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18.1.2010
14:13 Uhr
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SCHWABE EPICUREA
SCHWABE EPICUREA
Beate Beer, geb. 1976, studierte in Zürich und Oxford deutsche und lateinische Sprach- und Literaturwissenschaft und wurde 2008 in Zürich promoviert. Sie ist als Bibliotheksassistentin und Lehrbeauftragte am Klassisch-Philologischen Seminar der Universität Zürich tätig.
I S B N 978-3-7965-2595-7
Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch
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783796 525957
Beer
Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura ist durch vier grundlegende poetologische Merkmale gekennzeichnet: mimetische Wortanordnung, bildliche Sprache, detaillierte Zerlegung des Sachverhalts und ein spezifisches Lehrer/Schüler-Verhältnis. Diese Charakteristika verweisen alle auf Philodem. Die mimetische Wortanordnung fügt sich in den Kontext von Philodems De poematis, in dem als Kriterium für gute Dichtung die Einheit von Inhalt und Form gefordert wird. Die bildliche Sprache korrespondiert dem Konzept einer allgemeinen Ähnlichkeit, das auf dem epikureischen Atomismus beruht und das Philodem in De signis zur theoretischen Fundierung des Analogieschlusses als eines adäquaten Mittels zur Erkenntnisgewinnung entwickelt. Die detaillierte, auf größtmögliche Explizitheit zielende Zerlegung des Sachverhalts reflektiert die rhetorische Tugend der Klarheit, die in Philodems Rhetorica eine ausführliche Behandlung erfährt. Das in der Gattung des Lehrgedichts zum Ausdruck kommende Lehrer/Schüler-Verhältnis ist durch die epikureische Unterweisung geprägt, die auf die emotionale Erschütterung des Schülers abzielt und die Philodem in De libertate dicendi wiederholt durch die Analogie zur medizinisch-therapeutischen Reinigung erklärt.
Lukrez und Philodem
Texte, Kommentare und Studien zu Epikur und zur epikureischen Tradition Herausgegeben von Michael Erler und Wolfgang Rother
Beate Beer
Lukrez und Philodem Poetische Argumentation und poetologischer Diskurs
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SCH WABE EPICUREA I
HER AUS GEGEBEN VO N MICH AEL ERL ER UND WOLFGANG R OTH ER
WISS ENSCHAFTLICH ER BEIRAT GR AZIANO AR RIGH ETTI, PISA JÜR GEN H AM M ERS TAEDT, K ÖLN CARLOS L ÉVY, PAR IS ANTH ONY A. LO NG, BER KEL EY FR ANCES CA LO NGO AURICCH IO, NAPOL I ANTO NY M CK ENNA, SAINT-ÉTIENNE GÜNTHER M ENS CH ING, H ANNO VER MAR TIN M ULSO W, GO TH A DIRK O BBINK , O XFO RD GIANNI PAGANINI, VER CELL I DAVID S EDLEY, CAMBRIDGE EDOARDO TO R TAROLO , VER CELLI
SCH WABE VERL AG BAS EL
BEATE BEER
LU K R E Z U N D P HI LO D E M POETIS CH E AR GUMENTATIO N UND PO ETOLO GIS CH ER DISK URS
SCH WABE VERL AG BAS EL
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Zürcher Fonds für Altertumswissenschaften
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühlingssemester 2008 auf Antrag von Prof. Dr. Therese Fuhrer und Prof. Dr. Manuel Baumbach als Dissertation angenommen.
© 2009 by Schwabe AG, Verlag, Basel Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 3-7965-2595-7 www.schwabe.ch
Inhalt
Vorwort .................................................................................. 9 Abkürzungen ........................................................................... 10 Zur Verwendung der diakritischen Zeichen ...................................... 12 Einleitung: Lukrez und Philodem als Zeitgenossen, dichtende Epikureer – und gemeinsam auf dem Belvedere? ................... 13 Erstes Kapitel: Lukrez: Forschungsüberblick ..................................... 25 1.1 Philosophische Lehre und Argumentation des Dichters ............... 26 1.2 Dichterische Sprache und Stil des Philosophen ......................... 29 Zweites Kapitel: Philodem: Forschungsüberblick ............................... 34 2.1 Leben: Historische Rekonstruktion und literarische Fiktion .......... 36 2.2 Lehre: Positionierung innerhalb der epikureischen Lehre .............. 45 Drittes Kapitel: De poematis und De rerum natura .................................. 54 3.1 Philodem, De poematis: Grenzen und Möglichkeiten von Dichtung .. 69 3.1.1 Zur ethisch-erzieherischen Wirkung .............................. 71 3.1.2 Zum Verhältnis von Inhalt und Form ............................ 88 3.2 Epikur: Die epikureische Erkenntnistheorie als Quelle poetologischer Maximen .................................................... 106 3.3 Lukrez: Zur materialistischen Poetik in De rerum natura ............... 117 3.3.1 Mimetischer Wortgebrauch ........................................ 118 3.3.2 Mimetische Syntax ................................................... 126 3.3.2.1 Erkenntnis durch visuelle Wahrnehmung ............ 128 3.3.2.2 Erkenntnis durch akustische Wahrnehmung ......... 146 3.3.3 ‘Daedalus poeta’: Zum künstlerischen Anspruch des ‘bildenden Dichters’ ............................................ 154 3.4 Fazit: Lukrez und Philodem als Exponenten des poetologischen Diskurses im Jungepikureismus ........................................... 161
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Inhalt
Viertes Kapitel: De signis und De rerum natura .................................... 166 4.1 Philodem, De signis: Blick auf den Bereich des nicht Wahrnehmbaren durch Analogie ....................... 172 4.1.1 Die späthellenistische philosophische Kontroverse um Analogie als Methode .................................... 182 4.1.2 Zum Begriff der Ă„hnlichkeit als Grundlage des Analogieschlusses ........................................ 197 4.2 Epikur: Zum Begriff der Ă„hnlichkeit als Ausgangspunkt fĂźr bildliche Rede ...................................................... 203 4.3 Lukrez: Zur Bildlichkeit in De rerum natura ........................ 210 4.3.1 Argumentation durch bildliche Sprache: Theoretische Ăœberlegungen ................................. 211 4.3.2 Zur philosophischen BegrĂźndbarkeit bildlicher Sprache in De rerum natura ....................... 219 4.3.2.1 Textura aufgrund von Ă„hnlichkeit ............... 221 4.3.2.2 Gleiche WĂśrter fĂźr gleiche Sachverhalte ........ 231 4.3.2.3 Konzeptuelle Metaphern .......................... 239 4.3.3 Zur Poetizität bildlicher Sprache in De rerum natura ..... 251 4.3.3.1 Calliopes callidae iunctura: Poetizität durch Wortkombination ........................... 251 4.3.3.2 Iunctura – : Zur Deutung eines poetologischen Schlagworts ............... 259 4.3.3.3 Poetizität als Topos: Die bildliche Sprache in den ProĂśmien .................................... 269 4.4 Fazit: Lukrez und Philodem als Exponenten des semiotischen Diskurses im Jungepikureismus ............... 291 FĂźnftes Kapitel: Rhetorica und De rerum natura ................................... 295 5.1 Philodem, Rhetorica: Epideixis als Argumentation ................ 300 5.1.1 Zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie .......... 303 5.1.2 Rhetorik als ? ........................................... 313 5.1.3 und : Zur Bedeutung der Klarheit in Philodems Rhetorica ........................................ 325 5.2 Epikur: Erkenntnistheoretische und rhetorische ........................................... 337 5.3 Lukrez: Zum Zusammenspiel von und in De rerum natura III ................................................... 342 5.3.1 Die Diatribe gegen die Todesfurcht in Lucr. III ......... 347 5.3.2 Philodem, De morte: Die Relativierung der Widerlegung der Todesfurcht .......................... 352
Inhalt
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5.3.3 Drastische Anschaulichkeit in Lucr. vs. distanzierendes Lachen in Mort. ........................ 355 5.3.4 Anschaulichkeit als Voraussetzung der Reflexion ....... 395 5.4 Fazit: Lukrez und Philodem als Exponenten des rhetorischen Diskurses im Jungepikureismus ................ 401 Sechstes Kapitel: De libertate dicendi und De rerum natura ........................ 406 6.1 Philodem, De libertate dicendi: Der Schüler als Freund ............ 413 6.1.1 als ? Zur Methodik des epikureischen Lehrgesprächs ........................... 418 6.1.2 Der Schüler als Patient: Verschiedene Dosierungen von ................................................. 424 6.2 Epikur: Philosophie als Therapie der Seele ........................ 430 6.3 Lukrez: Zur therapeutischen Ausrichtung von De rerum natura ............................................ 436 6.3.1 Das Lehrgedicht: Zur theoretischen Diskussion der Textsorte ................................................... 442 6.3.2 Zum didaktischen Ich: Der Anspruch auf Autorität .... 451 6.3.3 Zum didaktischen Du: Memmius als Identifikationsfigur? ..................................................... 460 6.3.4 Lucida carmina – aurea dicta – flavus liquor: De rerum natura als poema medicans ............................ 472 6.3.5 Emotionale Distanz als Wirkung von Dichtung und Philosophie in Lucr. II,1–19 ........................... 479 6.4 Fazit: Lukrez und Philodem als Exponenten des therapeutischen Diskurses im Jungepikureismus ............ 494 Schluss .................................................................................. 499 Literaturverzeichnis .................................................................. 507 Personenregister ...................................................................... 528 Sachregister ............................................................................ 531 Verzeichnis griechischer Begriffe .................................................. 535 Verzeichnis lateinischer Begriffe ................................................... 535
Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Frühlingssemester 2008 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Dieses Vorwort ist die Gelegenheit, all denen zu danken, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Therese Fuhrer hat die Arbeit angeregt, auch aus der Distanz von Freiburg i. Br. bzw. München und schließlich Berlin betreut und im Erstgutachten beurteilt. Manuel Baumbach hat mit viel Engagement in der Endphase Beobachtungen beigesteuert und das Korreferat übernommen. Dank eines Stipendiums des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung konnte ich das akademische Jahr 2006/07 am Christ Church College in Oxford verbringen und bei Dirk Obbink Einblick in die Papyrologie gewinnen. Ihm sei für sein Interesse am Projekt gedankt. Tobias Reinhardt hat Teile des Manuskripts kritisch gelesen und mich vor zahlreichen Irrtümern bewahrt. Michael Erler und Wolfgang Rother danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Schwabe Epicurea. Die Drucklegung wurde großzügig unterstützt durch den Schweizerischen Nationalfonds und den Zürcher Fonds für Altertumswissenschaft. Über die Jahre hinweg habe ich mich mit zahlreichen Freunden und Bekannten zum Thema ausgetauscht. Die wertvollsten Diskussionen verdanke ich dabei zweifellos Holger Essler und Kaspar Howald. Ohne die Hilfe von Lucius Hartmann hätte ich die Publikation nicht so zügig abschließen können. Der entscheidende Beitrag zu diesem Buch geht jedoch auf die Unterstützung meiner Eltern sowie meines Mannes zurück. Ihnen dreien sei es daher gewidmet. Zürich, im September 2009
Abkürzungen AClass
Acta classica. Proceedings of the Classical Association of South Africa (Pretoria). Aevum(ant) Aevum antiquum (Milano). AFLN Annali della Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Napoli. AJPh American Journal of Philology (Baltimore). ANRW Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, hg. von Hildegard Temporini (Berlin/New York 1972). AU Der altsprachliche Unterricht. Latein, Griechisch (Seelze). BICS Bulletin of the Institute of Classical Studies (London). CErc Cronache Ercolanesi (Napoli). CJ The Classical Journal (Ashland, Va.). ClAnt Classical Antiquity (Berkeley, Calif.). CPh Classical Philology (Chicago, Ill.). CQ The Classical Quarterly (Oxford). DK Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz (Berlin 61952). DNP Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider (Stuttgart/Weimar 1996). G&R Greece & Rome (Oxford). ICS Illinois Classical Studies (Champaign, Ill.). JCPh Jahrbücher für classische Philologie (Leipzig). JRS The Journal of Roman Studies (London). LSJ A Greek-English Lexicon, hg. von Henry George Liddell und Robert Scott, überarbeitet von Sir Henry Stuart Jones und Roderick McKenzie, mit einem Supplement (Oxford 1996). MD Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici (Pisa).
Abkürzungen
MDAI(A)
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Mitteilungen des deutschen archäologischen Institutes (Athenische Abteilung) (Berlin). MEFRM Mélanges de l’École Française de Rome. Moyen Âge (Rome: École française de Rome/Paris). MH Museum Helveticum. Schweizerische Zeitschrift für klassische Altertumswissenschaft (Basel). OLD Oxford Latin Dictionary, hg. von P. G. W. Glare (Oxford 1982). OSAPh Oxford Studies in Ancient Philosophy (Oxford). PAS Proceedings of the Aristotelian Society (Oxford). PCPhS Proceedings of the Cambridge Philological Society (Cambridge). Ph&PhenR Philosophy and Phenomenological Research (Providence, R. I.). RAC Realenzyklopädie für Antike und Christentum, begründet von Theodor Klauser u. a. (Stuttgart 1950). RE Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, hg. von Georg Wissowa (Stuttgart 1894). REA Revue des études anciennes (Pessac). REL Revue des études latines (Paris). RFIC Rivista di filologia e d’istruzione Classica (Torino). RhM Rheinisches Museum für Philologie (Frankfurt am Main). RIGI Rivista Indo-Greco-Italica di filologia, lingua, antichità (Napoli). RIL Rendiconti. Istituto Lombardo (Milano). SEP Studi di egittologia e di papirologia. Rivista internazionale (Pisa). SIFC Studi italiani di filologia classica (Firenze). TAPhA Transactions and Proceedings of the American Philological Association (Baltimore). ThLL Thesaurus Linguae Latinae, editus auctoritate et consilio academiarum quinque Germanicarum Berolinensis Gottingensis Lipsiensis Monacensis Vindobonensis (Leipzig 1900). WJA Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft (Würzburg). WS Wiener Studien. Zeitschrift für Klassische Philologie, Patristik und lateinische Tradition (Wien). YClS Yale Classical Studies (New York). ZPE Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik (Bonn).
Zur Verwendung der diakritischen Zeichen Die Verwendung der diakritischen Zeichen in den Zitaten aus den herkulanensischen Papyri folgt den einzelnen Ausgaben der in dieser Arbeit herangezogenen Schriften Philodems:
schwer leserliche Buchstaben
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vom Herausgeber rekonstruierte Buchstaben
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Einleitung Lukrez und Philodem als Zeitgenossen, dichtende Epikureer – und gemeinsam auf dem Belvedere? Die Tatsache, dass Lukrez und Philodem beide Epikureer waren, als Zeitgenossen in Italien lebten und außerdem ihre dichterische Tätigkeit von einer unüblichen Auseinandersetzung mit der epikureischen Lehre zeugt, legt es nahe, beide Philosophen-Dichter in Verbindung zu bringen, nach Gemeinsamkeiten in ihrem Werk zu fragen oder sogar nach einem möglichen Einfluss des einen auf den anderen zu suchen. Beide, Lukrez und Philodem, stellen durch ihre Dichtung und poetologische Reflexion das in der Antike wie heute gängige Bild des orthodoxen Epikureers in Frage, der Bildung und besonders Dichtung als für das Ziel der nutzlos, ja diesem Ziel hinderlich ablehnt.1 Lukrez und Philodem erscheinen aufgrund dieser äußeren Gemeinsamkeiten sowie des geteilten Interesses an Dichtung und dichtungstheoretischen Fragen als Handlungsträger auf derselben philosophiegeschichtlichen Bühne. Auf vagen Assoziationen gründende Verbindungen zwischen Lukrez’ und Philodems Werk lassen sich entsprechend einfach herstellen. Dies soll in den folgenden Abschnitten an einem Beispiel gezeigt werden, das wegen seiner biographistischen Ausrichtung als besonders charakteristisch erscheint. Im Proömium zum zweiten Buch von De rerum natura wird das Ziel der epikureischen Lehre in ein Bild gefasst. Ein – epikureischer – Betrachter sitzt auf einem Küstenvorsprung, von wo aus er unberührt einen Schiffbruch mit-
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Zur Beurteilung des ethisch-erzieherischen Wertes von Dichtung in der epikureischen Lehre vgl. E. Bignone: L’Aristotele perduto, F. Giancotti: La poetica epicurea, M. Erler: Orthodoxie und Anpassung, D. Sider: Epicurean Poetics, E. Asmis: Epicurean Poetics, und D. Obbink: Poetry about Gods, sowie Kapitel 3.1.1.
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Einleitung
verfolgt.2 Mit diesem Bild stellen die Verse in Lucr. II,1â&#x20AC;&#x201C;13 die wahren, durch die epikureische Lehre vermittelten Werte den scheinbaren Werten der Gesellschaft gegenĂźber.3 Das Streben nach Ruhm, Reichtum und Macht endet fĂźr den Einzelnen in einem Schiffbruch, während der Epikureer um die Nichtigkeit dieser vermeintlichen GĂźter weiĂ&#x;. Die psychische Sicherheit ( * ), die durch die Verinnerlichung der epikureischen Lehre erlangt wird, ist im Platz konkretisiert, den der Betrachter auf dem KĂźstenvorsprung einnimmt. Lukrezâ&#x20AC;&#x2122; Zeitgenosse und â&#x20AC;&#x2DC;Mitepikureerâ&#x20AC;&#x2122; Philodem zieht in Epigr. 29 (Sider) ein vergleichbares Bild heran. Ă&#x201E;hnlich wie bei Lukrez dient auch bei Philodem der Platz auf dem KĂźstenvorsprung zur Veranschaulichung einer ruhigen, sicheren Lebensweise, die dem Streben nach den in Lucr. II,1â&#x20AC;&#x201C;13 verurteilten Auszeichnungen entgegengesetzt ist. In Epigr. 29 werden zwei verstorbene Freunde beklagt: ) Îź' & ) $ % ,/ 1 â&#x20AC;&#x2122; ! - $ (Îź & Îź . Der Tod der Freunde hat unmittelbare Folgen fĂźr das Leben der Hinterbliebenen, die ihre täglichen Gewohnheiten unterbrechen und ungeachtet des milden FrĂźhsommers etwa darauf verzichten, den auf einem KĂźstenvorsprung gelegenen, gemeinsamen Aussichtsplatz aufzusuchen:4 Îź 0 â&#x20AC;&#x2122; " â&#x20AC;&#x2122; / * Îź " â&#x20AC;&#x2122; , / ,Îź â&#x20AC;&#x2122; # *, . , + , . Folgt man der biographistischen Deutung von Gigante, so wird in diesem Epigramm durch den Verweis auf den Aussichtspunkt ( ) das Belvedere bezeichnet, das der Villa dei Papiri in Herculaneum angeschlossen war, die gemeinhin als Philodems Aufenthaltsort gilt.5 Gleichzeitig stellt Gigante eine Verbindung zur Topographie her, die in Lucr. II,1â&#x20AC;&#x201C;13 vor den Augen des Lesers entworfen wird.6 2 3 4 5 6
Zum ProĂśmium des zweiten Buches vgl. die Kapitel 4.3.3.3, 5.3.4 und 6.3.5. Vgl. D. Fowler: Lucretius on Atomic Motion, 23. Vgl. D. Sider (Hg.): The Epigrams of Philodemus, 164f. Vgl. dazu Kapitel 2.1. M. Gigante: Philodemus in Italy, 53f., zu Lucr. II,1f.: ÂŤThe structure of the following passage finds a remarkably precise echo in the architectural plan of the Villa; one could recognize in the tower, which dominates the sea, the imaginery belvedere ... This interpretation is suggestive and plausible. But we appeal less to our imagination if we adduce an epigram [scil. Epigr. 29 (Sider)] by Philodemus ... that contains a detailed reference to the belvedere of the Herculaneum Villa.Âť Wie H. Solin: Wandinschriften, 250, ausfĂźhrt, ist davon auszugehen, dass das ProĂśmium des zweiten Buches im 1. Jh. v. Chr. in Kampanien als epikureisches Motto allgemein bekannt
Lukrez und Philodem als Zeitgenossen
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Diese soeben skizzierte vergleichende Interpretation setzt eine gewisse geistige Nähe der beiden Texte voraus. Diese ist durch Lukrez’ und Philodems gemeinsame Anhängerschaft zur epikureischen Lehre klar gegeben. Da es sich bei den beiden Dichtern außerdem um in Italien wirkende Zeitgenossen handelt, wäre – und dies ist als Gedankenspiel zu verstehen – auch eine gegenüber der hier gegebenen ‘verschärfte’ Interpretation denkbar: Dann nähme Philodem in Epigr. 29 die ‘epikureische Topographie’ von Lucr. II,1– 13 unmittelbar auf und würde den darin ausgedrückten Gedanken der psychischen Sicherheit und Distanz im Kontext des Todes relativieren sowie um das bei Lukrez fehlende Moment der Freundschaft ergänzen. Damit liegt in Philodems Epigramm der Fokus auf der starken emotionalen Berührtheit der Freunde. Der Felsen der psychischen Sicherheit ist verlassen. Es ist aber gerade die Vertrautheit unter den Freunden, die den Platz auf dem sicheren Felsen substituiert. Im Gegensatz dazu erscheint der im Proömium zu Lucr. II dargestellte Betrachter eher isoliert. Die konsequente Darstellung der Gelassenheit, die den Rezipienten von Lucr. II,1–13 irritieren mag,7 hat Philodem in seiner Umsetzung des Motivs zurückgenommen, um vielmehr die dem Rezipienten vertrauten Gefühle zu thematisieren. Diese Interpretation soll hier umgehend wieder zurückgenommen werden, jedoch nicht ohne dass auch die entgegengesetzte Perspektive, die eine Interpretation des Proömiums aufgrund des Epigramms verfogt, in den Blick genommen wird.8 Eine solche Interpretation legt Schroeder unter Berufung auf
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war. Das legt das Zitat suave mari magno nahe, das Solin als Wandinschrift in Pompeji belegt. Vgl. B. Seidensticker: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen, 229–232, zur Rezeption des Proömiums seit dem 17. Jh. Die Bestimmung einer Abhängigkeit zwischen Lukrez und Philodem kann sich nicht auf die Datierung der Epigramme stützen. Zur Frage, ob sich Philodems dichterische Tätigkeit auf eine bestimmte Lebensphase beschränken lässt, vgl. D. Sider (Hg.): The Epigrams of Philodemus, 40. Was die autobiographische Deutung von Epigr. 29 (Sider) betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass nicht vor 55 v. Chr. mit dem Bau der Villa dei Papiri begonnen wurde; vgl. Sider, 18. Für die Datierung von De rerum natura wird aufgrund von Ciceros Bemerkung in ad Q. fr. II,10,3 von 54 v. Chr. als terminus ante quem ausgegangen; anders G. Hutchinson: The Date of De rerum natura, der dafür argumentiert, dass im Proömium zu Lucr. I auf den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius Bezug genommen wird, und dementsprechend für die Veröffentlichung
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Einleitung
Gigante nahe. Schroeders Interpretation bleibt dabei allerdings ähnlich vage wie der hier vorgeführte Versuch, Epigr. 29 (Sider) als Reaktion auf Lucr. II,1–13 zu lesen.9 Sowohl das obige Gedankenspiel einer Interpretation des Epigramms aufgrund des Proömiums als auch Schroeders Unbestimmtheit in der Interpretation des Proömiums aufgrund des Epigramms lassen deutlich werden, dass eine Entscheidung für die Abhängigkeit des einen Dichters vom anderen, die sich lediglich auf die beiden vorliegenden Passagen stützt, allein auf Willkür beruhen muss. Die Tatsache, dass Schroeder Gigantes biographistische Interpretation eines Philodem-Epigramms auf De rerum natura ausweiten kann, verdeutlicht die Beliebigkeit, auf der eine solche Deutung beruhen muss, und lässt dadurch Schroeders Prämisse, dass Lukrez sich von Philodem inspirieren ließ, fragwürdig erscheinen. Außerdem zeigt sich Schroeder der gängigen Vorstellung eines ausschließlich in eine Richtung verlaufenden kulturellen Austausches zwischen Griechenland und Italien verhaftet.10 Diese apodiktische Haltung scheint einem in der Quellenforschung begründeten
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von De rerum natura 49 v. Chr. vorschlägt. Dies schließt aber nicht aus, dass Teile des Werks schon früher entstanden sind. Vgl. F. Schroeder: Avocatio and the Pathos of Distance, 145: «The prooemium of Book 2 of the De rerum natura leaves it uncertain where the ideal spectator is located. He perceives the drowning sailors e terra («from land,» 2.2). The words templa serena provide an architectural reference (2.8), and the use of despicere (2.9) suggests a view from a height. Perhaps, if the belvedere were present during the tenure of Philodemus, as Gigante thinks, Lucretius was thinking of the same belvedere. If Lucretius is not referring to the belvedere of the Villa dei Papiri, we may still legitimately think that the view is from a building overlooking the sea. Perhaps the prooemium of Lucretius Book 2 owes a literary debt to the epigram of Philodemus in expressing the pathos of distance.» Schroeder geht von der These aus, dass sich Lukrez’ Abhängigkeit von Philodem in einer Technik der Visualisierung zeige, die so in den überlieferten Fragmenten Epikurs nicht zu finden sei und damit eine Neuerung der epikureischen Lehre im 1. Jh. v. Chr. darstelle; vgl. aber die Argumentation gegen Schroeders These in den Kapiteln 5 und 5.4. F. Schroeder: Avocatio and the Pathos of Distance, 142: «It may be objected that the influence runs in the other direction, that is, since Philodemus and Lucretius were contemporaries, it was not Philodemus who influenced Lucretius, but vice versa. To this I would reply that we do not find Greek poets or philosophers imitating Latin poets or philosophers, although Latin poets and philosophers imitate Greek poets and philosophers. I shall also be making the argument that it is Philodemus’ De morte that influences Lucretius, particularly in Book 3 of the De rerum natura where Lucretius offers consolatio for death.»
Lukrez und Philodem als Zeitgenossen
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Automatismus zu entspringen, wonach bei gleicher Thematik lateinischer und griechischer Texte der lateinische als Nachbildung zu betrachten ist, deren Übernahmen im Einzelnen zu bestimmen sind. Schon bald nach der Edition der ersten Papyri mit Texten Philodems11 wurden Verbindungen zwischen Lukrez und Philodem gezogen. Die Äußerungen in der Forschungsliteratur zur Beziehung zwischen Lukrez und Philodem wirken jedoch vielfach eher assoziativ. So ist bei Della Valle in einem Nebensatz zu lesen, dass Lukrez die ‘Schule’ Philodems besucht habe.12 Auch Kullmann sieht Lukrez als Schüler13 Philodems, und ebenso impliziert Kilpatrick einen bestimmenden Einfluss Philodems auf Lukrez.14 Wallach hält fest, dass Lukrez in der Beschreibung des rastlosen Menschen (Lucr. III,1060– 1070) der in Ir. col. 1 beschriebenen Maxime Philodems folge, wonach das, wovon der Patient geheilt werden soll, ihm zunächst anschaulich vor Augen gehalten werden müsse.15 Gigante hat zwar keine seiner zahlreichen Publikationen zu den herkulanensischen Papyri und dem römischen Epikureismus dem Verhältnis zwischen Philodem und Lukrez gewidmet, sich aber doch wiederholt zu diesem Thema geäußert. So punktuell und disparat wie die dahingehenden Äußerungen in seinen Arbeiten, so uneinheitlich sind auch seine einzelnen Aussagen. Während Gigante bezüglich des Absinthvergleichs eine Abhängigkeit Lukrez’ von Philodems De libertate dicendi erkennt, sieht er Philodem in De morte von Lukrez’ Tod inspiriert.16 Sbordone, Barra und Erler, die 11 12
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Zur Überlieferungssituation und den ersten Editionen vgl. Kapitel 3. G. Della Valle: L’amore in Pompei, 140: «Nella prossima e congeniale Ercolano, centro della grande scuola epicurea di Filodemo, frequentata da Lucrezio.» W. Kullmann: Beweismethoden, 216. R. S. Kilpatrick: Medicine and Epicurean Therapy, 86: «The Epicurean poet and philosopher Philodemus of Gadara (110–40/35 B.C.) has left detailed evidence for their methods of psychotherapy. When he arrived in Rome in the 70s he quickly became a familiar figure as the client of Lucius Calpurnius Piso Caesoninus, and Lucretius could certainly have encountered him.» B. Wallach: Lucretius and the Diatribe, 98. M. Gigante: Ricerche Filodemee, 165, zu Philodems De morte: «Accanto agli innegabili rapporti che intercorrono tra l’opera filodemea e il terzo libro De rerum natura di Lucrezio.» M. Gigante: Philosophia Medicans, 58f., im Zusammenhang mit De libertate dicendi: «Lucrezio forse conosceva questi passi filodemei quando trasponeva nell’amaro infuso dell’assenzio la dottrina epicurea, avversata dal popolo perché dura e non praticata, e bagnava la sua esposizione col liquido miele, la dolce grazia delle Muse.»
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Einleitung
sich auf die dichtungstheoretischen Traktate Philodems stĂźtzen, ziehen in Erwägung, gewisse Passagen als Reaktion auf De rerum natura zu betrachten.17 Kleve hat den Gedanken eines Austausches zwischen den beiden epikureischen Dichter-Philosophen im pointierten Titel ÂŤLucretius in HerculaneumÂť festgehalten. Darin beschreibt Kleve drei Papyrus-Fragmente, in denen Passagen aus De rerum natura zu erkennen seien, und schlieĂ&#x;t daraus auf enge Kontakte zwischen Lukrez und der epikureischen Schule in Herculaneum, die auch eine Lukrez-Rezeption durch Philodem nach sich ziehen.18 Tait, die den Einfluss der Epigramme Philodems auf die zeitgenĂśssische Dichtung bestimmt, sieht allerdings einzig zwischen Philodem und Lukrez keinerlei AnknĂźpfungsmĂśglichkeiten.19 Auch Maslowski und Clay schlieĂ&#x;en eine Verbindung zwischen den beiden Epikureern ebenso wie Sedley mehr oder weniger rigoros aus.20
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Vgl. dagegen M. Gigante: Philodemus in Italy, 44: ÂŤWriting after the year 50 B.C., Philodemus could remember the different tragic deaths of Lucretius and Cicero.Âť F. Sbordone (Hg.): Il quarto libro del Îź , 359; G. Barra: Filodemo di Gadara e le Lettere Latine, 249: ÂŤCome giustamente osserva lo Sbordone, nelle righe di Filodemo: | |[ ] [ ], la menzione delle â&#x20AC;&#x2DC;opere di naturaâ&#x20AC;&#x2122; sembra fatta apposta per richiamare alla mente il De rerum natura lucreziano.Âť M. Erler: Epikur â&#x20AC;&#x201C; Die Schule Epikurs â&#x20AC;&#x201C; Lukrez, 313, zu PHerc. 403 frg. 4: ÂŤDie Gegner werden von Philodem als , d.h. als zeitgenĂśssische Epikureer bezeichnet ... . Die Vermutung ist erwägenswert, in Philodems Bemerkung einen Bezug auf Lukrezâ&#x20AC;&#x2122; â&#x20AC;&#x2DC;De rerum naturaâ&#x20AC;&#x2122; anzunehmen.Âť K. Kleve: Lucretius in Herculaneum. Zur Diskussion um die drei Papyrus-Fragmente PHerc. 1829â&#x20AC;&#x201C;31 vgl. D. Obbink: Herculaneum library, der Kleves Zuweisung unterstĂźtzt. J. Tait: Philodemusâ&#x20AC;&#x2122; Influence, 110, ausgehend von den Epigrammen Philodems: ÂŤLucretius is the only outstanding poet whose work bears no trace of the influence of Philodemus. ... Although he must have known Philodemus, and would undoubtedly be familiar with his Epicurean tracts, the De rerum natura reveals no trace of the influence of Philodemusâ&#x20AC;&#x2122; epigrams; nor could anything be further removed from the religious fervour which motivates and dominates Lucretiusâ&#x20AC;&#x2122; poem than the neatlyturned, light-hearted bantering of Philodemus.Âť T. Maslowski: Cicero, Philodemus, Lucretius, 218: ÂŤAn attempt to connect Lucretius with the Neapolitan garden must be adjudged futile. There is no evidence to support this and a comparison of Philodemus and Lucretius definitely sets them apart.Âť D. Clay: Lucretius and Epicurus, 24f.: ÂŤLucretius, however, gives no indication that he depended on any but Epicurus for his philosophy and inspiration; nor do
Lukrez und Philodem als Zeitgenossen
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In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden, diese in der Forschungsliteratur so disparat, widersprüchlich und assoziativ beschriebene Beziehung umfassender als bisher zu bestimmen. Aus dem Überblick wird deutlich, dass die Schlüsse selten auf der Grundlage einer Untersuchung zur Ausprägung der epikureischen Lehre bei Lukrez und Philodem gezogen sind,21 sondern auf biographistischen Interpretationen oder auf einzelnen philosophischen Exempla und literarischen Motiven gründen, auf die in den Werken beider zurückgegriffen wird. Da sowohl philosophische Exempla als auch literarische Motive Gemeinplätze einer Kulturgemeinschaft darstellen, können sie bei der Bestimmung der Beziehung zweier Schriftsteller kaum als aussagekräftig gelten. Sie werden erst dann relevant, wenn bei beiden eine gemeinsame Abweichung von der konventionellen Anwendung festgestellt werden kann. Aus dem Überblick über die Forschungsliteratur kann daher in einer ersten Schlussfolgerung festgestellt werden, dass eine Bestimmung der Beziehung zwischen Lukrez und Philodem eher anhand von Philodems philosophischen Schriften, als auf der Grundlage der Epigramme geleistet werden kann. Die Toposhaftigkeit literarischer Motive scheint kaum Aussagen über ihre spezifische Behandlung bei Lukrez und Philodem zuzulassen, die über die Feststellung des epikureischen Hintergrunds beider Dichter hinausgingen. Ferner bieten die Epigramme keine Darlegung des epikureischen Lehrgebäudes, auch wenn in ihnen in eklektischer Weise durchaus einzelne philosophische Gedanken aufgegriffen sein können. In der vorliegenden Arbeit sollen daher Philodems Epigramme ausgeklammert werden. Die Untersuchung wird sich vielmehr auf Philodems theoretische Schriften konzentrieren, um ähnliche Gewichtungen in der Darlegung der epikureischen Lehre bei Lukrez und bei Philodem herauszuarbeiten. Insbesondere wird das Augenmerk auf die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem der epikureischen Lehre angemessenen sprachlichen Ausdruck gerichtet sein. In dieser Diskussion scheinen beide in gleichem Maße von der orthodoxen Lehrmeinung abzuweichen, und hier ist am ehesten mit einer relevanten Gemeinsamkeit zu rechnen.
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the surviving writings of these Epicureans contradict Lucretius’ explicit statements.» Vgl. D. Sedley: Lucretius and the Transformation. Abgesehen von Kullmann und Kilpatrick, der aber nur am Rande auf die Beziehung zwischen Lukrez und Philodem eingeht.
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Einleitung
Daneben sollen in den folgenden Ausführungen auch mögliche Erkenntnisse, die aus der papyrologischen Untersuchung der herkulanensischen Papyri gewonnen werden können, ausgeblendet werden. Sie sind für die in dieser Arbeit vertretene These, dass Philodems Traktate zur Begründung der dichterischen Form von De rerum natura herangezogen werden können, irrelevant. Neben die biographistischen Deutungen der älteren Forschung und die aktuelle papyrologische Diskussion über die Frage, ob ein Exemplar von De rerum natura zum Bestand der Villa dei Papiri in Herculaneum gehörte und damit neben den Schriften Philodems archiviert wurde, soll mit dieser Arbeit also eine inhaltliche Untersuchung beider Textkorpora treten.22 Unabhängig davon, ob Lukrez und Philodem gemeinsam auf dem Belvedere saßen,23 oder ob das Werk beider in derselben Bibliothek greifbar war, sind Unterschiede oder gemeinsame Spezifika ihrer intellektuellen Tätigkeit letztlich nur durch die Untersuchung der in ihren Texten dargelegten Lehre festzustellen. Neben der beobachteten Disparatheit ist allen in der Forschungsliteratur vorgebrachten Äußerungen gemeinsam, dass sie die Beziehung zwischen Lukrez und Philodem als ein Abhängigkeitsverhältnis verstehen, in welchem entweder Lukrez, der römische Dichter, auf Philodem, den griechischen (dichtenden) Philosophen, zurückgreift oder umgekehrt. Aufgrund der gegensätzlichen Stellungnahmen zum Verhältnis zwischen den Werken Philodems und Lukrez’ ergibt sich als zweites Fazit, dass das Abhängigkeitsverhältnis – wenn man denn an einem solchen festhalten möchte – für jeden Traktat Philodems neu zu bestimmen ist. Dieser Sachverhalt lässt allerdings eine offenere Betrachtungsweise, in der Lukrez und Philodem beide als Exponenten eines gemeinsamen poetologischen Diskurses gesehen werden, grundsätzlich als angemessener erscheinen.24 Unter Diskurs wird in dieser Arbeit nach Ger22
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Zur Diskussion vgl. M. Capasso: Filodemo e Lucrezio, sowie: Per l’itinerario della papirologia ercolanese, und K. Kleve: Lucretius in Herculaneum, sowie: Lucretius’ Book II in PHerc. 395. Dass Lukrez die griechische Sprache beherrschte, wird durch seine Auseinandersetzung mit Epikurs Schriften vorausgesetzt (vgl. Lucr. III,9–13). Umgekehrt wird wohl auch Philodem Latein gesprochen haben, wird er doch von Cicero in Pis. 74 als enger Vertrauter Pisos bezeichnet: quaere ex familiari tuo Graeco illo poeta. Zum griech.lat. Bilingualismus in der Antike vgl. J. N. Adams: Bilingualism, 15f., wo unter Hinweis auf Gell. 19,9 ausgeführt wird, dass auch Griechen über genügend Lateinkenntnisse verfügten, um verschiedene Dialekte von Muttersprachlern zu beurteilen. Vgl. am ehesten G. Barra: Filodemo di Gadara e le Lettere Latine, 249.