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Grundriss der Geschichte der Philosophie
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Die Philosophie des 18. Jahrhunderts 3
Italien
n Herausgegeben von Johannes Rohbeck und Wolfgang Rother
Schwabe
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Grundriss der Geschichte der Philosophie 18. Jahrhundert 3
GRUNDRISS DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE BEGRÜNDET VON FRIEDRICH UEBERWEG
VÖLLIG NEU BEARBEITETE AUSGABE HERAUSGEGEBEN VON HELMUT HOLZHEY
JEREMIA 23,29
SCHWABE VERLAG BASE L
DIE PHILOSOPHIE DES 18. JAHRHUNDERTS BAND 3
italien
HERAUSGEGEBEN VON JOHANNES ROHBECK UND WOLFGANG ROTHER
SCHWABE  VERLAG BASEL 2011
Publiziert mit UnterstĂźtzung des Schweizerischen Nationalfonds zur FĂśrderung der wissenschaftlichen Forschung
Verfasst von Carlo Borghero (Roma), Giuseppe Cacciatore (Napoli), Paolo Casini (Roma), Vittor Ivo Comparato (Perugia), Calogero Farinella (Genova), Maurizio Martirano (Napoli), Anna Maria Rao (Napoli), Wolfgang Rother (Basel und ZĂźrich), Manuela Sanna (Napoli), Antonio Trampus (Venezia).
Ăœbersetzungen aus dem Italienischen besorgte Maria-Pia Scholl-Franchini.
Grundriss 18. Jahrhundert 3 Š 2011 by Schwabe AG, Verlag, Basel Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2599-5
INHALT
Vorwort (Johannes Rohbeck und Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
Einleitung Konturen der Philosophie des italienischen Settecento (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV
Erstes Kapitel Die institutionellen Bedingungen der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung (Calogero Farinella) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Gelehrtenzeitschriften (Calogero Farinella) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Das Unterrichtswesen (Calogero Farinella) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schulen und Kollegien der religiösen Orden 13. – 2. Die Schule im Zeitalter der Reformen 16. – 3. Die Universitäten zwischen Krise und Umgestaltung 18. § 3. Die Akademien (Calogero Farinella) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4. Zensur, Buchmarkt, Bibliotheken (Calogero Farinella). . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zum ersten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel Politische Philosophie und Geschichte zwischen 1700 und 1750 . . . . . . . Einleitung (Vittor Ivo Comparato) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Costantino Grimaldi (Vittor Ivo Comparato) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6. Gian Vincenzo Gravina (Vittor Ivo Comparato) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7. Paolo Mattia Doria (Vittor Ivo Comparato) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8. Francesco Maria Spinelli (Vittor Ivo Comparato) . . . . . . . . . . . . . . . . § 9. Pietro Giannone (Vittor Ivo Comparato) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10. Ludovico Antonio Muratori (Vittor Ivo Comparato) . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zum zweiten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel Neapel und Vico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11. Die philosophische Kultur Neapels in der Zeit Vicos (Manuela Sanna, Giuseppe Cacciatore, Maurizio Martirano) . . . . . . . . . . . . . . . § 12. Giambattista Vico (Manuela Sanna, Giuseppe Cacciatore, Maurizio Martirano) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zum dritten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 3 5 12
22 27 33 37 39 45 52 58 63 67 73 81 89 91 95 123
VIII
Inhaltsverzeichnis
Viertes Kapitel Philosophie und Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13. Wissenschaften und Institutionen (Paolo Casini) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Krise der wissenschaftlichen Forschung 132. – 2. NewtonRezeption 133. – 3. Die Rezeption der Infinitesimalrechnung 135. – 4. Wissenschaftliche Akademien 137. – 5. Die Wissenschaften in den gelehrten Zeitschriften 142. – 6. Die Anfänge der Wissenschaftsgeschichte 144. § 14. Naturphilosophen und Wissenschaftler (Paolo Casini) . . . . . . . . . . . . 1. Antonio Vallisneri 146. – 2. Francesco Bianchini 152. – 3. Guido Grandi 155. – 4. Jacopo Riccati 159. – 5. Giovanni Poleni 162. – 6. Anton Lazzaro Moro 165. – 7. Ruggero Giuseppe Boscovich 167. – 8. Paolo Frisi 176. – 9. Lazzaro Spallanzani 183. § 15. Theorie und Praxis der Elektrizität: Sguario, Beccaria, Galvani, Volta (Paolo Casini) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zum vierten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünftes Kapitel Religionsapologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16. Die katholische Kirche vor den Herausforderungen der Moderne (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17. Daniele Concina (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18. Alfonso de Liguori (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19. Antonino Valsecchi (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20. Appiano Buonafede (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 21. Nicola Spedalieri (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22. Giacinto Sigismondo Gerdil (Carlo Borghero) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zum fünften Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sechstes Kapitel Politische Theorie, Rechtsphilosophie und Ökonomie in Nordund Mittelitalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 23. Frühe ökonomische Reformer in der Toskana (Wolfgang Rother) . . . 1. Einleitung 255. – 2. Sallustio Antonio Bandini 255. – 3. Pompeo Neri 258. § 24. Die Mailänder Gruppe des ‹Caffè› (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung 262. – 2. Gian Rinaldo Carli 263. – 3. Alessandro Verri 267. – 4. Sebastiano Franci 270. – 5. Alfonso Longo 271. § 25. Pietro Verri (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 26. Cesare Beccaria (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 27. Piemontesische Autoren (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung 320. – 2. Carlo Denina 320. – 3. Dalmazzo Francesco Vasco 325. – 4. Giambattista Vasco 328.
129 131
146
188 195 203 205 207 213 217 223 228 233 238 244
249 251 254 261 273 296 318
Inhaltsverzeichnis
§ 28. Debatten über das Verhältnis von Staat und Kirche (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung 334. – 2. Antikurialismus in Venedig 334. – 3. Cosimo Amidei 336. – 4. Carlo Antonio Pilati 338. Sekundärliteratur zum sechsten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebtes Kapitel Politische Philosophie und Ökonomie in Süditalien . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 29. Ökonomische Denker in Apulien und Neapel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Giuseppe Palmieri (Wolfgang Rother) 359. – 2. Ferdinando Galiani (Anna Maria Rao) 367. § 30. Antonio Genovesi (Wolfgang Rother) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 31. Die Schule Genovesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Francesco Longano (Antonio Trampus) 391. – 2. Francesco Antonio Grimaldi (Antonio Trampus) 396. – 3. Giuseppe Maria Galanti (Anna Maria Rao) 400. – 4. Francesco Mario Pagano (Antonio Trampus) 411. § 32. Die Wissenschaft der Gesetzgebung: Gaetano Filangieri (Antonio Trampus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zum siebten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX 332 342 355 357 359 374 391
418 426
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
437
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
443
Vorwort
Die vorliegende Darstellung der italienischen Philosophie des 18. Jahrhunderts erfolgt nach den konzeptionellen Vorgaben der Neubearbeitung des Ueberweg’schen ‹Grundrisses›. Die Reihen zur Philosophie der Neuzeit sind nach Jahrhunderten und geographischen Regionen geordnet, d.h. nach Kriterien, die der Philosophie und ihrer Entwicklung äußerlich sind. Dieser Verzicht auf historiographische und thematische Einteilungskriterien, mit dem eine möglichst aus der Sache selbst geschöpfte Präsentation des philosophischen Denkens einer Epoche erreicht werden soll, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu gängigen Leseerwartungen und Verlagsmarketingstrategien. Für einen Band, der den Begriff Aufklärung im Titel führt, ließe sich allemal wirkungsvoller die Werbetrommel rühren, aber weder der Begriff der Aufklärung als Epoche und noch weniger der der Aufklärung als Bewegung vermag, zumal in Italien, allen philosophischen Erscheinungen und Debatten des 18. Jahrhunderts gerecht zu werden. So ist es zum Beispiel schwierig, Vico, den wohl bedeutendsten Philosophen des italienischen Settecento, am Leitfaden des Aufklärungsbegriffs zu verorten: War er Aufklärer oder Gegenaufklärer? Frühaufklärer und Inspirator der Aufklärung? Oder ein noch im Denken des 17. Jahrhunderts verwurzelter Neu- und Späthumanist? Oder sogar ein über die Epoche der Aufklärung hinausweisender Vorläufer der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts? Und nicht alle Philosophen, die sich in einer bestimmten Phase ihres Wirkens als Aufklärer verstanden, blieben der Aufklärung zeit ihres Lebens verpflichtet. Alessandro Verri zum Beispiel oder Gian Rinaldo Carli und Giambattista Vasco distanzierten sich später von Grundgedanken der Aufklärung: Vasco erst unter dem Eindruck der Französischen Revolution, Carli bereits in den 1760er Jahren, was ihn nicht darin hinderte, als Reformpolitiker zu wirken. Auch der Antagonismus von Apologetik und Aufklärung ist zuweilen ein nur scheinbarer. Die katholische Kirche, gegen deren Macht und Ansprüche die Aufklärung aufbegehrte, generell als aufklärungsfeindlich zu bezeichnen, ist unzutreffend: Papst Benedikt XIV. und andere Vertreter der kirchlichen Hierarchie nahmen gegenüber der Aufklärung eine aufgeschlossene bis freundliche Haltung ein. Den Apologeten ging es um eine Verteidigung des katholischen Glaubens, was eine Annäherung an philosophische Positionen der Aufklärung nicht a priori ausschloss (z.B. bei Nicola Spedalieri, Giacinto Sigismondo Gerdil). Und schließlich ist ein großer Teil des naturphilosophischen Diskurses und der naturwissenschaftlichen Reflexion, der ein ausführliches Kapitel gewidmet ist, gegenüber der Aufklärung indifferent. Wenn der vorliegende Band die Begriffe Philosophie, Italien und 18. Jahrhundert im Titel trägt, so ist dazu Folgendes zu bemerken: Weder besitzt das 18. Jahrhundert ein einheitliches philosophisches Profil, noch existierte Italien damals als einheitlicher nationaler oder kultureller Raum. Italien zeigt sich im 18. Jahrhundert vielmehr als ein in vielfacher Hinsicht zersplittertes Gebilde mit verschiedenen Zentren, die unter – im Laufe des Jahrhunderts zum Teil
XII
Vorwort
wechselnder – politischer Herrschaft standen und durch unterschiedliche kul turelle Einflüsse geprägt waren (vgl. unten S. XXI-XXIV). Entsprechend nahmen die philosophischen Debatten in den verschiedenen Zentren und Regionen auf der Apenninenhalbinsel sehr unterschiedliche Gestalten an. Auch in zeitlicher Hinsicht bietet sich kein einheitliches Bild dar, das die Definition eines Profils der italienischen Philosophie des 18. Jahrhunderts zuließe. Der Band beansprucht, eine möglichst differenzierte und möglichst voll ständige Darstellung des philosophischen Denkens in den italienischen Zentren zwischen 1700 und 1800 zu geben. Damit schließt er eine Lücke in der deutschsprachigen Erforschung des 18. Jahrhunderts. In Kapitel 1 wird – wie bereits in den Bänden 1 (Großbritannien und Nordamerika. Niederlande) und 2 (Frankreich) zur Philosophie des 18. Jahrhunderts – der institutionelle Rahmen der Philosophie behandelt, der durch eine florierende Publizistik, ein sich im Umbruch befindliches, reformfreundliches Bildungswesen und zahlreiche Akademiegründungen gekennzeichnet ist. Eine mit der Darstellung der italienischen Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts (vgl. Grundriss, 17. Jahrhundert, I [1998] 619-769) vergleichbare Behandlung der Philosophie an den Universitäten und Ordensschulen, namentlich der Jesuiten, drängte sich nicht auf: Der philosophische Gedanke hatte sich zusehends aus den Hörsälen und den Lehr- und Handbüchern verabschiedet und manifestierte sich weitgehend in einer aktualitäts-, problem- und praxisbezogenen Publizistik – auch wenn die Protagonisten häufig auch einen akademisch-schulphilosophischen Hintergrund oder gar ein solches Wirkungsfeld hatten (wie z.B. Vico oder Antonio Genovesi). Außer in Kapitel 1 werden in den Kapiteln 4 und 5 philosophische Phänomene in jahrhundertübergreifender Weise dargestellt. Kapitel 4 thematisiert die philosophischen Implikationen und methodischen Fragestellungen der mathematischnaturwissenschaftlichen Disziplinen. Diese waren durch eine breite Rezeption und Diskussion der Theorien von Newton und Leibniz geprägt; die Entwicklung kulminierte in Luigi Galvanis und Alessandro Voltas Experimenten und Theorien auf dem Gebiet der Elektrizität. Kapitel 5 ist der Religionsapologetik gewidmet, die sich als Epiphänomen der modernen, säkularen Kultur herausbildete. Dieses Kapitel wurde bewusst vor die beiden Aufklärungskapitel 6 und 7 gestellt, um dem Missverständnis zu begegnen, die Apologetik sei eine unmittelbare Reaktion auf die Gedanken der Aufklärung. Vielmehr gehörten die skeptischen, materialistischen und kirchenkritischen Tendenzen, gegen welche die Apologeten den katholischen Glauben verteidigten, zum Erbe des 17. Jahrhunderts; richtig betrachtet ist die Religionsapologetik in vielfacher Hinsicht mit dem philosophischen Diskurs der Aufklärung verschränkt. Die Kapitel 2 und 3 sowie 6 und 7 orientieren sich teils am chronologischen Leitfaden (erste/zweite Jahrhunderthälfte), teils an einem regionalen Kriterium (Nord/Süd). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren Staat und bürger liche Gesellschaft die zentralen Themen einer historisch-kritisch fundierten philosophischen Reflexion. Die in dem entsprechenden Kapitel 2 behandelten Autoren gehörten mit Ausnahme Ludovico Antonio Muratoris zum süditalieni schen Milieu – ebenso wie Vico, dem Kapitel 3 gewidmet ist, dessen Philosophie
Vorwort
XIII
eine über die Grenzen seiner Heimatstadt Neapel und über Italien hinausgehende Wirkung entfaltet hat und der mit seiner neuen Methode zu den Begründern des Historismus und der modernen Geistes- und Kulturwissenschaften gehört. In der zweiten Jahrhunderthälfte bildeten die Metropolen Mailand und Neapel die Hauptzentren der italienischen Aufklärung. Zuerst werden in Kapitel 6 außer den Mailänder Philosophen Pietro Verri und vor allem Cesare Beccaria, der mit seiner Kritik an Folter und Todesstrafe zu den bekanntesten europäischen Aufklärern gehört, die toskanischen und piemontesischen Reformdenker sowie die vor allem in Venedig geführten kirchenkritischen Debatten behandelt. Anschließend wird in Kapitel 7 die süditalienische Aufklärung dargestellt, die wesentlich durch Antonio Genovesi geprägt ist, der eine in theologischscholastischer Tradition stehende Philosophie mit der neu aufkommenden politischen Ökonomie verband. Konzept und Gliederung des Bandes wurden an zwei Tagungen in Neapel erarbeitet und diskutiert. Die erste fand am 1. und 2. Oktober 1997 im Palazzo Serra di Cassano, die zweite am 8. Oktober 1998 an der Universität Neapel statt. Für die Finanzierung kamen das Istituto Italiano per gli Studi Filosofici und das Centro di Studi Vichiani auf, denen wir dafür herzlich danken. Für inhaltliche Beratung und Hinweise personeller Art sind wir vor allem Paolo Casini (Rom), Helmut Holzhey (Zürich) und Alberto Postigliola (Neapel) zu großem Dank verpflichtet. Maria-Pia Scholl-Franchini (Möhlin) besorgte die Übersetzungen aus dem Italienischen, Constanze Elgleb und Susann Thiele (beide Dresden) wirkten bei der redaktionellen Bearbeitung mit. Den Satz erstellte Giuseppe Tamburello, die Korrekturen las Sibylle Herkert (beide Schwabe, Muttenz). Ihnen allen sei für ihre kompetente Mitarbeit gedankt. Unser Dank gilt schließlich dem Schweizerischen Nationalfonds, der nicht nur durch einen Projektkredit die für die Abfassung des Kapitels 6 erforderlichen Forschungsarbeiten ermöglichte, sondern sich mit einem namhaften Publika tionsbeitrag an den Druckkosten beteiligte. Dresden und Basel, im Mai 2010
Johannes Rohbeck und Wolfgang Rother
Einleitung
Konturen der Philosophie des italienischen Settecento Wolfgang Rother 1. Der Typus des filosofo. – 2. Zur Topographie der Philosophie. – 3. Zum Problem einer ‘katholischen Aufklärung’. – 4. Thematische Schwerpunkte. – 5. Quellen, Wirkung und zur Frage der Originalität.
Wer sich einer Sache nähert, nimmt zuerst deren Konturen wahr. Aus einer bestimmten Distanz zeigen sich dem Blick die Umrisse eines Ganzen, das in seinen Einzelheiten noch nicht sichtbar ist und das zusehends aus den Augen verliert, wer ihm zu nahe tritt. Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht mehr. Aber die fokussierende Bewegung ist unverzichtbar für die Erkenntnis der Sache in ihrer differenzierten Vielfalt – dies allerdings um den Preis der Gesamtschau. Deshalb muss, wer seinen Gegenstand aus der Nähe betrachtet hat, ein paar Schritte zurücktreten, um wieder das Ganze zu sehen. Nach dieser doppelten, durch die Einzelanalyse hindurchgegangenen Bewegung gewinnen die Konturen eine neue Qualität: Dasselbe wird gleichsam mit neuen Augen gesehen, die in den Umrissen des Ganzen das Ganze erfassen. Die nachfolgende Darstellung der Konturen der italienischen Philosophie des 18. Jahrhunderts folgt in ihrer Anlage einem bewährten Schema, das auch den bio-doxographischen Einzeldarstellungen des Ueberweg’schen wie des neubearbeiteten ‹Grundrisses der Geschichte der Philosophie› zugrunde liegt. Wie jeder Abschnitt über einen bestimmten Philosophen mit einem Abriss seines intellektuellen Lebens beginnt, steht hier am Anfang der Versuch einer differenzierten Typologie des filosofo. So wie man zum Verständnis der Philosophie einer Epoche den biographischen Gegebenheiten und soziologischen Milieus der philosophierenden Subjekte Rechnung tragen muss, so sind die je nach Region verschiedenen politischen Bedingungen des Philosophierens zu berücksichtigen. Und weil Italien im 18. Jahrhundert politisch und kulturell zersplittert war, liegt auch der Versuch einer philosophischen Topographie nahe. Die geographische Nähe des Kirchenstaats und die katholische ‘Leitkultur’ in einer Epoche, die sich durch zunehmende Infragestellung religiöser und kirchlicher Geltungsansprüche definiert, sind Fakten und Phänomene, die in einer historischen Konturierung reflektiert werden müssen. Mit der Frage nach den komplexen Beziehungen zwischen Philosophie und Religion oder zwischen Aufklärung und Katholizismus gelangen die doxographischen Aspekte der Philosophie ins Blickfeld: Welches sind die zentralen Themen der italienischen Philosophie im 18. Jahrhundert? Welche Strömungen und Autoren werden rezipiert und üben einen Einfluss auf die philosophischen Diskurse aus? Und schließlich: Erschöpft sich die italienische Philosophie in der Rezeption bestimmter Strömungen des europäischen
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Einleitung (Lit. XXXIII-XXXV)
Denkens oder hat sie selbst originale Leistungen vorzuweisen? Originalität hat die Eigenschaft, auszustrahlen und nachzuwirken. So wie den doxographischen Darstellungen im ‹Grundriss› nach Möglichkeit Darstellungen der Wirkungs geschichte folgen, gehört auch diese Perspektive zu einem konturierten Gesamtbild der italienischen Philosophie des Settecento. 1. Der Typus des filosofo Herkunft. – Viele filosofi stammen aus aristokratischem Umfeld, die meisten davon aus dem Adel (wie J. Riccati, Poleni, Volta, de Liguori, P. und A. Verri, Beccaria, Franci, D. F. und G. Vasco, Pilati, Palmieri, F. A. Grimaldi, Galanti, Filangieri), einige aus dem städtischen Patriziat (wie Buonafede, Bandini) oder aus wohlhabenden Familien (wie Spallanzani); Spinelli war Fürst von Scalea in Kalabrien. Aber es gab auch prominente Ausnahmen: Muratori, Genovesi und Longano kamen aus einfachen Verhältnissen, Vico aus einer Buchhändlerfamilie. Ausbildung. – Ihre erste Ausbildung erhielten die filosofi in einer lokalen Ordensschule, die große Mehrheit besuchte ein Jesuitenkolleg, seltener eines der anderen Lehrorden (Barnabiten, Somasker und Piaristen) – es blieb den Gelehrten praktisch keine andere Wahl, außer im Piemont, wo Viktor Amadeus II. ein unter staatlicher Aufsicht stehendes Schulsystem einführte. Zwar bot der Unterricht an den Ordenskollegien Anlass für Kritik: Pietro Verri zum Beispiel gelangte rückblickend zu einem sehr negativen Urteil (vgl. P. Verri ca. 1760/1963 [*1: 136], 1777-1781/2003 [*13: V 430], 1783/1962 [*15: 141-144]); Artikel von Pietro und Alessandro Verri im ‹Caffè› zeichnen das Bild einer weithin sterilen scholastischen Didaktik und eines philosophischen Ansprüchen kaum genügenden Pedantismus (vgl. P. Verri 1764-1765/1998 [*7-*8], 1765-1766/1998 [*12]; A. Verri 1764-1765/1998 [*4-*5], 1765-1766/1998 [*10]; zum Begriff des Pedanten vgl. Lessing 1989 [*47], Ihring 2000 [*57], Gipper 2003 [*58], Greiner 2003 [*59], Hendrix 2003 [*60]). Gleichwohl war das jesuitische Curriculum durchaus flexibel und Neuerungen gegenüber aufgeschlossen: Um die Jahrhundertmitte wurde die scholastische Metaphysik zusehends durch die moderne Physik (Newton, Experimentalphysik) verdrängt – exemplarisch ist in dieser Hinsicht die Lehrtätigkeit Boscovichs am jesuitischen Collegium Romanum seit Mitte der 1730er Jahre (vgl. Baldini 1992 [*49]). Doch blieb ein Geist wie Boscovich die Ausnahme unter den jesuitischen Lehrern, die nicht auf Dauer geduldet werden konnte: 1757 wurde er vom Unterricht suspendiert und mit anderen Aufgaben betraut. Nachdem der idealtypische filosofo die Jesuitenschule durchlaufen hatte, nahm er ein Universitätsstudium auf. Auffallend ist der hohe Anteil juristisch gebildeter Denker. Das gilt besonders für die politischen Philosophen der ers ten Jahrhunderthälfte, unter denen sich die prominentesten Vertreter des zivilen Jurisdiktionsprimates finden: etwa Costantino Grimaldi, der wegen seiner Auffassungen verfolgt wurde, sein Richteramt verlor und sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde; Giannone, der exkommuniziert und von der Inquisition verfolgt wurde und schließlich im Gefängnis starb; oder Muratori, den
Konturen der Philosophie des italienischen Settecento
XVII
nur seine Freundschaft mit Papst Benedikt XIV. vor einem ähnlichen Schicksal bewahrte. Auch Vico war von Hause aus Jurist, de Liguori war Rechtsanwalt mit Doktortitel, bevor er seine Ordenskarriere begann, und selbst der Naturwissenschaftler Spallanzani hatte Rechtswissenschaften studiert; der Mathematiker Jacopo Riccati besaß sogar einen juristischen Doktorgrad. Auch die Aufklärer und Reformer hatten in der Regel ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert (Bandini, Neri, Carli, A. Verri, Beccaria, D. F. und G. Vasco, Amidei, Pilati, Palmieri, F. A. Grimaldi, Galanti, Pagano, Bandini). Neben dem juristisch gebildeten Philosophen gab es auch den Philosophen mit theologischem Hintergrund. Während das rechtswissenschaftliche Studium die bevorzugte Option aristokratischer Intellektueller war, strebten Angehörige der unteren und mittleren Schichten häufig eine geistliche Laufbahn an. An den Unterricht im Ordenskolleg schloss sich der Eintritt in ein Priesterseminar oder gar in einen Orden organisch an. Das geistliche Amt war mit hohem Sozial prestige verbunden. Der Philosoph als Beamter. – Ein Studium der Rechtswissenschaften führte bei den filosofi nur in Ausnahmefällen zu einer akademischen Laufbahn: Bandini und Neri z.B. lehrten zeitweilig an einer Universität. Aber die Juristen strebten in der Regel keine Professur an, sondern eine Tätigkeit in der Rechtspflege und vor allem im öffentlichen Dienst. Dieser bildete nicht nur eine «zusätzliche Einnahmequelle besonders für den weniger begüterten Adel» (Capra 1996 [*53: 262]), sondern ebenfalls eine veritable Alternative zur Hochschulkarriere. Ein rechtswissenschaftliches Studium war im 18. Jahrhundert die bevorzugte Ausbildung der Staatsdiener (258. 263-264). Die Aufklärer traten als Beamte den langen Marsch durch die Institutionen an. Die Beamten- und Politikerkarriere war sogar attraktiver als eine akademische Laufbahn: Neri legte seine Professur nieder und trat in den Staatsdienst ein, wo er es bis zum Präsidenten des lombardischen Steueramts, zum Finanzrat und zum Staatsrat brachte. Carli war ebenfalls zunächst Professor, versuchte sich dann als Tuchfabrikant und stieg erst später in die Mailänder Verwaltung ein. Auf einem ähnlichen Umweg – über die Bewirtschaftung eigener Ländereien – gelangte Palmieri in den Staatsdienst; er beendete seine Karriere als Oberster Finanzrat und Finanzdirektor des Königreichs Neapel. Longo beschloss seine als Kirchenhistoriker und Wirtschaftswissenschaftler eingeschlagene akademische Laufbahn schließlich als Mitglied des Mailänder Verfassungsausschusses. Pietro Verri verzichtete gar auf ein Hochschulstudium, was ihn nicht daran hinderte, eine brillante politische Karriere als Wirtschaftspolitiker und Reformer zu machen – in der Repubblica Cisalpina war er schließlich Mitglied der provisorischen Regierung und Präsident des Mailänder Bürgerrats. Beccaria gab wie Neri seine ökonomische Professur auf; er wurde Mitglied des Obersten Wirtschaftsrats in Mailand und leitete später verschiedene Regierungsdepartemente. Giambattista Vasco trat von seiner theologischen Professur zurück, um zunächst journalistisch und anschließend in der Mailänder und Turiner Verwaltung zu wirken. Der Philosoph als Beamter und Reform- und Realpolitiker ist eine Signatur der italienischen Aufklärung – anders als etwa in Frankreich, wo die philosophes in der Regel ein eher gebrochenes Verhältnis
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Einleitung (Lit. XXXIII-XXXV)
zur Staatsmacht hatten. Filangieri, auch er ein Aufklärer in staatlichen Diensten, prägte das Wort von der «Philosophie im Dienste der Regierungen» (filosofia in soccorso de’ governi; Filangieri 1780/2003 [*14: I 14]). Der Philosoph als Militär. – Das Selbstverständnis des adligen Mannes definiert sich im 18. Jahrhundert durch sein Sozialprestige, das er, wie Pietro Verri schreibt, durch eine Karriere in Militär, Kirche, Wissenschaft oder Staat gewinnt (vgl. P. Verri 1777-1781/2003 [*13: 387]). So ist es nicht verwunderlich, dass sich diese berufliche Option auch bei einigen Philosophen findet. Bei den militärischen Philosophen – alle waren wichtige Denker der Aufklärung – handelt es sich um begüterte Adlige. Pietro Verri war Hauptmann der österreichischen Armee und kämpfte im Siebenjährigen Krieg. Palmieri, Autor eines zweibändigen Werkes über Kriegskunst (Riflessioni critiche sull’arte della guerra, 1761), gehörte fast dreißig Jahre lang dem Militär an; er unterbrach seinen Dienst nur vier Jahre für ein philosophisches und rechtswissenschaftliches Studium. Filangieri trat schon als Fünfjähriger in die Armee ein, der er sein Leben lang verbunden blieb. Doria, der an der Accademia di Medinacoeli Vorlesungen über Kriegskunst hielt, machte zwar keine militärische Karriere, aber sein ‹Capitano filosofo› (1739) gehört zu den bedeutendsten militärwissenschaftlichen Werken des Settecento. Der verfolgte Philosoph. – Unter den italienischen Philosophen gab es nicht wenige radikale Denker, die in Konflikt mit der Kirche und der Staatsmacht gerieten. Die Kirchenkritiker Costantino Grimaldi und Giannone wurden verfolgt und inhaftiert. Grimaldis ‹Discussioni istoriche, teologiche, e filosofiche› (1725) wurden konfisziert und ins Meer geworfen, Dorias ‹Idea d’una perfetta repubblica› (verfasst 1741) wurde verbrannt, Giannones ‹Istoria civile del Regno di Napoli› (1723) auf den Index gesetzt – ein Schicksal, das auch Algarottis ‹Newtonianismo per le dame› (1737), Beccarias ‹Dei delitti e delle pene› (1764) sowie mehreren Büchern von Pilati (Esistenza della legge naturale, 1764; Ragionamento intorno alla legge naturale, 1766; Riforma d’Italia, 1767; Il matrimonio di Fra Giovanni, 1768) oder Paganos ‹Saggi politici› (Ausgabe 1791-1792) widerfuhr. Boscovich wurde zwar nicht verfolgt, aber der eigene Orden und die Kurie stellten ihn kalt, indem sie ihn vom Unterricht im Collegium Romanum suspendierten und mit diplomatischen Missionen beauftragten. Pilati erlitt tatsächliche Verfolgung und lebte lange im Exil, doch wurde er zu Beginn des 19. Jahrhunderts tridentinischer Regierungsrat. Dalmazzo Francesco Vasco wurde wegen seiner Unterstützung des korsischen Freiheitskampfes gefangengenommen und starb im Gefängnis. Pagano, Jurist wie Pilati und Dalmazzo Francesco Vasco und Strafrechtsprofessor in Neapel, ging als Gegner der Monarchie ins Exil; er war Revolutionär, gehörte 1799 zu den Begründern der Repubblica Partenopea, wurde Mitglied der provisorischen Regierung und Präsident des Gesetzgebungsausschusses. Nach dem Ende der kurzlebigen Republik wurde er hingerichtet. Das Selbstbild des Philosophen. – Die Bandbreite philosophischen Selbstverständnisses in der europäischen Aufklärung reicht vom Typus der französischen philosophes, die nicht selten zum Materialismus und zuweilen zum Atheismus tendierten, zum größten Teil außerhalb der akademischen und öffentlichen Institutionen agierten und gegenüber Kirche und Staat kritisch bis radikal ablehnend
Konturen der Philosophie des italienischen Settecento
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waren, über die gemäßigteren und pragmatischeren englischen und schottischen Aufklärer bin hin zu den deutschen Aufklärungsphilosophen, die zumeist dem akademischen Umfeld entstammten und auch dort ihre Wirkung entfalteten (Rother 2005 [*63: 29-30]). Die italienischen filosofi waren zwar kaum weniger staats- und religionskritisch als die französischen philosophes, doch ihr Pragmatismus, den sie mit den Engländern und Schotten teilten, ließ sie die Alternative in der aktiven Förderung und wirksamen Durchsetzung einer Reformpolitik in leitender Position im Staatsdienst ergreifen. Der Philosoph als Reformer im Staatsdienst war wenig an einer akademischen Karriere interessiert – dies ist ein Zug, den die filosofi mit den philosophes teilten und der sie von den akademischen deutschen Aufklärungsphilosophen unterschied. Die Orientierung an praktischen Aufgaben ist ein typisches Merkmal des italienischen Philosophen im 18. Jahrhundert. Der filosofo, der sich als Aufklärer (uomo illuminato) versteht, bekämpft den Pedantismus der Scholastik (A. Verri 1764-1765/1998 [*4: 134], Gipper 2003 [*58: 57-65], Greiner 2003 [*59: bes. 7879], Hendrix 2003 [*60], Rother 2005 [*63: 36-41]). Exemplarisch ist in dieser Hinsicht der Mailänder Herausgeberkreis der Zeitschrift ‹Il Caffè› (1764-1766), deren Titel assoziativ das Selbstverständnis des filosofo illuminato zum Ausdruck bringt: Kaffee als «Droge der Aufklärer» (dazu Klettke 2003 [*61]), der – anders als das einschläfernde Opium – die Menschen aus der Lethargie reißt (P. Verri 1764-1765/1998 [*8: 287]), ihre Lebensgeister weckt (1764-1765/1998 [*6: 14]) und sie aus dem «Schlaf der Irrtümer» erwachen lässt (A. Verri 1765-1766/1998 [*11: 625]; vgl. Rother 2005 [*63: 32], 2008 [*67: 243-244]). Das Kaffeehaus suggerierte eine Urbanität und eine Mondänität, die zuweilen von stoischer Lebenskunst flankiert oder auch durchkreuzt wurde (Rother 2005 [*63: 40-44]). Das Idealbild des filosofo vereint nicht nur den Beamten, Politiker und Reformer, den antischolastischen Weltmann und Kaffeehausintellektuellen, sondern auch – wie der biographische Befund zeigt – den theologisch gebildeten und häufig sogar mit priesterlichen Weihen ausgestatteten Denker. Dieses Profil unterscheidet den filosofo markant vom französischen philosophe. Vielleicht war es gerade dieses weitgehend ungebrochene Verhältnis zum christlichen Glauben oder zumindest das «Schweigen», das man sich bei der Untersuchung «heiliger Gegenstände» selbst auferlegte (Anonym 1764-1765/1998 [*2: 5]), das den filosofi einen aufreibenden Kirchenkampf ersparte und dafür Energien für eine umso effizientere Realisierung anderer Forderungen und Ziele der Aufklärung freisetzte. Die Sprache des Philosophen. – Die Ablösung des Lateins als Gelehrtensprache ist eine Entwicklung, deren Anfänge ins 16. Jahrhundert zurückreichen (Mudroch/Rother 1998 [*56: 49]), die aber auch im 18. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen war. Von den politischen Denkern der ersten Jahrhunderthälfte schrieben Costantino Grimaldi, Doria und Giannone auf Italienisch, Gravina publizierte hingegen fast ausschließlich auf Latein, während Muratori und Spinelli in beiden Sprachen schrieben; bei den lateinischen Schriften Spinellis handelt es sich allerdings um akademische Dissertationen. Vico verfasste die meisten Schriften auf Latein; sein Hauptwerk, die ‹Scienza nuova› (1725), bildet in dieser
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Hinsicht eine Ausnahme. Die mathematischen und naturwissenschaftlichen Denker unter den Philosophen schrieben auf Latein, wenn ihre Schriften im universitären Kontext entstanden, auf Italienisch, wenn sie Monographien verfassten oder in wissenschaftlichen Zeitschriften publizierten. Die Gelehrtenzeitschriften, deren Florieren ein typisches Aufklärungsphänomen darstellt, trugen allesamt italienische Titel, enthielten aber zuweilen auch lateinische Artikel (wie z. B. die ‹Galleria di Minerva›). Dass sich die Apologeten des 18. Jahrhunderts mehr als andere Denker des Lateins als der Sprache der Kirche bedienten, überrascht nicht, aber auch hier finden sich einige Autoren, die ebenfalls auf Italienisch publizierten (z.B. Concina, Valsecchi und vor allem Buonafede). Dass Gerdil seine nichtlateinischen Schriften auf Französisch abfasste, ist auf seine piemontesische Herkunft zurückzuführen. Bei Denina, der ebenfalls aus dem Piemont stammte, war es anders: Als Theologe schrieb er Latein und als Philosoph Italienisch; des Französischen bediente er sich erst, als er am Hof Friedrichs des Großen lebte. Diese drei Sprachen finden sich auch bei Giambattista Vasco. Sein Bruder Dalmazzo Francesco Vasco schrieb nur seinen korsischen Verfassungsentwurf, die ‹Suite du Contract social› (1765), sowie eine Antwort auf eine Preisfrage der Freien Ökonomischen Gesellschaft von St. Petersburg (1767) auf Französisch. Pietro Verri verfasste in seiner belletristischen Phase einige französische Aufsätze, Pilati schrieb seine in den Niederlanden erschienenen Werke auf Französisch. Im Allgemeinen aber schrieben die nord- und mittelitalienischen Aufklärer auf Italienisch – eine Ausnahme bilden hier wiederum die Universitätsschriften, wie z.B. Longos Antrittsvorlesung auf dem Mailänder Lehrstuhl für Kirchenrecht (Prolusio, 1769). Zu einem Bruch mit dieser akademischen Tradition kam es nach der Einrichtung von Lehrstühlen für politische Ökonomie: Bartolomeo Intieri knüpfte die Stiftung der neapolitanischen Professur für Handelswissenschaften 1753 an die Bedingung, dass die Vorlesungen auf Italienisch gehalten werden. Italienisch war auch die Unterrichtssprache auf den entsprechenden Lehrstühlen in Mailand und Modena (vgl. Rother 2004 [*62]). In ähnlicher Weise passten die Aufklärungsphilosophen im Süden ihre Sprache den jeweiligen Umständen und Kontexten an. Dass der als Botschaftssekretär in Paris weilende und in den Kreisen der philosophes verkehrende Abbé Ferdinando Galiani französisch schrieb, lag nahe. Ausnahmen bilden etwa Longanos ‹Philosophiae rationalis elementa› (1791), die zur Gattung der Universitätsschriften gehören, oder Francesco Antonio Grimaldis ‹De successionibus legitimis in urbe Neapolitana› (1766) und Paganos ‹Politicum universae Romanorum nomothesis examen› (1768). Die Sprachoption – dies legt der Befund nahe – verweist auf unterschiedliche intellektuelle Kulturen: Der filosofo schrieb auf Italienisch wie in Frankreich der philosophe auf Französisch, während der akademische philosophus wie auch der theologus weiterhin auf Latein publizierten. Paradigmatisch ist in dieser Hinsicht Genovesi, der beide Kulturen in sich vereinigte: als Theologe und Metaphysiker schrieb er lateinische, als politischer Ökonom italienische Handbücher.