Frühgriechische Philosophie

Page 1

Grundriss der Geschichte der Philosophie

Die Philosophie der Antike 1

FrĂźhgriechische Philosophie Erster Halbband Herausgegeben von Hellmut Flashar, Dieter Bremer und Georg Rechenauer

Schwabe




GRUNDRISS DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE BEGRÜNDET VON FRIEDRICH UEBERWEG

VÖLLIG NEU BEARBEITETE AUSGABE HERAUSGEGEBEN VON HELMUT HOLZHEY

SCHWABE VERLAG BASEL


DIE PHILOSOPHIE DER ANTIKE BAND 1

FRÃœHGRIECHISCHE PHILOSOPHIE HERAUSGEGEBEN VON HELLMUT FLASHAR, DIETER BREMER UND GEORG RECHENAUER

SCHWABE VERLAG BASEL 2013


Publiziert mit UnterstĂźtzung des Schweizerischen Nationalfonds zur FĂśrderung der wissenschaftlichen Forschung und mit Mitteln aus dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft


Verfasst von Dieter Bremer (München), Walter Burkert (Zürich), Roman Dilcher (Heidelberg), Niels Christian Dührsen (Hamburg), Hans-Georg Gadamer, Helmut Holzhey (Zürich), Nadia J. Koch (Salzburg), Manfred Kraus (Tübingen), Andreas Patzer (München), Oliver Primavesi (München), Christof Rapp (München), Georg Rechenauer (Regensburg), Wolfgang Rother (Basel und Zürich), Thomas Schirren (Salzburg), Leonid Zhmud (St. Petersburg).

Redaktion im Verlag: Wolfgang Rother


Grundriss Antike 1/1

Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2598-8 www.schwabeverlag.ch


ERSTER HALBBAND



Inhalt ERSTER HALBBAND Vorwort zum Gesamtwerk (Helmut Holzhey)  . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Vom alten zum neuen ‹Ueberweg› (Wolfgang Rother)  . . . . . . . . . .

XV

DIE PHILOSOPHIE DER ANTIKE. FRÜHGRIECHISCHE PHILOSOPHIE Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIX

Vorwort (Hellmut Flashar, Dieter Bremer und Georg Rechenauer)  .

XXXI

Einleitung Die Philosophie und ihre Geschichte (Hans-Georg Gadamer)  . . . . .

XXXV

Erstes Kapitel Übergreifende Themen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Forschungsgeschichte und Darstellungsprinzipien (Dieter Bremer)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Bibliographie (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . § 2. Der Ursprung der Philosophie bei den Griechen (Dieter Bremer)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Frühgriechische Philosophie und Orient (Walter Burkert)  . . . . § 4. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie (Andreas Patzer)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Die doxographische Tradition (Leonid Zhmud)  . . . . . . . . . . . . . § 6. Biographie und Ikonographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Biographie (Thomas Schirren und Georg Rechenauer)  . . . . 2. Ikonographie (Nadia J. Koch)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel Ursprungsdenken und Weltmodelle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Naturphilosophische Anfänge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Thales (Niels Christian Dührsen)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8. Anaximander (Niels Christian Dührsen)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9. Anaximenes (Niels Christian Dührsen)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

3 39

61 97

126 150 175 175 215

235 237 237 263 321

II. Theologie und ‘Aufklärung’. Weisheit und Wissenschaft  . . § 10. Xenophanes (Thomas Schirren)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11. Pythagoras und die Pythagoreer (Leonid Zhmud)  . . . . . . . . . . .

339 339 375


X

Inhalt

ZWEITER HALBBAND Drittes Kapitel Seinsbestimmungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12. Parmenides (Manfred Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13. Zenon (Christof Rapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14. Melissos (Christof Rapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439 441 531 573

Viertes Kapitel Einheit der Gegensätze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15. Heraklit (Dieter Bremer und Roman Dilcher) . . . . . . . . . . . . . . § 16. Kratylos und die Herakliteer (Dieter Bremer) . . . . . . . . . . . . . .

599 601 657

Fünftes Kapitel Einheit und Vielheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17. Empedokles (Oliver Primavesi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18. Anaxagoras (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19. Archelaos aus Athen (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20. Diogenes aus Apollonia (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . § 21. Leukipp und Demokrit (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . .

665 667 740 797 811 833

Sechstes Kapitel Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22. Von den frühen Philosophen zu den Sophisten (Dieter Bremer)

947 949

Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

971

Stellenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

993

Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1049


Vorwort zum Gesamtwerk Das Erscheinen von Band 1 der Neubearbeitung von Ueberwegs ‹Grundriss der Geschichte der Philosophie› bietet willkommenen Anlass, sich für einmal dem schönen Anblick der stattlichen Reihe der bisher vorgelegten Bände hinzugeben, um sich dann aber auch – Rückblick und Vorblick verbindend – die Konzeption des Gesamtwerkes und ihre praktische Umsetzung beim derzeitigen Stand der Dinge zu vergegenwärtigen. Ein ‹Grundriss› ist es längst nicht mehr, was wir da vor uns haben, sondern die dem Plane nach – weltweit gesehen – umfassendste und umfangreichste Philosophiegeschichte, die als Standardwerk gelten darf. Wollte Friedrich Ueberweg in den 1860er Jahren ausdrücklich Ersatz schaffen für Wilhelm Gottlieb Tennemanns erstmals 1812 publizierten ‹Grundriß der Geschichte der Philosophie für den akademischen Unterricht›, so ging die Planung einer völlig neu bearbeiteten Ausgabe des ‹Ueberweg› seit den 1970er Jahren von vornherein weit über Anlage und Umfang eines Kompendiums hinaus. Das war zwar schon für die letzten Auflagen von Ueberwegs ‹Grundriss›, der am Ende auf ca. 3700 Seiten zu stehen kam, zu konstatieren, doch macht die für den neuen ‹Grundriss› in Aussicht genommene Erweiterung des Umfangs auf das Zehnfache die Vorstellung obsolet, dass es an diesem ‹Grundriss› noch etwas auszufüllen gäbe. Vielmehr stellt sich umgekehrt der Gedanke ein, dass auch zu ihm wie weiland zu Tennemanns elfbändiger ‹Geschichte der Philosophie› (17981819) ein Kompendium erforderlich werden könnte. Ueberwegs Name besitzt bis heute im Kontext der Philosophiegeschichtsschreibung eine – wenngleich inzwischen abnehmende – geradezu magische Strahlkraft. Zugleich besteht Einigkeit darüber, dass die philosophiegeschicht­ liche Forschung seit den 1920er und erst recht seit den 1860er Jahren in vielen Epochen und Bereichen neue Einsichten erbracht, gängige Einteilungen überholt, Beurteilungen uninteressant gemacht hat. Dennoch schlägt man gern in den alten Bänden der letzten Auflage nach, wenn es etwa darum geht, sich ein Bild von der damaligen Einordnung und Einschätzung moderner Richtungen der Philosophie zu verschaffen oder eine konzise Beschreibung der Lehre eines neuzeitlichen Philosophen zu finden. Wie steht es aber mit der Konzeption von Philosophiegeschichte, die Ueberweg seiner Darstellung zugrunde legte? Sie als veraltet abzustempeln, wäre voreilig. Ernsthafter Erwägung ist die Frage allerdings nur wert, wenn man sie nicht auf die technische, sondern auf die philosophische Seite der Konzeption bezieht und einschränkt. In dieser philosophischen Hinsicht zielt die Frage zunächst darauf, was Inhalt bzw. Gegenstand einer Philosophiegeschichte ist. Während Ueberweg deren Stoff in starkem Maße auf das eingrenzte, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Philosophie galt, bezieht die Neuausgabe des ‹Grundrisses› Mathematik, Medizin, Theologie, Naturwissenschaft, Pädagogik und Psychologie ein, soweit diese Disziplinen in der jeweiligen Epoche in engem Kontakt mit der Philosophie standen, orientiert sich also bei der Umgrenzung ihres Stoffgebietes weniger am aktuellen Philosophiebegriff als vielmehr daran, was in der darzustel-


XII

Vorwort zum Gesamtwerk

lenden Epoche zur Philosophie gezählt wurde oder thematisch mit ihr verknüpft war. Diese Erweiterung des Stoffgebiets der Philosophiegeschichte durch wissenschafts- und kulturgeschichtliche Elemente ist ein Markenzeichen des neuen ‹Grundrisses›. Mit perspektivischer Weite und inhaltlicher Breite wird durch diese Philosophiegeschichte der modernen Engführung der Schulphilosophie entgegengewirkt und damit das Konzept einer lebensbedeutsamen Philosophie für die Welt in Erinnerung gerufen. Es gehört zur Tradition deutscher und überhaupt kontinentaleuropäischer Philosophie, dass der Philosophiehistoriker selbst Philosoph ist oder mindestens, z.B. als Philologe oder Theologe, über eine solide philosophische Bildung verfügt. Diese Verknüpfung von Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung hat allerdings ihre methodischen Tücken. Sie zeigen sich, wo der philosophische Gedanke mit dem historischen Wissen konfrontiert wird. Die methodische Reflexion der Philosophiegeschichtsschreibung auf ihre philosophische Basis führt auf die Differenz zwischen dem Begriff von Philosophie, mit dem der Historiker seine philosophiegeschichtliche Darstellung methodisch organisiert, und dem Begriff von Philosophie in den Philosophien, die Gegenstand seiner Darstellung sind. Die Annäherung beider Begriffe von Philosophie im Kantianismus und Hegels weitergehender Versuch der Ableitung der Geschichte der Philosophie aus ihrem spekulativen Begriff sind Angebote geschichtsphilosophischer Deutung der Philosophiegeschichte geblieben. Doch konnte durch sie jene Differenz, die insbesondere für die Praxis der Philosophiegeschichtsschreibung bestimmend war und ist, nicht aufgehoben werden. Zur philosophiehistorischen Darstellung, nicht aber zum systematischen Begriff von Philosophie, gehören neben den auf der Basis von Textinterpretationen gedanklich nachzuzeichnenden philosophischen Lehren biographische Fakten, bibliographische Belege, Beschreibungen von Schulzusammenhängen und Einflüssen usw. All das bündelt sich zu einem meist nicht thematisierten Konzept von Philosophie, wie es einer Philosophie­ geschichte ausdrücklich oder unausdrücklich zugrunde liegt. Angesichts der bunten Vielfalt der philosophischen Lehren und ihrer vielgestaltigen literarischen Präsentation musste schon Ueberweg einer entwicklungsgeschichtlich oder spekulativ verfahrenden Philosophiegeschichtsschreibung eine Absage erteilen und stattdessen einer Darstellung das Wort reden, welche die von den Denkern selbst gewählte Darstellung ihrer Gedanken abbilden sollte. Als methodisches Korrektiv dieser Vorgehensweise und als Form der Annäherung der Philosophiehistorie an ihren Gegenstand brachte er einerseits den hermeneutischen Lernprozess ins Spiel, den der Philosophiehistoriker im Umgang mit der Tradition durchlaufe; andererseits wies er dem Philosophie­ historiker die Aufgabe zu, in subjektiver Kritik nicht nur die innere Folgerichtigkeit bei der systematischen Durchführung eines Grundgedankens zu beurteilen, sondern auch die Wahrheit und Gültigkeit der referierten Lehren aus der Sicht des philosophischen Bewusstseins der eigenen Zeit zu prüfen. Was kennzeichnet im Vergleich dazu den neuen ‹Grundriss›? Obwohl speziell für die Neuzeitbände konzipiert, erfolgt die Darstellung der Philosophie einer Epoche generell nach Maßgabe dessen, was in dieser Epoche für Philosophie oder


Vorwort zum Gesamtwerk

XIII

für der Philosophie zugehörig gehalten wurde. Dieses immer auch unbegriffliche Elemente enthaltende Konglomerat muss jeweils eruiert werden, wobei das philosophische Selbstverständnis des Historikers mitsamt seiner hermeneutischen Erfahrung nicht ausschlaggebend sein darf. Die kritische Beurteilung beschränkt sich auf die Feststellung von Unstimmigkeiten, auf Entwicklungsschritte oder Positionswechsel bei der Ausarbeitung einer ‘Lehre’; sie schließt aber nicht die von einem – im jeweiligen Heute vertretenen – Standpunkt ausgehende inhaltliche Stellungnahme ein, und schon gar nicht eine parteiische Stellungnahme. Weiter wird aus der Not mangelnder Einsicht jedwede Zielbestimmung des geschichtlichen Weges der Philosophie vermieden. Allerdings ist es durchaus erlaubt, ja erforderlich, mit methodischer Vorsicht Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Schulen zu konstatieren oder nachweisbaren ‘Einflüssen’ einer Philosophie oder Schule auf andere nachzugehen und so gewisse entwicklungsgeschichtliche Linien zu ziehen. Philosophiegeschichtsschreibung, wie sie der ‹Ueberweg› praktiziert, ist also prinzipiell eine historische Disziplin, in der historisches Wissen über die geschichtliche Erscheinung von Philosophie und Philosophien verarbeitet und mitgeteilt wird. Doch in welcher Weise? Den erzählenden Stil von Geschichtswerken sucht man vergebens. Das verwundert auch nicht, weil sich der Gegenstand der Philosophiegeschichtsschreibung nicht aus sich heraus in der Geschichte entfaltet und schon gar nicht auf einem nacherzählbaren Weg. Die Geschichte der Philosophie in eine Geschichtserzählung fassen zu wollen, entbehrte des sachlichen Fundaments. Man kann das auch mit dem Abdanken großer Geschichtsphilosophie in Verbindung bringen. Der ‹Grundriss› präsentiert sich folgerichtig primär als ein im Wesentlichen chronologisch geordnetes Nachschlagewerk. Als solches bietet er umfassende Informationen über Leben und Werk bekannter und vor allem auch weniger bekannter Philosophen und Philosophinnen: Informationen, die nicht nur auf ihre Richtigkeit außerordentlich sorgfältig geprüft worden sind, sondern auch Informationen, deren philosophischer Inhalt weiteren Nach­ denkens wert sein dürfte. Zürich, im November 2012

Helmut Holzhey



Vom alten zum neuen ‹Ueberweg› Wolfgang Rother Friedrich Ueberwegs ‹Grundriss der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart›, in erster Auflage zwischen 1863 und 1866 in vier Bänden erschienen, hat sich zum derzeit wohl größten und ehrgeizigsten Projekt philosophiehistorischer Forschung und Darstellung entwickelt. Der ‹Grundriss› war ­ursprünglich das Auftragswerk eines Verlegers: «Friedrich Ueberweg», heißt es auf der «Gedenktafel zu Ehren der Herausgeber», die sich in späteren Auflagen des Werkes findet, «verfaßte auf Antrag und nach dem Plan des Verlagsbuchhändlers Dr. Theodor Toeche-Mittler diesen Grundriß in drei Bänden» (Grundriss, I [111920] V; es waren allerdings nicht drei, sondern vier Bände in drei Teilen: vorchristliche Zeit, christliche Zeit und Neuzeit). Für ein Werk im Auftrag eines Verlagsunternehmens muss eine Nachfrage bestehen, es muss einem Bedürfnis entsprechen, was Ueberweg in den ersten Zeilen des Vorworts zur ersten Auflage geltend macht: «Zur Abfassung eines Grundrisses der Geschichte der Philosophie habe ich mich vornehmlich durch den mir von der Verlagshandlung geäusserten und zugleich mich selbst erfüllenden Wunsch bestimmt gefunden, einem offenbaren Bedürfniss der Studirenden entgegenzukommen» (Grundriss, I [11863] V). Um diesem «offenbaren Bedürfniss» zu entsprechen, soll «eine Fülle von Material – nur Wesentliches, aber auch nach Möglichkeit alles Wesentliche – […] in diesem Grundriss in concisester Form dem Leser geboten werden» (ibid.). «In concisester Form» – diese Maxime der Darstellung kann auch noch als generelle Anweisung für die Neubearbeitung des ‹Grundrisses› verstanden werden. Ein wichtiges Ziel des neuen ‹Grundrisses› besteht darin, den gegenwärtigen Stand philosophiehistorischer Forschung zur Darstellung zu bringen. Aber er leistet mehr als das, denn er bildet – zumal in einer Zeit, in der die deutschsprachige Philosophiegeschichtsschreibung zu einer vernachlässigten akademischen Disziplin zu werden droht – in nicht unbeträchtlichem Ausmaß selbst einen genuinen Beitrag zu dieser Forschung – ganz im Sinne Ueberwegs, der für seinen ‹Grundriss› den «wissenschaftlichen Zweck» beanspruchte, sich «nach Möglichkeit an dem Werke der Forschung selbst zu betheiligen» (ibid. VI). Aber der alte (wie auch der neue) ‹Grundriss› ist ganz wesentlich auch ein Handbuch für das Philosophiestudium: Ueberweg spricht im Vorwort von «der didaktischen Verwerthung der Resultate der wissenschaftlichen Forschung» (ibid.). Dass der didaktische Zweck, den eine Darstellung der Geschichte der Philosophie verfolgt, keineswegs der Philosophie selbst bloß äußerlich sein muss, ist ein Gedanke, den schon Hegel in der Einleitung zu seinen ‹Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie› pointiert zu Ausdruck bringt, wo er erklärt, dass «das Studium der Geschichte der Philosophie Studium der Philosophie selbst ist» (Theorie-Werkausgabe, XVIII [1971] 49). Ueberweg greift den Faden Hegels auf, wenn er im Sinne einer Beantwortung der «vielverhandelten Frage, ob


XVI

Vom alten zum neuen ‹Ueberweg›

der Inhalt der Geschichte der Philosophie vermittelst unseres eigenen philosophischen Bewusstseins zu verstehen, oder umgekehrt dieses vermittelst des his­ torischen Studiums zu erweitern oder zu berichtigen sei» (Grundriss, I [11863] 5), von einer «Wechselwirkung» (I [31867] 7) zwischen der Philosophie und ihrer Geschichte spricht: «Die philosophische Bildungsstufe, die der Einzelne vor seiner Bekanntschaft (oder doch vor seiner genaueren Vertrautheit) mit der Geschichte der Philosophie schon erreicht hat, soll das Verständniss dieser Geschichte ermöglichen, jedoch ebensowohl auch durch das historische Studium erhöht und geläutert werden; danach aber muss wiederum das bereits mittelst der Geschichte und Systematik durchgebildete philosophische Bewusstsein für ein tieferes und wahreres Verständniss der Geschichte sich fruchtbar erweisen.» (I [31867] 7). Die von Ueberweg geforderte «Wechselwirkung» zwischen der Philosophie und ihrer Geschichte hat zugleich eine philosophische Philosophiegeschichtsschreibung wie auch ein philosophiegeschichtlich fundiertes Philosophieren im Blick. Was muss ein Grundriss der Geschichte der Philosophie bieten? In zeit­ genössischen Rezensionen und Nachrufen auf den 1871 verstorbenen Ueberweg wurden seinem ‹Grundriss› nicht nur die von ihm selbst beanspruchte didaktische Qualität der «Brauchbarkeit für Lehre und Selbststudium», sondern auch «Ausgewogenheit» attestiert (vgl. Walter Tinner: Zum Gesamtwerk, in: Grundriss, Antike, III [11983] XI). Dieses Qualitätsmerkmal der Ausgewogenheit griff Paul Wilpert, der 1955 mit der Herausgabe des neuen ‹Grundrisses› betraut wurde, auf, indem er für die Neubearbeitung «eine betont objektive Orientierung über den neuesten Stand der philosophiegeschichtlichen Forschung» forderte (Editionsbericht. Die Neugestaltung des Ueberweg, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 43 [1961] 86). Jean-Pierre Schobinger entwickelte daraus die methodische Maxime, das «philosophische Selbstverständnis» einer Epoche als maßgebliches Kriterium für die philosophiegeschichtliche Darstellung zu verwenden: «Das philosophische Selbstverständnis einer zudem noch zeitlich willkürlich festgelegten Epoche deckt sich weder mit dem, was heute im all­ gemeinen aus dieser Epoche als philosophisch relevant gilt, noch mit dem, was aus ihr wirkungsgeschichtliche Bedeutung erlangt hat. Es lässt sich auch nicht aus dem Gebrauch des Wortes ‘Philosophie’ und verwandter Ausdrücke oder den philosophischen Selbsteinschätzungen gewichtiger Denker der Epoche bzw. den sachlichen oder polemischen Urteilen über den Wert philosophischer Beiträge von Zeitgenossen gewinnen. […] Vielmehr ist es ein schillerndes, ätherisches Gebilde, der Sammelname für divergierendste Selbstzeugnisse sowie für ein ­Beziehungsgefüge von Motivationen, Fragestellungen, Problemlösungsversuchen, Kontroversen, Gültigkeitskriterien und Formen der Traditionsaneignung bzw. Traditionsüberwindung. Es ist der Ausdruck für ein in der Epoche verbreitetes, aber keineswegs einheitliches ‘Bewusstsein’ von der Eigenständigkeit und Originalität zeitgenössischer Vorstellungen von Philosophieren im Verwobensein mit tradierten Auffassungen, neuen Entwicklungen und für die Nachwelt meist unerfüllt gebliebenen Erwartungen.» (Gesamtvorwort, in: Grundriss, 17. Jahrhundert, I [1998] XLIII).


Vom alten zum neuen ‹Ueberweg›

XVII

Das von Toeche-Mittler in Auftrag gegebene Werk mit dem Haupttitel ‹Grundriss der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart› bestand aus vier schmalen Bänden: Band I, «Erster Theil. Die vorchristliche Philosophie» (IX, 194 Seiten), erschien 1863; Band II, «Zweiter Theil. Die christliche Zeit. Erste Abtheilung. Die patristische Periode» (VII, 101), und Band III, «Zweiter Theil. Die christliche Zeit. Zweite Abtheilung. Die scholastische Periode» (VII, 112), kamen 1864 heraus; Band IV, «Dritter Theil. Die Philosophie der Neuzeit» (VIII, 327), erschien 1866. Die Titelei hat eine doppelte Struktur: Auf dem ersten, linken Titelblatt steht jeweils der Haupttitel mit den genannten Untertiteln; auf dem zweiten, rechten Titelblatt heißt es in Band I ‹Grundriss der Geschichte der Philosophie der vorchristlichen Zeit›, in Band II ‹[…] der patristischen Zeit›, in Band III ‹[…] der scholastischen Zeit› und in Band IV ‹[…] der Neuzeit von dem Aufblühen der Alterthumsstudien bis auf die Gegenwart›. Ueberwegs Periodisierung der Geschichte der Philosophie folgt in der prinzipiellen Unterscheidung zwischen «vorchristlicher» und «christlicher» Zeit Heinrich Ritters zweibändiger Darstellung ‹Die christliche Philosophie nach ihrem Begriff, ihren äußern Verhältnissen und in ihrer Geschichte bis auf die neuesten Zeiten› (Göttingen 1858-1859) (vgl. Grundriss, II [11864] 3). Das Periodisierungskriterium begründet er mit den «neuen Impulsen», die die «religiösen Thatsachen, Anschauungen und Ideen des Christenthums […] auch der philosophischen Forschung» gaben (ibid.). Die vorchristliche Philosophie ist für Ueberweg identisch mit der «Philosophie der Griechen» (so die Überschrift in Grundriss, I [11863] 15), die in seiner Sicht auch die der Römer einschließt, die sich allerdings «an der Philosophie fast nur durch Aneignung hellenischer Gedanken und kaum irgendwie durch eigene Productivität […] betheiligt» haben (13) – zwar steht im Inhaltsverzeichnis durchweg «griechische Philosophie», im Band selbst spricht Ueberweg aber von «der Entwickelung der griechischen (nebst der von dieser abhängigen römischen) Philosophie» (20) bzw. in den Kolumnentiteln von «griechisch-römischer Philosophie» (20-21); von den Römern wird Cicero als «namhaftester und einflussreichster Vertreter» des «Elekticismus» behandelt (149-153), Lukrez und Seneca werden nur sporadisch erwähnt. Ueberweg unterteilt die griechische Philosophie in drei Perioden. Diese Perioden sieht er durch thematische Schwerpunkte («Vorherrschaft», 20) bestimmt. Die erste Periode umfasst «Die vorsophistische Philosophie oder die Vorherrschaft der Kosmologie», die zweite die Zeit «Von den Sophisten bis auf die Stoiker, Epikureer und Skeptiker oder die Begründung und Vorherrschaft der Anthro­pologie als Lehre von dem denkenden und wollenden Subject (Logik und Ethik)» und die dritte schließlich «Die Neuplatoniker und ihre Vorgänger oder die Vorherrschaft der Theosophie» (VII-IX) – was eine Bewegung von der vorsokratischen Naturphilosophie über die philosophische Reflexion über den Menschen zu einer philosophischen Theologie der Griechen unterstellt, die gewissermaßen den Auftakt zur zweiten Hauptperiode, zur christlichen Philosophie, bildet. Diese besteht ebenfalls aus drei Perioden, die in den nachfolgenden drei Bänden behandelt werden. Die erste Periode umfasst die «patristische», die zweite die «scholastische» und die dritte die «Philosophie der Neuzeit»,


XVIII

Vom alten zum neuen ‹Ueberweg›


Vom alten zum neuen ‹Ueberweg›

XIX


XX

Vom alten zum neuen ‹Ueberweg›

die ihrerseits in drei Abschnitte gegliedert ist, in denen (1) summarisch die «Uebergangszeit» dargestellt wird, anschließend (2) unter dem Titel «Die neuere Philosophie oder die Zeit des ausgebildeten Gegensatzes zwischen Empirismus und Dogmatismus» die Philosophie des 17. und vorkantischen 18. Jahrhunderts und (3) «Die neueste Philosophie oder die Kritik und Speculation seit Kant» –­ den Abschluss bildet ein ausführlicher Paragraph über den «gegenwärtigen Zustand der Philosophie in Deutschland» und ein kurzer über den «ausserhalb Deutschlands». Die Klassifizierung des Inhalts dieses vierten Bandes weist eine bemerkenswerte Inkonsistenz auf: Das Inhaltsverzeichnis folgt der zweiteiligen Gliederung in vorchristliche und christliche Philosophie und betrachtet die Philosophie der Neuzeit als dritte Periode der christlichen Philosophie. Der Untertitel auf der Hauptseite – «Dritter Theil. Die Philosophie der Neuzeit» – legt eine dreiteilige Periodisierung zugrunde: (I.) vorchristliche bzw. griechische Philosophie, (II.) christliche Philosophie, unterteilt in patristische und scholastische, (III.) neuzeitliche – also ‘nachchristliche’ – Philosophie. Von der zweiten zur dritten Auflage wurde die Unterteilung «vorchristlich/christlich» aufgegeben. Band I der zweiten Auflage (1865) hat nun auf dem ersten, linken Titelblatt den Untertitel «Erster Theil. Das Alterthum (die vorchristliche Zeit)», in der dritten Auflage (1867) fehlt der Zusatz in Klammern, auf dem zweiten Titelblatt fehlt bereits 1865 die Klassifikation ‘vorchristlich’; es heißt in beiden Auflagen ‹Grundriss der Geschichte der Philosophie des Alterthums›. Selbst die patristische und die scholastische Philosophie werden nicht mehr als ‘christliche Philosophie’ bezeichnet, und in der dritten Auflage (1868) sind die beiden Perioden zusammengefasst unter dem Untertitel «Zweiter Theil. Die mittlere oder die patristische und scholastische Zeit», doch im Inhaltsverzeichnis bleibt die Überschrift «Die Philosophie der christlichen Zeit» bestehen – so auch noch in Bernhard Geyers Bearbeitung von 1927, d.h., der elften Auflage, die zuletzt 1967 bei Schwabe nachgedruckt wurde. Friedrich Ueberweg bearbeitete die ersten drei Auflagen des ‹Grundrisses›. Der 1826 in Leichlingen bei Solingen geborene Philosophiehistoriker hatte in Göttingen bei Rudolph Hermann Lotze und Heinrich Ritter und in Berlin bei Friedrich Eduard Beneke und Friedrich Adolf Trendelenburg studiert, sich nach seiner Promotion in Halle 1852 in Bonn habilitiert und wurde 1862 in Königsberg außerordentlicher und 1868 ordentlicher Professor für Philosophie. Als er 1871, erst 45jährig, starb, betreute stellvertretend der Königsberger Universitätsbibliothekar Rudolf Reicke (1825-1905) die vierte Auflage, die zwischen 1871 und 1875 erschien. Anschließend übertrug der Verlag dem Leipziger Philosophiehistoriker Max Heinze (1835-1909) die Bearbeitung des ‹Grundrisses›. Heinze, der seine erste ordentliche Philosophieprofessur 1874 in Basel antrat, im darauffolgenden Jahr einem Ruf nach Königsberg und ein Semester später nach Leipzig folgte, brachte zwischen 1876 und 1906 die fünfte bis neunte Auflage des Werkes heraus. 1901 wurde ein vierter Band über die Philosophie der Gegenwart abgetrennt. Bis dahin war der ‹Grundriss› das Werk eines einzigen Autors bzw. Bearbeiters. Als Heinze 1907 «aus Altersrücksichten von der weiteren Bearbeitung des Werkes zurücktrat, sah sich der Verlag», wie es in der «Gedenktafel zu Ehren der


e

Grundriss der Geschichte der Philosophie

Die Philosophie der Antike 1

FrĂźhgriechische Philosophie Zweiter Halbband Herausgegeben von Hellmut Flashar, Dieter Bremer und Georg Rechenauer

Schwabe



GRUNDRISS DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE BEGRÜNDET VON FRIEDRICH UEBERWEG

VÖLLIG NEU BEARBEITETE AUSGABE HERAUSGEGEBEN VON HELMUT HOLZHEY

SCHWABE VERLAG BASEL


DIE PHILOSOPHIE DER ANTIKE BAND 1

FRÃœHGRIECHISCHE PHILOSOPHIE HERAUSGEGEBEN VON HELLMUT FLASHAR, DIETER BREMER UND GEORG RECHENAUER

SCHWABE VERLAG BASEL 2013


Publiziert mit UnterstĂźtzung des Schweizerischen Nationalfonds zur FĂśrderung der wissenschaftlichen Forschung und mit Mitteln aus dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft


Verfasst von Dieter Bremer (München), Walter Burkert (Zürich), Roman Dilcher (Heidelberg), Niels Christian Dührsen (Hamburg), Hans-Georg Gadamer, Helmut Holzhey (Zürich), Nadia J. Koch (Salzburg), Manfred Kraus (Tübingen), Andreas Patzer (München), Oliver Primavesi (München), Christof Rapp (München), Georg Rechenauer (Regensburg), Wolfgang Rother (Basel und Zürich), Thomas Schirren (Salzburg), Leonid Zhmud (St. Petersburg).

Redaktion im Verlag: Wolfgang Rother


Grundriss Antike 1/2

Copyright © 2013 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2598-8 www.schwabeverlag.ch


zweiter HALBBAND



Inhalt ERSTER HALBBAND Vorwort zum Gesamtwerk (Helmut Holzhey)  . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Vom alten zum neuen ‹Ueberweg› (Wolfgang Rother)  . . . . . . . . . .

XV

DIE PHILOSOPHIE DER ANTIKE. FRÜHGRIECHISCHE PHILOSOPHIE Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIX

Vorwort (Hellmut Flashar, Dieter Bremer und Georg Rechenauer)  .

XXXI

Einleitung Die Philosophie und ihre Geschichte (Hans-Georg Gadamer)  . . . . .

XXXV

Erstes Kapitel Übergreifende Themen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Forschungsgeschichte und Darstellungsprinzipien (Dieter Bremer)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Bibliographie (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . § 2. Der Ursprung der Philosophie bei den Griechen (Dieter Bremer)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Frühgriechische Philosophie und Orient (Walter Burkert)  . . . . § 4. Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie (Andreas Patzer)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Die doxographische Tradition (Leonid Zhmud)  . . . . . . . . . . . . . § 6. Biographie und Ikonographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Biographie (Thomas Schirren und Georg Rechenauer)  . . . . 2. Ikonographie (Nadia J. Koch)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel Ursprungsdenken und Weltmodelle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Naturphilosophische Anfänge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Thales (Niels Christian Dührsen)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8. Anaximander (Niels Christian Dührsen)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9. Anaximenes (Niels Christian Dührsen)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

3 39

61 97

126 150 175 175 215

235 237 237 263 321

II. Theologie und ‘Aufklärung’. Weisheit und Wissenschaft  . . § 10. Xenophanes (Thomas Schirren)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11. Pythagoras und die Pythagoreer (Leonid Zhmud)  . . . . . . . . . . .

339 339 375


X

Inhalt

ZWEITER HALBBAND Drittes Kapitel Seinsbestimmungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12. Parmenides (Manfred Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13. Zenon (Christof Rapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14. Melissos (Christof Rapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439 441 531 573

Viertes Kapitel Einheit der Gegensätze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15. Heraklit (Dieter Bremer und Roman Dilcher) . . . . . . . . . . . . . . § 16. Kratylos und die Herakliteer (Dieter Bremer) . . . . . . . . . . . . . .

599 601 657

Fünftes Kapitel Einheit und Vielheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17. Empedokles (Oliver Primavesi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18. Anaxagoras (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19. Archelaos aus Athen (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20. Diogenes aus Apollonia (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . § 21. Leukipp und Demokrit (Georg Rechenauer) . . . . . . . . . . . . . . .

665 667 740 797 811 833

Sechstes Kapitel Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22. Von den frühen Philosophen zu den Sophisten (Dieter Bremer)

947 949

Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

971

Stellenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

993

Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1049


Drittes Kapitel

Seinsbestimmungen



§ 12. Parmenides Manfred Kraus 1. Überlieferung und Forschungsstand. – 2. Werk. – 3. Lehre. – 4. Wirkungsgeschichte. – 5. Bibliographie.

1. Überlieferung und Forschungsstand Das Lehrgedicht des Parmenides hat in der ­ ntike offenbar sehr rasch große Verbreitung geA funden. Seine Wirkung ist nicht nur bei den sogenannten jüngeren Eleaten Zenon und Melissos, sondern auch bei allen Naturphilosophen des 5. Jahrhunderts (vor allem Empedokles, Anaxa­ goras, Leukipp, Demokrit) und in der Sophistik (Protagoras, Gorgias u.a.) nachzuweisen. Erhalten sind davon jedoch nur noch (je nach Zählung) ca. 20 Fragmente mit zusammen etwa 160 Versen (darunter einige nur als Halbverse), ausschließlich als Zitate bei späteren Autoren (Gesamtübersichten aller Quellenautoren bei Cordero 1987 [*235: 22-24] und O’Brien/Frère 1987 [*43: 81-91]). Der Früheste, der (wenn auch notorisch ungenau) wörtlich daraus zitiert, ist Platon (Symp. 178b; Theaet. 180d; Soph. 237a. 244e. 258d). Daran schließen sich Aristoteles (Met. A 4, 984b26; G 5, 1009b22; N 2, 1089a4; Phys. G 6, 207a17) und dessen Schüler ­Eudemos (fr. 44 u. 45 Wehrli) und Theophrast (De sens. 3). Obgleich sich die von diesen vier Gewährsleuten zitierten Verse zum Teil überschneiden, also gelegentlich indirektes Zitat nicht auszuschließen ist, dürften immerhin diese vier noch den vollständigen Text vor sich gehabt haben. Nach einer Unterbrechung von etwa vier Jahrhunderten, in denen wörtliche Zitate völlig fehlen, setzt die Überlieferung erst mit Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. wieder ein. Für diese späteren ­Gewährsleute sind nun aber offenbar wenigstens zum Teil Zwischenquellen anzunehmen (sehr wahrscheinlich etwa für Diogenes Laertios, Galen oder Soranos; vgl. Coxon 1986 [*41: 2]). Von entscheidender Bedeutung für die Bewahrung von Ori­ ginalversen des Parmenides ist in dieser Phase vor allem seine Inanspruchnahme als vermeintlicher Vorläufer durch die Skeptiker (vor allem Sextus Empiricus) einerseits und andererseits durch den Mittel- und Neuplatonismus (Plutarch, Plotin, Jamblichos, Proklos, Ammonios, Damaskios, Simplikios, Philoponos, Olympiodoros, Asklepios), dort

insbesondere in Kommentaren zu platonischen und aristotelischen Schriften. Hinzu treten aus naturwissenschaftlichem Interesse Ärzte wie Galen, Soranos und Caelius Aurelianus, ferner christliche Schriftsteller wie der vom Platonismus beeinflusste Clemens aus Alexandria und der Apologet Eusebius aus Caesarea, schließlich sogar der Römer ­Boethius. Die wichtigste konservatorische Tat (neben der Bewahrung fast des gesamten Proömiums durch Sextus Empiricus [Adv. math. 7,111] ist aber zweifellos die Überlieferung von nicht weniger als 98 Versen (darunter in alleiniger Überlieferung die Schlussverse von B 1, die Fragmente B 6, B 9, B 11, B 12, B 19 und das gesamte, 61 Verse umfassende Fragment B 8 mit der Darstellung der Kennzeichen des Seienden und der unschätzbaren Übergangsstelle zum zweiten Gedichtteil) noch im 6. Jahr­ hundert n. Chr. durch den Neuplatoniker Simplikios (vgl. Perry 1983 [*134], Stevens 1990 [*807]) in seinen Kommentaren zur aristotelischen ‹Physik› (ed. Diels, CAG IX [Berlin 1882] bes. 29-31. 38-40. 78. 86-87. 116-117. 142-146) und zu ‹De caelo› (ed. Heiberg, CAG VII [Berlin 1894] 557-559). Simplikios begründet die reiche Aufnahme von Originalzitaten nicht allein mit Belegzwecken, sondern ausdrücklich auch mit der inzwischen eingetretenen «Seltenheit des Buches» (Simpl. In Phys. 144,29), von dem er ein besonders zuverlässiges Exemplar offenbar in der Bibliothek der Akademie noch vorfand. Bei der kurz darauf erfolgten Schließung der Akademie im Jahre 529 mag auch dieses Exemplar endgültig verlorengegangen sein. Bis ins Mittelalter jedenfalls dürfte sich kaum ein vollständiger Parmenidestext gerettet haben. An der Authentizität der erhaltenen Fragmente gibt es kaum nennenswerte Zweifel. Lediglich in Bezug auf das schwierige Fragment B 3 (Marsoner 1976/78 [*436: 175 Anm. 290], Manchester 1979 [*234: 97]; vgl. Gadamer 1988 [*236: 163]) und das schwer zu lokalisierende Fragment B 5 (Jameson


442

§ 12. Parmenides (Bibl. 502-530)

1958 [*327: 21]) sind bisweilen Bedenken geäußert worden. Aus den Fällen mehrfacher Überlieferung derselben Verse ist jedoch auch erkennbar, dass es bereits in der späteren Antike teilweise stark voneinander abweichende Textfassungen gab. So haben z.B. Sextus, Simplikios und Proklos in den von ihnen benutzten Handschriften den Vers B 1,29 in unterschiedlichen Varianten gelesen (euöpeijeßow vs. euökukleßow vs. euöfeggeßow; vgl. Guérard 1987 [*235: 301], Cordero 1987 [*235: 5]). Auch enthielten die spätantiken Abschriften zum Teil offenbar erklärende Scholien, die mitunter in den Text einge­ drungen sind (vgl. B 8,57; Simpl. In Phys. 31,3-7 zu B 8,59). Im Ganzen ist daher die Überlieferungslage des Lehrgedichts des Parmenides, verglichen mit den Werken anderer frühgriechischer Philosophen, nicht eben schlecht, freilich aber auch bemerkenswert unausgewogen. Denn durch die spezifische Fokussierung des Interesses der zitierenden Autoren sind von dem ersten, später gemeinhin als ­Aletheia (Wahrheit) bezeichneten Teil des Gedichts weite Teile («etwa neun Zehntel», Diels 1897 [*18: 26]), jedenfalls aber die Hauptmasse erhalten geblieben, während von dem zweiten, ursprünglich sicherlich weit umfangreicheren Gedichtteil, der sogenannten Doxa (Meinung, Ansicht), abgesehen von der Übergangsstelle kaum mehr als einige ­wenige Verse überliefert sind («vielleicht ein Zehntel», Diels 1897 [*18: 26]), so dass ein klares und vollständiges Bild von den kosmologischen, physikalischen und anthropologischen Lehren dieser Partie kaum mehr zu gewinnen ist. Diese ver­ zerrende Überlieferungslage hat freilich die Wahrnehmung der Philosophie des Parmenides in der neuzeitlichen Rezeption wesentlich geprägt. Die indirekten doxographischen Bezeugungen der parmenideischen Lehre folgen im Wesent­ lichen denselben Traditionslinien wie die Über­ lieferung der Fragmente selbst (ausführlichste Zusammenstellung der Testimonien bei Coxon 1986 [*41: 95-155]). Sie reichen von Platon bis in die ­späteste Antike. Im 15. Jahrhundert finden sich 32 Verse aus Parmenides (nebst einer verhältnismäßig freien lateinischen Versübersetzung) in dem 1469 zuerst nur lateinisch gedruckten Werk ‹In calumniatorem ­Platonis› des Kardinals Bessarion (Bessarionis in calumniatorem Platonis libri IV, ed. L. Mohler ­[Paderborn 1927, ND 1967] 206-215, cap. II 12). Als Quelle lässt sich eindeutig Simplikios’ Kommentar zur ‹Physik› des Aristoteles ausmachen (Cordero 1987 [*235: 7-8]). Die Aldiner Druckausgabe (1526) des Physikkommentars von Simplikios (dazu Cordero 1977

[*124]) macht diese Hauptquelle und damit auch das Großfragment B 8 im Originalwortlaut endlich allgemein zugänglich (wogegen die parallele Ausgabe des Kommentars zu ‹De caelo› [1526] nur eine Rückübersetzung der mittelalterlichen lateinischen Übertragung des Wilhelm von Moerbeke [1271] ins Griechische bietet und daher als Überlieferungsträger unbrauchbar ist; Peyron 1810 [*9: 61], Cordero 1987 [*235: 13]). Die wahrscheinlich von Francesco D’Asola verantwortete Ausgabe ist gekennzeichnet durch ihre teils kühnen Konjek­ turen, von denen sich jedoch manche (z.B. ouök eöoßn statt ouöt’ eöoßn in B 8,46) bewährt haben. Umso merkwürdiger ist, dass die erste systematische Sammlung der Fragmente durch Henri Estienne in der ‹Poesis philosophica› (Stephanus 1573 [§ 1 *1: 41-46]) die gesamte simplikianische Tradition völlig ausspart, weshalb sie lediglich 67 aus Sextus, Clemens, Plutarch, Proklos und Theophrast gewonnene Verse aufbieten kann (B 1,1-30; B 2; B 4; B 7,2-6; B 8,1-2a. 3-4. 43-45; B 10; B 13; B 14; B 15; B 16). Bedeutsam ist die Sammlung aber vor allem durch eine im Anhang (S. 217) abgedruckte Liste von Konjekturen von Joseph Justus Scaliger, von denen etliche heute noch Zustimmung finden. ­Weitere Konjekturen Scaligers sind in einem Exemplar der British Library (Sign.: 686.c.20[1]) in margine von der Hand Richard Bentleys aus Scaligers Handexemplar nachgetragen (vgl. O’Brien/ Frère 1987 [*3: 102]). Scaliger selbst erstellt Ende des 16. Jahrhunderts eine auch nach heutigem Standard nahezu vollständige Ausgabe der Parmenidesfragmente (Scaliger um 1600 [*7]; Umfang 148 Verse; es fehlen ­lediglich B 3, B 5 und die nur bei Simplikios, In De caelo zitierten B 1,31-32, B 11 und B 19); diese bleibt freilich unglücklicherweise unpubliziert und existiert nur in einer Handschrift in der Leidener Universitätsbibliothek (Ms. Scal. 25; vgl. Bibliotheca Universitatis Leidensis, Codices manuscripti II [Leiden 1910] 7; Cordero 1982 [*132]; O’Brien/ Frère 1987 [*43: 101-102]). In der Folgezeit gilt sie zumeist als verloren. Erst gut 200 Jahre später wird sie von Karsten (1835 [§ 1 *3]) erstmals herangezogen. Danach bleibt sie bis zur Wiederentdeckung durch Cordero (1982 [*132]) erneut verschollen. Von weichenstellender Bedeutung für die kantisch inspirierte idealistische Interpretation ist die Ausgabe mit deutscher Übersetzung von Fülleborn (1795 [*8]), die gegenüber Stephanus auch B 6 und B 8 vollständig sowie B 9, B 12 und B 18 erfasst. 1810 legt dann Peyron [*9: 55-61] aus einem Turiner Codex die bisher noch fehlenden Fragmente aus Simplikios, In De caelo (B 1,28-32, B 11, B 19) vor (diese auch bei Gaisford 1823 [*11: 286-287]).


1. Überlieferung und Forschungsstand

In der Ausgabe des Xenophanes, Parmenides und Melissos von Brandis (1813 [*10: 85-182]) vermisst man schließlich nur noch B 3, B 5, B 15a und B 17. Doch erst mit der sorgfältigen, reich kommentierten Ausgabe von Karsten (1835 [§ 1 *3: I 2]), die nunmehr auch die Vorarbeiten von Scaliger einbezieht, ist der heutige Umfang der erhaltenen Fragmente im Wesentlichen erreicht. Kaum bedeutende textliche Fortschritte bringen die Ausgaben von Ritter/Preller (1838 [§ 1 *4]), Mullach (1845 [*15], 1860 [§ 1 *5]) und Stein (1867 [*17]). Die Forschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird hauptsächlich dominiert von der zuerst von Bernays (1850 [*240]) angestoßenen Frage eines möglichen polemischen Bezuges auf Heraklit sowie von der Erörterung des Verhältnisses zu ­Orphik (Kern 1890 [*244]) und Pythagoreismus (Burnet 1892/41930 [§ 1 *113: 184-196]). Daneben öffnet sich der Blick auch auf potentielle Einflüsse der indischen und anderer orientalischer Philosophien (z.B. Gladisch 1844 [*239]). In den philosophiegeschichtlichen Darstel­ lungen des späteren 19. Jahrhunderts (Zeller 1844 [§ 1 *99], Ueberweg 1862 [§ 1 *102], Tannery 1887 [§ 1 *110], Burnet 1892 [§ 1 *113], Gomperz 1896 [§ 1 *114]) dominiert weiter die Ausrichtung des Parmenides auf Xenophanes und Pythagoras als Vorläufer und auf Heraklit als den Gegenpol, ­wobei Burnet erstmals Xenophanes ganz aus der Geschichte des Eleatismus ausklammert. Intensiv erörtert wird aber auch die Frage nach dem Sinn des Doxa-Teils: eigenes überwundenes Jugend­ system (Nietzsche 1873 [§ 1 *105: 330]), fremdes – etwa pythagoreisches – System als Objekt der ­Polemik (Diels 1897 [*18]) oder zweitbeste, wenngleich falsche Hypothese (Wilamowitz 1899 [*252])? Auch die Kosmologie des Doxa-Teils findet nun stärkere Beachtung (so etwa bei Tannery 1887 [§ 1 *110]; vgl. auch Döring 1894 [*246]). Mit der Schärfung des philologischen Instrumentariums setzt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine intensive textkritische Arbeit an den Fragmenten ein, für die exemplarisch Namen wie Theodor Bergk, Henry Jackson, William Arthur Heidel, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff u.a. stehen (Einzelnachweise bei Paquet/Roussel/Lafrance 1988-1989 [§ 1 *50: II 28-30], Šijaković 2001 [§ 1 *54: 539-540]). Die Resultate dieser Kleinarbeit fließen schließlich ein in die sukzessiven Ausgaben von Diels (vorbereitet durch dessen ‹Doxographi Graeci› [1879] und die Ausgabe von Simplikios’ Physikkommentar [1882]), zunächst in die Einzel­ edition (Diels 1897 [*18]), dann in die ‹Poetarum philosophorum fragmenta› (1901 [§ 1 *8]), schließlich ab 1903 in die zahlreichen Auflagen der ‹Frag-

443

mente der Vorsokratiker› (1903 [§ 1 *9], ab der 5. Auflage 1934 bearbeitet von Walther Kranz; ­Synopsen der textlichen Divergenzen bei Cordero 1987 [*235: 18-19] und Daniela De Cecco in Diels 1897/22003 [*18: 177-178]), die die kanonische Textgrundlage der Fragmente des Lehrgedichts bis heute maßgeblich bestimmen, obschon sie in zahlreichen Einzelpunkten als durch neuere Forschung überholt gelten können (Aufstellung der wichtigsten Punkte bei Cordero 1987 [*235: 19-21]). Den entscheidenden Wendepunkt in der modernen Interpretationsgeschichte markiert Karl Reinhardts Parmenidesbuch von 1916 [§ 1 *117]. Reinhardt durchtrennt jede Möglichkeit der Bezugnahme auf Heraklit wie Xenophanes durch eine radikale Umkehrung der Chronologie, sucht stattdessen nach dem eigenen originären Ansatzpunkt des Parmenides; er will Parmenides selbst «zum Reden bringe[n]», «ihm zu seinem Rechte ver­ helfen» (4). Gegen gängige historistische und ­religionsgeschichtlich-mystische Erklärungsmuster gründet er das Verständnis der Seinslehre des Elea­ ten ganz auf eine Logik «rein begrifflichen, grundsätzlich von aller Erfahrung und Anschauung ab­ strahierenden Denkens» (250), einer Begriffswelt freilich, die sich von der Ebene des Stofflich-Dinglichen noch nicht durchweg gelöst hat (24. 32. 204. 244). Dabei rückt er zum ersten Mal mit aller Konsequenz auch die Frage nach dem Verhältnis von Aletheia- und Doxa-Teil in den Mittelpunkt, indem er sowohl die doxographisch-polemische als auch die hypothetische Erklärung der Doxa strikt zurückweist (10. 24-28) und ferner erstmals auf die Erwähnung eines «dritten Weges» des Forschens bei Parmenides aufmerksam macht (34-36), bleibt aber letztlich noch in der Vorstellung vom trügerischen Charakter der Doxa verhaftet. Die Forschung der folgenden fünfzig Jahre, die sich im Wesentlichen als Auseinandersetzung mit Reinhardts Buch darstellt, ist hauptsächlich bestimmt durch die Fragenkomplexe nach 1) der Natur des parmenideischen Seienden, 2) dem Verhältnis von Sein und Denken, 3) dem Zusammenhang von Doxa- und Aletheia-Teil (ausführlicher Forschungsbericht bei Bormann 1971 [*31: 1-22]). Als bahnbrechend und wirkungsreich erweisen sich ­dabei vor allem die Arbeiten von Calogero, sowohl die ‹Studi sull’eleatismo› (1932 [*166]) als auch ‹Parmenide e la genesi della logica classica› (1936 [*285], vgl. auch Calogero 1967 [§ 1 *287: I 109170]), in denen er die sprachlogische Deutung der parmenideischen Wege von Sein und Nichtsein als Formen der positiven bzw. negativen Prädikation begründet, die besonders in der angelsächsischen Forschung stark nachgewirkt hat (vgl. Mourelatos


444

§ 12. Parmenides (Bibl. 502-530)

1979 [*234]). Wichtige Akzente setzen auch die ‹Parmenidesstudien› von Hermann Fränkel (1930 [*278]) durch die Einbeziehung von Proömium und Doxa-Teil und die Erhellung der Bezüge zu Anaximander, Verdenius (1942 [*168]) mit der Erörterung zentraler Probleme der parmenideischen Erkenntnis-, Seins- und Doxalehre und Schwabl (1950 [*171], 1953 [*311]) mit einer über Reinhardts Ansätze hinausgehenden Neubewertung des Zusammenhangs von Doxa und Seinslehre, ferner Loenen (1959 [*173]), der vor allem die Verbindungslinien der eleatischen Philosophie zu Gorgias deutlicher zieht, und Owen, der in seinen von den Ansätzen der analytischen Philosophie geprägten ‹Eleatic Questions› (1960 [*174]) die Originalität des parmenideischen Denkens gegenüber den ionischen Kosmologien besonders herausstellt. Stark gewirkt hat auch das Buch von Cornford (1939 [*167]), das die parmenideische Seinslehre in ein Spannungsfeld zwischen Pythagoreismus und platonischem ‹Parmenides› rückt. Von den in diesem Zeitraum erscheinenden Textausgaben ist neben Riezler (1934 [*20]) und Zafiropulo (1950 [*23], 1953 [*24]) besonders diejenige von Untersteiner (1958 [*26]) zu nennen, die durch eingehende Kommentierung hervorsticht, jedoch bei oft eigenwilliger Textgestaltung gänzlich auf einen kritischen Apparat verzichtet. Umfassende Bestandsaufnahmen des Forschungsstandes erfolgen schließlich durch Kirk/Raven (1957 [§ 1 *17]) und Guthrie (1965 [§ 1 *142: II 1-80]) sowie durch die Forschungsberichte von Schwabl (1956-1972 [*3]). Mächtige neue Impulse empfängt die Parmenidesforschung dabei durch Heidegger, der sich seit den 1920er und 1930er Jahren, von Aristoteles und Reinhardt ausgehend, intensiv mit Parmenides auseinandersetzt, der ihm als «anfänglicher Denker» zur Zentral- und Schwellenfigur der frühgriechischen Philosophie, zum Begründer und zugleich der letzten Gegeninstanz der europäischen Metaphysik wird, indem er bei ihm (konträr zu Hegels Auffassung) eine Rückbindung des Denkens an das Sein findet (Aletheia als «Unverborgenheit des Seins»), im Rückgang auf welche eine Überwindung der «Seinsvergessenheit» des europäischen Denkens gelingen könne. Weite Teile der Parmenidesforschung stehen seither im Banne Heideggers (vgl. z.B. Riezler 1934 [*20], Beaufret 1955 [*25], Songe-Möller 1980 [*188], Volkmann-Schluck 1992 [*199: 63-95], Conche 1996 [*45], Thanassas 1997 [*209] u.v.a.). Für Aufsehen sorgt in den sechziger Jahren ein im Zuge archäologischer Grabungen in Velia/Elea gefundener Büstensockel mit der Inschrift: PA[R] MENEIDES PURHTOS OULIADHS FUSIKOS (Ebner 1962 [§ 6 *119: 4-6], 1962 [§ 6 *120: 128-129],

jetzt in Coxon 1986 [*41: 118, Test. 106]; der 1968 entdeckte zugehörige Kopf stellt freilich kein authentisches Porträt des Parmenides dar, sondern entspricht der Ikonographie des Epikureers Me­ trodor; vgl. Schefold 1997 [§ 6 *226: 230-231 mit Abb. 123]). Dieser Fund facht nicht nur die Diskussion über die authentische Namensform (Parme­ nides oder Parmeneides?) neu an (Merlan 1966 [§ 6 *129], Kingsley 1999 [*215: 140]; vgl. schon Blass 1903 [§ 6 *116], Untersteiner 1958 [*26: 3-4]), sondern führt in Verbindung mit auf parallelen Inschriften begegnenden Bezeichnungen wie iöatroß‑ mantiw (Seherarzt) und fvßlarxow (vermutliche Bedeutung: Leiter der Höhle) auch zu einer Neubewertung des Parmenides als Arztes und apollinischen Heilpriesters (vgl. Merlan 1966 [§ 6 *129], Timpanaro Cardini 1967 [*375: 172], Pugliese Carra­telli 1988 [*236], Schomakers 2003 [*224: 196205]). Die Diskussion ist in jüngerer Zeit wieder ­etwas abgeebbt, da der enorme zeitliche Abstand der Inschriften (Datierung um die Zeitenwende) ihre Aussagekraft für das 5. Jahrhundert erheblich in Frage stellt (Sassi 1989 [§ 6 *141: 258]). Allerdings erhalten auch die seit Diels immer wieder vertretenen, sich vor allem an die Auslegung des Proömiums knüpfenden Thesen über eine Beziehung des Parmenides zum Schamanismus (Diels 1897 [*18: 14-15], Cornford 1952 [§ 1 *135: 118], Morrison 1955 [*315], Francotte 1958 [*325: 91-92], Burkert 1962 [§ 1 *276: 130. 263], Guthrie 1965 [§ 1 *142: II 11-12]) durch diese Funde neue Nahrung (vgl. z.B. Burkert 1969 [*381], Mourelatos 1970 [*177: 42-46], West 1971 [§ 1 *335: 225-226], Francotte 1985 [*497: 41-47], Böhme 1986 [*506: 113-117] und neuerdings besonders Kingsley 1995 [*574: 229], 1999 [*215], 2003 [*223: 32-48. 57-59] und Schomakers 2003 [*224]). Ebenfalls vor dem Hintergrund der archäologischen Funde ist die verstärkte Einbettung des ­Parmenides auch in den sozialen, politischen und kulturellen Kontext seiner Heimatstadt insbesondere durch Capizzi (1975 [*178], 1975 [*179], 1982 [*758]) zu sehen. Wichtige Forschungsimpulse gehen in den 1960er bis 1980er Jahren vor allem aus von der monumentalen kommentierten Ausgabe von Tarán (1965 [*29]) und den Arbeiten von Mansfeld (1964 [*175]), Furth (1968 [*377]), Kahn (1969 [*383]), Mourelatos (1970 [*177]), Bormann (1971 [*31]), Heitsch (1979 [*185]), Held (1980 [§ 1 *169]) und Austin (1986 [*190]), sowie von der in vielfacher Hinsicht unorthodoxen Darstellung von Barnes (21982 [§ 1*168: 155-230]). Hinzu kommen die für den deutschsprachigen Bereich einfluss­reichen zweisprachigen Ausgaben von Hölscher (1969 [*30])


1. Überlieferung und Forschungsstand

und Heitsch (1974 [*33]). Bedeutende in dieser ­Periode verhandelte Themen sind etwa die nähere Untersuchung des Proömiums und seiner Bezüge zu Hesiod und anderen möglichen Vorbildern (Deichgräber 1959 [*332], Dolin 1962 [*346], Schwabl 1963 [*350], Pellikaan-Engel 1974 [*419]), die Frage nach der Anzahl der bei Parmenides vor­ auszusetzenden Wege des Forschens (Cordero 1979 [*454], Nehamas 1981 [*470]), die Zuspitzung der seither fortdauernden Debatte über zeitlose Ewigkeit oder unbegrenzte Zeitdauer des Seienden der Aletheia (Kneale 1961 [*345] und Owen 1966 [*370] vs. Tarán 1965 [*29]; zum weiteren Verlauf vgl. Theunissen 1989 [*548]) und die von Calogero (1932 [*166]) zuerst eröffnete Suche nach dem Sinn von ‘Sein’ bei Parmenides (Kahn 1966 [*368], 1969 [*383], 1973 [§ 1 *295], Hölscher 1976 [§ 1 *298], Kahn 1986 [*511], 1988 [*236]) und nach dem Subjekt von eästin (Meijer 1997 [*208: 114122]). Stärker ins Blickfeld tritt nunmehr auch die Rolle der Sprache im Denken des Parmenides (Woodbury 1958 [*331], D’Avino 1965 [*361], Owens 1975 [*422], Jantzen 1976 [*428], Graeser 1977 [*439], 1977 [*440], Kraus 1987 [*523: 57-97], Mason 1988 [*530] u.a.). In den späteren 1980er Jahren bündeln schließlich zwei große Sammelbände den Kenntnisstand der Zeit und die Vielfalt der Forschungsthemen: Band II der von Pierre ­Aubenque herausgegebenen ‹Études sur Parménide› (Aubenque 1987 [*235]) und ein der eleatischen Schule gewidmeter Kongressband der Zeitschrift ‹La parola del passato› (1988 [*236]). Ein spezifisches Problem auch der neuesten Parmenidesforschung liegt freilich darin, dass bei der ohnehin schmalen Basis an authentischen Fragmenten infolge der äußerst verdichteten und komplexen Sprachform des Parmenides zudem auch die Textgestaltung an vielen Stellen höchst kontrovers und ungesichert ist. Zentralstellen solch interpretatorisch relevanter textlicher Unsicherheit sind z.B. DK 28 B 1,3 (daißmonew oder daißmonow? paßnt’ aästh oder paßnt’ aäth oder paßnta thq#?), B 1,32 (pervqnta oder per oänta?), B 6,1 (te noeiqn oder to? noeiqn?), B 6,3 (supplendum ‹eiärgv› oder ‹aärcei› bzw. ‹aärcv› oder ‹aäcv›?), B 6,5 (plaßzon‑ tai oder plaßttontai?), B 8,4 (höd’ aöteßleston oder ouöd’ aöteßleston oder höde? telestoßn bzw. teßleion?), B 8,12 (mh? eöoßntow oder touq eöoßntow?), B 8,19 (eäpeita peßloi to? oder eäpeit' aöpoßloito?), B 8,38 ­(oänom’ eästai oder oönoßmastai?). Auch Plazierung und Reihenfolge der Fragmente sind in Einzel­ fällen umstritten (vgl. Sprague 1955 [*104], Bicknell 1968 [*112], 1968 [*113], Rohatyn 1971 [*118], Vitali 1977 [*127], Ebert 1989 [*140], Hermann 2004 [*226: 209-210]). Insbesondere wird

445

–– B 4 von einigen dem Doxa-Teil zugewiesen (Bollack 1957 [*105], Hölscher 1969 [*30: 115116], Bicknell 1979 [*129], Tarrant 1983 [*486], Schirren 1998 [§ 10 *46: 206]), –– B 16 hingegen dem Aletheia-Teil zugeordnet (Loenen 1959 [*173: 51-55], Hershbell 1970 [*391], Schmitz 1988 [§ 1*308: 70-79]), –– B 5 von manchen vor B 2 gestellt (Pasquinelli 1958 [*71: 396 Anm. 29], Hölscher 1969 [*30: 77], Meijer 1969 [*384: 106 Anm. 1], 1997 [*208: 123], Bicknell 1979 [*128], Coxon 1986 [*41: 171-172]). –– B 7,2-7, anfänglich (mit Sext. Emp. Adv. math. 7,111) meist nahtlos an B 1 angeschlossen, wird seit Kranz (Diels/Kranz 51934 [§ 1 *9: I 234-235] mit B 8 verknüpft (dazu O’Brien/ Frère 1987 [*43: 239-241]). Darüber hinaus ist selbst bei eindeutig gesicherter Textgestalt die grammatische Konstruktion und semantische Deutung zahlreicher Textstellen vielfach nicht konsensfähig (notorisch z.B. die bis heute umstrittene Konstruktion von B 3, dazu zuletzt O’Brien 2000 [*856: 21-24], Kingsley 2003 [*223: 69-72. 564]; vor ähnliche Probleme stellen aber auch etwa B 6,1 oder B 8,10 u. 34-36). Jede ­Interpretation ist folglich zwangsläufig an eine Vielzahl entsprechender Textentscheidungen gebunden. Aus diesem Grunde existiert für Parmenides eine ungleich höhere Zahl an unterschied­ lichen Textausgaben als bei irgendeinem anderen frühgriechischen Philosophen. Seit den Editionen von Karsten und Diels hat es jedoch (mit Ausnahme der Entdeckung eines Einzelwortes in einem Basiliusscholion durch G. Pasquali, Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Kl. 1910, 202 = B 15a) praktisch keinen Zuwachs an neuen Fragmenten mehr gegeben. Am erfolgreichsten war in dieser Hinsicht noch der Vorschlag von Cornford (1935 [*102]), aus dem (anderenfalls als stark entstelltes Zitat von B 8,38 anzusehenden) Zitat bei Platon Theaet. 180e ein neues, eigenständiges Fragment zu gewinnen (Cornford’sches Fragment), der bis heute von vielen akzeptiert, von ebenso vielen aber auch abgelehnt wird (Gegenargumente bei Perry 1989 [*141]). Weitere Versuche, neue Fragmente zu etablieren (Couvreur 1893 [*92], Nachod/Stern 1932 [*101], Jaeger 1957 [*106], Loenen 1959 [*173: 76-77]) fanden dagegen geringen Widerhall. Unter den neuesten Ausgaben stechen vor allem diejenigen von Coxon (1986 [*41], zu Kritikpunkten vgl. O’Brien/Frère 1987 [*43: 106-118]) und O’Brien/Frère (1987 [*43]) hervor. Zu verzeichnen sind weiter vor allem Gallop (1984 [*38]), Cordero


446

§ 12. Parmenides (Bibl. 502-530)

(1984 [*37]), Reale/Ruggiu (1991 [*44]), Conche (1996 [*45]), Cassin (1998 [*47]), Cerri (1999 [*49]), Roussos (2002 [*50]), Henn (2003 [*52]), Karagiannis (2003 [*53]) und Schomakers (2003 [*224]). Eine fast mystische Verehrung für Parmenides als Ur­ vater der europäischen Philosophie drückt sich in bibliophilen Prachtausgaben aus (Zafiropulo 1953/ 1999 [*24], Hölscher/Honegger 1990 [*57], Bring­ hurst/Wagener 2003 [*51]). Gerade die jüngste Zeit hat daneben eine beträchtliche Anzahl an Überblicksdarstellungen zu Parmenides im Rahmen von Kompendien zur frühgriechischen Philosophie hervorgebracht, mit je verschiedenen Akzentuierungen im Einzelnen (Pleger 1991 [§ 1 *191: 98-107], Buchheim 1994 [§ 1 *195: 102-144], Ricken 1996 [§ 1 *238: I 93-110], Hussey 1997 [*207], Rapp 1997 [§ 1 *198: 101-149], Gadamer 1998 [*211: 94-125], Sedley 1998 [*214], 1999 [§ 1 *202: 113-133], Berti 2000 [*218], Graeser 2 2004 [*198]). Gemeinsam mit Heraklit erscheint Parmenides als Begründer der abend­ländischen Philosophie in den Monographien von Beets (1986 [*191]), Fleischer (2001 [*221]) und Günther (2001 [*222: 197-224]). Als zentrale Themenbereiche der gegenwärtigen Forschung kristallisieren sich heraus: eine ausgedehnte Debatte über den Charakter des parmenideischen Monismus (dazu Graham 1970 [*389], Barnes 1979 [*451], Finkelberg 1988 [*528], Ruggiu 1988 [*236], 1990 [*541], Curd 1991 [*542], 1998 [*210], Fronterotta 2000 [*612], Skirry 2001 [*623], Miura 2003 [*635]), wobei besonders die Thesen von Curd (1998 [*210]) über einen nur ‘prädikationalen’ Monismus des Parmenides intensiv diskutiert werden; ferner Fragen der Argumentationsform (Wiesner 1996 [*585], Sellmer 1998 [*598]), der Erkenntnistheorie (Engelhard 1996 [*205]),

der Relation von Mythos und Rationalität (Couloubaritsis 1986/21990 [*507], Morgan 1991 [*547], Fattal 1998 [*596]) und des Verhältnisses von ­Aletheia und Doxa (Thanassas 1997 [*209], 2007 [*231]). Eine stark auf den ontologischen Aspekt ausgerichtete Darstellung bietet (nebst eingehender Textkritik) Cordero (2004 [*225]), während Hermann (2004 [*226, *227]) für Parmenides die Frage nach der Möglichkeit gesicherten mensch­ lichen Wissens in den Vordergrund rückt. Die ­didaktisch-persuasiven Strategien des Lehrgedichts als Anleitung zu einem philosophischen Paradigmen- oder Perspektivenwechsel untersucht Rob­ biano (2006 [*229]). Insgesamt wichtig durch zusammenfassende Darstellung verschiedener Pro­ blemfelder ist Meijer (1997 [*208]). Nach wie vor aktuell ist auch das Thema der möglichen Heraklitpolemik (Plädoyer dafür zuletzt bei Graham 2002 [§ 1 *239]). Neuerdings gibt es auch wieder starke Tendenzen zur Betonung schamanistisch-mystischer Elemente in der Lehre des Parmenides (vor allem Kingsley 1995 [*574], 1999 [*215], Cerri 1999 [*601], Kingsley 2003 [*223], Schomakers 2003 [*224]). Insbesondere die eigenwillige, aber philologisch wohlfundierte Interpretation von Kingsley (2003 [*223]) liest das Gedicht des Parmenides als magisch-beschwörenden Text und Nachvollzug ­eines in schamanischer Ekstase erfahrenen Offenbarungserlebnisses. Auch nach indischen (Rusza 2002 [*630]), iranischen (Henn 2003 [*52: 7-8]) oder mesopotamischen (Steele 2002 [*632]) Par­ allelen wird weiterhin gesucht. Allerdings wird ­Parmenides gerade in jüngster Zeit auch häufig zum Anknüpfungspunkt für esoterische Spekula­ tionen und völlig sachfremde Anliegen (vgl. z.B. Padrutt 1991 [*197], Pelz 1996 [*834], Widmann 1999 [*849]).

2. Werk

1. Einzelwerk. – 2. Titel. – 3. Dichterische Form. – 4. Sprache. – 5. Aufbau. – 6. Inhalt der Fragmente.

1. Einzelwerk Bereits in der Antike wurde Parmenides zu denjenigen Autoren gerechnet, die nur ein einziges Werk hinterlassen hatten (Diog. Laert. 1,16). Dieses eine Werk ist ein hexametrisches Lehrgedicht, dessen ursprüngliche Länge schwer bestimmbar ist, aber den Umfang einer einzigen Buchrolle jedenfalls nicht überschritt. Bei Zugrundelegung der

Diels’schen Faustformel (s. oben S. 442) käme man auf eine Länge von ca. 600 Versen, was etwa der Länge eines durchschnittlichen Homerbuches entspricht (vgl. Schomakers 2003 [*224: 374]). Antike Nachrichten über angebliche Prosaschriften des Parmenides (z.B. Suda s.v. Parmenißdhw: kai? aälla tina? katalogaßdhn, «und manches andere in Prosa») und entsprechende Prosafragmente (DK 28 B 21-24) beruhen ausnahmslos auf Verwechslungen


2. Werk

(mit dem Parmenides des platonischen Dialogs [vgl. Plat. Soph. 237a: pezhq#, «in Prosa»] oder dem thebanischen Lokalhistoriker Armenidas [FGrHist 378 F 5 u. 8]). Bei dem von Simplikios in der von ihm benutzten Handschrift nach Vers B 8, 59 ­vorgefundenen und kolportierten ‘Prosaspruch’ (rÖhseißdion, Text bei Diels/Kranz 61951 [§ 1 *9: I 240,12-15], Hölscher 1969 [*30: 32]) handelt es sich eindeutig um ein späteres Scholion, das in den Text geraten ist und nicht von Parmenides selbst stammt. Auch die Erwähnung angeblicher Götter­ hymnen in orphi­scher Tradition aus dem Kreise der Eleaten (Menander Rhetor De epideict. I 2,2) trifft auf ­Parmenides selbst jedenfalls nicht zu. Die bei Diogenes Laertios (9,23) erwähnte Athetese des Lehrgedichts durch Kallimachos ist nach Burkert (1962 [§ 1 *276: 286]) auf Pythagoras zu beziehen (so schon Fülleborn 1795 [*8: 24-26]).

2. Titel Als Titel des Lehrgedichts wird verschiedentlich (z.B. Sext. Emp. Adv. math. 7,111; Simpl. In De cael. 556,25) Peri? fußsevw (Über die Natur) genannt, womit u.a. bei Diels/Kranz (61951 [§ 1 *9: I 227]) auch die Fragmente überschrieben sind. Während von manchen ein solcher originaler Titel immerhin für möglich gehalten wird (Verdenius 1942 [*168: 73-74], Hölscher 1969 [*30: 68]), überwiegt heute die Ansicht, dass es sich dabei um eine spätere, eventuell aus der Schule des Aristoteles stammende Betitelung handelt, die zur Zeit des Parmenides noch durchaus unüblich war (Heidel 1910 [*255], Schmalzriedt 1970 [§ 1 *292: 16-17. 115116]). Als Einzelwerk war das Gedicht zudem durch den Autornamen ausreichend identifiziert, so dass sich ein Titel erübrigte.

3. Dichterische Form Mit der Wahl der äußeren Form des hexametrischen Lehrgedichts setzt sich Parmenides dezidiert ab von der sich im ionischen Osten etwa zeitgleich etablierenden philosophischen Prosa (Anaximander, Heraklit) und stellt sich bewusst in eine Tra­ ditionslinie episch-dichterischer Weltdeutung, die auf Hesiod und Homer und die Dichtungen der Orphik zurückweist (vgl. Jaeger 1947 [§ 1 *260: ­91-93]). Der früher zumeist angenommene direkte Einfluss der Dichtung des Xenophanes auf diese Gattungswahl (so etwa Diels 1897 [*18: 8-9] und noch Schofield in Kirk/Raven/Schofield 1983 [§ 1 *17: 241]) wird heute zurückhaltend beurteilt,

447

da einerseits ein Schülerverhältnis des Parmenides zu Xenophanes nicht erweisbar ist und zudem ­Xenophanes höchstwahrscheinlich auch kein zusammenhängendes Lehrgedicht verfasst hat (Steinmetz 1966 [§ 10 *64: 54-56. 61]). Damit wird nach gegenwärtigem Kenntnisstand Parmenides zum ­eigentlichen Begründer der Gattung des philosophischen Lehrgedichts. Die antiken Urteile über Parmenides’ Fähig­ keiten als Dichter und die Qualität seiner Verse sind fast einhellig negativ. Cicero spricht von «nicht sonderlich guten Versen» (minus bonis […] ver­ sibus, Lucull. 74), ähnlich Philon aus Alexandria (De provid. II 39); auch Plutarch findet die Hauptschwäche des Parmenides im Versbau (De aud. 45 A); eine Unausgewogenheit zwischen dichterischer Form und eher prosaischem Sprachduktus konstatiert Proklos (In Platonis Parm. 665,16-31 Cousin). Plutarch sieht in der Verwendung des Metrums eine reine Äußerlichkeit, ein bloßes «Vehikel» (De aud. poet. 16 C). Ähnlich urteilen von den Modernen noch z.B. Diels (1897 [*18: 7]) oder Kranz (1916 [*262: 1163]), ja sogar noch Barnes (21982 [§ 1 *168: 155]). Doch gibt es auch gegenteilige Bewertungen. So erblickt z.B. Beaufret (1955 [*25: 8]) in B 14 «einen der schönsten Verse der griechischen Sprache». Vergleichbar positiv urteilen so unterschiedliche Interpreten wie Popper (1998 [*213: 91. 104. 136]) und Kingsley (2003 [*223: 24]). Zweifellos hat der Zwang der dichterischen Form mitunter zu der schon von Platon (Theaet. 184a) monierten Schwerverständlichkeit mancher Verse des Parmenides beigetragen. Doch ist auch nicht zu bestreiten, dass Parmenides in vielen ­Fällen verstanden hat, Struktur und Rhythmus des Verses zur Unterstützung der denkerischen Aussage zu nutzen. In jüngerer Zeit wird daher die Frage der Eignung und Angemessenheit der dichterischen Form überwiegend positiver beurteilt (vgl. Mourelatos 1970 [*177: 1-46], Whited 1974 [*411], Arrighetti 1983 [*478: 11], Böhme 1986 [*506], Floyd 1992 [*553], Wöhrle 1993 [*564], Most 1999 [§ 1 *202: 353-355]). Bereits Havelock (1958 [*326: 133-143], 1966 [§ 1 *284: 58-63]) verteidigt Parmenides als kompetenten Hexameterdichter (zu metrischen Besonderheiten des parmenideischen Hexameters vgl. Mourelatos 1970 [*177: 2. 264-268]). Den inneren Zusammenhang von Gedanke und dichterischer Ausdrucksweise heben Gallop (1984 [*38: 5-6]), Poster (1994 [*571]), ­Schomakers (2003 [*224: 373-394, bes. 391]) und Robbiano (2006 [*229]) hervor. Hinzu kommt der didaktische Vorteil der leichteren Memorierbarkeit eines metrischen Textes (Beets 1986 [*191: 23],


448

§ 12. Parmenides (Bibl. 502-530)

Reale 1998 [*48: 13-14], Most 1999 [§ 1 *202: 352]; dazu Schomakers 2003 [*224: 375-377]). Auf den Stil altepischer Dichtung weist auch eine Neigung zu nahezu wörtlichen Wiederholungen (vgl. z.B. B 1,1 u. 25; B 6,3 u. B 7,2; B 8,24 u. B 9,3). Dies hat unter anderem dazu geführt, dass die offensichtliche Überlappung von B 7,6-7 und B 8,1-2 lange verkannt wurde (vgl. daneben auch die Diskussion zum Cornford’schen Fragment). Doch zeichnet sich der Stil des Parmenides generell durch eine gewisse Repetitivität aus (z.B. viermaliges feßrv in B 1,1-4, als Unbeholfenheit betrachtet u.a. von Diels 1897 [*18: 23-24] und ­Mourelatos 1970 [*177: 35], als bewusstes Ausdrucksmittel beschwörender Sprache dagegen von Kingsley 2003 [*223: 36]). Auch die anspielende Evozierung ganzer Szenen aus Homer (Kingsley 2003 [*223: 221-224. 578-579]) und Hesiod (vgl. unten S. 454) wird als Stilmittel eingesetzt. Neuerdings will man in manchen Formulierungen des Parmenides sogar die Äußerung sub­tilen Humors erkennen (Kingsley 2003 [*223: 89. 100. 123. 165. 213. 227]).

4. Sprache Die Sprache der parmenideischen Verse ist ein entsprechend der lokalen Sprachform (Elea war Kolonie der kleinasiatisch-ionischen Stadt Phokaia) ionisch eingefärbter epischer Dialekt (Coxon 1986 [*41: 7-8]; maßvolle Reionisierung des überlieferten Textes – gegen die Warnungen von Diels 1897 [*18: 26-27] – in der Ausgabe von Coxon; zu ionischen Formen vgl. auch Cassio 1996 [*580]). Unübersehbar sind die sprachlichen Einflüsse der Epik Homers und Hesiods (vgl. die Parallelstellenapparate bei Heitsch 1974 [*33] und Coxon 1986 [*41]; ferner Pfeiffer 1975 [*423], Arrighetti 1983 [*478], Böhme 1986 [*506: 33-85], Pieri 1977 [*444], Lesher 1984 [*492: 24-30], Capizzi 1987 [*519], Martinelli 1987 [§ 1 *231], Ferrari 2003 [*633]). ­Jedoch gibt es daneben auch einen umfangreichen Sonderwortschatz (Coxon 1986 [*41: 8]) und eine Anzahl gelungener Neologismen (vgl. bes. B 14: ­nuktifaeßw, nachtleuchtend; B 15a: uÖdatoßrizon, im Wasser wurzelnd).

5. Aufbau Das Gedicht besteht aus einem einleitenden Teil von 23 Versen, in dem ein Ich-Erzähler (beschrieben als junger Mann: kouqrow) von einer mystischen ­Wagenfahrt zum Tor der Wege von Nacht und Tag und zum Haus einer ungenannten Göttin berichtet,

die ab Vers 24 das Wort zu einer philosophisch belehrenden Rede ergreift, die den gesamten Rest des Gedichtes einnimmt (ob es am Schluss des Gedichts etwa noch einmal eine der Einleitung ent­sprechende Partie des Ich-Erzählers gab, ist nicht mehr feststellbar, jedoch eher unwahrscheinlich). Die gattungs­ typische Drei-Figuren-Konstellation der Sprech­ situation des Lehrgedichts (Muse – Lehrer – Adept; so z.B. bei Hesiod und Empedokles) wird dadurch in eigentümlicher Weise ineinandergeschoben und enggeführt, indem die Muse zur Sprecherin, der Lehrer zum Adressaten wird (zur ungewöhnlich starken Markierung von «Ich-» und «Du-Rolle» vgl. Heitsch 1974 [*33: 64]). Dadurch entsteht eine ­doppelbödige Kommunikationssituation (namentlich wenn das Gedicht durch den ­Autor selbst vorgetragen wird), die den Rezipienten des Gedichts in­ direkt über dessen empathische Identifikation mit dem Kuros anspricht (Schomakers 2003 [*224: 386388], Robbiano 2006 [*229: ­62-74]). Die Rede der Göttin zerfällt (nach kurzer Begrüßung und Ankündigung des weiteren Inhalts, 9 Verse) in zwei Hauptteile: die Darstellung des Weges des Seienden und der Wahrheit (AletheiaTeil; 78 erhaltene Verse) und die Beschreibung des Weges der Meinungen der Sterblichen (Doxa-Teil; 50 erhaltene Verse, davon 6 in lateinischer Über­ setzung). Es darf als sicher gelten, dass der in der Überlieferung nur noch bruchstückhaft erkennbare zweite Teil ursprünglich quantitativ deutlich überwog. Die Übergangsstelle zwischen beiden Teilen ist in B 8,50-52 klar markiert. Im Ganzen ergibt sich daher folgende dreiteilige Gliederung: I. Proömium: 1. Wagenfahrt und Ankunft; 2. Begrüßung durch die Göttin; 3. Ankündigung des ­weiteren Inhalts des Gedichts. II. Aletheia-Teil: 1. Sicherung des Seienden aus der ausschließlichen Grundalternative von Seiendem und Nicht-Seiendem durch erkenntnistheoretischen Ausschluss des Nicht-Seienden; 2. Die ‘Merkzeichen’ des Seienden. III. Doxa-Teil: Prinzipien der Doxa, ihre Setzung durch Benennung; das weitere unsicher, erkennbar u.a. noch folgende Themen: Kosmogonie, Theogonie, Astronomie und Meteorologie, Geologie und Geographie, Biologie und Anthropologie: Entstehung und Fortpflanzung des Menschen, Genetik und Embryologie, Psychologie, Wahrnehmungslehre.

6. Inhalt der Fragmente B 1: Proömium: Wagenfahrt des Kuros (1-10); Ankunft am Tor von Nacht und Tag und Empfang


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.