichte

Inhalt Claudia Opitz-Belakhal, Regina Wecker, Vom Nutzen der Geschichte – Einige einführende Bemerkungen Antonio Loprieno, Zurück zur Vergangenheit – Geschichte und Geschichtsschreibung in Ägypten während des ersten Jahrtausends v.Chr. Emil Angehrn, Erinnern und Vergessen – Vom Glück des Historikers Andreas Guski, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für den Leser – Roman und Geschichte im Russland des 20. Jahrhunderts Anne Peters, Geschichte und Gerichte Georg Pfleiderer, Heilsgeschichte und historische Theologie Ueli Mäder, Unterwegs Achatz von Müller, Lebensfeindschaften? – Der «Nutzen und Nachtheil der Historie» und die humanistische Tradition Georg Kreis, Vom Nutzen der Geschichte

Claudia Opitz-Belakhal, Regina Wecker (Hrsg.)

Das Fach Geschichte ist mehr als andere Fächer der Frage ausgesetzt, ob es denn «nützlich» sei, zumal Geschichte doch vor allem Vergangenes betreffe. Was die Historikerinnen und Historiker sozusagen in «eigener Sache» zu diesem Thema meinen, ist eines. Etwas anderes ist, was aus der Sicht von Nachbardisziplinen dazu gesagt werden kann.

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Nachbardisziplinen im Umgang mit Geschichte

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Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft Band 181

Begründet von E. Bonjour, W. Kaegi und F. Staehelin

Weitergeführt von F. Graus, H. R. Guggisberg, G. Kreis, H. Lüthy, M. Mattmüller, W. Meyer, M. Schaffner und R. Wecker

Herausgegeben von S. Burghartz, K. von Greyerz, H. Haumann, M. Lengwiler, J. Mooser, A. von Müller, C. Opitz-Belakhal


Claudia Opitz-Belakhal, Regina Wecker (Hrsg.)

Vom Nutzen der Geschichte Nachbardisziplinen im Umgang mit Geschichte

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Christine Bonjour-Stiftung und des Lotteriefonds des Kantons Basel-Stadt

Abbildung auf dem Umschlag: Geschichte als Verarbeitung zahlloser Daten? Daten interessieren, wenn sie durch Fragestellungen aktiviert werden. Ja, es gibt sogar Daten – und Quellen –, die entstehen recht eigentlich nur dann, wenn man nach ihnen fragt. Foto: Dokumentation Kreis

© 2009 Schwabe AG, Verlag, Basel Lektorat: Julia Grütter Binkert, Schwabe Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISSN 1661-5026 ISBN 978-3-7965-2592-6 www.schwabe.ch


Inhalt

Vom Nutzen der Geschichte – Einige einführende Bemerkungen . . . .

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Antonio Loprieno Zurück zur Vergangenheit – Geschichte und Geschichtsschreibung in Ägypten während des ersten Jahrtausends v.Chr. . . . . . . . . . . . . . . . .

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Emil Angehrn Erinnern und Vergessen – Vom Glück des Historikers . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Guski Vom Nutzen und Nachteil der Historie für den Leser – Roman und Geschichte im Russland des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . .

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Anne Peters Geschichte und Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Pfleiderer Heilsgeschichte und historische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ueli Mäder Unterwegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Achatz von Müller Lebensfeindschaften? – Der «Nutzen und Nachtheil der Historie» und die humanistische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Georg Kreis Vom Nutzen der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119



Vom Nutzen der Geschichte – Einige einführende Bemerkungen «Vom Nutzen der Geschichte» – dieses Thema hat nicht nur in Basel eine lange Geschichte – wer dächte da nicht unmittelbar an Friedrich Nietzsche, der ja bekanntlich in Basel auch einige Semester lang Dozent für klassische Philologie war, und seine Frage nach dem «Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben»? Nietzsche spielte in einer seiner «Unzeitgemässen Betrachtungen» mit dem Gedanken, «etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen»1 und stellte die These auf, die Fähigkeit zu vergessen, «das Vergessen-können»2 sei eine ebenso wichtige Grundvoraussetzung jeglicher Kultur wie die Fähigkeit, sich zu erinnern. Einzig, wenn sie im Dienste der Zukunft und der Gegenwart stehe, habe Erinnerung, habe Historie ihre Berechtigung. «Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen»3. Er warnt vor der Zerstörung dieser Verbindung von Leben und Historie. Das zerstörende «Gestirn» sieht er in der Forderung, dass die Historie Wissenschaft zu sein habe. «Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Werdens, die Historie, zeigt»4. Nietzsche hatte also bei seiner skeptischen Betrachtung insbesondere die wissenschaftliche Historie im Visier – ein guter Ausgangspunkt für Historikerinnen und Historiker heute, ihr Metier von Vertreterinnen und Vertretern anderer, benachbarter Disziplinen kritisch beäugen und bewerten zu lassen – in vollem Wissen darum, dass «jeder Mensch und jedes Volk […] je nach seinen Zielen, Kräften und Nöthen eine gewisse Kenntniss der Vergangenheit»5 braucht.

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Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München et al. 1980, Bd. 1, S. 243–334, in der Folge zitiert als HL, hier HL, «Vorwort», S. 246. HL § 1, S. 250. HL, «Vorwort», S. 245. HL § 4, S. 271f. HL § 4, S. 271.


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Immerhin: Im Zeitalter nach dem «linguistic turn», dem «iconic turn» und dem «cultural turn» und vielen weiteren Neuausrichtungen in den Geistesund Gesellschaftswissenschaften ist die historische Dimension wieder- und gegebenenfalls auch neu zu verorten. Was ermöglicht das Historisieren im Kontext einer sich kulturwissenschaftlich verstehenden Fakultät – und was in einer Wissenschaftslandschaft, die sich weit mehr an ökonomischen oder allenfalls «ökologischen» beziehungsweise nachhaltigen, also zukunftsfähigen Wertmassstäben messen lassen muss? Und welche Kosten zeitigt umgekehrt der Rückgriff auf Geschichte – oder auch die Betrachtung von Geschichte in unterschiedlichen disziplinären und gesellschaftlichen Kontexten? Diesen und ähnlichen Fragen haben sich Kolleginnen und Kollegen aus unserer Philosopisch-historischen wie aber auch aus den Nachbarfakultäten, die im Folgenden ihre Beiträge präsentieren, gestellt. In ganz unterschiedlicher Weise gehen sie der Frage nach dem Nutzen und den Kosten der Geschichte innerhalb ihres Faches, für ihre disziplinäre Arbeit aber auch für eine allfällige alltagspraktische Anwendung nach. Der thematische Bogen reicht dabei von der philosophischen Reflexion über «Erinnern und Vergessen», wie sie Nietzsche initiierte und wie sie bis heute – gerade auch im Angesicht von Massenmord und Holocaust des vergangenen Jahrhunderts – von vielen Denkern weitergeführt und radikalisiert wurde, über die theologische Frage nach Heils- und Holzwegen der Geschichtsbetrachtung bis hin zur Aburteilung historischer Fakten von Gerichtshöfen innerhalb und ausserhalb Europas. Auch der zeitliche Bogen ist weit gespannt: Er reicht von der Historiographie Altägyptens bis zu den jüngsten Völkermordprozessen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Literarische Bearbeitungen historischer Ereigniszusammenhänge sind dabei ebenso Gegenstand der Betrachtung wie die Frage der «Fiktionalisierung» von Geschichte – und davon ausgehend, die nach Wahrheit und Angemessenheit, nach Manipulation und Täuschung von Erinnerungen. Den folgenden Beiträgen liegt ein Kolloquium anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Georg Kreis zugrunde. Der vorliegende Band ist also gleichzeitig einem höchst erfreulichen Anlass zu verdanken – nämlich dem vollendeten 65. Lebensjahr eines von uns allen sehr geschätzten Kollegen–, wie aber auch dem bedauerlichen Umstand, dass er uns demnächst verlassen wird, zumindest in seiner Eigenschaft als Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar Basel. Das ist in der Tat ein historischer Einschnitt, denn Georg Kreis ist seit vielen Jahrzehnten dem Historischen Seminar eng verbunden: Er hat hier


Vom Nutzen der Geschichte – Einige einführende Bemerkungen

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(wie übrigens auch in Paris und Cambridge) Geschichte, Germanistik und Geographie studiert und 1972 über die Schweizer Pressezensur im Zweiten Weltkrieg promoviert. Nach Fertigstellung seiner Habilitation über die französische Aussenpolitik in der III. Republik während der Zwischenkriegszeit wurde er hier 1993 Ordinarius für Allgemeine und Schweizer Geschichte sowie Leiter des damals geschaffenen, interdisziplinär ausgerichteten Europainstituts. In dieser letztgenannten Funktion wird er uns noch als Kollege erhalten bleiben, so dass der Abschied nicht ganz so abrupt ausfallen wird – ebenso als (Mit-)Herausgeber etlicher Buchprojekte, darunter einer neuen «Schweizer Geschichte» und einer «Geschichte Frankreichs in Quellen und Darstellungen», um nur zwei bedeutende Projekte zu nennen. Auch in weiteren Funktionen, wie etwa der des Präsidenten der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, die er seit 1995 bekleidet, als Redakteur der «Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte» oder auch als Mit-herausgeber der «Documents diplomatiques suisses», der Zeitschrift «Relations Internationales», des Jahrbuchs für europäische Geschichte und als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz wird er hoffentlich noch lange aktiv sein können. Das Thema der Tagung wurde von Georg Kreis selbst vorgeschlagen – und es entspricht sehr genau dem, was seine wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten vorangetrieben hat: Der «Nutzen der Geschichte» steht bei ihm an prominenter Stelle – und zwar im Sinne guter wie schlechter Nutzung, wenn man das etwas salopp ausdrücken will. So hat er sich in seinen Büchern und vor allem auch in seinen vielfältigen Aktivitäten als Leiter des Europainstituts nicht nur dafür eingesetzt, (geschichts-)wissenschaftliche Erkenntnisse einem breiteren Publikum zu vermitteln, sondern er hat vor allem immer auch kritisch darauf hingewiesen, wann und wo Geschichte «benutzt» und missbraucht wurde, um andere – etwa nationale oder neuerdings auch eurozentrische – Interessen voranzutreiben und zu legitimieren. Zu erinnern sei an dieser Stelle etwa an seine Studie über den «Mythos von 1291. Zur Entstehung des schweizerischen Nationalfeiertags», erschienen 1981 in Basel, an die «Helvetia. Zur Geschichte einer nationalen Repräsentationsfigur», 1991 erschienen, oder an den «Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes» von 2004. Der kritischen Selbstreflexion durch Geschichte beziehungsweise Historisierung ist dagegen seine «Kleine Neutralitätsgeschiche der Gegenwart. Ein Inventar zum neutralitätspolitischen Diskurs in der Schweiz seit 1943» von 2004 gewidmet oder schliesslich seine jüngste Studie über Rassismus und Antirassismus in


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der Schweiz, die 2007 unter dem schönen Titel «Kein Volk von Schafen» erschienen ist.6 Den Kolleginnen und Kollegen, die zu unserem Kolloquium und schliesslich auch zum vorliegenden Band einen Beitrag geleistet haben, möchten wir an dieser Stelle herzlich danken, ebenso dem Jubilar, der sich so viele Jahre lang um das Historische Seminar verdient gemacht hat und der wie kein anderer unermüdlich den Nutzen der Geschichte als Wissenschaft wie auch als kulturelle Praxis deutlich gemacht und gemehrt hat. Wir wünschen ihm, dass er dies noch lange Zeit so engagiert tun kann! Basel, im Sommer 2009

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Der vierte Band der Aufsatzsammlung von Georg Kreis «Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze», Bde. 1–4, Basel 2003–2008, enthält eine fast vollständige Bibliographie seiner Schriften.


Zurück zur Vergangenheit – Geschichte und Geschichtsschreibung in Ägypten während des ersten Jahrtausends v.Chr. Antonio Loprieno

Einleitung Von den antiken Kulturen zeigt sich Ägypten am meisten durch die eigene historische Tiefe beeindruckt. Verweise auf vergangene Persönlichkeiten oder Ereignisse finden sich in ikonischen sowie in schriftlichen Quellen im Überfluss und legen die Schlussfolgerung nahe, dass Ägypter in ihrer Geschichte auch die politische oder intellektuelle Legitimation suchten.1 Ob im Sinne der Ausgestaltung des gegenwärtigen Handelns2 oder der Hervorhebung der Leistungen vor dem Hintergrund der Überlieferung,3 das alte Ägypten zeigt die Gültigkeit der kulturhistorischen Verallgemeinerung, wonach Schriftkulturen Individuen und Begebenheiten, die in schriftlicher Form überliefert sind, kanonischen Status zuschreiben.4 Das klassische Ägypten kannte jedoch keinen echten historischen Diskurs,5 keine «Geschichtsschreibung» durch individuelle Autoren, die mit Herodot oder Thukydides vergleichbar wären, die ihre eigenen intellektuellen Vorstellungen in die Interpretation der Geschichte einfliessen lassen:6 Ganz wie die Tradierung literarischer Werke war die Kenntnis der Geschichte zwar ein wichtiger Bestandteil der kulturellen Identität der Eliten, aber eher durch zeitlose Vorbilder als durch konkrete, kontextualisierbare Beispiele individueller Leistung. Dies ist der Grund, wes1

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John Baines / Norman Yoffee, Order, Legitimacy, and Wealth in Ancient Egypt and Mesopotamia, in: Archaic States, ed. Gary Feinman and Joyce Marcus, Santa Fe 1998, S. 199–260, bes. 212–225. Pascal Vernus, Essai sur la conscience de l’histoire dans l’Egypte pharaonique, Paris 1995, S. 35–54. Ebd. S. 54–121. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 93–97. Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1996, S. 15–38. Virginia Hunter, Past and Process in Herodotus and Thucydides, Princeton 1982, S. 3–13; Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen, Frankfurt 1982, S. 113–119, 275–283.


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Antonio Loprieno

halb auf der einen Seite Annalen, Listen von Königen oder priesterliche Genealogien aus chronologisch gegliederten Folgen von Namen und Taten aufgebaut sind,7 auf der anderen Seite die Namen klassischer literarischer Autoren aus pseudoepigraphischen Verweisen bestehen.8 Etwas komplexer zeigt sich jedoch das Bild im ersten Jahrtausend v.Chr. Während der Dritten Zwischenzeit, vom elften bis zum achten Jahrhundert9 und der Spätzeit bis 332 v.Chr.10 sowie unter ptolemäischer und römischer Herrschaft,11 können wir eine Vielfalt von Strömungen in Ägyptens Zugang zur Vergangenheit beobachten, die auch in einen intensiven Dialog mit anderen mediterranen Kulturen, etwa Israel und Griechenland, mündete.Während der ersten Phase des ersten Jahrtausends v.Chr. entwickelte sich nämlich eine kritischere Geschichtsschreibung, als es in früheren Jahrhunderten der Fall war. Dieser neue Zugang zur Geschichte kristallisierte sich zwischen dem achten und dem siebten Jahrhundert und erreichte ihren Höhepunkt in hellenistischer Zeit.12

Geschichte von Ereignissen und Geschichte von Erinnerungen Ägyptische Angaben zur Geschichte sind nicht durch einen abgeschlossenen Textkörper überliefert.13 Am ehesten der Geschichtsschreibung im westlichen Sinne näheren sich die sogenannten «Annalen» an.14 Annalen schreiben

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Donald B. Redford, 1986 Pharaonic King-Lists, Annals and day-Books, Mississauga 1986, S. 1–96; Jürgen von Beckerath, Chronologie des pharaonischen Ägypten, Mainz 1997, S. 13–31. Antonio Loprieno, Defining Egyptian Literature: Ancient Texts and Modern Literary Theory, in: The Study of the Ancient Near East in the Twenty-First Century. The William Foxwell Albright Centennial Conference, ed. Jerrold S. Cooper and Glenn M. Schwartz, Winona Lake 1996, S. 209–32, bes. 225–226. John Taylor, The Third Intermediate Period (1069–664 BC), in: The Oxford History of Ancient Egypt, ed. Ian Shaw, Oxford 2000, S. 330–368. Alan B. Lloyd, The Late Period (664–332 BC), in: The Oxford History of Ancient Egypt, ed. Ian Shaw, Oxford 2000, S. 369–394. Alan B. Lloyd, The Ptolemaic Period (332–30 BC), in: The Oxford History of Ancient Egypt, ed. Ian Shaw, Oxford 2000, S. 395–421; David Peacock, The Roman Period (30 BC–AD 395), in: ebd., S. 422–445. Antonio Loprieno, La pensée et l’écriture. Pour une analyse sémiotique de la culture égyptienne, Paris 2001, S. 89–128. Christopher Eyre, Is Egyptian historical literature «historical» or «literary”?, in: Ancient Egyptian Literature. History and Forms, ed. Antonio Loprieno, Leiden 1996, S. 415–433. Redford, Pharaonic King-Lists, S. 65–96; von Beckerath, Chronologie des pharaonischen Ägypten, S. 13–19, 203–205.


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einem spezifischen Regierungsjahr einen oder mehrere bemerkenswerte Vorgänge zu. Obwohl jede Geschichtsschreibung an sich ideologisch ist, ist die Verbindung zwischen Geschichtsschreibung und Ideologie in Ägypten noch expliziter als in anderen intellektuellen Traditionen.15 Wie im Text des «Königs als Sonnenpriester»16 verdeutlicht, läuft die kosmische Funktion des Königs, «die Götter zu besänftigen», parallel zu seiner politischen Funktion, «die Menschheit zu richten» sowie zu seiner religiösen Funktion, «den Toten Opfer darzubringen». Im Versuch, einen spezifischen Diskurs der Geschichtsschreibung zu isolieren, sind Ägyptologen mit derselben Problematik konfrontiert, welcher sie zum Beispiel beim Versuch begegnen, wenn sie einen «literarischen» gegenüber einem «religiösen» Diskurs unterschieden wollen.17 Um dieses Problem zu umgehen, kann man eher die eigene Aufmerksamkeit auf die Geschichte der «Erinnerungen» (mnemohistory) lenken als auf die Geschichte der «Ereignisse»,18 das heisst eher auf den Widerhall vergangener Vorfälle in späteren Überlieferungen als auf die zeremonielle Beschreibung der Ereignisse in zeitgenössischen Texten. Auf diese Weise kann die traditionelle Geschichtsschreibung durch die Identifizierung semiotischer Spuren der Vergangenheit erweitert werden. Neben den ideologischen Angaben der offiziellen Texte sollten wir auch den verdeckten Haltungen Rechnung tragen, die weniger formelle Texte bezüglich früherer Ereignisse und ihrer Protagonisten offenbaren. Dieses Vorgehen wurde kürzlich auf den Widerhall zweier typologisch sehr unterschiedlicher Figuren in der Geschichte des Mittelmeerraumes angewendet: den israelitischen Religionsgründer Moses und den ägyptischen König Ekhnaton,19 ausserdem auf Ägyptens Wahrnehmung durch die griechischen Intellektuellen von Aeschylos bis Alexander dem Grossen.20 Die expliziteste Form «mnemohistorischer» Behandlung der Vergangenheit aus dem klassischen Ägypten ist der Hinweis auf Vorfälle und Persönlichkeiten in einem narrativen Rahmen. Man

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Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, S. 201–236. Jan Assmann, Der König als Sonnenpriester, Glückstadt 1970, S. 58–65. Philippe Derchain, Ph., 1996 Théologie et littérature, in: Ancient Egyptian Literature. History and Forms, ed. Antonio Loprieno, Leiden 1996, S. 353–360; Christopher Eyre, The Cannibal Hymn. A cultural and literary study. Liverpool 2002, S. 31–35. Jan Assmann, Moses the Egyptian. The Memory of Egypt in Western Monotheism, Cambridge, MA 1997, S. 1–22. Ebd., S. 23–54. Phiroze Vasunia, The Gift of the Nile. Hellenizing Egypt from Aeschylus to Alexander, Berkeley / Los Angeles 2001, S. 1–32.


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könnte hier die sogenannten historischen Abschnitte in der «Lehre für Merikare» aus der XVIII. Dynastie21 oder im Papyrus Harris I aus der XIX. Dynastie22 erwähnen, oder die Rezeption von Snofru23 und Cheops24 in der Unterhaltungsliteratur des späten Mittleren Reiches. Der Reichtum an textlichen Quellen aus dem Neuen Reich (1550– 1000 v.Chr.) könnte allerdings dazu verleiten, die Wichtigkeit der intellektuellen Entwicklungen der Dritten Zwischenzeit (frühe Eisenzeit) zu übersehen, während derer die mediterranen Kulturen, Ägypten inbegriffen, einen quantitativen und qualitativen Rückgang der verschiedenen Schriftquellen aufweisen, welche für die späte Bronzezeit charakteristisch waren. Dies wird manchmal als Folge einer historischen Katastrophe gesehen, die zu den sogenannten dark ages führte.25 Doch es war genau während dieser Periode der Abnahme der Schriftkultur, vergleichbar mit «Tod und Auferstehung der Schriftkultur» im frühen europäischen Mittelalter,26 als traditionelle Ansichten der auf Archiven27 begründeten Geschichtsschreibung durch eine reiche orale Tradition über Figuren oder Vorgängen der Bronzezeit ergänzt wurden. Dies zeigt sich beispielsweise in der priesterlichen Genealogie des Anchefensachmet in der XXII. Dynastie (ca. 735 v.Chr.), worin die Herkunft einer Familie memphitischer Priester auf die Könige der XI. Dynastie zurückdatiert wurde.28 Unter vergleichbaren historischen Bedingungen wurde die Erinnerung an Vorfälle der syrisch-palästinensischen Geschichte im dreizehnten und zwölften Jahrhundert während des frühen ersten Jahrtausends im Pentateuch «kanonisiert».29 Ebenso wurden die Namen und Personen der

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Joachim F. Quack, Studien zur Lehre für Merikare, Wiesbaden 1992, S. 89–97. Pierre Grandet, Le Papyrus Harris I (BM 9999), Cairo 1994, S. 333–342. Erhard Graefe, Die gute Reputation des Königs «Snofru”, in: Studies in Egyptology Presented to Miriam Lichtheim, ed. Sarah Israelit-Groll, Jerusalem 1990, vol. 1, S. 257–263. Philippe Derchain, Deux notules à propos du Papyrus Westcar, in: Göttinger Miszellen 1986, 89, S. 15–21. Robert Drews, The End of the Bronze Age, Princeton 1993. Henri-Jean Martin, The History and Power of Writing, Chicago/London 1994, S. 116–181. Stephen Quirke, Archive, in: Ancient Egyptian Literature. History and Forms, ed. Antonio Loprieno, Leiden 1996, S. 379–401. Ludwig Borchardt, Die Mittel zur zeitlichen Festlegung von Punkten der ägyptischen Geschichte und ihre Anwendung, Cairo 1935, S. 96–111; von Beckerath, Chronologie des pharaonischen Ägypten, S. 29. Israel Finkelstein – Neil A. Silberman, The Bible Unearthed. Archaeology’s New Vision of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts, New York 2001, S. 27–96.


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mykenischen Periode durch die dark ages bis zu Homers epischer Wiedergabe des Trojanischen Krieges im achten Jahrhundert bewahrt.30

Der Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart Im Folgenden möchte ich für eine mehrschichtige Lektüre der Entwicklung des kritischen Geschichtsbewusstseins im ersten Jahrtausend v.Chr. eintreten. Ich bezeichne diese Lektüre deshalb als «mehrschichtig», weil deren Entwicklung eine anachronistische Überlappung von Vorfällen aufweist, was oft auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen basiert. Während des achten und siebten Jahrhunderts führt diese Entwicklung zur Entstehung eines Bruchs in jenem Zusammenhalt von Vergangenheit und Gegenwart, der für Ägyptens traditionelles Geschichtsbewusstsein so kennzeichnend gewesen ist. Frühe dynastische Annalen zeigen zum Beispiel eine sequentielle Aufzeichnung der Leistungen des Staates, die auch beabsichtigt, dem regierenden König Legitimität zu verleihen, wie dies schon bei den Elfenbeinschildern der I. Dynastie aus Abydos der Fall ist.31 In der Literatur des Mittleren Reiches, etwa in den Erzählungen des Papyrus Westcar, bildet die korrekte Abfolge der Könige des Alten Reiches den Rahmen für literarische Unterhaltung.32 In den Königslisten des Neuen Reiches in Abydos, Saqqara oder Theben33 ist die chronologische Sequenz vergangener Könige in den Dienst der Machtdemonstration des zeitgenössischen Königs gestellt. Auch der Topos der Überbietung vergangener Leistungen34 fügt sich in dieses ideologische Muster. In der Spätzeit wird dieser Typus der reproduktiven geschichtlichen Kenntnis hinterfragt und durch eine weniger sequentielle Sicht der Vergangenheit abgelöst: In literarischen und religiösen Texten wird die Vergangenheit erinnert, wieder hergestellt und durch eine häufige Überlagerung von Personen und Zeiten auch produktiv rekonstruiert. Während ein gradueller Verlust von Informationen über die Vergangenheit selbst in Gesellschaften mit einem hohen Grad an Schriftlichkeit zu erwarten ist, scheint das Überleben einer Tradition archivarischer Kopien älterer Geschichtstexte (im 30 31 32 33 34

Joachim Latacz, Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, München/Berlin 2001. Toby A. H. Wilkinson, Early Dynastic Egypt. London/New York 1999, S. 109–150. Richard B. Parkinson, Poetry and Culture in Middle Kingdom Egypt, London 2002, S. 182–187. von Beckerath, Chronologie des pharaonischen Ägypten, S. 23–28. Vernus, Essai sur la conscience de l’histoire, S. 60–110.


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weitesten Sinne) bis in die römische Zeit35 anzuzeigen, dass die Zunahme der fiktiven Lektüre historischer Ereignisse keinen objektiven Spiegel eines Verlustes an Kenntnissen, sondern einen subjektiven Wandel intellektueller Zugänge darstellt. Als Anfangspunkt werde ich das Wissen von Ereignissen und Personen des Neuen Reiches nehmen, wie es in späteren ägyptischen Quellen aufgezeichnet ist, und versuchsweise deren zeitgenössische Verbindungen untersuchen. In unserer «mnemohistorischen» Suche werden wir teilweise auch das Problem angehen, wie sich diese Erinnerungen zur zeitgenössischen archäologischen oder philologischen Dokumentation verhalten. Vor allem aber werden wir uns fragen, inwieweit der Verweis auf geschichtliche Ereignisse der Späten Bronzezeit das Verständnis der Rolle der Vergangenheit in späteren Zeiten aufschlüsselt. Denn während des ersten Jahrtausends v.Chr. wird die Geschichte der längst vergangenen, meistens oral überlieferten Bronzezeit interkulturell rekonstruiert. Mit dem Prädikat «rekonstruiert» will ich keineswegs eine globale Ablehnung der Geschichtlichkeit der wiedergegebenen Ereignisse signalisieren, sondern vielmehr die kulturelle Relevanz dieser Geschichte(n) in ihrer jeweiligen Überlieferung hervorheben. «Rekonstruierte» Geschichte meint daher «mythische» im Gegensatz zu «archivarischer» Geschichte – die Geschichte einer Vergangenheit, die eine symbolische kulturelle Bedeutung für die Gegenwart erhält, aber nicht einfach in Sequenzen aufgeteilt werden kann.

Manetho von Sebennytos Manetho von Sebennytos war ein ägyptischer Priester des dritten Jahrhunderts v.Chr., der eine Geschichte Ägyptens in griechischer Sprache schrieb, die Aigyptiaká,36 welche immer noch eine Säule für die ägyptologische Rekonstruktion bildet.37 Manetho ist ein wichtiger Zeuge des ägyptischen Verständnisses der Geschichte unter ptolemäischer Herrschaft; er war geprägt vom kulturellen Milieu, das sich unter der Herrschaft von Ptolemaios II. Philadelphos (308–246) entwickelte, und erlebte die Geburt des Interesses

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Jürgen Osing / Gloria Rosati, Papiri geroglifici e ieratici da Tebtynis, Firenze 1998, S. 55–84. William G. Waddell, Manetho, London 1948. Redford, Pharaonic King-Lists, S. 231–332; von Beckerath, Chronologie des pharaonischen Ägypten, S. 35–40.


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für die «Nationalgeschichte» der verschiedenen ethnischen Gruppen, aus denen das multikulturelle ptolemäische Ägypten bestand.38 Eine Entsprechung auf jüdischer Seite ist die griechische Übersetzung der Bibel, die sogenannte «Septuaginta», welche nach derselben Perspektive wie die Nationalgeschichte der Juden fungierte.39 Aber mehr als die Tatsache, dass er auf griechisch schrieb – was ihn nicht weniger zu einem ägyptischen Autor macht, als auch die Septuaginta-Übersetzung ein jüdischer Text bleibt – sollten wir bei der Analyse von Manethos Beitrag zur ägyptischen Geschichtsschreibung bedenken, dass wir ihn nicht direkt, sondern durch seine spätere Rezeption kennen: Einerseits durch den jüdischen Historiker Flavius Josephus und seine apologetische Abhandlung Contra Apionem (I. Jh. n.Chr.40 und andererseits durch die späteren Kirchenhistoriker, besonders Julius Africanus und Eusebius.41 Allgemein lässt sich sagen, dass Josephus für seine Kommentare jene Abschnitte aus Manethos Text wählte, die seiner Meinung nach für die jüdische Nationalgeschichte und Identität wichtig waren, während die christlichen Kommentatoren daran interessiert waren, Manethos Text mit der biblischen Darstellung zu vereinbaren und sozusagen die erste apologetische Version einer kontinuierlichen Heilsgeschichte zu liefern, welche mit dem Buch der Genesis begann. All diese Faktoren haben Manethos Attraktivität für die moderne Forschung etwas verringert, nicht jedoch seine Bedeutung für unser Verständnis der zeitgenössischen ägyptischen Gesellschaft. Dass Manethos Text in christlicher Zeit gelesen wurde, ist ein Zeichen einer produktiven historiografischen Lokaltradition, die den reproduktiven Zugang der archivarischen Geschichte, etwa die spätzeitlichen Abschriften autobiographischer Texte der Ersten Zwischenzeit aus Asyut,42 ergänzen. Sie sind eine Antwort auf zwei unterschiedliche Typen ägyptischen historischen Gedächtnisses von der Spätzeit bis zur Spätantike.

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Life in a Multicultural Society: Egypt from Cambyses to Constantine and Beyond, ed. Janet H. Johnson, Chicago 1992. 39 Arye Kasher, The Jews in Hellenistic and Roman Egypt, Tübingen 1985, S. 4–6. 40 Benedictus Niese, Flavii Iosephi Opera, vol. V: De iudaeorum vetustate contra Apionem, Berlin 1889; Heinrich Clementz, Flavius Josephus. Kleinere Schriften, Wiesbaden 1993, S. 77–204. 41 von Beckerath, Chronologie des pharaonischen Ägypten, S. 35–40. 42 Peter Der Manuelian, Living in the Past. Studies in Archaism of the Egyptian TwentySixth Dynasty, London / New York 1994, S. 1–58.


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Eine ägyptische Darstellung des Exodus In Josephus Contra Apionem werden zwei für uns relevante Erzählungen Manethos kommentiert. Die erste, Fragment 42,43 bezieht sich auf die Zeit unmittelbar nach dem Mittleren Reich (um 1700 v.Chr.). Manetho (durch Josephus) erzählt uns, dass während der Regierungszeit eines Königs Tutimaios «ein Fluch Gottes» aus unbekannten Gründen auf Ägypten niederschlug: Einwanderer unklarer Herkunft drangen in das Land ein, brannten Städte nieder, zerstörten Tempel und versklavten Leute. Sie ernannten einen gewissen Salitis zu ihrem König, der sich in Memphis niederliess und von da aus ganz Ägypten verwaltete. Er installierte seine Armee im östlichen Delta, da er einen Angriff durch die Assyrer fürchtete, und gründete eine Stadt namens Avaris, die zu der Zeit bereits religiösen Ruhm genoss. Er befestigte sie und platzierte dort eine Armee von 240 000 Soldaten, um ihre Grenzen zu schützen. Nach einer 19jährigen Regierungszeit starb Salitis; auf ihn folgte ein anderer König, der sich Bnon nannte und 44 Jahre regierte. Nach ihm kam Apachnan, der für 36 Jahre und 7 Monate regierte, und nach ihm Apophis für 61 Jahre und dann Iannas für weitere 50 Jahre und ein Monat. Schliesslich kam Assis, der 49 Jahre und zwei Monate regierte. Dies waren die ersten sechs Könige des Stammes der «Hyksos», was im Ägyptischen «Hirtenkönige» heisst. In einer anderen Version von Manethos Text, fügt Josephus hinzu, bedeute hyk nicht «König», sondern «Gefangener»; «Hyksos» sei deshalb mit «gefangene Hirten» zu übersetzen, und Josephus scheint diese Interpretation vorzuziehen. Zuallererst sollten wir in diesem Text das beachten, was ich als «mehrschichtige» Struktur der Erzählung definiert habe: Während die erzählten Ereignisse sich auf eine Zeit zwischen der Mittleren und der Späten Bronzezeit beziehen, entspringen anachronistische Einzelheiten, wie der Verweis auf das assyrische Reich oder die sehr hohe Zahl von Soldaten, der Erfahrung der Eisenzeit.44 Als Nächstes können wir im Namen des ersten Hyksos, König Salitis (oder Saites), wahrscheinlich die Spur einer doppelten geschichtlichen Erinnerung erkennen. Eine Spur weist auf den tatsächlichen Namen eines Hyksos, vielleicht des Sharek hin, der uns auch aus der memphitischen Genealogie der

43 44

Waddell, Manetho, S. 77–85. Andrea M. Gnirs, Ancient Egypt, in: War and Society in the Ancient and Medieval Worlds, ed. Kurt Raaflaub and Nathan Rosenstein, Cambridge, MA 1999, S. 71–104, bes. 83–87.


Zurück zur Vergangenheit

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XXI. Dynastie bekannt ist;45 die andere Spur verweist auf das semitische Prädikat schallit «der Mächtige», eine Form königlicher Onomastik, die auf Titeln basiert und im späten Mittleren Reich belegt ist, etwa durch den im Turiner Königspapyrus erwähnten König namens «General» in der XIII. Dynastie.46 Dieser Name stellt wahrscheinlich eine ägyptische Übersetzung eines semitischen Titels dar.47 Ein ähnliches Phänomen interkultureller Übersetzung könnte auch dem Namen des mysteriösen Königs «der Nubier», des ersten Königs der XIV. Dynastie, im Turiner Königspapyrus zugrunde liegen. Er begründete den Kult des Seth in Avaris, welcher während der Ramessidenzeit in der sogenannten 400 Jahresstele zelebriert wurde.48 Dieser König «der Nubier» könnte in Wahrheit nichts mit Nubien zu tun haben, was an diesem Ort zu dieser Zeit in dieser Position schwer zu rechtfertigen wäre, sondern eher eine kulturelle Übersetzung eines semitischen yamin oder ben-yamin darstellen: «der von der rechten Hand», das heisst «der Glückliche». Durch die geografische Korrespondenz zwischen «rechter Hand» und «Süden» entstand eine vorher unbekannte positive Konnotation, die auch der ägyptischen Version von benyamin, das heisst «der Nubier, der Südländer» anhaftete.49 Über die Kenntnis der historischen Hyksos hinaus dokumentiert Manetho die kulturelle Erinnerung an eine semitische Präsenz im Ägypten der Mittleren Bronzezeit. Diese ist reichlich belegt durch schriftliche Quellen,50 archäologische Ausgrabungen51

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Thomas Schneider, Ausländer in Ägypten während des Mittleren Reiches und der Hyksoszeit. Band 1: Die ausländischen Könige, Wiesbaden 1998, S. 46; Jürgen von Beckerath, Handbuch der ägyptischen Königsnamen, Mainz 1999, S. 120–121. 46 Herbert E. Winlock, The Rise and Fall of the Middle Kingdom in Thebes, New York 1947, S. 96. 47 Kim S. B. Ryholt, The Political Situation in Egypt during the Second Intermediate Period, ca. 1800–1550 BC, Copenhagen 1997, S. 221–222; Schneider, Ausländer in Ägypten, S. 157. 48 Rainer Stadelmann, Die 400-Jahr-Stele, in: Chronique d’Egypte 1965, 40, S. 46–60; William J. Murnane, The Kingship of the Nineteenth Dynasty: a Study in the Resilience of an Institution, in: Ancient Egyptian Kingship, ed. David O’Connor and David P. Silverman, Leiden 1995, S. 185–217, bes. 194–197. 49 Antonio Loprieno, Nhsj «der Südländer»?, in: Stationen. Beiträge zur Kulturgeschichte Ägyptens Rainer Stadelmann gewidmet, hg. von Heike Guksch und Daniel Polz, 1998, S. 211–217. 50 Thomas Schneider, Die semitischen und ägyptischen Namen der syrischen Sklaven des Papyrus Brooklyn 35.1446 verso, in: Ugarit-Forschungen 1987, 19, S. 255–282; Ulrich Luft, Asiatics in Illahun. A preliminary report, in: Atti del VI Congresso Internazionale di Egittologia, vol. 2, Turin 1993, S. 291–297. 51 Manfred Bietak, Avaris. The Capital of the Hyksos, London 1996, S. 14–21.


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und Grabmalerei52 und wurde kürzlich unterstützt durch die Entdeckung einer semitischen alphabetischen Schrift in der thebanischen Wüstenregion Wadi-el-Hôl, die in die Mittlere Bronzezeit datiert wird.53 Die Periode der Hyksos ist auch die Zeit in der ägyptischen Geschichte, in die Manethos christliche Leser den Patriarchen Joseph datieren. Eusebius sagt: «Es war in dieser Zeit, dass Joseph zum König von Ägypten ernannt wurde».54 Während die objektiven Gründe für diese Gleichsetzung im Wunsch gesucht werden müssen, die ägyptische Geschichte der biblischen Erzählung anzupassen und als Teil einer globalen Heilsgeschichte darzustellen, sollten wir dennoch betonen, dass die Namen einiger Hyksos an die Erzählung der Patriarchen erinnern.55 Während in der ersten Phase des ersten Millenniums v.Chr. der Epos der Patriarchen eine Erinnerung an die palästinensische Einwanderung nach Ägypten in der Mittleren Bronzezeit enthalten mag, weist die ägyptische Historiographie der hellenistischen Zeit eine interkulturelle Dialektik auf: erstens eine interne Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte; zweitens einen jüdisch-ägyptischen Dialog, der im ptolemäischen kulturellen Horizont verankert ist und dessen Ursprung auf die jüdischen Kolonien in Memphis56 und speziell in Elephantine zurückgeht, welche sich spätestens während der ersten persischen Herrschaft im fünften Jahrhundert57 etabliert hatten. Schliesslich ist auch ein griechisch-ägyptischer Dialog zu beobachten, der mit Hecataeus von Milet im sechsten Jahrhundert begonnen hatte und bis zur Spätantike andauerte.58 Die Erinnerung an die Hyksos stellt deshalb das Rückgrat der nationalen ägyptischen Geschichte während der hellenistischen Zeit dar, indem sie eine ideologische Lektüre dieser geschichtlichen Episode fortsetzt, welche schon in der XVIII. Dynastie in den Inschriften der Hatschepsut im Speos Artemidos59 52 53 54 55 56 57 58 59

Janice Kamrin, The Cosmos of Khnumhotep II at Beni Hasan, London / New York 1999, S. 93–96. Stefan Wimmer / S. Wimmer-Dweikat, The Alphabet from Wadi el-Hôl: a First Try, in: Göttinger Miszellen 2001, 180, S. 107–112. Waddell, Manetho, S. 95–97. Schneider, Ausländer in Ägypten, S. 126–131. Bernd Schipper, Israel und Ägypten in der Königszeit. Die kulturellen Kontakte von Salomo bis zum Fall Jerusalems, Fribourg/Göttingen 1999, S. 242–246. Michael H. Silverman, Biblical Name-Lists and the Elephantine Onomasticon: a Comparison, in: Orientalia 1981, 50, S. 265–331, bes. 294–300. Stanley M. Burstein, Images of Egypt in Greek Historiography, in: Ancient Egyptian Literature. History and Forms, ed. Antonio Loprieno, Leiden 1996, S. 591–604. Alan H. Gardiner, Davies’s copy of the Great Speos Artemidos Inscription, in: Journal of Egyptian Archaeology 1946, 32, S. 43–56, bes. 47f.


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