«Dilettanten ... und zwar sehr gute»

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Andrea Wiesli (geb. 1978) studierte Musikwissenschaften an der Universität Zßrich und zugleich Klavier an der Musikhochschule ­Zßrich bei Konstantin Scherbakov. Neben ihrer musikhistorischen ­Arbeit verfolgt sie eine rege Konzerttätigkeit im In- und Ausland als Solistin und Kammermusikerin.

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Andrea Wiesli

BĂźrgerliche Laienmusiker prägten die Musikkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf vielfältige Weise: Zum einen ausĂźbend als Interpreten beim häuslichen Musizieren in privaten Kränzchen und bei ­Üffentlichen Konzerten; zum anderen als FĂśrderer und Organisa­toren, die aufgrund ihres persĂśnlichen wie finanziellen Engagements das Konzertleben entscheidend mitgestalteten. Das Ehepaar Burckhardt-Grossmann – er Geiger im städtischen ­Orchester, sie Sopranistin im Gesangverein – bestimmte massgeblich die Entwicklung des Basler Musiklebens um 1900. Als Präsident der Allgemeinen Musikgesellschaft beteiligte sich Carl Eduard Burckhardt-Grossmann administrativ und konzeptionell an den Ăśffent­lichen AuffĂźhrungen, als privater GĂśnner fĂśrderte er Musiker und Musi­ kerinnen auch finanziell und beherbergte in Basel weilende Solisten im eigenen Heim an der Sevogelstrasse. Es ent­standen lebenslange Freundschaften mit Ilona Durigo, Edwin Fischer, Stefi Geyer, Joseph Joachim, Max Reger und vielen anderen. Ăœber 300 Briefe und Dokumente ­gewähren Einblick in die privaten Eigenheiten der KĂźnstler, wie sie sich im familiären Kreise bei den Après-Concert-Essen offenbarten. Anhand von umfangreichem Quellenmaterial werden zudem das ­Engagement und die musikalischen Vorlieben weiterer Basler Musikmäzene dokumentiert, unter ihnen Andreas Heusler-Sarasin, Carl Christoph Bernoulli-Burger und Friedrich Riggenbach-Stehlin.

Dilettanten ‌ und zwar sehr gute

Andrea Wiesli

ÂŤDilettanten ‌ und zwar sehr guteÂť Carl Eduard und Marie Burckhardt-Grossmann im Basler Musikleben des Fin de Siècle




Carl Eduard Burckhardt-Grossmann (links) mit Musizierkollegen


Andrea Wiesli

«Dilettanten … und zwar sehr gute» Carl Eduard und Marie Burckhardt-Grossmann im Basler Musikleben des Fin de Siècle

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Jenny Adèle Burckhardt-Stiftung und der Dr. H. A. Vögelin-Bienz-Stiftung für das Staatsarchiv Basel-Stadt

— Zürcher Hochschule der Künste Institute for Music Studies — —

© 2010 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Nana Badenberg, Schwabe Umschlaggestaltung unter Verwendung zweier Fotografien von Marie Grossmann (Privatbesitz, Basel) und Carl Eduard Burckhardt (Staatsarchiv Basel-Stadt): Thomas Lutz, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2701-2 www.schwabe.ch


Christine und Dieter Burckhardt-Hofer freundschaftlich gewidmet



Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung

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II.

Musikbegeisterung in der Basler Oberschicht: Das Ehepaar Burckhardt-Grossmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl Eduard Burckhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marie Rosalie Grossmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein musikalisches Ehepaar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leben in Basel zu Zeiten Carl Eduard und Marie Burckhardt-Grossmanns . . . . .

13 13 15 16 21

III. Zwischen Hausmusik und Kulturförderung: Dilettanten in der Musikgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachmusiker oder Dilettant: Zwei unterschiedliche Zugänge zur Musik . . . . . . . . Der Weg zum Berufsmusiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie der Bürger zum Musikliebhaber wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikliebhaber und Dilettant: Versuch einer Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . Dilettanten in öffentlichen Konzerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von den ehrwürdigen Collegia musica zu den modernen Konzertinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prominente Basler Privathäuser als Experimentierstuben für Laien- und Fachmusiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hausmusik mit den Dirigenten Ernst Reiter und August Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Riggenbach’sche Kränzchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Heusler’sche Singkränzchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basler Bach-Rezeption mit Liebhaberbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zum grossbürgerlichen Mäzenatentum Basels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das öffentliche Basler Musikleben und seine Musikvereine: Institutionelle Förderung unter Mitwirkung Carl Eduard und Marie Burckhardt-Grossmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chorvereinigungen in der Musiklandschaft Basels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Basler Gesangverein und seine Bach-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Basler Männerchor und Franz Liszt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Basler Liedertafel und Max Reger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orchesterinstitutionen der Stadt Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Collegium musicum zur «Concertgesellschaft» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 25 25 28 32 33 36 40 41 42 64 70 74

79 80 80 84 88 91 91


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I n h a lt s v e r z e i c h n i s

Das Engagement der Familie Burckhardt-Grossmann für die Allgemeine Musikgesellschaft Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Après-Concert-Essen im kleinen Kreise: Die Pflichten des Herrn du jour . . . . . . . 100 V.

«Das gastliche Haus Burckhardt lebe hoch!» Private Kulturförderung als Streifzug durch die Musikgeschichte des Fin de Siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Langjährige Freundschaften zu Sängerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kammermusik mit einem Meisterpianisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzertmeister und Violinvirtuosen zu Diensten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Streichquartette unter einem Dach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Volkland und Hermann Suter an der Sevogelstrasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Zigarette von Max Reger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Musikliebhaber und Kulturförderer im Umfeld der Familie Burckhardt-Grossmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Hans Huber als «Hauskapellmeister» der Familie Speiser-Sarasin . . . . . . . . . . . . . . 143 Carl Christoph Bernoulli-Burger: Bibliotheksvorsteher und Violinvirtuose . . . . . 148 VII. Die Bedeutung der Musikliebhaber für die Entfaltung des Konzertlebens – ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Anhang Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173


I. Einleitung Im Staatsarchiv Basel-Stadt lagert ein bislang unerforschtes Privatarchiv, das sich durch eine umfangreiche Korrespondenz mit musikalischen Inhalten auszeichnet. Bei dieser Dokumentensammlung handelt es sich um den Nachlass der Basler Familie Burckhardt-Grossmann, deren Förderung des städtischen Kulturlebens vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis hin zur Zwischenkriegszeit von grösster Bedeutung war.1 Die Sichtung des Materials offenbarte einerseits hervorragende Einblicke in die Musikpflege und das Mäzenatentum des Ehepaars BurckhardtGrossmann. Andererseits wurde sehr bald deutlich, dass die Tragweite dieses kulturellen Engagements erst vor dem Hintergrund eines grösseren historischen und musikgeschichtlichen Kontextes zu erfassen ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Basel als Musikstadt ein so grosses Renommee erlangt, dass die Rheinstadt mit internationalen Musikzentren konkurrieren konnte. Dieser Erfolg war zweifellos aussergewöhnlichen Musikerpersönlichkeiten wie etwa dem Dirigenten Alfred Volkland (1875−1902) und dessen Nachfolger Hermann Suter (1902−1925) zu verdanken, welche sich mit ganzer Kraft für eine breit gefächerte Musikpflege auf höchstem Niveau einsetzten. Insbesondere Suter engagierte sich für die Aufführung von Neuheiten wie den Werken von Max Reger und Richard Strauss. Die (Ur-)Aufführungen seiner eigenen Kompositionen bildeten Marksteine im Musikleben der Stadt und wirkten weit über diese hinaus. Einen noch reicheren Fundus an Werken steuerte Hans Huber (1852−1921) bei, dessen Kompositionen zu Aushängeschildern für die damals üblichen Festspiele und Sängerreisen wurden. Als Direktor der Allgemeinen Musikschule und Lehrer der Fortbildungsklassen gab Huber im Jahre 1905 den Anstoss zur Gründung des Konservatoriums, welches bereits von Beginn an einen guten Ruf genoss. Auch den zu Studienzwecken in Berlin weilenden Basler Pianisten Edwin Fischer (1886−1960) erreichte die Kunde von der neugegründeten Berufsabteilung. In einem Brief an seine Gönnerin Marie Burckhardt-Grossmann stellte er dem neuen Direktor ein höchst schmeichelhaftes Zeugnis aus: Bald besucht mich ein Basler Freund; er wird mir viel erzählen müssen von Basel. Er besuchte sämtliche Konzerte und Proben diesen Winter (will heissen vergangenen). Von ihm weiss ich, dass Basel ein Konservatorium besitzt. Nun,

1 Die Quellen gehören zum Bestand der Jenny Adèle Burckhardt-Stiftung und sind im Staatsarchiv BaselStadt unter der Signatur PA 962a einsehbar. Die zumeist handschriftlichen Archivalien wurden von mir (A.W.) transkribiert und deren Orthographie, auch bei offenkundigen Fehlern, beibehalten.


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Einleitung

der Name macht es nicht; aber wo solche Kräfte wirken, wie Dr. Huber etc. da kann sich ein Institut ruhig mit einem solchen einer Weltstadt messen.2 Damit sich Basel als Musikstadt etablieren konnte, bedurfte es auch eines sozialen und geistigen Netzwerkes als Basis. Dessen war sich Edwin Fischer, der mit den heimischen Verhältnissen bestens vertraut war, wohl bewusst. Zu Recht vermutete er, dass das kunstsinnige Ehepaar Burckhardt-Grossmann das kulturelle Leben der Stadt bis in die Details der Konzertprogramme hinein beeinflusste und dadurch wesentlich zur internationalen Beachtung Basels beitrug. Im Februar 1908 schrieb der Pianist an Marie Burckhardt-Grossmann: Wie ich aus Ihrem Schreiben ersehe, nehmen Sie nach wie vor an allen wichtigen musikalischen Veranstaltungen regen Anteil. […] Nun, ich weiss es nicht, aber ich vermute, dass Ihr Herr Gemahl und Sie direkt oder indirekt auf die Programme Einfluss ausüben können, und als ich die Programme der [Basler] Sinfonie Konzerte mit denjenigen der Nikisch-Konzerte und denen der königl. Kapelle verglich, musste ich sagen: eine so geschickte und geschmackvolle Zusammenstellung wie in Basel findet sich hier [in Berlin] selten.3 Carl Eduard Burckhardt-Grossmann und seine Frau waren nicht nur Mäzene im eigentlichen Sinn, wie dies auch in anderen Basler Familien schon längst zur Tradition geworden war, sie reihten sich vielmehr in einen erlesenen Kreis einflussreicher und vermögender Musikliebhaber ein, der das Konzertwesen vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Bürgerliche Laienmusiker konnten in unterschiedlicher Weise am Musikleben teilnehmen: Sie führten sogenannte Kränzchen zum gemeinsamen Musizieren im häuslichen Rahmen durch, pflegten persönlichen Austausch mit konzertierenden Künstlern, wirkten in öffentlichen Konzerten mit oder übten administrative Funktionen in den Vereinskommissionen aus. Häufig erstreckten sich ihre musikalischen Interessen auf eine Kombination dieser Aktivitäten. Das Ehepaar Burckhardt-Grossmann nahm sogar in allen der vier genannten Sparten Anteil am Basler Musikleben. Die Beteiligung von Musikliebhabern am Konzertwesen ist ein in der Musiksoziologie bislang noch relativ unerforschtes Gebiet. Winfried Pape weiss eine Erklärung für die schmale Literaturliste zum Thema: «Während die Bedeutung professioneller Leistungen anerkannt ist und Kriterien für deren soziologische Betrachtung zur Verfügung stehen, finden demgegenüber nicht-professionelle musikalische Aktivitäten sowohl in allgemeinen Überlegungen als auch in wissen2 Brief von Edwin Fischer an Marie Burckhardt-Grossmann vom 27. August 1905. StABS, PA 962a U 3.1.d 6. 3 Brief von Edwin Fischer an Marie Burckhardt-Grossmann vom 24. Februar 1908. Ebd.


Einleitung

schaftlichen Diskursen nur ein geringes Interesse. Das ist umso erstaunlicher, als verschiedene musikalische Teilöffentlichkeiten in hohem Masse auf Initiativen und Aktivitäten von Amateurmusikern beruhen.»4 Nicht nur in Bezug auf «musikalische Teilöffentlichkeiten», sondern für die Entstehung des heutigen Konzertwesens überhaupt spielten Laiengruppierungen in Form von Musikkollegien und Kränzchenvereinigungen eine entscheidende Rolle. Eine ältere Studie, die sich ausführlich dem Phänomen des aristokratischen und bürgerlichen Musik-Dilettanten widmet, ist die in den Jahren 1869−70 in zwei Bänden edierte Geschichte des Conzertwesens in Wien des Musikkritikers Eduard Hanslick.5 Zu den neueren Beiträgen gehört die Publikation Professionalismus in der Musik von Christian Kaden und Volker Kalisch aus dem Jahre 1996.6 Diese Abhandlung setzt sich mit grundlegenden Zusammenhängen und historischen Einordnungsversuchen im Bereich des musikalischen Professionalismus auseinander. Dabei werden nicht nur die musiksoziologischen und musikhistorischen Relationen, sondern auch die gesellschaftliche Ebene beleuchtet. Eine personenspezifische Untersuchung stellt hingegen die Dissertation von Antje Ruhbaum über Elisabeth von Herzogenberg dar.7 Durch die Auswertung umfangreicher Briefquellen und die Kontextualisierung des sozialen Netzwerkes hat Ruhbaum einen umfassenden Begriff von Musikförderung entwickelt. Mit speziellem Bezug zu Basel zeigte die Basler Historikerin Paola Cimino die geselligen und gesellschaftlichen Aspekte musizierender Dilettanten um die Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der Tätigkeit des Riggenbach’schen Kränzchens auf.8 Das Material aus dem Nachlass des Ehepaars Burckhardt-Grossmann ermöglicht es mir, die Beteiligung des musikbegeisterten Grossbürgertums am professionellen Musikleben im Falle Basels noch genauer darzustellen. Überdies kann die Spanne des von Cimino untersuchten Zeitraumes vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit ausgedehnt werden. Zusätzlich zu der im Burckhardt-Grossmann-Nachlass erhaltenen Dokumentensammlung, deren Auswertung und Darstellung sich wie ein roter Faden durch 4 Winfried Pape: «Amateurmusiker», in: Helga de la Motte-Haber / Hans Neuhoff (Hg.): Musiksoziologie (= Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Band 4), Laaber 2007, S. 244–259, hier S. 244. 5 Eduard Hanslick: Geschichte des Conzertwesens in Wien, Wien 1869–70. 6 Christian Kaden / Volker Kalisch (Hg.): Professionalismus in der Musik. Arbeitstagung in Verbindung mit dem Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz vom 22. bis 25. August 1996 (= Musik-Kultur: Eine Schriftenreihe der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf, Band 5), Essen 1999. 7 Antje Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg. Salon – Mäzenatentum – Musikförderung, Kenzingen 2009. 8 Paola Cimino: «Da hat die Geselligkeit edeln Gehalt». Das Riggenbach’sche Kränzchen als Beitrag zur Geselligkeit und zum Musikleben im Basel des 19. Jahrhunderts, Lizentiatsschrift Basel: Historisches Seminar der Universität Basel 2004. Diese Arbeit, die mir Frau Cimino freundlicherweise zur Einsicht überlassen hat, gab mir wichtige Anregungen für die vorliegende Publikation.

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Einleitung

die vorliegende Studie zieht, untersuchte ich weitere Privatarchive auf Briefwechsel mit Musikern hin. Dabei griff ich nochmals auf das Bechburg-Archiv mit den gesammelten Schriften der Familie Riggenbach-Stehlin zurück.9 Meine Recherchen brachten auch bislang unbekannte kulturelle Beiträge der musikliebenden Familien Heusler-Sarasin10 und Speiser-Sarasin11 ans Licht. Die Dokumente zum Leben des Bibliothekars Carl Christoph Bernoulli-Burger zeugen von der Wirkung eines dilettierenden Geigers, dessen musikalische Fähigkeiten von den Zeitgenossen einstimmig als aussergewöhnlich hoch eingestuft wurden.12 Ergänzend wurden Quellen aus dem Archiv der Allgemeinen Musikgesellschaft Basel (AMG) hinzugezogen, das in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel aufbewahrt wird, und Dokumente aus den Beständen des Basler Gesangvereins,13 der Basler Liedertafel14 und des Basler Männerchors15 gesichtet. Die vorliegende Studie stellt das musikalische Wirken und die individuelle Musikförderung des Ehepaars Burckhardt-Grossmann in den Mittelpunkt. Nach einer Vorstellung der beiden Persönlichkeiten und deren Herkunft werden in einem umfangreichen Kapitel verschiedene Voraussetzungen erörtert, die als Grundlage ihres Wirkens zu interpretieren sind. Dazu ist auch ein Blick auf analoge Verhältnisse in der Donaumetropole Wien notwendig, deren Musikgeschichte weit besser untersucht ist. Anschliessend wird die musikhistorische Situation der Schweiz und insbesondere diejenige Basels dargestellt. Erst vor diesem Hintergrund ist es möglich, in Kapitel IV das Zusammenwirken von Musikern und Musikliebhabern in Basel in den etwas grösseren Rahmen der bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts einzuordnen. Das Kapitel V ist speziell der individuellen Förderung von Kulturschaffenden durch das Ehepaar Burckhardt-Grossmann gewidmet. Ein abschliessender Hinweis auf Basler Musikmäzene, die im zeitlichen Umfeld der beiden Protagonisten gewirkt haben, soll die Untersuchung abrunden.

9 Dieser Nachlass befindet sich ebenfalls im Staatsarchiv Basel-Stadt unter der Signatur PA 841. Er wurde bereits von Hans-Peter Schanzlin und Paola Cimino, siehe Anmerkung 8, untersucht. 10 Hier ist insbesondere der in der Universitätsbibliothek Basel aufbewahrte Nachlass Andreas Heuslers II zu erwähnen: UBB, NL Andreas Heusler II 102 + 108. 11 Von besonderem Interesse ist der Briefwechsel mit Hans Huber: UBB, NL 30: Nachtrag IIa, 1–82. 12 Der Nachlass von Carl Christoph Bernoulli-Burger befindet sich in der Universitätsbibliothek Basel unter der Signatur NL 322 und AMG V. C. (Autographensammlung Bernoulli). 13 StABS, PA 787. 14 StABS, PA 175. 15 StABS, PA 307.


II. Musikbegeisterung in der Basler Oberschicht: Das Ehepaar Burckhardt-Grossmann Carl Eduard Burckhardt Als Mitglied einer der angesehensten und einflussreichsten Basler Familien gehörte Carl Eduard Burckhardt der städtischen Oberschicht an. Die Basler BurckhardtLinie kann sich auf Christof Burckhardt (1490−1578) zurückführen, der aus dem Münstertal im südlichen Schwarzwald stammte. Das erste Dokument, welches seinen Basler Wohnsitz bezeugt, ist der Eintrag im Rodel der Zunft zu Safran vom 24. Februar 1521.16 Im Jahre 1536 erfolgte der Beitritt zur Zunft zum Schlüssel, wodurch Burckhardt doppelzünftig wurde. Aufgrund dieses geschickten Schachzuges konnte er sich den Auflagen der rivalisierenden Gilden entziehen und im grossen Stil Handel betreiben. Hatte Christof Burckhardt einst als «Kremer» mit dem Verkauf billiger Tuchwaren angefangen, so wandte er sich nun dem Seidenhandel zu und kam im Laufe seines langen Lebens zu grossem Reichtum.17 Der soziale Aufstieg des Neubürgers war jedoch nicht nur seinem beruflichen Erfolg zu verdanken, sondern ebenso seinen ehelichen Verbindungen mit Frauen aus der Basler Oberschicht: Gertrud Brand (1516−1600), seine zweite Frau, war Tochter des Oberzunftmeisters und späteren Basler Bürgermeisters Theodor Brand.18 Die sechs Söhne aus der zweiten Ehe Christof Burckhardts, denen der Weiterbestand des Familiengeschlechts zu verdanken ist, verfolgten ebenfalls gezielte Heiratsstrategien und erhielten dadurch Zugang zu den führenden Basler Buchdrucker- und Ratsherren-Familien der Froben, Iselin, Frey, Bischoff und Beck. Als die Mutter Gertrud im Jahre 1600 starb, waren gemäss der Grabtafel in der Martinskirche bereits 133 Kinder mit dem Namen Burckhardt geboren worden.19 Carl Eduard Burckhardt war ein Nachkomme von Theodor, dem dritten Sohn Christof Burckhardts. Dieser hatte eine Dynastie von Professoren begründet, der auch der bedeutende Historiker Jacob Burckhardt (1818–1897) angehörte. Die direkte Ahnenlinie vom Stammvater bis zu Carl Eduard Burckhardt wirft ein Licht auf die Heiratspolitik der tonangebenden Familien untereinander:

16 Vgl. René Teuteberg: «Der Aufstieg des Geschlechts bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts», in: ckdt. (Basel). Streiflichter auf Geschichte und Persönlichkeiten des Basler Geschlechts Burckhardt, hg. von der Burckhardtschen Familienstiftung, Basel 1990, S. 13–61, hier S. 18. 17 Vgl. August Burckhardt: Herkommen und Heimat der Familie Burckhardt in Basel und ihre soziale Stellung in den ersten Generationen, Basel 1925, S. 5 und Teuteberg, «Aufstieg», S. 23f. 18 Teuteberg, «Aufstieg», S. 27. 19 Vgl. auch Burckhardt, Familie Burckhardt, S. 33.


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Musikbegeisterung in der Basler Oberschicht

Christof (1490−1578)

Gertrud Brand I

Theodor (1549−1623)

Maria Oberried (Base) I

Christof (1586−1639)

[Kein Eintrag] I

Hieronymus (1612−1667)

Sibylla Frei I

Theodor (1639−1694)

M. Salome Richard I

Christof (1676−1718)

Salome Merian I

Christof (1708−1785)

Maria Elisabeth Vischer I

Christof (1740−1812)

Dorothea Merian I

Benedikt (1772−1841)

Charlotte Bernoulli I

Hieronymus (1812−1894)

Helena Valeria Iselin (1821−1890) I

Carl Eduard (1855−1946)

Maria Rosalia Grossman (1864−1927).20

Abb. 1: Carl Eduard BurckhardtGrossmann (1855−1946) um 1877. Fotografie aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt

20 Ludwig Säuberlin: Stammbaum der Familie Burckhardt 1490–1893, Basel 1893 und Annette BurckhardtLeupin: Familie Burckhardt: Stammbaum 1800–1987, Reinach 1990.


Marie Rosalie Grossmann

Marie Rosalie Grossmann Marie Grossmann entstammte einer Industriellenfamilie, die seit 1613 das Bürgerrecht von Aarburg im Kanton Aargau besass. Bedeutendster Spross dieser Linie war der Weber und Fabrikant Johann Jakob Grossmann (1754−1838), der das Textilunternehmen Jakob Grossmann Vater & Söhne gründete.21 Die Firma betrieb Baumwollspinnerei, mechanische Weberei, Färberei, Bleicherei und Appretur und nahm im 19. Jahrhundert in der aargauischen Wirtschaft eine wichtige Stellung ein. Johann Rudolf Grossmann-Grossmann22 (1811−1871), der Grossvater von Marie, wagte im Jahre 1837 gemeinsam mit dem Basler Heinrich Riggenbach die Gründung eines Zweiggeschäftes in Brombach im Wiesental. Von der neuen Filiale versprachen sich die Besitzer grossen Gewinn, da sie nun die Zollschranken umgehen konnten. Marie Rosalie wurde 1864 als ältestes Kind von Johann Rudolf Grossmann (1839−1914) und der Baslerin Maria Staehelin (1842−1916) in Aarburg geboren. Im Jahre 1866 zog die Familie nach Basel, wo sie am Steinengraben sesshaft wurde. Dieser Ortswechsel hing wohl mit dem Umstand zusammen, dass die Firma durch den amerikanischen Sezessionskrieg und der daraus resultierenden Baumwollkrise im Jahre 1868 liquidiert und neuorganisiert werden musste.23

Abb. 2: Marie Burckhardt-Grossmann (1864−1927). Fotografie aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt 21 Vgl. Johann Paul Zwicky von Gauen (Hg.): Schweizerisches Familienbuch, Dritter Jahrgang, Zürich 1949, S. 95. 22 Er war mit seiner Cousine Johanna Margaritha Grossmann (1819–1866) verheiratet. 23 Zwicky von Gauen, Familienbuch, S. 95.

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Musikbegeisterung in der Basler Oberschicht

Ein musikalisches Ehepaar Mehrere Briefe dokumentieren die Phase der ersten Bekanntschaft zwischen Marie Grossmann und Carl Eduard Burckhardt, denn letzterer war zu diesem Zeitpunkt als Hauptmann in der Kaserne Thun zum Militärdienst verpflichtet. Die Zeilen berichten nicht nur vom Liebesglück, sondern auch von den Selbstzweifeln der angehenden Gattin, die den Erwählten anfangs noch verschämt in der Höflichkeitsform anredete: Geehrter Herr, Ich bin ganz alleine zu Haus, die andern sind zum Glück alle in Gesellschaft gegangen & so kann ich denn endlich Ihren lieben Brief, den ich vor einer Stunde erhielt, mit Ruhe & Überlegung, wie Sie es von mir fordern, beantworten. Mit der Ruhe wird es zwar nicht sehr weit her sein, ich bin schon im gewöhnlichen Leben nicht sehr ruhig & jetzt natürlich erst recht nicht, ich wandle überhaupt einher wie in einem Traum, ist es denn möglich, lieben Sie mich denn wirklich so sehr? Ich kann es kaum glauben & doch steht es schwarz auf weiss da vor mir aufgeschrieben & doch sollte ich mich nun endlich an diesen Gedanken gewöhnt haben, denn es ist ja heute nicht zum ersten Male, dass ich davon höre, schon letzten Freitag wurde es mir mitgeteilt, aber immer noch ist es mir ganz neu ganz unfassbar! Nie, nie hätte ich ja geahnt, dass Sie für mich ein wärmer gehendes Interesse empfinden würden als für jede andere! Und doch – soll ich es Ihnen gestehen, dass ich es manchmal – wenn auch nur im tiefsten Innern – gehofft hatte? Aber ich unterdrückte es immer wieder, denn jedesmal musste ich mir sagen: Er macht sich auch nicht das Geringste aus dir & dann verbot mir mein Stolz, weiter über diese Sache nachzudenken & Sie können sich ja denken: wenn man sich sehr Mühe giebt, etwas zu vergessen so gelingt es Einem manchmal fast obschon nie ganz. […] Die ganze Zeit über, während ich diesen Brief schreibe, mache ich mir Vorwürfe dass Sie ihn vielleicht zu leichtsinnig und oberflächlich finden werden. Denken Sie nicht, dass ich ohne Überlegung handle – wirklich ich habe darüber lange nachgedacht, ich denke ja überhaupt an nichts anderes in den letzten Tagen – aber ich komme eben immer wieder auf das Gleiche zurück. Ich fühle, dass ich mit niemand anderem glücklich sein kann als mit Ihnen, & dazu braucht es eben keine weitere Überlegung. Wenn Sie glauben durch mich glücklich zu werden, so will ich Sie auch glücklich machen um jeden Preis. Aber glauben Sie auch wirklich, dass Sie nur durch mich glücklich werden können? Besinnen Sie sich doch noch recht, denn nachher ist es zu spät dazu. Sie kennen mich ja nur von Gesellschaften her. Sie wissen nicht, wie ich im täglichen Verkehr bin. Da bin


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ich gar nicht immer so heiter & freundlich, sondern komme mir selbst manchmal entsetzlich unangenehm & widerwärtig vor. Nun, ganz ohne Fehler ist am Ende kein Mensch, aber ich habe deren eine solche Menge, ich möchte sie lieber nicht alle aufzählen, denn sonst würden Sie am Ende doch nichts mehr von mir wissen wollen. […]24 In diesem Dokument ist erstmals von ehrenamtlicher Tätigkeit die Rede, die für beide Ehepartner ein zentrales Anliegen war. Im weiteren Verlauf des Briefes äusserte sich Marie Grossmann zur beruflichen und gesellschaftlichen Stellung des zukünftigen Bräutigams: Wenn Sie nur überhaupt arbeiten, so ist es mir offen gestanden gleich, auf welche Art diess geschieht & wenn Sie sich einer freiwilligen & noch dazu gemeinnützigen Aufgabe widmen so ist diess ja viel schöner als wenn Sie darnach trachten um irgendeinem Geschäft so viel Geld als möglich zusammenzuscharen. Nur kann ersteres nicht jedermann thun, doch werden Sie wohl am besten wissen, wie Sie zu handeln haben. Dass Sie niemals ein Faulenzerleben führen würden, das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen, das glaube ich Ihnen schon sonst. Wenn ich nicht diess Vertrauen schon so wie so in Sie hätte so muss ich gestehen, dass dieser Brief niemals geschrieben worden wäre, denn niemals könnte ich einen Mann achten, der nichts thut. Und eine Liebe ohne Achtung kann ich mir nicht denken.25 Carl Eduard Burckhardt hatte an den Universitäten Basel, Leipzig und Berlin Jura studiert und seine Ausbildung in kaufmännischer Hinsicht in Paris erweitert. Nun entschloss er sich dazu, gemeinsam mit seinem Freund August Sulger ein «Notariatsbureau» zu gründen, dessen Vermögensverwaltung er über Jahrzehnte hinweg innehatte.26 Dank dieser beruflichen Stellung konnte er sich fortan auch ehrenamtlichen und «gemeinnützigen» Aufgaben widmen. Solche Bestrebungen zum Nutzen der weniger begüterten Allgemeinheit spielten in der reichen Oberschicht als Kompensation der ungleichen Vermögensverhältnisse eine wichtige Rolle.27 Im Falle des Ehepaars Burckhardt-Grossmann konzentrierte sich die wohltätige Gesinnung in erster Linie auf eine umfangreiche Musikförderung, die unmittelbar nach der Heirat im Jahre 1887 einsetzte.

24 Brief von Marie Grossmann an Carl Eduard Burckhardt vom 24. Mai 1887. StABS, PA 962a U 2.1.a 15. 25 Ebd. 26 Die biographischen Angaben zu Carl Eduard Burckhardt-Grossmann und Marie Burckhardt-Grossmann sind den jeweiligen Leichenreden entnommen, die mir Dieter Burckhardt-Hofer freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. 27 Siehe dazu unten S. 74ff.

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Musikbegeisterung in der Basler Oberschicht

Bald wurden dem Paar zwei Töchter geboren: Jenny Adèle (1888−1985) und Marie Louise (1891−1975). Der Korrespondenz sowie dem autobiographischen Fragment der Mutter Marie ist zu entnehmen, dass sie immer wieder gesundheitliche Rückschläge zu erleiden hatte: «Nach der Geburt der Kleinen [Marie Louise] war ich sehr lange krank an einer Venenentzündung & erholte mich nur langsam.»28

Abb. 3: Marie Burckhardt-Grossmann mit den Töchtern Jenny Adèle (1888–1985) und Marie Louise (1891–1975) um 1892. Fotografie aus der Porträtsammlung der Universitätsbibliothek Basel

Zu Beginn der 1890er Jahre bezog die junge Familie das neuerbaute Haus an der Sevogelstrasse 79 im vornehmen Gellertquartier. Dieses geräumige Domizil wurde rasch zu einem Heim für in Basel gastierende Musikerinnen und Musiker. Der von den Töchtern verfasste Nachruf auf den Vater von 1946 hält fest: «Ihr Haus stand vielen, insbesonderen Künstlern, gastlich offen, die ihrerseits durch echte Freundschaft das Leben des Ehepaares bereicherten.»29 Weiter heisst es: «Nach alter Basler Tradition stellte unser Vater seine Person verschiedenen gemeinnützigen Institu-

28 StABS, PA 962a U 3.11. 29 Die musikalische Passion des Paares trug wesentlich zum harmonischen Zusammenleben bei. Anlässlich ihrer silbernen Hochzeit schrieb Marie Burckhardt-Grossmann im Jahre 1912 folgende Zeilen nieder: «Dankend blicke ich zurück auf die 25 Jahre, an seiner Seite zugebracht, dankend auch gegen Gott der uns so gnädig geführt hat. Und nun wo sich überall Wolken auftürmen & wir armen Menschen vielleicht schweren Zeiten entgegengehen, möge der Gott uns nicht verlassen & uns alle doch zuletzt zu sich nehmen in sein Reich.» Vgl. dazu Marie Burckhardt-Grossmanns autobiographisches Fragment StABS, PA 962a U 3.11. Gemeinsam stand die Familie turbulente Zeiten im Schatten der weltgeschichtlichen Ereignisse durch. Die jüngere Tochter Marie Louise beispielsweise heiratete den deutschen Kaufmann Albert Voster aus Hannover «mitten im Weltkrieg» im April 1917. Siehe ebd.


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tionen zur Verfügung, worunter ihm die Allgemeine Musikgesellschaft besonders am Herzen lag.»30 Während einiger Jahre wirkte der begeisterte Geigenspieler nachweislich im Orchester der Allgemeinen Musikgesellschaft zur Verstärkung der zweiten Violinen mit.31 Dadurch reihte sich der Laienmusiker in eine namhafte Tradition ein: «In den früheren Jahrzehnten spielten eine Anzahl Musikfreunde unserer Stadt, die besonders in den Streichern zur Verstärkung mitwirkten, eine nicht unwesentliche Rolle im Bestand unseres Orchesters. Die Dankbarkeit der Allgemeinen Musikgesellschaft gegenüber diesen Dilettanten liess es angezeigt erscheinen, auch diese Mitspieler in die Liste der Mitwirkenden aufzunehmen; der Leser wird darunter manche bekannte Persönlichkeit unserer Stadt finden.»32 Die Mitwirkung im städtischen Sinfonieorchester gibt Zeugnis davon, dass Carl Eduard Burckhardt-Grossmann über ein beachtliches spieltechnisches Niveau verfügt haben muss. Auch Ferdinand Küchler, Solobratschist des Basler Orchesters und Violinlehrer am Konservatorium, bestätigt dies in einem Brief aus dem Jahre 1900. Er empfahl seinem Freund, die anspruchsvollen Quartette von Tanejew und Tschaikowsky einzustudieren: Dagegen bin ich mit grossem Eifer dem Quartettspiele ergeben, wofür ich hier reichlich Gelegenheit habe; so viel wie in dem letzten Winter spielte ich in Basel während neun Jahren nicht Quartett. Sehr empfehle ich Ihnen die Quartette von Tanajeff und Tschaikowsky zu spielen; es sind je drei Werke; man muss sie nicht nur durchspielen, sondern wirklich studieren und wird reichlich durch den hohen Genuss entschädigt.33 Das Musizieren im Streichquartett scheint Carl Eduard Burckhardt-Grossmann besonders fasziniert zu haben. Ein Foto aus seiner Studienzeit in Leipzig zeigt ihn als Primgeiger in einer Formation mit Friedrich Palm und zwei nicht näher zu identifizierenden jungen Musikern.34

30 Aus dem Nachruf auf Carl Eduard Burckhardt-Grossmann. Siehe Anmerkung 26. 31 Walter Mörikofer: Die Konzerte der Allgemeinen Musikgesellschaft in Basel in den Jahren 1876–1926. Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestehens der Allgemeinen Musikgesellschaft, Basel 1926, S. 322. Eine aktive Mitwirkung kann für die Zeitspanne von 1889–1894 nachgewiesen werden. 32 Ebd., S. 320. 33 Brief von Ferdinand Küchler an Carl Eduard Burckhardt-Grossmann vom 23. April 1900. StABS, PA 962a U 2.1.b 25. 34 Bei Friedrich Palm handelt es sich möglicherweise um einen Studienfreund, wie zwei Briefe unter PA 962a U.2.1.c 23 aus dem Jahre 1877 nahelegen.

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Musikbegeisterung in der Basler Oberschicht

Abb. 4: Carl Eduard Burckhardt-Grossmann (links) mit Musizierkollegen. Fotografie aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt

Bisweilen stand dem versierten Musikliebhaber mit Edwin Fischer sogar ein hochkarätiger Begleiter zur Seite: Oft werde ich an die Abende erinnert, wo ich mit Herrn Burckhardt musizierte […] Hat Ihr Herr Gemahl noch Zeit, zur Violine zu greifen? Es wäre schade, wenn es nicht der Fall wäre.35 Die musikalischen Vorlieben von Marie Burckhardt-Grossmann galten dagegen in erster Linie dem Gesang. Sie war ein langjähriges Mitglied des Basler Gesangvereins und trat vor ihrer Heirat gelegentlich solistisch hervor, was für ihre stimmlichen und musikalischen Qualitäten spricht.36 Als Gastgeberin gelang es ihr, enge Freundschaftsbande zu einigen der berühmtesten Sängerinnen der damaligen Zeit zu knüpfen, die sie auch nach ihrem Rücktritt aus dem Gesangverein im Jahre 1901 weiterpflegte. Über diese harmo35 Brief von Edwin Fischer an Marie Burckhardt-Grossmann vom 24. Februar 1908. StABS, PA 962a U 3.1.d 6. 36 Vgl. dazu unten S. 82f.


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