«O Herr, erbarme dich mein»

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Band 4

«O Herr, erbarme dich mein» Die Tagebücher von Carl Brenner-Sulger im Kontext des Basler Pietismus Die kommentierte Edition widmet sich dem Leben Carl Brenner-Sulgers (1806–1838), eines gebürtigen Baslers, der sich im frühen 19. Jahrhundert in den Kreisen des sogenannten «Frommen Basels» bewegte und 1831 Mitbegründer des Vereins der Freunde Israels war. Nach seinem Theologiestudium und einem Aufenthalt in Berlin kehrte Carl Brenner-Sulger Anfang der 1830er Jahre nach Basel zurück und war in der Umgebung der Stadt als Prediger und Lehrer tätig. Als Anhänger des Spätpietismus und der Erweckungsbewegung galt sein Interesse auch dem Verhältnis der christlichen Gemeinschaft zum Judentum, was sich in der engagierten Tätigkeit im Verein der Freunde Israels spiegelt. Carl Brenner-Sulger hat vier Tagebücher hinterlassen. Neben dem religiösen öffentlichen Engagement werden in seinen hinterlassenen Schriften auch persönliche Themen wie die Jugend, pubertäre Körpererfahrungen, Liebe und die Praxis der Eheschliessung oder die Erziehung von Kindern angesprochen. Der frühe Verlust seines erstgeborenen Sohnes veranlasste Carl Brenner-Sulger im Weiteren zu Gedankengängen über Schwangerschaft, Geburt, Krankheit und Tod. Die pietistische Gesinnung des Protagonisten, das lebenslange Zwiegespräch mit Gott und das Bedürfnis nach Vergebung begangener Sünden sind stets gegenwärtige Themen der Aufzeichnungen und entsprechen in dieser Hinsicht der pietistischenSchreibtradition. Das Leben Carl Brenner-Sulgers fügte sich ein in die Lebenswelten des Basler Spätpietismus des 18. und der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts.

Die Herausgeberschaft Unter der Leitung von Prof. Kaspar von Greyerz beschäftigte sich im Herbstsemester 2008 eine studentische Arbeitsgruppe im Rahmen des Archivseminars «Basler Selbstzeugnisse (1700–ca. 1840)» des Historischen Seminars der Universität Basel mit der Lektüre und Analyse von Carl Brenner-Sulgers Tagebüchern.

I S B N 978-3-7965-2696-1

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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783796 526961

Carl Brenner-Sulger

Selbst-Konstruktion Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500–1850 herausgegeben von Kaspar von Greyerz und Alfred Messerli

«O Herr, erbarme dich mein»

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«O Herr, erbarme dich mein» Die Tagebücher von Carl Brenner-Sulger im Kontext des Basler Pietismus

Herausgegeben und kommentiert von einer studentischen Arbeitsgruppe des Historischen Seminars der Universität Basel




Selbst-Konstruktion Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500–1850

Herausgegeben von Kaspar von Greyerz und Alfred Messerli

Band 4


«O Herr, erbarme dich mein» Die Tagebücher von Carl Brenner-Sulger im Kontext des Basler Pietismus

Herausgegeben und kommentiert von einer studentischen Arbeitsgruppe des Historischen Seminars der Universität Basel (Helen Boutellier, Stefan Branca, Sandra Ebneter, Anina Eigenmann, Anouk Gyssler, Daniela Hallauer, Flurina Joray, Franziska Kissling, Stephanie Mohler, Michel Schultheiss, Lea Willimann, Simone Zweifel, unter der Leitung von Kaspar von Greyerz)

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher UnterstĂźtzung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft, Basel und der Johannes-Oekolampad-Stiftung, Basel

Abbildung auf dem Umschlag: Beginn des Tagebuchs No 3 von Carl Brenner-Sulger (Staatsarchiv Basel Stadt, PA 562 L2 Nr. 3 1), siehe S. 206. Š 2010 Schwabe AG, Verlag, Basel Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2696-1 www.schwabe.ch


Inhaltsverzeichnis Vorwort ..........................................................................................................................

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Erster Teil: Wissenschaftlicher Kommentar 1. Einleitung der HerausgeberInnen . .......................................................................... 2. Selbstzeugnisse und autobiographisches Schreiben ............................................... Stephanie Mohler 3. Pietismus und Erweckung in Basel ......................................................................... Anina Eigenmann und Flurina Joray 4. Lebenswelten des Basler Pietismus ........................................................................ Sandra Ebneter und Anina Eigenmann 5. Die Judenmission in den Aufzeichnungen von Carl Brenner-Sulger . .................... Franziska Kissling 6. Jugend und Körpererfahrung . ................................................................................. Stefan Branca und Michel Schultheiss 7. Schwangerschaft und Geburt .................................................................................. Flurina Joray 8. Kinder und Erziehung ............................................................................................. Anouk Gyssler 9. Krankheit und Tod . ................................................................................................. Stephanie Mohler

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Zweiter Teil: Edition der vier Tagebuch-Bände 10. Beschreibung der edierten Texte ............................................................................. 79 11. Transkriptionskonventionen . .................................................................................. 79 12. Transkription ........................................................................................................... 82 Tagebuch N° 1, 1825–1829 .............................................................................. 82 Tagebuch N° 2, 1829–1833 .............................................................................. 136 Tagebuch N° 3, 1833–1838 .............................................................................. 206 Tagebuch N° 4, 1835–1836 .............................................................................. 225 Bibliographie zur Edition ................................................................................. 234 Personenregister . ........................................................................................................... 237 Ortsregister .................................................................................................................... 244



Vorwort Der vorliegende Band zu den Tagebüchern von Carl Brenner-Sulger ist im Rahmen eines Archivseminars der Universität Basel unter der Leitung von Prof. Dr. Kaspar von Greyerz entstanden. Für die Unterstützung bei der Transkription, der Erarbeitung der Texte und den Vorbereitungen zur Publikation möchten wir uns bei Prof. Dr. Kaspar von Greyerz und Dr. Roberto Zaugg herzlich bedanken. Ebenso möchten wir uns an dieser Stelle bei den Herausgebern der Reihe «Selbst-Konstruktion. Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500–1850», Prof. Dr. Kaspar von Greyerz und Prof. Dr. Alfred Messerli, für die Ermöglichung dieser Veröffentlichung bedanken. Ein weiterer Dank gebührt den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Schwabe-Verlags, insbesondere Julia Grütter Binkert und namentlich Adrienne Stehlin, die die Vorbereitungsarbeiten für den Druck mit viel Geduld angeleitet haben. Für die zuvorkommende und freundliche Unterstützung möchten wir uns im Weiteren bei den Mitarbeitern des Staatsarchivs Baselstadt bedanken. Sie haben uns den Zugang zu den Dokumenten jederzeit ermöglicht und unsere Recherchearbeiten wertvoll unterstützt. Die Veröffentlichung dieses Bandes wurde durch eine grosszügige finanzielle Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft sowie der Johannes-Oekolampad-Stiftung erst ermöglicht, wofür wir uns an dieser Stelle ebenso bedanken möchten. Basel, im Mai 2010

Stephanie Mohler



Erster Teil: Wissenschaftlicher Kommentar 1. Einleitung der HerausgeberInnen Carl Brenner-Sulger (1806 –1838) beginnt mit seinen Tagebucheintragungen im 18. Lebensjahr, der erste Eintrag in Band 1 der insgesamt vier kleinen Bände seines Tagebuchs ist auf den 17. Februar 1825 datiert. Neben den alltäglichen Sorgen plagen Carl BrennerSulger im ersten Tagebuch oft Schuldgefühle. Dies zum einen aufgrund seiner – wie er meint – unzüchtigen Gedanken, zum anderen wegen der Vorwürfe, die er sich hinsichtlich seines richtigen Verhaltens vor Gott macht. Er bittet daher den Heiland wiederholt um die Vergebung seiner Sünden. Nach dem Abschluss des Pädagogiums am 21. April 1825 berichtet Carl Brenner-Sulger von seinen Erfahrungen als Privatlehrer und seinem Amt an der Sozietätsschule. Im Laufe der Zeit hält er auch Kinderlesungen und seine ersten Predigten. Seine Frömmigkeit und die Kontrolle des eigenen Glaubens werden in allen vier Tagebüchern thematisiert. Auf sie nehmen sämtliche der nachfolgenden acht Beiträge im ersten Teil dieses Bandes auf die eine oder andere Weise Bezug. Der Schwerpunkt dieser Einleitung liegt auf den vier Bänden des brennerschen Tagebuchs. Es besteht also nicht die Absicht, in dieser Einleitung eine zusammenfassende Sicht über alle nachstehenden inhaltlichen Kommentare zum Tagebuch zu liefern. Dem Glauben an Gott und der Verantwortung eines Gläubigen kommt nicht nur in Carl Brenners Jugendjahren eine grosse Bedeutung zu. Im Zeichen seiner pietistischen Gesinnung sind seine Gedanken sein ganzes, kurzes Leben lang geprägt von Schuld und dem Bedürfnis nach Vergebung, wie ein Zitat auf der ersten Seite des dritten Tagebuchs aus den Jahren 1833–1838 zeigt: Herr Jesu, vergib mir da alle meine Sünden, denn ich habe mir dad[urc]h [nicht] [nur] vil Segen [en]tzogen s[on]dern [au]ch oft gesündiget. Ich fühlte mich seither mehr u[nd] mehr vereinzelt dastehn, ohne eine harmonirende Seele zu haben, der ich mein Herz ausschütten könnte, mit welcher ich gemeinsam in Einem Glauben u[nd] in Einer Liebe heranwachsen könnte an den, der d[a]s Haupt ist s[eine]r erlöseten G[n]ade, nehml[ich] an Ch[ristu]m.1 Der Autor des Tagebuchs engagiert sich in verschiedenen «frommen» Zirkeln. Er wendet sich dem Theologiestudium zu und bereitet sich unter grossen Zweifeln an seinen Fähigkeiten auf das Aufnahmeexamen vor, das ihn zu einem Anwärter auf eine Pfarrstelle machen soll. Am 17. Februar 1829 erfährt er von der einmaligen Gelegenheit, ein Studium in Berlin zu beginnen, nutzt diese nach ausführlichen Überlegungen und verlässt Basel. Am 20. Mai 1829 trifft jedoch ein Brief der Familie mit besorgniserregendem Inhalt ein: Carl Brenner-Sulger müsse zurückkehren, um dem kranken Vater beizustehen. Er entschliesst

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I. Wissenschaftlicher Kommentar

sich, diesem Aufruf Folge zu leisten. Zwischen August 1830 in Berlin und Januar 1831 in Basel führt er kein Tagebuch. Im ersten wie auch im zweiten Band des Tagebuchs stösst man auf sehr ähnliche Themen, die Brenner-Sulger beschäftigen. Ab dem 15. Januar setzt er sich in seinem zweiten Tagebuch zudem mit den damaligen Streitigkeiten zwischen Baselland und Baselstadt auseinander. Er ist in verschiedenen Gemeinden als Prediger und Lehrer tätig. Doch der Besuch einer jüdischen Schule in Hegenheim am 5. Mai 1832 scheint Brenner-Sulger viel mehr zu beschäftigen. Die Struktur und Pensen derselben stossen auf grosses Interesse bei ihm, so dass er sich ab dem 20. Mai 1832 einem ihm sehr wichtigen Anliegen zuwandte, dem Verein der Freunde Israels. Nicht nur die Aufgabe desselben, sondern vielmehr auch die Anfrage an ihn, die Stelle des Agenten oder Direktors des Vereins zu übernehmen, nimmt ihn sehr ein. Nach einigen Selbstzweifeln bestätigt er das Angebot und wird zum Agenten des Vereins der Freunde Israels gewählt. Wie andere Anhänger des Pietismus und der Erweckungsbewegung hegt auch Brenner-Sulger die Hoffnung, Juden zum Christentum bekehren zu können. Er ist jedoch bestrebt, einen toleranten Umgang mit der jüdischen Bevölkerung zu fördern. Dies zeigt uns der Beitrag über die Judenmission in Basel und Brenner-Sulgers Verhältnis zum Judentum. Für die Pietisten des 18. Jahrhundert spielte die Hoffnung auf die Bekehrung von Juden eine grosse Rolle. Im 19. Jahrhundert gab es auch in Basel eine Verstärkung der Judenmissionsbestrebungen. Carl Brenner-Sulger beginnt in seinen Jugendjahren mit der Niederschrift von Gedanken und Ereignissen in seinem Leben. Der nachstehende Beitrag über Jugend und Körpererfahrung setzt sich mit Carl Brenner-Sulgers Schuldgefühlen auseinander, die sich bei ihm in Beziehung mit der Entwicklung seines jugendlichen Körpers bemerkbar machen. Die Auto­ren ordnen diese Schuldgefühle dem Onaniediskurs des 18. und 19. Jahrhunderts zu, der – wie nicht nur Brenner-Sulgers Selbstzeugnis zeigt – junge Männer in der Auseinandersetzung mit ihrem Körper und ihrer erwachenden Sexualität mit moralischem Druck belastete. Der zweite Band des Tagebuchs endet mit dem Tod der «lieben Schwester Lotte» am 7. Juni 1833, die nach einem Schleimfieber stirbt. Band 3 setzt im Jahr 1833 ein, als BrennerSulger nach dem Tod seiner Schwester Bedauern darüber äussert, dass er sich ihr gegenüber so «eintönig, trocken und verschlossen» gezeigt habe. Verschiedene Verwandte, darunter seine Tante Stähelin, ermuntern ihn zu einer baldigen Heirat. Er hat auch eine mögliche Braut in Aussicht, deren Namen er im Tagebuch aber nicht nennen will. Er wirbt um die Hand von Luise Sulger. Die finanziellen Mittel der beiden Brautleute sind jedoch bescheiden, was vorerst zu einer Ablehnung des Antrags führt. An diesem Punkt wechselt das Tagebuch in die englische Sprache. Die Angebetete lässt Brenner-Sulger am 20. Oktober 1833 über die Tante Stähelin mitteilen, «[…] that she could not determine, particularly in that time, to marry, and that she was yet to young, scarcely she had begun to be a free maid and sister.»2 Nach einigen unregelmässigen Tagebucheinträgen wird am 2. März 1834 der Tod seines Vaters vermerkt. Brenner-Sulger macht sich erneut daran, seine Heiratspläne in die Tat umzusetzen. Eine weitere Anfrage lehnt dieselbe Kandidatin jedoch ab, aus Angst vor den knappen finanziellen Verhältnissen. Brenner-Sulger schreibt daraufhin der Angebe2

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1. Einleitung der HerausgeberInnen

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teten einen Brief, den er im Tagebuch festhält. Am 22. Juni 1834 erhält er schliesslich eine positive Antwort auf seinen Heiratsantrag und nennt auch erstmals den Namen seiner zukünftigen Braut: Luise Sulger. Er bittet Gott inständig um Beistand in allen Aspekten seiner Ehe und berichtet von der Verbundenheit, die sich zwischen ihm und seiner Braut aufgebaut habe, die jedoch durch seine Wollust getrübt werde: «Mein armes Herz u[nd] mein schwaches Fleisch verhinderten mich ‹also ein› die geistigen Freuden e[ine]s auf Heiland gegründeten Brautstandes also rein zu geniessen, wie ich es gewünscht hatte.»3 Im Oktober 1835 wird Brenner-Sulger Vater eines Sohnes: «Wir hatten diese Freude erst in 1 Monat etwa erwartet, u[nd] doch ists ein gut ausgetragenes u[nd] ausgebildetes Kindlein.»4 Brenner-Sulgers Familienglück erfährt jedoch ein plötzliches Ende, als Brenner-Sulgers Sohn Ende Januar 1836 stirbt: «Unser lieber kleiner Karl wurde letzte[n] Dienstag früh 1 Uhr ­selig vollendet u[nd] wird heute beerdigt werden.»5 Es folgen fast zwei Jahre ohne einen Eintrag im dritten Tagebuch, denn parallel zum dritten Band führt Brenner-Sulger ein weiteres Tagebuch. Der erste Eintrag des vierten Bandes dokumentiert die Ereignisse in der Nacht nach der Geburt des ersten Sohnes Carl Brenner-Sulgers und seiner Frau Luise. Berichtet wird von den bei der Geburt anwesenden Personen, dem Ort der Niederkunft und den Ritualen nach der Entbindung. Aufgeführt werden weiter sämtliche ausgewählten Bibeltextstellen und Lieder. Kurze Zeit später wird dem «Kleinen die große Gnade vergönnt, durch die heilige Taufe in die Kirche Christi aufgenommen zu werden.»6 Brenner-Sulger erzählt, wie er als Vater die Taufe des Kindes vornehmen darf, und klebt im Anschluss von den Taufpaten verfasste Widmungen in seine Aufzeichnungen ein. Er berichtet von der anfänglich guten Entwicklung des Kindleins, die dann jedoch bald in gesundheitliche Komplikationen umschlägt. Am 27. Januar 1836 spricht Brenner-Sulger über die schweren Leiden des Knaben und von seinen Gebeten um Erlass der auf ihm lastenden Sünden, die sich seiner Überzeugung nach im Dahinsiechen des Kindleins widerspiegeln. Kurz nach Mitternacht stirbt sein Sohn: «Gleich nach 1 Uhr wurde ich geweckt, u[nd] siehe, er war so eben nach einem viertelstundlangen gichterischen Schreien verschieden u[nd] nach kurzem Leiden schon eingegangen zu seines Herrn Freude.»7 Die Geburt – einer der existenziellsten rites de passage8 im Leben eines Menschen – bedeutete in der Frühen Neuzeit sowohl für die Mutter wie auch für das zu gebärende Kind eine lebensbedrohende Gefährdung, die mit grossen Schmerzen verbunden war. Anhand der pietistischen Schreibpraxis, in diesem Falle Gebets- und Liedliteratur, die speziell für Schwangere und Gebärende verfasst wurde, wird in einem weiteren der nachstehenden Beiträge untersucht, welche Bedeutung dieser Literatur zugeschrieben wurde und wie sich diese Haltung in den nachgelassenen Schriften Carl Brenner-Sulgers spiegelt. Das Thema 5 6 7 8 3 4

Ebd., S. 29. Ebd., S. 36. Ebd., S. 40. StaBS PA 565a L3, S. 3. Ebd., S. 11. Der Begriff rites de passage wurde durch Arnold von Gennep geprägt und später von Victor Turner weiterentwickelt. Gennep, Arnold van. Les rites de passage. Étude systématique des rites de la porte et du seuil, Paris 1909; Turner, Victor Witter. The ritual process. Structure and anti-structure, London 1969.


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I. Wissenschaftlicher Kommentar

der Erziehung und Kindheit steht im Zentrum des nächsten Beitrags, wobei u.a. Brenners Tätigkeit als Hauslehrer und damit auch seine pädagogische Orientierung sowie seine Rolle als Familienvater beleuchtet werden. Am 25. Oktober 1837, einen Tag vor seinem 31. Geburtstag, nimmt Brenner-Sulger erneut die Niederschrift seiner Gedanken im dritten Tagebuch-Band auf und setzt mit dem anhaltenden Schmerz über den Verlust seines Sohnes ein. Eine weitere Schwangerschaft seiner Gattin will sich nicht abzeichnen. Im Frühling 1838 erfolgt der letzte Eintrag vor seinem Tod. Es ist anzunehmen, dass sein Gesundheitszustand zu diesem Zeitpunkt kritisch war und er aus diesem Grund in einem Eintrag im April 1838 von Todesahnungen schreibt. Er klagt darin über Schmerzen und Kummer und bittet um Erlösung: Ach erbarme dich mein! Laß denn die Kraft d[e]s Todes sich mächtig erweisen an m[eine]m schwachen Leibe, an m[eine]r armen Seele! Siehe ich verlange nach dir, wie ein Hirsch lechzet nach frischem Waßer, Laß nun auch Kräfte der Auferstehung mich umwehen zu e[ine]m neuen Leben aus dir u[nd] in dir! Amen!9 Sterbestundenberichte und Leichenpredigten als Formen des Totengedenkens in Pietismus und Erweckung sind Gegenstand des letzten Kapitels des ersten Teils dieses Bandes. Während Sterbestundenberichte vorwiegend ins familiale Gedächtnis aufgenommen wurden, richteten sich Leichenpredigten an die Öffentlichkeit, um der pietistischen Gemeinschaft die vorbildliche Lebensweise des Verstorbenen zu verkünden. Die Ablehnung der Welt und der erhoffte Eingang der Seele des Verstorbenen ins himmlische Reich zeigten sich in den unterschiedlichen Texttraditionen des Pietismus und lassen eine mögliche Nähe zu chiliastischem Gedankengut erkennen. Der zweite Teil des vorliegenden Buches enthält hauptsächlich die vollständige, annotierte Transkription der vier Bände des brennerschen Tagebuchs, wobei knappe formale Textbeschreibung sowie die Auflistung der in der Edition befolgten Transkriptionsprinzipien den Anfang machen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber hoffen, mit dieser Veröffentlichung einen Einblick in das Leben Carl-Brenner Sulgers und neue Perspektiven auf die Geschichte des sogenannten «Frommen Basels» des frühen 19. Jahrhunderts zu bieten und damit gleichzeitig auch einen weiterführenden Beitrag zur Erforschung von Basler Selbstzeugnissen zu leisten.

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2. Selbstzeugnisse und autobiographisches Schreiben

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2. Selbstzeugnisse und autobiographisches Schreiben Stephanie Mohler Das Führen eines Tagebuches oder das Verfassen von Lebensläufen galt in der pietistischen Schriftproduktion als zentraler Teil des Subjektentwurfs und diente der persönlichen Kommunikation mit Gott. Der folgende Aufsatz widmet sich dieser Art von Selbstzeugnissen und versucht, die von Carl Brenner-Sulger hinterlassenen Aufzeichnungen in den Kontext pietistischer Schreibkultur zu stellen. Die Studien von Ulrike Gleixner zum württembergischen Pietismus – der in enger Verbindung zum Basler Pietismus stand – behandeln die Frömmigkeitsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts umfassend und hinterfragen die kulturelle Dimension von Religion. Vor allem der Tradition der pietistischen (auto-)biographischen Schriftproduktion kommt dabei eine bedeutende Rolle zu.1 Die intensive Schreibkultur pietistischer Kreise lasse sich, so Gleixner, als erfolgreiche Methode der Gruppenformierung betrachten.2 Schreiben und Lesen bezeichnet sie als die wichtigsten Kulturtechniken, um im Gruppenbildungsprozess in alphabetisierten Gesellschaften zur Entwicklung einer Gruppenidentität beizutragen.3 So sei das (auto-)biographische Schreiben in institutionslosen Frömmigkeitsbewegungen wie dem Pietismus zentraler Teil der Erinnerungskultur gewesen.4 Das autobiographische Schrei­ben, ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikationsstruktur der von ihr untersuchten württembergischen Bürgertumsgruppe, folgte einem dualistischen Prinzip. So dokumentieren «die Bekenntnisse […] nicht allein eine individuelle Prüfung des persönlichen Glaubens- und Gnadenstandes, sondern sind zugleich als Zeugnisse für die pietistische Gruppe verfasst».5 Der Zeugnischarakter solcher Schriften lässt sich auch in den Einträgen von Carl Brenner-Sulger erkennen. Nach dem Tod seines Bruders Wilhelm im Jahre 1828 erwartete er mit der Familie sehnlichst die Lektüre der Tagebücher und Berichte des Verstorbenen. Wir haben gleich nach d[em] Nachteßen angefangen, d[a]s Tagebuch zu lesen; die erste Zeit 1822 ist aber freil[ich] eine ganz andere als die der letzten Jahre. Es muß intereßant sein, so nach u[nd] nach d[ie] Veränder[un]g wahrzunehmen, d[ie] s[ich] m[it] W[ilhelm] zug[e]tragen h[a]t, w[a]s ja [au]ch b[ei] jedem M[ensch], der Fall sein soll. D[a]s ist die Bekehr[un]g, welche oft erst erfolgt, nachdem m[an] schon lange g[e]glaubt, ein Christ g[e]w[e]sen zu s[ein]. So w[a]r [e]s b[ei] W[ilhelm]; möchte ‹s› doch [au]ch bald b[ei] mir d[a]s 2te eintreffen, völlige Bekehr[un]g zum Herren m[eine]m Gott.6 Gleixner, Ulrike. Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Württemberg 17.–19. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 119. 2 Ebd., S. 119. 3 Ebd., S. 119. 4 Die Identitätsbildung mittels (auto-)biographischem Schreiben sei laut Gleixner kein Spezifikum für die pietistische Bewegung gewesen. Ähnliche Formen der Traditionsbildung fänden sich bei den Quäkern, den Baptisten und den Methodisten wieder. Im württembergischen Pietismus könne die innerfamiliale biographische Traditionspflege als neue Form der biographischen Geschichtsschreibung betrachtet werden, wobei weibliche Frömmigkeit kaum Aufnahme in den «Väterkult» fand. Vgl. ebd., S. 166. 5 Ebd., S. 119. 6 StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 1, S. 80. 1


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I. Wissenschaftlicher Kommentar

Der Bekenntnis- und Zeugnischarakter von Textformen wie Tagebuch, Brief, Lebenslauf oder Biographie lässt vermuten, dass wie die schriftlichen Hinterlassungen von Wilhelm Brenner auch Carl Brenner-Sulgers Tagebücher und Aufzeichnungen zur Geburt und zum Tod seines ersten Sohnes Carl in der Annahme verfasst wurden, dass sie später gelesen werden. Die Gestalt des autobiographischen Ich musste in die Schablone einer vorbildlichen Biographie eingepasst werden, wodurch Selbstzeugnisse weniger als Rekonstruktion denn als Konstruktion eines Lebens betrachtet werden sollten.7 Laut Gleixner sei es verfehlt, nach der «schöpferischen Einzigartigkeit» pietistischer Selbstzeugnisse zu fragen, da ihr Sinn in der pietistischen Deutung der jeweiligen Lebens- und Gefühlslage gelegen habe und die Schriften in ein vorgegebenes Modell eingepasst wurden.8 Brenner-Sulger hat seine Tagebücher später erneut gelesen, gewisse Stellen gestrichen oder die Seiten gar herausgerissen. Die von ihm zensurierten Stellen lassen auf ein Wissen über das Erlaubte bzw. Unerlaubte dieses frommen Diskurses schliessen. Die Eingriffe erfolgten teilweise Jahre nach dem eigentlichen Eintrag, was anhand des vermerkten Datums bei den bearbeiteten Stellen ersichtlich wird.9 Ebenfalls lässt sich das Kompositionsprinzip der Intertextualität pietistischer Selbstzeugnisse bei BrennerSulger erkennen. Er nahm Bezug auf religiöse Texte wie die Bibel, Liedverse sowie Predigten und verband dadurch sein Leben mit der «Geschichte des Pietismus».10 Die pietistische Deutung des jeweiligen Lebens und die dadurch erfolgende Vergesellschaftung machen die umstrittene Frage nach Fiktion und Realität autobiographischer Zeugnisse überflüssig. Laut Gleixner habe diese Grenze für das pietistische Schreiben nicht bestanden, da Text und Leben Bestandteile desselben Sinnfelds waren.11 So sei der Text Handlung und Teil der Frömmigkeitspraxis gewesen.12 Mit Hilfe des Schreibens wurden vorgeformte Haltungen angeeignet, doch der mimetische Vorgang war nicht nur Nachahmung, sondern stellte wegen der beabsichtigten Versprachlichung von Gefühlen und deren Deutung auch eine individuelle Herausforderung dar.13 Als Schreibmotivation konnte häufig eine individuelle Krisensituation – oft mit einem rite de passage verbunden – festgemacht werden. Das Tagebuchschreiben wurde so zu einer pietistischen Selbstvergewisserung und hat dem Zwiegespräch mit Gott gedient, wobei das angestrebte religiöse Ideal und die Wirklichkeit nicht selten in religiöser Verzweiflung Ausdruck fanden.14 Zur «Psychologie der pietistischen Erlösung» gehörte zudem das demütige Bekennen des eigenen Unvermögens und die dadurch erfolgende Hinwendung zu Christus. Das Schreiben verfolgte den Zweck, den eigenen Schmerz zu verkraften und ihm eine religiöse Bedeutung zuzuschreiben.15 Das Motiv der Krisenbewältigung oder die Verbindung zu bedeutenden Anlässen finden sich auch im Schreiben Carl BrennerSulgers. Die separaten Aufzeichnungen im vierten Band begann er beispielsweise nach der   9 10 11 12

Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 120. Ebd., S 121. Vgl. bspw. StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 1, S. 28–35. Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 122. Ebd., S. 123. Gleixner, Ulrike. Warum sie soviel schreiben. Sinn und Zweck des (auto-)biographischen Schreibens im württem­ bergischen Pietismus (1700–1830). In: Interdisziplinäre Pietismusforschung. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress zur Pietismusforschung 2001, Bd. 1, hrsg. von Udo Sträter et al.,Tübingen 2005, S. 523. 13 Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 124. 14 Ebd., S. 130. 15 Ebd., S. 125, 144.  7  8


2. Selbstzeugnisse und autobiographisches Schreiben

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Geburt des erstgeborenen Sohnes und beendete sie nach dessen Tod in der Gewissheit, sich durch die schmerzliche Erfahrung dem göttlichen Willen gefügt zu haben. In seinem ersten Tagebuch wird am Eintrag vom 14. Mai 1825 ersichtlich, dass neben äusseren Krisenmomenten auch innere Gewissensfragen Schreibanlass sein konnten: «Was treibt mich denn jetzt dazu an, etwas ins Tagebuch zu schreiben? Natürlich mein äußeres u[nd] inneres Elend, mein äußerliche‹s›r u[nd] innerlicher Uebelstand.»16 Die unregelmässigen Einträge erfolgten bei Brenner-Sulger zudem oft vor oder kurz nach wichtigen Ereignissen wie seinen Examen, bedeutenden Predigten, der Verlobung mit Luise, zum Jahresende oder zum Geburtstag. Die Tradition des Tagebuchschreibens war im Pietismus des 18. und 19. Jahrhunderts verbreitet und wurde von Männern, Frauen wie auch von Kindern gepflegt.17 Texteingriffe wie Markierungen und durchgestrichene Passagen in überlieferten Tagebüchern lassen darauf schliessen, dass Nachfahren diese als Gedächtnis an das verstorbene Familienmitglied betrachteten und weiter verwendeten.18 Tagebücher waren zudem oft die Textgrundlage für pietistische Lebensbeschreibungen, die Biographen stammten meistens aus dem engeren Familienkreis. Der Zeitpunkt des Schreibens in den von Gleixner betrachteten württembergischen Tagebüchern war meistens der Abend. Die Einträge erfolgten oft täglich und wurden kurz gehalten. Geschrieben wurde über das eigene Wohlbefinden, den Seelenzustand und die erfolgten Sünden, es wurden Bitten an den Herrn ausgesprochen, doch auch über alltägliche Dinge wie die Arbeit oder die verwirklichten Besuche und Korrespondenzen wurde berichtet. Ziel war eine geregelte Lebensführung mit gut berechnetem Zeitbudget.19 In Carl Brenner-Sulgers Tagebüchern ist auffällig, dass er nicht regelmässig zu schreiben pflegte und dass die Niederschrift auch nicht immer abends erfolgte. Aufgrund seines unregelmässigen Schreibens fühlte er sich jedoch schuldig. So schrieb er am 8. Dezember 1826: Es ist wirkl[ich] eine fast unverzeihliche Trägheit von mir, daß ich so selten in dieses Tagebuch schreibe, schon wieder fast vier Monate. Es kommt gerade so heraus, als wenn ich mich vor mir selber fürchtete, u[nd] es ist dieß vielleicht ‹der› ein mir unbewußter Grund gewesen, warum ich so lange nicht diese Gelegenheit benutzt habe, mir etwas aufzuschreiben, das mir später vielleicht ‹sehr› intereßant u[nd] nützlich sein könnte, welches es mir bis jetzt wirkl[ich] war.20 Das Schreiben diente Brenner-Sulger, wenn man sich auf dieses frühe Zitat stützt, mehr zur später beabsichtigten Lektüre und wurde noch nicht so explizit als Treulosigkeit gegenüber dem Herr gewertet. Die unregelmässigen Einträge, die hier noch als «Trägheit» und Frucht vor sich selbst beschrieben wurden, bezeichnete er in seinem dritten Tagebuch als Schuld gegenüber dem Heiland. Mit großer Tagbuchschuld, mit e[ine]r noch größeren aber gegen m[eine]n Heiland schreibe ich hier wieder. Viele Tage sind vorüber, u[nd] damit viele Freuden, viele 18 19 20 16 17

StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 1, S. 6. Gleixner. Warum sie soviel schreiben, S. 521. Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 126. Ebd., S. 127f. StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 1, S. 19.


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I. Wissenschaftlicher Kommentar

Untreuen, aber nicht vorüber die ewige Treue uns[er]es Heilands, w[elche]r auch m[ein]e fortgehende Untreue zudecken, mich als auch treue machen wird.21 Die Besorgnis um seine Frau Luise, die bevorstehende Geburt und damit verbundene Ängste waren wiederholt Anlass zu Einträgen ins Tagebuch. Bereits im März des Jahres 1835 schrieb Brenner-Sulger bezüglich seiner Losung: Als ich sie erhielt, d[urc]hging mich der Gedanke an den Verlust m[eine]r l[ieben] Luise. Und da nun auf den Monat Dec[em]b[e]r eine stille Hoffn[un]g auf ­e[in]e­ Niederkunft s[ich] mehr u[nd] mehr zu verwirklichen scheint, so tritt mir jener Gedanke b[e]s[on]d[er]s nahe.22 Die bevorstehende Geburt betrachtete er als Prüfung Gottes und Strafe für seine Sünden.23 Dass in schweren Zeiten seine Gottesgläubigkeit unter besonderer Herausforderung gestanden habe, bemerkte er auch nach dem Tod seines erstgeborenen Kindes Carl. In einem Plibrief24 vom 24. Januar 1836 teilte er der Brüdergemeine mit: «Ich glaub jedoch, der Heiland wird uns bei aller Wehmuth des Herzens einen stillen, ergebenen Sinn schenken. Wir haben ihm das Kindlein und uns anempfohlen.»25 Der empfundene Schmerz wurde hier pie­ tistisch transzendiert und Brenner-Sulger sah im frühen Tod eine göttliche Strafe für seine und Luises Sünden, dankte Gott jedoch trotz des Verlustes für seine Gnade.26 Carl BrennerSulger fügte sich der göttlichen Verheissung und die Lehre daraus wurde gutgeheissen. Der Schmerz wurde verdeckt und nur wenig formuliert, lediglich den göttlichen Beistand flehte er an und erhoffte religiösen Trost durch den Schreibakt. Uns betrübten Eltern schenkt der Herr bisher Ergebung u[nd] stillen Frieden, Freude über seine Erlösung, die nach des Angstes Zeugnis wünschenswert war, StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 3, S. 28. Ebd., S. 33. 23 Vgl. ebd., S. 35, 44. «Nun ist die l[iebe] L[ui]se würkl[ich] ihrer Entbind[un]g nahe, welche Ende Nov[ember] oder Anfa[n]gs Dec[ember] erfolgen kann, u[nd] da könnte Gott leicht mit e[ine]r schweren Prüfung mich heimsuch[en] wollen, da es mir schwer werden könnte, zu glauben, daß d[a]s Beste [fü]r mich beschloßen sei. O Herr, gib mir mehr Treue auf dich verbunden mit m[eine]r L[ui]se zu leben in wahrer Innigkeit des Geistes, des Herzens, des Glaubens.» Im Weiteren vermerkte er in seinem Tagebuch im April 1838 folgende Zeilen zu seinem sündigen Leben: «Ein Sehnen u[nd] Verlangen, frei zu werden von aller u[nd] jeglicher Sünde, u[nd] besonders von den Hauptsünden m[eine]s Lebens: Fleischeslust, Verlangen reich werden zu wollen, u[nd] Selbstgefälligkeit; aber zu wenig anhaltendes Ringen u[nd] Kämpfen dagegen. Oft bete ich, bewache aber zu wenig ernst u[nd] anhaltend die Thüren, zu w[elch]er die Sünde Eingang findet. Vor der Menschen Augen tritt die Sünde m[eine]s Lebens wenig, Manchen gar nicht in die Augen, selbst m[ein]e Nächsten u[nd] Liebsten kennen sie nicht, u[nd] ich leide unter ihr an Leib u[nd] Seele. Nicht in Werken tritt sie hervor, mehr nur in Gedanken, die du – o Gott – u[nd] du – mein Herz – kennest! O Herr, erbarme dich mein!» 24 Die Zirkulationsmappe (sog. «Pli») zirkulierte regelmässig unter Basler Pfarrern der Brüdergemeine. Die Plibriefe wurden im Jahre 2001 von Karl Heusler transkribiert und finden sich zusammen mit den Originalen in den Nachlässen zu Carl Brenner-Sulger im Staatsarchiv Basel. In den Briefen werden zentrale Themen des Frommen Basels aufgenommen. Dazu gehören etwa die Familie, die Judenmission, Predigten, Aussagen zum Religionsunterricht, eine Stellungsnahme zur Basler Fasnacht, Bemerkungen zur Brüdergemeine sowie auch einige Worte zu den Baselbieter Unruhen von 1831 und den Folgen der Kantonstrennung. 25 StaBS PA 1074b C4 (1), 1829–1838. 26 Vgl. StaBS PA 565a L3, S. 11. «[…] nachdem ich nochmals mit Luise auf den Knien gebeten u[nd] besonders um Vergebung unserer Sünden geseufzt hatte, die ich theilweise in den Leiden dieses unseres Kindes heimgesucht seh.» 21 22


2. Selbstzeugnisse und autobiographisches Schreiben

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da gichterische Anlage in dem Kind leicht noch manche Schmerzen hätte bringen können. Wir glauben freudig, der Herr habe des Kindes u[nd] unser Vaters mit dieser dunkeln Führung im Auge. Daneben erfüllt uns freilich Wehmuth, dieses theure Söhnlein hirnieder zu mißen u[nd] uns nun bald wieder wie verwaist in einem […] Hause zu finden. Möge uns nun der Herr selbst umso mehr sein!27 Auch nach der Beerdigung des Kindes schwand der Ausdruck von übermässigem Schmerz zugunsten der Betonung auf die «spirituelle Lektion», denn eine Hinterfragung des göttlichen Planes lag nicht in pietistischem Denken.28 Das Ehepaar dankte dem Heiland, dass es nach dem Verlust des Kindes durch ihn gestärkt wurde und es im Glauben an den göttlichen Willen den Tod des Kindes mit stiller Ergebung und Freudigkeit annehmen möchte. Der Herr ‹bew› erhalte u[nd] stärke uns in Gnaden fernerhin durch Seinen Trost u[nd] bewahre uns auch vor jedem Abweg auf den unser sündliches, leichsinniges, vergeßliches u[nd] undankbares Herz auch bei dieser Prüfung dennoch kommen könnte.29 Das Vertrauen in Gott und sein angemessenes Handeln wurde nicht in Frage gestellt, doch der Schmerz, auch wenn ihm ein spiritueller Sinn zugesprochen wurde, blieb vorhanden. Nach mehr als einem Jahr, im Oktober 1837, vermerkte Brenner-Sulger in seinem Tagebuch, dass er und seine Frau weiterhin «stillen Kummer» leiden würden.30 Das autobiographische Schreiben, in dem Gott, die Welt und das schreibende Ich zueinander in Bezug gesetzt wurden, war bei den Männern der untersuchten württembergischen Bürgertumsgruppe vorwiegend der Bildungsgeschichte gewidmet.31 Bei Carl Brenner-Sulger kann anhand seiner Tagebucheinträge verfolgt werden, wo er studiert, unterrichtet und mitgewirkt hatte, er erstellte Listen der gelesenen Bücher, berichtete über politische Geschehnisse, notierte seine Gedanken zu möglichen Erziehungsmethoden und schrieb über die Tätigkeit als Agent des Vereins der Freunde Israels. Bei den weniger zahlreichen autobiographischen Schriften von Frauen widmete sich der Inhalt hauptsächlich der Familienarbeit.32 Die überlieferten Kinder- und Jugendtagebücher legten zudem das pädagogische Prinzip der Selbsterziehung offen dar. Die Einträge präsentieren so «den Abgleich von pietistischem Anspruch und eingelöster Wirklichkeit».33 Damit verbunden waren Themen wie etwa die Gebetshaltung, das Verhalten in der Schule und der Gehorsam gegenüber den Eltern.34 So wurde die Fähigkeit, religiöse Gefühle zu erkennen und diese mittels der Sprache auszudrücken, schon im Kindesalter gefördert.35 Die neben dem Tagebuch verfassten Lebensläufe wurden oft für die Personalia in der Leichenpredigt verwendet. Deren Inhalt wies im Pietismus besondere Merkmale auf. Der Frömmigkeit der Kindheit folgte eine vor­ 29 30 31 32 33 34 35 27 28

Ebd., S. 12. Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 130. StaBS PA 565a L3, S. 14. StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 3, S. 42. Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 132f. Ebd., S. 145. Gleixner. Warum sie soviel schreiben, S. 524. Ebd., S. 524. Ebd., S. 524.


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übergehende sündhafte Jugendphase, die nach überwindender Busshaltung im Ehestand beendet wurde. Göttliche Lebensprüfungen wie Krankheit oder das Sterben von nahestehenden Personen und die positive Deutung solcher Erlebnisse sowie die zum Lebensende hin erfolgende Gewissheit über den erlangten Gnadenstand vervollständigten die Zeugnisse.36 Zentraler Punkt bei Lebensläufen von Pietistinnen war es, die gelungene pietistische Sozialisation im Elternhaus und die Beschreibung des inneren religiösen Lebens offenzulegen.37 Männliche Lebensläufe wurden strukturiert durch die Trias «natürliches Leben» (Herkommen und Anlagen, Erziehung), «geistliches Leben» (Religiosität) und «bürgerliches Leben» (Berufsleistung und Familie).38 Lebensläufe von Männern waren meistens länger als diejenigen von Frauen und wurden in einem selbstbewussten Sprachduktus verfasst.39 Neben der beruflichen Karriere spiegelten Themen wie Krankheit und Tod die demütige Haltung und Ergebenheit gegenüber göttlichen Prüfungen. Lebensläufe und autobiographisches Schreiben waren Zeugnisse des erlangten Gnadenstandes und richteten sich an die Nachwelt. Schreiben gehörte im württembergischen Pietismus zum pietistischen Selbstverständnis und diente der Selbstdarstellung und der Selbstbestätigung. Diese Tendenzen lassen sich auch in den Tagebüchern Carl Brenner-Sulgers erkennen. Der Verfasser der Zeugnisse stellte sich darin als von Gott auserlesene Person dar und berichtete, wie er sich der göttlichen Vorsehung durch zahlreiche Prüfungen ergeben gezeigt hatte.40 Das Verfassen und Lesen von (auto-)biographischen Tagebüchern dürfte laut Gleixner erheblich zur Lebensbewältigung und zum individuellen Trost beigetragen haben, zudem bot es die Gelegenheit, eine Gruppenkultur und eine Gruppenidentität zu formieren.41

Bibliographie Quellen StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 1–3, 1825–1838. StaBS PA 565a L3, Aufzeichnungen von Carl Brenner über Geburt und Tod seines erstgeborenen Sohnes Carl (1835–1836), 1835–1837. StaBS PA 1074b C4 (1), Handschriftliche Berichte von Carl Brenner-Sulger, 1829–1838, transkribiert von Karl Heusler im April 2001. Sekundärliteratur Gleixner, Ulrike. Pietismus und Bürgertum, eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Würt­ tem­­berg 17.–19. Jahrhundert, Göttingen 2005. Gleixner, Ulrike. Warum sie soviel schreiben. Sinn und Zweck des (auto-)biographischen Schreibens im württembergischen Pietismus (1700–1830). In: Interdisziplinäre Pietismusforschung. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress zur Pietismusforschung 2001, Bd. 1, hrsg. von Udo Sträter et al., Tübingen 2005, S. 521–526. 38 39 40 41 36 37

Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 152. Ebd., S. 160. Ebd., S. 160. Gleixner. Warum sie soviel schreiben, S. 522. Gleixner. Pietismus und Bürgertum, S. 165. Gleixner. Warum sie soviel schreiben, S. 526.


3. Pietismus und Erweckung in Basel

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3. Pietismus und Erweckung in Basel Anina Eigenmann und Flurina Joray Im 18. Jahrhundert waren in der Stadt Basel verschiedene pietistische Gemeinschaften präsent. Nachdem im Dezember 1750 eine Gruppe von zwölf demonstrierenden Frauen und Männern ihre Solidarität mit dem auf dem Kornmarkt1 am Pranger stehenden Jean Mainfait2 durch Grüssen, Sich-Unterhalten und Umarmen des Gefangenen kundgaben, wurden die Beteiligten zu Verhören zitiert, in denen sie einerseits das Recht einforderten, Gefangene zu besuchen, andererseits aber auch die Obrigkeit öffentlich kritisierten.3 «Diese Verhöre rund um die Solidaritätskundgebung für Jean Mainfait (bekannt als ‹Separatistenprozesse›) wurden Anfang der 1750er-Jahre zum Ausgangspunkt für die Mobilisierung einer bis dahin losen Gemeinschaft von Radikalpietisten und -pietistinnen.»4 Separatistische oder radikale Gemeinschaften des Pietismus5 lehnten grundsätzlich die Institution Kirche ab, stellten den alleinigen Anspruch der Theologen auf religiöse Expertenschaft in Frage und kritisierten die kirchlichen Rituale wie Abendmahl, Taufe und Begräbnis als «wirkungslose Äusserlichkeit».6 Sie entstanden im Rahmen der Bewegungen des späten 17. und 18. Jahrhunderts, die sich um eine Erneuerung des Protestantismus bemühten. Im Laufe der Aufklärung verlor die Bewegung jedoch an Bedeutung. «Insgesamt ist die Erweckung als Teil des neuzeitl. Modernisierungsprozesses der Gesellschaft zu verstehen.»7 Die radikalpietistischen Kreise Basels «formierten sich unter zunehmend schärferer obrigkeitlicher Repression» zu einer Bewegung.8 Das Ehepaar Magdalena (1728–1757) und Hans Ulrich Miville-Strasser (1723–1759) spielte dabei eine zentrale Rolle, luden sie doch zu verbotenen Erbauungsstunden in ihr Haus ein und beherbergten Fromme, die unter Separatismusverdacht standen.9 Hans Ulrich Miville war es dann auch, der zusammen mit einem Glaubensbruder im Herbst 1753 eine Flugschrift zur Verteidigung des Radikalpietismus, in der der Kirche «moralischen Zerfall» und den Pfarrern «religiöse Oberflächlichkeit» vorgeworfen wurde, veröffentlichte.10 Als Miville nach zehn Wochen in der darauffolgenden Haft sich bereit erklärte, sich «öffentlich von seinem Radikalpietismus loszusagen», wurde er begnadigt.11 «Mit dem Reumütigen konnte die Obrigkeit ein Exempel statuieren gegenüber all jenen, die nach wie vor an ihrer radikalpietistischen Praxis festhielten.»12 Heutiger Marktplatz. Jean Mainfait (1697–?) hatte «Tote ausserhalb des Kirchhofes begraben, die Obrigkeit diskreditiert und Ausweisungen missachtet». Hebeisen, Erika. leidenschaftlich fromm. Die pietistische Bewegung in Basel 1750–1830, Köln 2005, S. 289.   3 Hebeisen, Erika. «… um den erloschenen Glauben an Jesum Christum wieder unter dem Volk zu wecken.» In: Basel – Geschichte einer städtischen Gesellschaft, hrsg. von Georg Kreis und Beat von Wartburg, Basel 2000, S. 339.   4 Ebd., S. 340.   5 «Separatismus und Radikalpietismus sind zwei unterschiedliche Bezeichnungen, die für verschiedene Perspektiven auf das gleiche historische Phänomen stehen.» Ebd., S. 339.   6 Ebd., S. 339.   7 Gäbler, Ulrich. Erweckungsbewegungen. www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/d11425.php.   8 Hebeisen. «… um den erloschenen Glauben an Jesum Christum wieder unter dem Volk zu wecken», S. 340.   9 Ebd., S. 340. 10 Ebd., S. 340. 11 Ebd., S. 340. 12 Ebd., S. 340.  1  2


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In der zweiten Jahrhunderthälfte kam es in Basel zu einer gegenseitigen Annäherung von Pietismus und Kirche. Diese wurde einerseits durch die sich ausbreitende Aufklärungsbewegung – die unter anderem auf «eine Beschränkung des kirchlichen sowie allgemein des religiösen Einflusses auf Politik und Gesellschaft abzielte»13 – motiviert, andererseits wurde sie in Basel und Umgebung vor allem durch die Diasporagemeinde der Herrnhuter Brüdersozietät geprägt sowie durch den pietistischen Pfarrer Hieronymus Annoni (1697–1770)14. Die Brüdersozietät, die sich zwar als eigenständige pietistische Gemeinschaft verstand, grenzte sich im Gegensatz zu den radikalpietistischen Gruppen nicht von der protestantischen Kirche ab, ja sie bemühte sich sogar um eine friedliche Koexistenz.15 «Entsprechend bot [sie] sich […] in der Zeit der ‹Separatistenprozesse› 1753/54 als obrigkeitlich mehr oder weniger geduldete Alternative zum antikirchlichen Radikalpietismus an.»16 Annoni und die frühen kirchlichen Pietisten gründeten die Gesellschaft von guten Freunden und die Versammlung der Ledigen Brüder, die später bei der Gründung der Christentumsgesellschaft eine Rolle spielten.17 Zumindest Letztere existierte auch lange nach der Gründung der Christentumsgesellschaft noch weiter. Carl Brenner-Sulger schreibt am 30. November 1828 in seinem Tagebuch von einem «Liebesmale unter d[en] led[igen] Brüder.»18 An diesem Abend wird der Geburtstag eines Bruders gefeiert und im Chor gesungen. Der Basler Pietismus zu Carl Brenner-Sulgers Lebzeit im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts umfasste im Wesentlichen die Herrnhuter Brüdergemeine in Basel und die Deutsche Christentumsgesellschaft mit ihren vielen Tochterinstitutionen. Die Herrnhuter Brüderso­zietät Basel, die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts formierte, war eine der vielen Partikulargesellschaften Herrnhuts. In dieser Gemeinschaft wurde das Prinzip der Diasporaarbeit gepflegt. In regelmässigen Abständen besuchten Sendboten des Hauptsitzes in Herrnhut die Glaubensbrüder und hielten dort je nach Bedarf Hausandachten und Versammlungen.19 Die ab 1816 sich entwickelnde Erweckungsbewegung des Spätpietismus, der Carl Brenner-Sulger zugeordnet werden kann, ging zwar nicht direkt von der Herrnhuter Brüdersozietät aus, wurde aber von dieser unterstützt und beeinflusst.20 Die Idee der Christentumsgesellschaft geht auf den Augsburger Pfarrer Johann August Urlsperger (1728–1806) zurück. Er wollte einen «publizistischen Kampfverbund von Theologen» schaffen, der gegen die Aufklärung kämpfen sollte.21 Im August 1780 wurde – teilweise aus der obengenannten Gesellschaft von guten Freunden und der Versammlung der Ledigen Brüder – die Deutsche Christentumsgesellschaft gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehör Ebd., S. 340. Hieronymus Annoni gilt als «eigentlicher geistlicher Vater dieses kirchlichen Basler Pietismus». Hebeisen. leidenschaftlich fromm, S. 47. Die Aussage geht zurück auf Wernle, Paul. Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Bd. 3, Tübingen 1923, S. 339. 15 Ebd., S. 340. 16 Ebd., S. 340. 17 Geiger, Max. Artikel «Basel», «Christentumsgesellschaft». In: TRE Bd. 5, hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin 1979, S. 277f. 18 StaBS PA 565a L2, Tagebuch Nr. 1, S. 67. 19 Weigelt, Horst. Die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine und die Wirksamkeit der Deutschen Christentumsgesellschaft im 19. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 3. Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, hrsg. von Ulrich Gäbler, Göttingen 2000, S. 113f. 20 Ebd., S. 116. 21 Hebeisen. leidenschaftlich fromm, S. 58. 13 14


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