Argumenta in dialogos Platonis

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ARGUMENTA IN DIALOGOS PLATONIS TEIL 1: PLATONINTERPRETATION UND IHRE HERMENEUTIK VON DER ANTIKE BIS ZUM BEGINN DES 19. JAHRHUNDERTS AKTEN DES INTERNATIONALEN SYMPOSIONS VOM 27.–29. APRIL 2006 IM ISTITUTO SVIZZERO DI ROMA HERAUSGEGEBEN VON ADA NESCHKE-HENTSCHKE UNTER MITARBEIT VON KASPAR HOWALD, TANJA RUBEN UND ANDREAS SCHATZMANN




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Herausgegeben von Christoph Riedweg und Philippe Mudry Istituto Svizzero di Roma | Schweizerisches Institut in Rom | Institut Suisse de Rome


ARGUMENTA IN DIALOGOS PLATONIS TEIL 1: PLATONINTERPRETATION UND IHRE HERMENEUTIK VON DER ANTIKE BIS ZUM BEGINN DES 19. JAHRHUNDERTS

AKTEN DES INTERNATIONALEN SYMPOSIONS VOM 27.–29. APRIL 2006 IM ISTITUTO SVIZZERO DI ROMA HERAUSGEGEBEN VON ADA NESCHKE-HENTSCHKE UNTER MITARBEIT VON KASPAR HOWALD, TANJA RUBEN UND ANDREAS SCHATZMANN

SCHWABE VERLAG BASEL


Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Société Académique Vaudoise

©2010 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Vignette Umschlag: Stierkopf, römische Bronze, gefunden in Martigny (Wallis) Abbildung Umschlag: Plato and Socrates. Oxford, Bodleian Library, MS. Ashmole 304, fol. 31v. Satz: Kaspar Howald, Tanja Ruben und Andreas Schatzmann Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Basel/Muttenz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2654-1 www.schwabe.ch


Inhaltsverzeichnis

Vorwort zu den Bänden Argumenta in dialogos Platonis, Teil I und II Ada Neschke-Hentschke ............................................................................................ VII Einführung zu Argumenta in dialogos Platonis, Teil I Ada Neschke-Hentschke ............................................................................................

1

Die Antike Der Platonische Dialog als Prototyp der Gattung «Philosophischer Text» und Gegenstand der Exegese Ada Neschke-Hentschke ........................................................................................

5

Übersicht über die Auslegungsgeschichte der Platonischen Dialoge in der Antike (1.Jh. v.Chr. bis 6. Jh. n.Chr.) Ada Neschke-Hentschke ............................................................................................

23

Esegesi, commento e sistema nel medioplatonismo Franco Ferrari ..........................................................................................................

51

Instruction and Hermeneutics in the Didascalicus Harold Tarrant ....................................................................................................

77

Esegesi e sistema in Plotino Riccardo Chiaradonna .............................................................................................. 101 Philosophieunterricht und Hermeneutik im Neuplatonismus Gyburg Radke-Uhlmann .......................................................................................... 119 Le «but» et le «caractère» du Timée dans l’In Timaeum de Proclus. La fonction herméneutique des kefãlaia énumérés dans les prologues aux commentaires néoplatoniciens Alain Lernould ......................................................................................................... 149 L’interpretazione di Platone e la fondazione della teologia nel tardo Neoplatonismo Michele Abbate ......................................................................................................... 183


Inhaltsverzeichnis

VI

Die Neuzeit Übersicht über die Auslegungsgeschichte der Platonischen Dialoge in der Neuzeit (15. Jh. bis zum Beginn des 19. Jh.) Ada Neschke-Hentschke ........................................................................................... 197 I Decembrio e la Repubblica: Prologhi, argumentula e marginalia Mario Vegetti ........................................................................................................... 235 Das Sokratesbild in Ficinos argumenta zu den kleineren Platonischen Dialogen Michael Erler ........................................................................................................... 247 Germana philosophia – gemina veritas. Platonhermeneutik und -didaktik im frühen Calvinismus (Jean de Serres 1540–1598) Ada Neschke-Hentschke ............................................................................................ 267 Platon in der Renaissance: Marsilio Ficino und Francesco Patrizi Thomas Leinkauf ..................................................................................................... 285 The Cambridge Platonists: An Overview Christopher Gill ....................................................................................................... 301 Thomas Taylor the Platonist Christopher Rowe ..................................................................................................... 315 Le démon de Socrate et la joie de Descartes Autour de l’Apologie de Socrate dans la Lettre à Elisabeth Stéphane Toussaint .................................................................................................. 327 Eclairer l’obscurité. Brucker et le syncrétisme platonicien André Laks ............................................................................................................... 351 Platon und Kant Rafael Ferber ............................................................................................................ 371 The Construction of Herbart’s Thought Through the Hermeneutics of Plato’s Theory of Ideas Francesco Aronadio ................................................................................................... 391 Von Brucker über Tennemann zu Schleiermacher. Eine folgenreiche Umwälzung in der Geschichte der neuzeitlichen Platondeutung Thomas Alexander Szlezák ....................................................................................... 411 Die Autorinnen und Autoren .............................................................................. 435 Indices ..................................................................................................................... 441


Ada Neschke-Hentschke Vorwort zu den Bänden

Argumenta in dialogos Platonis, Teil I und II


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I. Platonhermeneutik als Gegenstand eines internationalen Forschungsprojektes Auf Initiative von Michael Erler (Würzburg), Theo Kobusch (Bonn), Ada Neschke (Lausannne), Thomas Leinkauf (Münster) und Christoph Riedweg (Zürich/Rom) fanden im Istituto Svizzero di Roma, geleitet von Christoph Riedweg, im April 2006 und im Februar 2008 zwei Kolloquien statt, deren Ziel es war, die Geschichte der Auslegung Platons und deren Methodologie (Hermeneutik) von der Antike bis in die heutige Zeit nachzuzeichnen. Gefördert wurde das Projekt durch das Istituto Svizzero di Roma, die Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Société académique vaudoise, die Université de Lausanne, das Istituto italiano per gli studi fiolosofici in Neapel und die deutsche Thyssen-Stiftung. Diesen Institutionen sei hiermit gedankt. Die wissenschaftliche Organisation des internationalen Projektes und die Herausgabe der Tagungsakten lag in den Händen von Ada Neschke. Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse der ersten Tagung, deren Thema die Platoninterpretation vom Mittelplatonismus bis zum Kritizismus des 18. Jahrhunderts bildete. Der zweite Band, der die Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur aktuellen Gegenwart umfassen wird, ist in Vorbereitung.

II. Platoninterpretation und aktuelle Hermeneutik-Diskussion Um in die Beiträge beider Bände einzuführen, sei der spezifische Gesichtspunkt angegeben, der die Tagungen leitete und dem die Beiträge Genüge leisten wollten. Um diesen Gesichtspunkt darzustellen, ist es wichtig, jegliche Verwechslung mit anderen, ähnlich erscheinenden Vorhaben auszuschließen. Bei den Beiträgen handelt es sich nicht in erster Linie um Studien zur Platon-Rezeption. Unter Platon-Rezeption verstehen wir eine Aufnahme und Umwandlung platonischer Gedanken. Wenn das berühmte Wort Whiteheads richtig ist, dass die gesamte abendländische Philosophie nur Fußnoten zu Platon geschrieben hat,1 wäre die gesamte Tradition eine Platonrezeption. Ein Vorhaben, diese in zwei Bänden darstellen zu wollen, wäre ebenso anmaßend wie unrealistisch. Wie etwa die von Heinrich Dörrie zunächst auf acht Bände geplante Reihe «Der Platonismus in der Antike» deutlich macht, bildet bereits das Projekt, die Platonrezeption nur in der antiken Welt zu erfassen, ein gigantisches Unternehmen.2 Die weiteren Rezeptionsstufen des Platonismus, die sich in dessen verschiedenen Renaissancen manifestieren, sind gleichfalls Gegenstände von Gesamtdarstellungen und Einzelanalysen geworden, deren Zahl sich kaum mehr übersehen

1

Whitehead 1995, 98.

2

Dörrie/Baltes 1987ff.


Vorwort

lässt.3 Im Unterschied zu all diesen Untersuchungen tragen die vorliegenden Studien zwar auch zur Platon-Rezeption bei, sofern sie bekannte und weniger bekannte Interpreten des griechischen Philosophen in den Blick nehmen, sie haben dagegen die Platon-Rezeption nur akzidentell, in einer intentio obliqua, zum Gegenstand. Die intentio recta, das wesentliche Interesse, richtet sich dagegen auf die Interpretationsgeschichte Platons als Fallstudie für die Geschichte derjenigen Wissensform und Wissensmethode, die seit dem 17. Jahrhundert den Namen der «Hermeneutik» erhalten hat.4 Gefragt wird daher nicht, welches Platon-Verständnis in den einzelnen Epochen zur Geltung gebracht wurde, sondern, unter welchen hermeneutischen Prämissen und mit welchen Verfahren die Hauptvertreter der Platonrenaissancen zu ihrem Platonverständnis gelangten. Das Erkenntnisinteresse, das diesen und den folgenden Band bestimmt, ist daher ein wissenschaftsgeschichtliches und -theoretisches. Es betrifft die Interpretation: Wir gebrauchen dieses vieldeutige Wort hier im Sinne einer Methode, d.h. als das Zusammenspielen von «Verstehen» (intellectus) und «Auslegung» (interpretatio) sprachlich verfasster Äußerungen des Menschen;5 Interpretation und ihre Methode – die idea boni interpretis – bildete den Gegenstand der ersten modernen Traktate, die den Namen der Hermeneutik wählten;6 bis heute stellt sie die Hauptmethode der Geisteswissenschaften dar, die daher die historisch-hermeneutischen oder nur hermeneutischen Wissenschaften genannt werden.7 Ursprung und Nährboden für diese Art der Fragestellung bildet die aktuelle Situation der Hermeneutik.8 Der Name «Hermeneutik» hat im 20. Jahrhundert, seit Heideggers Werk «Sein und Zeit»,9 aufgehört, ein Grundverfahren der Geisteswissenschaften zu bezeichnen, das durch die ihm vorangehende historische und die folgende ästhetische oder philosophische Kritik ergänzt wird.10 Die phänomenologische Wende der Hermeneutik bei M.Heidegger und H.G.Gadamer11 einerseits und die Wiederentdeckung der Allgemeinen Hermeneutik als Teil der Logik und Erkenntnistheorie and-

3

Eine willkommene Orientierung liefert jetzt Erler 2007, 520–549.

4 Als erster moderner Hermeneutik-Traktat gilt heute die Schrift des Theologen J.C. Dannhauer, Idea boni interpretis…, Straßburg 1630. Dazu Scholz 1999, 35–43; Bühler, P., 2006. 5 In einem weiteren Sinne umfasst die Hermeneutik auch andere symbolische Darstellungen des Menschen. Dilthey 81992, 85ff. spricht daher generell von den Objektivationen. Zu Dilthey vgl. Rodi 1990 und Gens 1995. 6 Dannhauer ist der erste, der 1654 seine Auslegungslehre eine «Hermeneutica sacra» nennt. Zur Hermeneutik des 17. Jahrhunderts s. Bühler/Cataldi Madonna 1994, Bühler, A. 1994, Scholz 1999, 35–67. 7

Riedel 1978, 9–41.

8

Neschke-Hentschke 2004, 5–26.

9

Heidegger 16 1986, 142–160.

10 Jaeger 1975, 32–151. 11 Gadamer 2 1965, 162–360.

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rerseits (L. Geldsetzer,12 A. Bühler,13 O.R. Scholz14) haben den Namen «Hermeneutik» für philosophisch-erkennntnistheoretische, nicht geisteswissenschaftliche Zwecke usurpiert. Dennoch beanspruchen beide Strömungen, fundamentale Aussagen zu den Verfahren der Geisteswissenschaften zu machen, sei es, dass man deren Rationalität und Objektivität bestreitet (Gadamer), sei es, dass man sie betont (Scholz). Im ersten Fall trat und tritt die philosophische Hermeneutik in einen Konflikt mit dem Selbstverständnis der Geisteswissenschaftler, die auf der Objektivität und damit dem Realitätsgehalt ihrer Aussagen bestehen.15 Diesen Konflikt der philosophischen Hermeneutik mit den Geisteswissenschaftlern hat kürzlich Hans Krämer, selber einer der bedeutendsten Interpreten Platons, auf den Gegensatz von Antirealismus (Gadamer) und Realismus (das Objektivitätsstreben der Wissenschaft) gebracht.16 Während Gadamer behauptet, dass wir immer «anders» verstehen – was Krämer als Ausdruck des Antirealismus interpretiert – hält er selber am Realismus, an der Unterscheidung von angemessenem und unangemessenem Verstehen fest. Damit setzt er, in die bekannte Realismus-Antirealismus-Debatte eintretend,17 die Reihe der Kritiken fort, die das Erscheinen von Gadamers Werk «Wahrheit und Methode» 1960 hervorgerufen hatte.18 In dieser Situation eines nicht enden wollenden Streites soll an Thomas S. Kuhns Mahnung erinnert werden, dass Wissenschaftstheorie ohne Wissenschaftsgeschichte unfundiert bleiben muss.19 So lässt sich etwa die strittige Frage «Wahrheit oder Methode» bzw. «Wahrheit und Methode» überhaupt nicht klären, wenn dieses Verhältnis nicht mithilfe der Wissenschaftsgeschichte konkretisiert wird. Diese Konkretisierung muss der Frage gelten, ob es immer nur anderes Verstehen oder auch besseres und schlechteres Verstehen gibt; ja, das Problem lautet grundsätzlicher, ob mit der genannten Frage überhaupt eine echte Alternative ausgesprochen wird. Eine Wissenschaftsgeschichte, die in das Dilemma der aktuellen Hermeneutik-Diskussion Licht tragen kann, bildet der Fall der Interpretation Platons. Es ist daran zu erinnern, dass es das Textcorpus der Platonischen Dialoge war, das nach den homerischen Gedichten und vor der Bibelexegese die Ausbildung methodisch reflektierter Interpretationsverfahren hervorgerufen hat, wobei die philosophischen Interpreten von den bereits stark formalisierten Verfahren der antiken Philologen (den

12 Geldsetzer/Meier 1965; Geldsetzer 1989. 13 Bühler, A. 1994; Bühler/Cataldi Madonna 1994. 14 Scholz 1999. 15 Hirsch 1967, 1976; Betti 1962. 16 Krämer 2007, 11–58. 17 Dazu Abel 1992. 18 Über diesen Streit vgl. Scholtz 1997. 19 Kuhn 1973, 15–24.


Vorwort

kritiko€) profitieren konnten.20 So hat die Form der Einleitung und die durchgehende Textkommentierung bei den Platonikern ihr Vorbild in den Kommentaren, die die alexandrinischen kritiko€, später auch die römischen Philologen (grammatici) von den Dichtern erstellten. Dieses Vorbild ging soweit, dass man einem Philosophen den Vorwurf machen konnte, er sei nur ein Philologe.21 Umgekehrt hat die Auslegung der Platonischen Texte der Exegese der Bibel solche Grundbegriffe wie den des skopÒw einer Schrift geliefert, auf den noch Luther zurückgreifen wird.22 Es gab also bereits in der Antike – worauf schon Peter Szondi hingewiesen hat23 – seit der Homerauslegung eine «Hermeneutik», d.h. ein methodisch reflektiertes Instrumentarium, das eine Wissenschaft als Wissensgemeinschaft (die Philologen in Alexandria, die Schulgemeinschaften der Platoniker) überhaupt stiftete und den Rahmen für die Diskussionen strittiger Auslegungen bildete. In diesen Gemeinschaften betrieb man «Interpretation», d.h. griechisch §jÆghsiw, die, wie die lateinische enarratio, das Ziel hatte, den Gedankengang einer Schrift (die sunakolouy€a dianohmãtvn bzw. seine shmas€a) zu analysieren und auszulegen.24 Der Fall der Platoninterpretation, betrachtet als Fall einer kontinuierlichen hermeneutischen, d.h. methodisch reflektierten Interpretationsgeschichte, legt bereits im voraus die Vermutung nahe, dass die Alternativen der Diskussion um das Verstehen nicht wirklich die Sachlage erfassen. Gäbe es nur richtiges und falsches Verstehen und siedelte man, dem Fortschrittsdenken seinen Tribut zahlend, das richtige Verstehen nur in der Gegenwart an, hätten vor dem Aufkommen der historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften Generationen von Interpreten wie Ixion nur Wolken statt der Hera umarmt; die Vorgeschichte der modernen und aktuellen Platoninterpretation erwiese sich als eine Geschichte von Irrtümern. Gäbe es dagegen nur anderes Verstehen, wären alle methodischen Regeln, die zu einem angemessenen Verstehen führen sollen, bloße Selbsttäuschungen der Interpreten über die Möglichkeit des adäquaten Verstehens eines anderen, diese Bedeutung von «Verstehen» hervorgehoben; denn in der Diskussion um Gadamers Werk wird nicht genügend unterstrichen, dass der Begriff des Verstehens als Verstehen eines anderen, der jeder Textauslegung zugrunde liegt, bei Gadamer zum Verschwinden gebracht wurde. Gadamer, ganz auf den Spuren Heideggers behauptet nämlich, dass alles Verstehen «im Grunde das Verstehen unser selber sei.»25 Das bedeutet: Der Historiker versteht nicht den Text der Geschichte noch der Philologe den Text des Autors, sondern jeweils sich selbst in der 20 Pfeiffer 1970, 261–266. 21 So Plotin über Longinus, Porphyrii vita Plotini, 14, 19–20. S.a. den Beitrag von Chiaradonna in diesem Band. 22 Zur antiken Hermeneutik vgl. Pépin 1988; zu Luther Ebeling 31991. 23 Szondi 1975, 14–19. 24 Zur Geschichte der strikten Textsinnes (sensus litteralis) vgl. Neschke-Hentschke 2008b. 25 Gadamer 2 1965, 246.

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Geschichte und im Text. Dahinter steht, wie öfters gezeigt wurde,26 die gewaltsame Umdeutung Heideggers auch des geisteswissenschaftlichen Verstehens als die Selbsterhellung des Daseins.27 Zudem hat Hirsch geltend gemacht, dass Gadamer den Sinn eines Textes mit der Bedeutung, die er für den jeweiligen Leser gewinnt, unzulässigerweise vermischt.28 Es gilt daher, in Anbetracht der großen Wirkung Gadamers, gegen diesen zu betonen, dass die Hermeneutik als Theorie der Interpretation im Verstehen des anderen ihr spezifisches Wirkungsfeld besitzt. Genau dieses Verständnis des «Verstehens» war es, das Dilthey veranlasste, den Geisteswissenschaften das «Verstehen» als Verfahren zuzuordnen.29 Was Hermeneutik ursprünglich war und noch immer wesentlich ist, verspricht somit eine Geschichte der Platonauslegung am historischen Phänomen klarzumachen. Daraus sollten Korrekturen in der Theoriediskussion erwachsen; denn, wie wir antizipatorisch behaupten, kann mittels dieser Geschichte gezeigt werden, dass sowohl anders als auch richtig verstanden wurde. Wie aber kann die Geschichte solches zeigen? Nur, wenn wir aus der Hermeneutikdiskussion der letzten Jahre, wie sie u.a. zwischen H.G. Gadamer und O.R. Scholz geführt wurde, etwas gelernt haben. Die aktuelle Theoriedebatte zeigt nämlich nicht nur Differenzen, sondern auch erstaunliche Konvergenzen. Der 100. Geburtstag H.G. Gadamers am 17. Februar 2000 bildete einen Anlass der Versöhnung. Anlässlich dieses Datums bestätigte Oliver Scholz H.G. Gadamer dessen Leistung, daran erinnert zu haben, daß das Verstehen ein holistisches Verfahren darstellt, da es durch eine Vorstruktur bestimmt ist; nur im Rahmen eines Vorverständnisses wird verstanden.30 Man ist sich also einig, dass wir nur verstehen, wenn wir schon verstanden haben. Wie dieses Vorverständnis auszulegen sei, existentiell, normativ (Vorgriff der Vollkommenheit), ethisch (hermeneutische Billigkeit, principle of charity), oder rationalistisch probalistisch (in der Form einer Präsumtion oder einer Interpretationshypothese) bildet den Hauptstreitpunkt zwischen der Hermeneutik Gadamers, der Allgemeinen Hermeneutik und den Vertretern der Geisteswissenschaften. Dass es sich hierbei um Fragen handelt, die von Fall zu Fall anders zu entscheiden sind, lehrt allein die Geschichte einer Auslegungstradition. Eine solche wird in den zwei hier angekündigten Bänden vorgelegt. Damit aber haben wir bereits angedeutet, um welche Gesichtspunkte es in dieser Geschichte gehen wird: Sicherlich sind die spezifisch technischen Verfahren der Interpretation, die die antiken Grammatiker, Philosophen und Theologen bzw. die 26 Greisch 1994, 187–194; Scholz 1999, 134–137. 27 Loc.cit. s.o. Anmerkung 9. 28 Hirsch 1967, 245–265. 29 Zur Umdeutung Diltheys durch Gadamer kritisch Neschke-Hentschke 2008a. 30 Scholz 2005, 443–461.


Vorwort

modernen Hermeneutiker ab dem 17. Jahrhundert formuliert haben, von weitreichender praktischer Bedeutung, da sie eine gemeinsame Basis der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft hinsichtlich des kontrollierten Verstehens bildeten; es wird sich zeigen, dass solche Regeln eine erstaunliche Konstanz aufweisen. Für eine Geschichte der Auslegung eines spezifischen Textcorpus ist es hingegen, gemäss unserer heutigen Einsicht in die voraussetzungsreiche Natur der Interpretation, entscheidend zu erkennen, dass diese Methoden entwickelt wurden, um die jeweilige Textexegese mit einem je neuen, globalen Vorverständnis – es sei im folgenden als hermeneutischer Vorgriff bezeichnet – in Einklang zu bringen. Im Falle der Platonauslegung stehen dabei Wahrheit und Methode keineswegs in einem gegensätzlichen Verhältnis, sondern sind wechselseitig aufeinander angewiesen.

III. Die Hauptepochen der Interpretation Platons Die Fokussierung auf den globalen hermeneutischen Vorgriff steht somit im Mittelpunkt der folgenden Beiträge sowie der Arbeiten des zweiten Bandes. Die dabei vorgenommene Aufteilung der Beiträge hat einen sachlichen Grund; denn unter dem Gesichtspunkt des sich wandelnden hermeneutischen Vorgriffs ist es folgerichtigt, die Tradition der Platoauslegung in zwei große Perioden einzuteilen; man kann sie, in Anwendung des beschreibenden, nicht normativen Gebrauchs des Wortes «Paradeigma», wie ihn Thomas S. Kuhn vorschlug,31 als zwei Paradigmen bezeichnen: – Die Platon-Auslegung von der Antike bis zur Aufklärung geschieht unter dem normativen unwiderleglichen Vorgriff der einen, universalen Wahrheit, der sich die Philosophie als höchste und strengste Form des menschlichen Denken verschrieben hat. Die Texte der sich als Philosophen erklärenden Autoren sind im Lichte dieser Wahrheit zu verstehen. Von der Universalität der einen Wahrheit gingen sowohl Platons erste Interpreten, die Mittelplatoniker, als auch seine modernen Kritiker, die Vertreter der Aufklärung und des Kritizismus aus. Daher reicht der hier vorliegende Band von der Hermeneutik der Mittelplatoniker und Neuplatoniker über die Renaissanceplatoniker und die Aufklärung im Lichte der Leibniz-Wolffschen Philosophie (Brucker) bis zu Kant und Herbart. – Die Platonauslegung seit den Romantikern steht im Zeichen des Bewusstseins des geschichtlichen Wandels, das den Historismus begründete:32 Ihr gilt das unverwechselbare besondere Individuum als Entdecker je neuer und daher vielfältiger und wandelbarer Wahrheiten, die in kontingenter Weise – und nicht in dialektischer,

31 Kuhn 1973, 25. 32 Zum Begriff des Historismus vgl. Scholtz 1997, 192ff.

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wie Hegel glaubte – die Philosophiegeschichte als Wahrheitsgeschichte hervorrufen. Die Entdeckung der Geschichte als Geschichte der individuellen Völker und ihrer schöpferischen Mitglieder in der Nachfolge Herders beherrscht das Denken von F. Schlegel und F.D.E. Schleiermacher. Erst jetzt wird eine Philosophiegeschichte der Griechen (Zeller) möglich und die Frage nach der Form einer Philosophiegeschichte dringlich (Hegel, Zeller, Ueberweg). Die Überzeugung, dass eine solche nur mit den Mitteln der historischen Kritik und der durch die Wissensgemeinschaft kontrollierten Auslegung erbracht werden kann, regt die historisch-philologische Einzelforschung zu intensiver Tätigkeit an. Die Verwissenschaftlichung der Hermeneutik im Rahmen der neu entstehenden Geisteswissenschaften, die auf immer genauer werdende Forschung dringen, bildet den Hintergrund für das massive Auftreten von Platon-Studien im 19., 20. und 21. Jahrhundert. Der zweite Band wird diese Erscheinung von Schlegels Platondeutung bis zur aktuellen Diskussion um die Idee des Guten beleuchten. Die Bände bringen damit zum Ausdruck, dass am Beginn des 19. Jahrhunderts ein bedeutsamer Paradigmenwechsel in der Platon-Interpretation stattfand. Nicht zufällig läuft dieser Wechsel parallel zum Paradigmenwechseln in der Geschichte der Hermeneutik.33 Oliver Scholz hat die genuine Leistung Schleiermachers als Begründer einer neuen Allgemeinen Hermeneutik bestritten; denn er übersieht, dass das holistische Modell der Interpretation, das er korrekt Schleiermacher zuschreibt,34 nicht nur ein Zusatzelement zur tradierten Allgemeinen Hermeneutik darstellt, sondern dass mit diesem Modell die alte Allgemeine Hermeneutik ad acta gelegt wird; der Holismus Schleiermachers, der sich im Konzept des hermeneutischen Zirkels äußert, dringt auf die Kontextualisierung des Textes, um dessen geschichtliche Eingebundenheit einerseits und innovative Kraft gegenüber der Tradition andrerseits zur Geltung zu bringen. Schleiermachers Hermeneutik steht selber unter einem neuen hermeneutischen Vorgriff über den Charakter auszulegender Texte.35 Seine verschiedenen Entwürfe zur Hermeneutik versuchen, dieses neue Paradeigma für die interpretatorische Praxis fruchtbar zu machen. Diese Praxis soll die Kontextualisierung auf verschiedenen Ebenen, sprachlichen, stilistischen, doktrinalen, historischen etc. durchführen, so dass ein Text oder ein Werk als Ganzes und besonderes Ereignis erkannt werden kann. Das bedeutet das Ende der «Stellenhermeneutik», die nicht den Text als Ganzen in seiner geschichtlichen Einordnung, sondern seine obscuritas als Abweichung von einer allgemeinen Logik zum Gegenstand der Auslegung macht. Schleier33 Dem Aufweis dieser Parallele dient der von A. Laks und A. Neschke herausgegebene Band La Naissance du paradigme herméneutique (1990, 2 2008), der sowohl die institutionellen wie intellektuellen Umbrüche des Beginns des 19. Jahrhunderts thematisiert und die Klassiker der historischen Hermeneutik (Schleiermacher, Humboldt, Boeckh, Droysen) vorstellt. 34 Scholz 2001, 279–282. 35 Dazu Neschke-Hentschke 2000.


Vorwort

macher hat seine Hermeneutik an Platon erprobt: Daher erhellt sich Schleiermachers Platondeutung aus seiner Hermeneutik und dieses Verhältnis gilt auch umgekehrt.36 Die Frage, die sich dann im Rückblick auf die Geschichte der Platonauslegung stellt, muss lauten: Ist heute ein neuer Paradigmenwechsel in Sicht? Giovanni Reale hatte dies behauptet:37 Die Einbeziehung der indirekten Überlieferung über die platonischen Prinzipientheorie ergäbe ein neues hermeneutisches Prinzip, da die Dialoge nunmehr als Vorschein einer höheren Wahrheit zu deuten seien. Dem gegenüber ist jedoch zu betonen, dass die Einbeziehung aller Quellen und Zeugnisse über einen Autor in die methodischen Grundsätze der wissenschaftlich-hermeneutischen Disziplinen gehören, da diese auf der historischen Kritik aufbaut. Die Kritik stellt fest, was als Quelle und Zeugnis zu gelten hat. Treten neue Zeugnisse hinzu, ergibt sich zwar eine Erweiterung der Kenntnis eines Autoren, es findet jedoch kein Paradigmenwechsel statt. Ferner kann der Nachweis, dass die Dialoge überall auf nur mündlich verbreitete Lehrinhalte hinweisen, nur mit den Mitteln des historisch-hermeneutischen Paradigmas, d.h. mit einer die Sprachformulierung und deren Gehalt minutiös beobachtenden Interpretation erbracht werden; eine solche setzt das kritisch-hemeneutische Paradigma nicht außer Kraft, sondern nimmt es, im Gegenteil, voll in Anspruch. Dagegen scheinen Zugänge zu Platon wie sie Gadamer, Leo Strauss oder Jacques Derrida praktiziert haben, je einem anderen Hermeneutikmodell zu folgen. Die Beiträge zu diesen Autoren bilden den Abschluss des zweiten Bandes und gehen dieser Frage nach. Im Angesicht neuer Möglichkeiten teilen die vorhistoristischen und historistischen Paradigmen, die in der Interpretation Platons zur Anwendung kommen, trotz ihrer Differenz einen gemeinsamen Zug; in beiden geht es weniger um den Sinn oder die formale Vollendung des Textes, sondern fast ausschließlich um die Frage seiner Wahrheit; letztere bringt die exegetischen Anstrengungen in Gang und hält sie wach. Das Phänomen verweist auf den fundamentalen Aspekt der Gattung; denn es ist an die Textgattung, den philosophischen Text, gebunden. Platon ist, wie der folgende einleitende Essay zeigen wird, der paradoxe Begründer dieser Gattung; daher bietet keine andere Auslegungsgeschichte als die platonische eine bessere Gelegenheit, das komplexe Verhältnis von Wahrheit und Methode zu analysieren.

36 Dazu Neschke-Hentschke 1990 ( 22008). 37 Reale 1984, 21–47.

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Vorwort

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Ada Neschke-Hentschke EinfĂźhrung zu Argumenta in dialogos Platonis, Teil I


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Die Platonischen Dialoge haben seit ihrer Erstpublikation innerhalb der Platonischen Akademie ihre Leser herausgefordert, über Bedeutung und Wahrheit dieser oft rätselhaften Schriften zu reflektieren. So hat bereits unter den Schülern Platons eine Debatte darüber stattgefunden, ob die Weltschöpfung, wie sie Platon im Timaios darstellt, wörtlich oder bildlich zu verstehen sei. Solange noch Platons Akademie als gelebte Institution bestand und die hier vertretene Lehre eine Entwicklung nahm, die auf die neuen intellektuellen Herausforderungen – Skeptizismus, Epikureismus und Stoizismus – antwortete, hat sich allerdings keine Kommentierungstradition um die Platonischen Schriften gebildet. Nach dem Abbrechen der akademischen Tradition im ersten Jahrhundert vor Christus und mit der Rückkehr des Antiochos von Askalon zum Dogmatismus erlangten die Platonischen Dialoge die Würde, die erste Quelle des Denkens des Schulgründers zu bilden. Paradigmatisch für die gesamte folgende Tradition wurde die exegetische Tätigkeit der Mittelplatoniker, die in der neuplatonischen Scholastik ihren Höhepunkt finden sollte. Dank der Rückkehr der Platonischen Schriften zusammen mit ihren Einführungen und Kommentaren (Alkinoos, Proklos) wurde diese Interpretationstradition bruchlos durch die Argumenta des Marsilio Ficino weitergeführt (1484) und findet erst in den Argumenta eines D. Tiedemann 1786 ihren ersten formalen Abschluss. Im gleichen Jahrhundert, dem Jahrhundert der Geschichte, beginnen die historischen Darstellungen Platons bei Brucker und Tennemann, die zu den historisch-kritischphilologischen Studien des 19. Jahrhunderts überleiten. Die folgenden Beiträge behandeln punktuell die wichtigsten Etappen der Interpretationsgeschichte der Platonischen Dialoge. So stellen FRANCO FERRARI und RICCARDO CHIARADONNA die Interpretationsmethoden der Mittelplatoniker und Plotins vor, GYBURG RADKE-UHLMANN beschreibt die neuplatonische Lehre vom Skopos des Dialogs; die theologische Wende des späten Neuplatonismus wird durch die Beiträge von ALAIN LERNOULD und MICHELE ABBATE beleuchtet. Unter den veränderten Rezeptionsbedingungen des christlichen Abendlandes wird Platon teils als politischer Denker durch die zwei Decembrio – zu ihnen MARIO VEGETTI – vor allem aber als Theologe bei Marsilio Ficino – zu ihm MICHAEL ERLER – wahrgenommen. Nach der Glaubensspaltung erlangt die platonische Philosophie bei Jean de Serres (ADA NESCHKE-HENTSCHKE) und Francesco Patrizi (THOMAS LEINKAUF) eine neue, durch die Auslegung der Dialoge zu bestätigende philosophische Rolle. Platonismus als rationale Stütze des Glaubens bestimmt, wie CHRISTOPHER GILL zeigt, den Zugang der Platoniker von Cambridge; dagegen tritt der Platonismus als Ersatzreligion bei Thomas Taylor in Erscheinung (CHRISTOPHER ROWE). Selbst der Vater des Rationalismus, René Descartes, steht, wie STÉPHANE TOUSSAINT aufzeigt, in einer bis in die Antike zurückreichenden speziellen Interpretationstradition


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