Argumenta in dialogos Platonis

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Das Denken Platons bildet die Grundlage der gesamten abendländischen Philosophie. Jedoch bietet sein Verständnis bedeutende Schwierigkeiten; diese resultieren aus Platons Wahl, einerseits seine Philosophie in die Form des sokratischen Dialogs zu giessen, andererseits Objekte des Denkens zu postulieren, die sogenannten Ideen, welche einen autonomen Seinsbereich bilden. Von der Antike bis heute haben die Interpreten Platons immer wieder neue Strategien entwickelt, um die besonderen Schwierigkeiten des Verstehens Platons ßberwinden zu kÜnnen. Dieses Werk liefert die erste vollständige historisch-systematische

Argumenta in dialogos Platonis / II

Istituto Svizzero di Roma | www.istitutosvizzero.it

Untersuchung darßber, welche Interpretationsgrundsätze, d.h. welche Hermeneutik, die Interpreten ßber die Jahrhunderte hinweg geleitet hat, um eine je neue und andere Deutung des attischen Philosophen zu

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Argumenta in dialogos Platonis Teil 2: PlatonInterpretation und ihre Hermeneutik

entwickeln und in einem Kommentar darzulegen.

vom 19. bis zum 21. Jahrhundert

Der hier angezeigte zweite Band beleuchtet den tiefen Einschnitt in der Platonexegese, der durch die

Akten des Internationalen Kolloquiums

präsentativen Ăœberblick Ăźber die aktuellen historischen und systematischen HauptstrĂśmungen der Platoninterpretation. Die Herausgeber: Michael Erler, geboren 1953, Studium der Klassischen Philologie und Philosophie ab 1973 in KĂśln und ­London (University College). Seit 1992 o. Professor fĂźr Klassische Philologie (Schwerpunkt Griechisch) in WĂźrzburg. Monographien: Sammelbände und Aufsätze zu Proklos, Platon, Epikur, ­Epikureismus. Forschungs­ schwerpunkte: Griechische und rĂśmische Philosophie (Platonismus, Epikureismus), Drama, hellenistische Dichtung, griechische Literatur der Kaiserzeit. Ada Neschke-Hentschke, geboren 1942, ist emeritierte Professorin an der Universität Lausanne, an der sie bis 2006 Antike Philosophie und Geschichte der Philosophie mit Schwerpunkt der Hermeneutik unterrichtete. , 6 % 1

Schwabe Verlag Basel

Erler / Neschke-Hentschke

moderne Historiographie der Philosophie und die kritische Philologie entstanden ist, und gibt einen re-

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vom 7. bis 9. Februar 2008 im Istituto svizzero di Roma Herausgegeben von Michael Erler und Ada Neschke-Hentschke unter mitarbeit von Robert Wennler und Benedikt Blumenfelder




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Herausgegeben von Christoph Riedweg und Philippe Mudry Istituto Svizzero di Roma | Schweizerisches Institut in Rom | Institut Suisse de Rome


ARGUMENTA IN DIALOGOS PLATONIS TEIL 2: PLATONINTERPRETATION UND IHRE HERMENEUTIK VOM 19. BIS ZUM 21. JAHRHUNDERT

AKTEN DES INTERNATIONALEN KOLLOQUIUMS VOM 7. BIS 9. FEBRUAR 2008 IM ISTITUTO SVIZZERO DI ROMA HERAUSGEGEBEN VON MICHAEL ERLER UND ADA NESCHKE-HENTSCHKE UNTER MITARBEIT VON ROBERT WENNLER UND BENEDIKT BLUMENFELDER

SCHWABE VERL AG BASEL


Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Copyright ©2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Vignette Umschlag: Stierkopf, römische Bronze, gefunden in Martigny (Wallis) Abbildung Umschlag: Plato and Socrates. ©Oxford, Bodleian Library Ashmole 304, fol. 31v. Satz: Benedikt Blumenfelder, Würzburg Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Basel/Muttenz, Schweiz Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2809-5 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch


Inhaltsverzeichnis Entstehung des Bandes und Danksagung Michael Erler und Ada Neschke-Hentschke.............................................................

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Einleitung Ziel des Bandes und Vorstellung der Beiträge Ada Neschke-Hentschke .........................................................................................

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Zum Thema des Bandes Platonexegese und Allgemeine Hermeneutik (mit einem Methodenbeispiel zu Platon, Politeia VI, 509 b8–b10: … ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος) Ada Neschke-Hentschke .........................................................................................

1

Platonexegese im 19. Jahrhundert: Philosophie, Philosophiegeschichte, Philologie Schlegels Platonverständnis Theo Kobusch........................................................................................................

51

Hegels Kritik am romantischen Plato-Verständnis Theo Kobusch........................................................................................................

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Platonforschung und hermeneutische Reflexion bei Schleiermacher Gunter Scholtz ......................................................................................................

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Platon, Victor Cousin et la philosophie française (XIXe–XXe siècles) Michel Narcy ........................................................................................................ 103 Hegel und Platon. Die Stellung Platons in Hegels Konzeption der Geschichte der Philosophie Thomas Leinkauf .................................................................................................. 127


Inhaltsverzeichnis

VI

Die Platonische Frage. Zur Kontroverse über Eduard Zellers Platonbild Gerald Hartung..................................................................................................... 143 Platon im Grundriss der Geschichte der Philosophie bei Friedrich Ueberweg Christoph Horn ..................................................................................................... 163 Geschichtliche Entwicklung und philosophisches System: Zum Platon-Verständnis Karl Friedrich Hermanns Bernd Manuwald .................................................................................................. 181 Lire, récrire, interpréter: trois approches nietzschéennes de Platon Monique Dixsaut .................................................................................................. 203

Platonexegese im 20. und 21. Jahrhundert Il Platone di Natorp Francesco Fronterotta............................................................................................. 225 Logos und Mythos in der Philosophie Platons: Ernst Cassirers Platon-Bild Gerald Hartung..................................................................................................... 247 Platon bei Werner Jaeger Michael Erler ........................................................................................................ 265 Die Hermeneutik der «dritten Dimension» in der Platondeutung von Leo Strauss Clemens Kauffmann .............................................................................................. 285 L’ancien et le nouveau dans l’herméneutique gadamérienne: Comparaison entre Gadamer et Olympiodore François Renaud.................................................................................................... 301 Bemerkungen zur Analytischen Platon-Exegese mit einem Fallbeispiel: Zwei-Ebenen-Paradoxien in Platons Ideenlehre? Benedikt Strobel .................................................................................................... 325 Tra metafisica e oralità. Il Platone di Tubinga Franco Ferrari....................................................................................................... 361


Inhaltsverzeichnis

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Der Konflikt der Interpretationen Metaphysik bei Platon Jens Halfwassen ..................................................................................................... 393 Le dialogue platonicien Luc Brisson ........................................................................................................... 411 Τὸ ἀγαθόν: buono a che cosa? Il conflitto delle interpretazioni sull’idea del buono nella Repubblica Mario Vegetti ........................................................................................................ 433

Nachwort Ausblick Michael Erler ........................................................................................................ 455 Die Autorinnen und Autoren............................................................................... 463 Indices.................................................................................................................. 469



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Der hier vorliegende zweite Teil der Geschichte der Platoninterpretation und ihrer Hermeneutik stellt die Entwicklung dar, welche die Platonauslegung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart genommen hat. Die Beiträge des Bandes gehen zum grössten Teil auf Vorträge zurück, die am 7.–9. Februar 2008 im Rahmen des zweiten internationalen Kolloquiums zur Platoninterpretation und -hermeneutik im Istituto Svizzero di Roma gehalten wurden1. Zur Vervollständigung des Bandes haben Bernd Manuwald (K.F. Hermann), Gerald Hartung (E. Cassirer), Clemens Kauffmann (L. Strauss), Michel Narcy (französische Platonexegese) und Benedikt Strobel (Analytische Exegese) weitere Beiträge geliefert. Dem Verständnis des Ganzen soll die nähere Beleuchtung des Themas des Bandes «Platonexegese und Allgemeine Hermeneutik» durch Ada Neschke-Hentschke dienen. Die Herausgabe des Bandes haben Michael Erler und Ada Neschke-Hentschke übernommen und dazu die Hilfe jüngerer Mitarbeiter in Anspruch genommen: Robert Wennler hat die Beiträge zum Teil formatiert, Benedikt Blumenfelder die gesamte Druckvorlage sowie die Indices erstellt. Christoph Riedweg und Philippe Mudry haben auch diesen zweiten Band der Argumenta in dialogos Platonis in die Reihe der Bibliotheca Helvetica Romana aufgenommen. Die Finanzierung der Drucklegung war dank der Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung möglich. Allen am Zustandekommen dieses Bandes Beteiligten sei hiermit herzlich von den Herausgebern gedankt. Ihr besonderer Dank gilt jedoch Christoph Riedweg, dem Direktor des Istituto Svizzero di Roma, der nicht nur den Tagungsort gestellt und die Teilnehmer in Rom grosszügig betreut, sondern auch das Erscheinen der Akten durch personelle und materielle Hilfe gefördert hat.

1

Vgl. Neschke-Hentschke 2010 (Argumenta I), VIIIff.


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1. Ziel des Bandes Die zwei Bände mit dem Titel Argumenta in dialogos Platonis, Teil I und II, verdanken ihre Entstehung dem Projekt, eine Karte der vielfältigen Wege zu zeichnen, welche die Platonforschung in den letzten zwei Jahrhunderten zurückgelegt hat1. Dabei geht es nicht, wie im Vorwort des ersten Bandes klargestellt wurde2, um die Rezeption platonischer Philosophie3, sondern um die hermeneutischen Grundlagen der Rezeption, d.h. die Voraussetzungen, welche die jeweiligen Interpretationen der Dialoge Platons geleitet haben und noch leiten und die, werden sie explizit gemacht, als Theorie der Interpretation bzw. Hermeneutik bezeichnet zu werden pflegen. Es gehört zur Besonderheit der Exegesetradition der platonischen Dialoge, dass sie den Ort bildet, an dem allgemeine hermeneutische Theorien ausgebildet wurden. Mein eigener Beitrag wird dieses historisch und sachlich relevante Phänomen aufzeigen4. In diesem zweiten Band wird es darum gehen, den Einschnitt zu markieren, welchen man mit dem Kennwort «Historisierung» zu kennzeichnen pflegt. Dank dieser Bewegung wurden im 19. Jahrhundert, nach mehr als zweitausend Jahren der Versuche, Platons Dialoge «systematisch» zu verstehen5, neue Gesichtspunkte an das platonische Schriftwerk herangetragen, welche unter anderem dem Dialog als besonderer Darstellungsform platonischen Denkens gerecht zu werden versuchten6. Der Historismus hat als erster das Augenmerk auf das Besondere und Individuelle einer menschlichen Kulturleistung gelenkt und eine Theorie entwickelt, welche entgegen dem Dogma, dass das Individuum kein Gegenstand von Wissenschaft sein könne, die einmalige Raumzeitkonstellation zu erfassen ermöglicht, in deren Licht die Äusserungen der Individuen verstanden und interpretiert werden können. Die Platonforschung der Gegenwart steht ganz auf diesem Boden. Sie arbeitet, soweit sie von Philologen und Philosophiehistorikern betrieben wird, im Zeichen historischer Wahrheit, mit anderen Worten, man sucht über Platon, das einmalige und besondere Individuum, Wahrheit zu gewinnen7. Dieses von 1800–1960, also über 150 Jahre geltende wissenschaftliche Paradigma, in dessen Rahmen kontinuierlich eine Reihe gemeinsamer Probleme kontrovers bearbeitet und z.T. zu einer Lösung gebracht wurden8, konnte jedoch nach der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr beanspruchen, den einzigen legitimem Zugang zu Platons Werk zu bilden; es wurde einerseits der Kritik Hans-Georg Gadamers im 1 2 3 4 5 6 7 8

Zum Projekt vgl. Neschke-Hentschke 2010, VIII (Argumenta I). Neschke-Hentschke 2010, VIII–XIII (Argumenta I). Zur Rezeption Platons Erler 2007, 520–549 und Horn/Müller/Söder 2009, 387–496. Vgl. Neschke-Hentschke, dieser Band S.2–52 Zu «systematisch» s. S. XVI u. Anm. 18. Dazu grundlegend Erler, 2007, 60–97. Zusammenfassungen der Forschung durch Erler 2007, 1–8 und in Horn/Müller/Söder 2008, 518–522. Zum Beispiel die Frage der relativen Chronologie, vgl. Erler 2007, 22–26.


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Zeichen einer phänomenologischen Hermeneutik unterzogen; auf der anderen Seite bildete die sprachanalytische Philosophie eine eigene Platonexegese aus. Der Hermeneutik Gadamers ging es, vergleichbar mit der antiken und vorhistoristischen Interpretation Platons, darum, nicht nur Wahrheit über, sondern vor allem Wahrheit aus Platon zu gewinnen9; der sprachanalytische Zugang folgte anfänglich einem gleichen Impuls10. Jedoch unterscheiden sich beide Richtungen entscheidend dadurch, was sie jeweils unter Wahrheit verstehen: bei Gadamer gehört die Wahrheit in die dialogischkommunikativ vermittelte Sacherschliessung – für Gadamer bildet ganz ausdrücklich der platonische Dialog das Modell der gemeinsamen Wahrheitsfindung11; in der analytischen Philosophie besteht die Wahrheit in der logisch korrekten Aussage. Schon Heidegger hatte zwei vergleichbare Wahrheitsbegriffe mit den Bezeichnungen «hermeneutisch» und «apophantisch» einander gegenübergestellt12. Der Vorrang der Logizität, den die analytische Philosophie vertritt, gibt ihrer Exegese grundsätzlich einen kritischen Impuls. Man lese die Bemerkung, die Günter Patzig zu Platon macht, indem er diesen im Horizont der Logik Gottlob Freges betrachtet und das Hauptproblem der analytischen Exegese wie folgt formuliert13: Die platonische Ideenlehre, was immer man sonst von ihr denken mag, ist jedenfalls auch dadurch charakterisiert, dass Platon die Unterschiede zwischen dem Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff, der Unterordnung zwischen Begriffen und dem Fallen eines Begriffs in einen Begriff zweiter Ordnung nicht klar vor sich sah. Platons Ideen besitzen durchweg die Merkmale, die sie repräsentieren, zugleich im höchsten Masse als Eigenschaften. Man muss offen lassen, ob man daraus folgern will, dass Platos Ideen nicht Begriffe sind, sondern Platon hier einer Verwirrung zum Opfer gefallen ist oder dass beides der Fall ist. In der Tat hat die Frage der «Verwirrung» Platons die analytische Exegese bewegt und bewegt sie noch heute14.

9 10 11 12 13 14

Wieland 1982, 7–12. Zu Wieland vgl. Neschke-Hentschke 1983. Daraus konnten so verschiedene Interpretationen wie die Ryles 1966 und Künnes (1983) 22007 hervorgehen. Gadamer 1965, 344–351. Vgl. zu Gadamer jetzt Ferber 2010, 220–221. Vgl. zu Heideggers Unterscheidung Grondin 1994, 17–18. Patzig 1981, 258 Strobel 2008, 510–517 und dieser Band S.314ff.

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2. Vorstellung der Beiträge 2.1 Zum Thema des Bandes Das Thema der beiden Bände Argumenta Teil I und II, bildet die Geschichte der Platonexegese und ihrer Hermeneutik. An der Wende vom 18. bis 19. Jahrhundert vollzieht diese Geschichte eine Wende: Im Umkreis der Platonexegese entstehen bedeutende Entwürfe der Hermeneutik durch Friedrich Ast, Friedrich August Wolf und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher; dessen Hermeneutik, expressis verbis als Allgemeine Hermeneutik entworfen, hat eine bis heute andauernde Wirkung entfaltet. Es ist jedoch kein Zufall, dass diese Entwicklung durch ausgewiesene Platoniker vorangetrieben wurde. Der Verschränkung von Platonexegese und Allgemeiner Hermeneutik nachzugehen, bildet das Ziel des ersten Beitrags aus eigener Feder (Ada NeschkeHentschke). Es geht darum aufzuzeigen, wie die moderne Platonexegese von Schleiermacher bis Gadamer immer zugleich mit einer vertieften hermeneutischen Reflexion verbunden war und welche hermeneutischen Theorien daraus hervorgingen. Insbesondere wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts neue Anschauungen von Sprache und Geschichte entwickelt, welche nicht nur die Theorien der Hermeneutik, sondern auch die Praxis der Exegeten prägten. Der Beitrag zeigt darüber an einem Beispiel auf, dass die seit Schleiermacher so genannte «grammatische Auslegung» heute, dank Fortentwicklung der Sprachwissenschaft und Textlinguistik, verfeinert werden kann, insbesondere, dass ohne Kenntnis der betroffenen Nationalsprache und ohne exakte Analyse von deren «rhetorischen» Gebrauch durch den Autor ein Verständnis vom Sinn seiner Aussagen nicht zu haben ist. Immer noch, wie es bereits F.A. Wolf und sein Schüler F.D.E. Schleiermacher betont haben, bildet die grammatische Interpretation die Grundlage aller weiterführenden Auslegungen, gleich welches Erkenntnisinteresse der Interpret dem Text entgegenbringt15.

2.2. Platon vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 2.2.1. Platonauslegung bei den Philosophen am Beginn des 19. Jahrhunderts Bei Schleiermacher gehört die Hermeneutik mit der Rhetorik und Dialektik in ein umfassendes Philosophiekonzept16; denn es gehört zu den Zeichen der Epoche, speku15 Die ältere institutionelle Regelung, die antike Philosphie in der Einheit «Altertumswissenschaft» anzusiedeln, geht von dieser Tatsache aus. Die Besetzung von Speziallehrstühlen für Antike Philosophie bedarf immer der Doppelkompetenz der Lehrstuhlinhaber. Mit dem Schwinden der aktiven Griechisch- bzw. Lateinkenntnisse ist das Fach sehr gefährdet. 16 Scholtz 1984, 104–163, bes. 145ff.


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lativ, d.h. philosophisch und/oder theologisch ausgerichtet zu sein. In einem solchen Zeitalter – es handelt sich um die Wende, die von Kant zu Fichte, Hegel und Schelling führt –, konnten von an Philosophie und Theologie interessierten Köpfen Platons Dialoge nicht unbeachtet bleiben. Die Beiträge von Theo Kobusch, Gunter Scholtz und Michel Narcy zu Schlegel, Hegel, Schleiermacher und Cousin haben den gemeinsamen Tenor aufzuzeigen, wie sehr die Lektüre Platons in dieser fruchtbaren Epoche dem spekulativen Interesse entsprang; es ging dabei auch darum, mithilfe der neuen historisch orientierten Philologie eine Neuübersetzung zu erstellen, die einem vertieften Verständnis der Dialoge als Ort gültiger Wahrheit dienen sollte und dies mit dem kritischen Impuls, die aktuell herrschende Philosophie von Kant und Fichte zu überwinden. In dieser ersten modernen Diskussion der Philosophen um die richtige Auslegung der Dialoge wurden fundamentale Einsichten formuliert; der aktuelle Stand der Platonforschung stellt eine Weiterentwicklung der hier gelegten Grundlagen dar. So verfolgt Theo Kobusch Friedrich Schlegels Platonverständnis von dessen ersten Anfängen bis in seine Altersphilosophie. Schlegel erfasst als erster den Dialog nicht nur als eine literarische Form, sondern als die genuine Form der Philosophie: er bildet den Ort des gemeinsamen Selbstdenkens, dem jedoch die innere Dialogizität allen Denkens zugrunde liegt. Getrieben ist das Denken durch die Liebe nach dem Unendlichen, ihre Mitteilung muss sich der Darstellung bedienen, die immer hinter ihrem Ziel zurückbleibt. Das Bewusstsein von der Endlichkeit des Bemühens und der Unendlichkeit des Gegenstandes interpretiert Schlegel als Ironie und erkennt hier eine negative und positive Form: die wahre Ironie ist Folge der Begeisterung für das Göttliche. Platon bleibt auch für den späten Schlegel, der jetzt eine Philosophie des Lebens vertritt, ein Modell; Platon stellt das Wissen in den Dienst des Lebens; der Zusammenhang beider wird durch Aristoteles zerrissen. In Schlegels Position drückt sich seine Ablehnung nicht nur eines «systematischen», sondern auch «dogmatischen» Gehalts platonischer Philosophie aus. Weder sein Freund Schleiermacher noch sein Feind Hegel liessen diese Haltung unkorrigiert. Hegel, wie gleichfalls Theo Kobusch aufzeigt, korrigiert den «romantischen» Platon Schlegels unter Einbeziehung aller neuen Gesichtspunkte, die durch Schlegel beachtet wurden. Auch für Hegel bedeutete der Dialog eine Absage an die Darstellung eines Systems, nicht jedoch an die innere Systematizität des Denkens Platons – man spräche besser von Kohärenz17. Als Kunstform zeigt der Dialog die Urbanität und die Freizügigkeit der Rede; philosophisch erlaubt er, Vorurteile auszuräumen und den Zweifel, Nährboden des Philosophierens, auszulösen. Philosophie ist jedoch nicht blosse Ahnung des Unendlichen, sondern das Denken des Allgemeinen, welches Platon in der Idee zuerst erfasst hat. Wie das Höhlengleichnis es nach Hegel deutlich macht, bedeu17 Zu «System» und «Kohärenz» vgl. nächste Anmerkung (18).

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tet das Denken die Auflösung aller Unmittelbarkeit, und führt, vom Prinzip der Subjektivität geleitet, zur Wahrheit, die zugleich Freiheit bedeutet; denn für Plato ist die Wahrheit grundsätzlich erkennbar, das Subjekt muss aber selbst zu ihr gelangen und ist dann frei. In dieser Neuinterpretation kann die Ironie kein Bewusstseinszustand wie bei Schlegel bleiben, Hegel deutet sie als ein bestimmtes Verhalten des platonischen Sokrates gegenüber Personen. Schleiermachers Platonbegegnung war – so unterstreicht es Gunter Scholtz – von einem theologischen Interesse genährt, welches ursprünglich die Hochschätzung Platons und Spinozas umfasste. Jedoch seine Einsicht vom Fehlen der «Kunst» bei Spinoza liess Schleiermacher schliesslich Platon den Vorzug geben, da ihm Gott die Gestalt bedeutete, welche die Welt in einem Kunstwerk hervorgebracht hatte. Aus Gott als Urgrund – Platons Idee des Guten – geht alle Realität und Idealität hervor. Vom tiefen Wahrheitswert der platonischen Philosophie durchdrungen brachte Schleiermacher in vieljähriger Arbeit die Übersetzung der Dialoge Platons (ausser den Nomoi) mit Hilfe seines philologischen Freundes Heindorf zustande. Scholtz macht sowohl Schleiermachers Sprach- wie Hermeneutiktheorie sichtbar und diskutiert die Deutung der Dialogabfolge durch Schleiermacher, nicht ohne deren inneren Widerspruch zu unterstreichen; denn einerseits lässt Schleiermacher die Dialogfolge aus einem didaktischen Plan, zum anderen aus einer keimhaften Entwicklung entstehen. Hinter den Dialogen steht auch für Schleiermacher ein dogmatischer und sogar «systematischer» Platon, da sich seine Werke in die Architektonik der Philosophie von Physik, Logik und Ethik einordnen lassen18. Da aber jedes originelle Denken auch seine eigene Sprache hervorbringt19, kann das Denken Platons nur aus seinen eigenen Sprachkunstwerken dank der «technischen» Deutung erkannt werden. Gleichzeitig mit Schleiermacher und dank enger Kontakte begann im benachbarten Frankreich Victor Cousin die Dialoge Platons zu übersetzen. Wie Michel Narcy nachweist, entstammt die Wiederentdeckung und Vergegenwärtigung Platons durch eine mit einführenden Argumenta versehenen Übersetzung auch in Frankreich dem intellektuellen Streit um die wahre Philosophie. Cousin, in Opposition zu jeder sensualistisch-materialistischen Philosophie, entdeckt Platon als Vertreter einer idealistischen Metaphysik; in dessen Alkibiades I kann Cousin mithilfe der Unterscheidung Kants von Phänomen und Sache an sich (Substanz) die Lehre Platons entdecken, dass die Erkenntnis von Phänomen und Substanz dank deren Reziprozität möglich ist; die Erneuerung des platonischen Idealismus wird darüber durch Platon selber gestützt, da dieser im Theätet längst materialistischen Positionen ad absurdum geführt hat. Mit Cousins Platonübersetzung wird auf lange Zeit Platon in Frankreich heimisch; denn 18 Um der Klarheit der Interpretensprache ist es angebracht, den Ausdruck «System» nur in diesem Sinn zu verwenden, die innere Folgerichtigkeit einer Theorie dagegen mit Begriffen wie Kohärenz oder Konsistenz. 19 Vgl. o. S. XII.


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Cousins Übersetzung schafft einen Text, der ganz der französischen Sprache entspricht; dem Übersetzer Cousin geht es darum, Platon eine die Zeitgenossen ansprechende Diktion zuzuteilen, um die Aktualität von dessen Denkens hervorzuheben; darin unterscheidet er sich von Schleiermacher, der auf dem Hintergrund seiner Theorie der Übersetzung die Sprödigkeit der fremden Sprache zu verdeutlichen suchte. Die «Renaissance der platonischen Dialoge» dank nationalsprachlicher Übersetzungen fand auch in England statt20; sie erfolgte durch Thomas Taylor, der für einen Platonismus als Religion warb, wie Christopher Rowe es im ersten Teil der Argumenta beschrieben hat21 . Eine kritische Gegenposition auf diesen Versuch nahm John Stuart Mill ein, neben Georges Grote der beste Platonkenner22.

2.2.2 Platon und die Philosophiegeschichte Von allen Denkern der Zeit ist es Hegel, der nach dem Erlebnis der Französischen Revolution die Einsicht in die zwingende Macht der Weltgeschichte durchdenkt und zuerst das Bewusstsein der Geschichtlichkeit formuliert, welches selbst vor der Geschichtlichkeit der Philosophie nicht haltmachen kann. Hegel begründet eine sich selbst philosophisch reflektierende Geschichtsschreibung der Philosophie und entthront damit für immer J.J. Bruckers Historia critica philosophiae23. Die Beiträge von Thomas Leinkauf, Gerald Hartung und Christoph Horn sind dem Geschichtsphilosophen Hegel, bzw. dessen philosophiegeschichtlichen Erben gewidmet; sie weisen auf, wie in den drei bedeutendsten Werken des 19. Jahrhunderts zur Geschichte der Philosophie, Hegels Geschichte der Philosophie, Zellers Philosophie der Griechen und Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie jeweils eine neue Auffassung von der Geschichte überhaupt vertreten wird, in deren Rahmen Platons Stellung und Bedeutung ganz unterschiedlich gewertet wird. Thomas Leinkauf stellt zunächst Hegels Begriff der Geschichtlichkeit vor: Hegel denkt Geschichte als «Entwicklung», was ihm erlaubt, die Behauptung der gleichzeitigen Differenz und Identität, Vergangenheit und Gegenwart aller historischen Phänomene zu vertreten. Alle Philosophen der Vergangenheit sind in diesem Sinne vergangen und gegenwärtig und daher auch Platon. Als erster Denker des Allgemeinen ist Plato jedoch mehr; er ist zunächst ein Anfang, dessen Impuls durch Aristoteles als demjenigen aufgenommen wird, welcher die Einseitigkeit Platons überwindet. Jedoch dieser Anfang, der zunächst einem Punkt verglichen wird, bedeutet weit mehr; in 20 Zu Platon im viktorianischen England vgl Canto-Sperber 1997, Burnyeat 1998. 21 Zum englischen Übersetzer Platons Thomas Taylor vgl. Rowe Argumenta I, 315–325. Ferner Burnyeat 2001 zu Mill und Taylor. 22 Burnyeat 2001, 101–103. 23 Zu Brucker vgl. Laks Argumenta I, 351–361.

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Platons Anfang schürzt sich ein ganzer Knoten, weil Plato grundsätzlich den Weg in die geistige Welt gewiesen und erkannt hat, dass das Subjekt den Ideenbereich begründet (so deutet Hegel Sophistes 248 e). Platon ist daher ein welthistorisches Individuum. Bekanntlich lässt Hegel die Geschichte sich als teleologischen Entwicklungsprozess entfalten. An Hegels teleologisch-welthistorische Sicht knüpfen die beiden bedeutendsten Philosophie-Historiker des 19. Jahrhunderts an, Eduard Zeller und Friedrich Ueberweg. Gerald Hartung zeigt den theologischen Interessenschwerpunkt Zellers auf: Platon, im Rahmen einer Teleologie der Geschichte des Christentum, wird dank seiner Seelenlehre zu dessen Vorbereiter. Für Zeller steht daher die Seelenlehre Platons im Vordergrund, die als Vorläuferin der christlichen Lehre einen Anfang bildet, der jedoch unvollkommen bleibt24. Christoph Horn stellt eine Analyse der historiographischen Gesichtspunkte Friedrich Ueberwegs in das Zentrum seiner Darstellung. Von Hegel und Zeller setzt sich dabei der jüngere Philosophiehistoriker durch seine Auffassung ab, dass jede Teleologie in der Geschichte zu verabschieden sei. Ueberweg legt den Schwerpunkt auf die Besonderheit der Denker und bemüht sich darum, den Gang von deren wissenschaftlicher Erforschung nachzuzeichnen. Mit der Absage an die teleologische Perspektive bei Ueberweg geht ein Umschwung der Interessen Hand in Hand: Nicht mehr Platons Seelen- und Unsterblichkeitslehre bildet wie bei Zeller einen Brennpunkt des Interesses; vielmehr wird, wie zuvor bei Kant25, Herbart26 und Hegel, die Natur der platonischen Idee zum zentralen Problem der Auslegung. [Hinzu gefügt sei: Der Darstellung Horns kommt eine aktuelle Bedeutung zu; denn der historiographische Standpunkt F. Ueberwegs liegt den verschiedenen Auflagen seines Grundrisses bis heute zugrunde. Erinnert sei jedoch daran, dass damit ein Projekt verabschiedet wurde, dessen Entstehung sich Brucker verdankt27: und welches allein durch Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie28 verwirklicht wurde, nämlich, die Geschichte der Philosophen als Geschichte der Philosophie zu schreiben.]

2.2.3 Platon in der biographischen Forschung Die Beiträge von Bernd Manuwald und Monique Dixsaut zeigen an Karl Friedrich Hermann und Friedrich Nietzsche, Professor der griechischen Philologie in Basel, zu

24 25 26 27 28

Vgl. auch die Monographie zu Zeller durch Hartung 2010. Ferber Argumenta I, 372–373 Aronadio Argumenta I, 396–400. Dieses Projekt bildete den Stolz Bruckers, vgl. Neschke-Hentschke Argumenta I, 215. Dazu grundlegend Düsing 1983, 7–39.


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welch gegensätzlichen Ergebnissen die historisch-kritische Platonphilologie je nach der sie leitenden Fragestellung gelangen konnte. Während nach Schleiermachers Neueinsatz die platonische Frage von den Philosophen und Philosophiehistorikern verhandelt wurde, die nach der Stellung Platons in der Geschichte, sei es der Philosophie, sei es der Weltgeschichte forschen, ging es Karl Friedich Hermann, einen Gedanken Schlegels und Schleiermachers aufgreifend, um die Geschichte in Platon, um Platons «Entwicklung». In einer kritischen Sichtung stellt Bernd Manuwald Hermanns Epoche machenden Versuch dar, die Frage der Reihenfolge der Dialoge mit den Mitteln historischer Kritik zu klären, um damit eine Entwicklungsgeschichte des Denken Platons und schliesslich – was unausgeführt blieb – dessen endgültiges «System» zu rekonstruieren. Manuwald macht in seiner luziden und kritischen Darstellung zugleich die Fortschritte und die Aporien deutlich, die in Hermanns Versuch beschlossen sind. [Dieser Ansatz löste eine Flut von gleichgearteten Versuchen aus, gehört doch der «Entwicklungsgedanke» zu den Lieblingskonzepten des geschichtlichen Denkens seit Friedrich Schlegel; erst die Sprachstatistik konnte das Problem lösen29.] Dagegen nimmt Friedrich Nietzsche gemäss der Untersuchung von Monique Dixsaut in seinen Platon-Vorlesungen in Basel ganz vom Gedanken einer Entwicklung Platons Abstand; er lehnt den Versuch K.F. Hermanns, die Abfolge der Dialoge in ein Entwicklungsschema vom jungen zum alten Platon einzuordnen, ab. An die textnahe Hermeneutik Schleiermachers insofern anknüpfend, als auch Nietzsche am Stil den Autor zu erkennen sucht, geht es Nietzsche jedoch darum, die Besonderheit Platons nicht in seiner Philosophie, sondern in seiner «Person» auszumachen. Ausgangspunkt seines Vorgehens bildet die Einsicht, dass die Gattung der platonischen Schriften die Autoren-Intention, d.h. Platons eigene Standpunkte aussparen. Zu deren Erkenntnis bedarf es daher weiterer Quellen, nämlich die biographisch-historischen Nachrichten zu Platons politischen Aktionen und die Anekdoten der antiken Biographie. So erarbeitet Nietzsche eine damals ganz ungewohnte Auffassung von Platon; er erkennt in ihm den moralisch-politischen Reformer, der von einem erotischen Impuls zur Dialektik – deren Ausdruckform sind auch bei Nietzsche die Dialoge – in Unruhe gehalten wird. Die von ihm als authentisch anerkannten Dialoge entsprechen drei Themenschwerpunkten Platons: die politisch-moralische Konstruktion (Staat und Gesetze), die Angriffe auf die verschiedenen Aspekte der zeitgenössischen Kultur (Sophistik, Poesie, Rhetorik), die Sorge um die Methode in den Dialogen ab dem Kratylos. Das historisch-kritische Denken des Philologen Nietzsches zeigt sich daran, dass er ausser den Dialogen als direkten Quellen auch die Zeugnisse über Platon heranzieht und auf dem Hintergrund einer verbreiterten dokumentarischen Basis sein Platonbild 29 Zur Stylometrie und ihrem aktuellen Stand vgl. Erler 2007, 22–26.

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zu entwerfen sucht. [In diesem Band wird deutlich, dass Nietzsche einen Weg einschlug, den dann Wilamowitz30 mit der kritischen Rekonstruktion der Biographie Platons und seiner Rehabilitation des 7. Briefes sowie Jaeger mit der Deutung Platons als politischem Erzieher31 weiterverfolgt haben.]

2.2.4 Platons Philosophie als Wissenschaftstheorie. Der Neukantianismus Während am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts die kritisch-historische Forschung zur Entwicklung Platons und dem Problem der Reihenfolge der Dialoge dank der stylometrischen Untersuchungen und der kritischen Biographie des Philosophen durch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zu einem gewissen Abschluss kommt, leiten Hermann Cohen und Paul Natorp in der gleichen Übergangszeit eine neue Wende zu einem wieder philosophisch motivierten Platonverständnis ein. Cohen und Natorp gehen dabei, wie Franco Fronterotta nachweist, von einer rein innerphilosophischen Problemlage aus: Platons Autorität wird der Erneuerung Kants dienstbar gemacht, die ihrerseits das Ziel verfolgt, die Philosophie jetzt als Erkenntnis- und Wissenschaftslehre zu etablieren. Dieses Interesse nährt sich aus der Deutung der Idee als apriorisches Gesetz des Denkens, aus dem allein Wissenschaft begründet werden kann. Im Dienste seiner Leitidee unterzieht Paul Natorp das gesamte Dialogwerk einer detaillierten Neuinterpretation, deren Bedeutung in der Zeit darin bestand, den philosophischen Gehalt der Dialoge erneut unterstrichen zu haben.

2.3. Platonexegese vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart 2.3.1 Zwischen den Weltkriegen. Die Platonauslegungen im Zeichen der Krisis In der Krisenzeit zwischen den beiden Weltkriegen erfuhr die Philosophie durch Heidegger ihre phänomenologische Wende zur Daseinsanalyse32; letztere war frontal gegen den Neukantianismus gerichtet und umfasste daher als Zielscheibe auch Platon, den Heidegger unter dem Einfluss von dessen Lektüre durch Natorp als «Methodendenker» ablehnt33. Dagegen machte die Krise der Zeit die tiefe Notwendigkeit einer anthropologischen Besinnung deutlich, die die Ungesichertheit des Menschen in den Vordergrund stellt. Fast gleichzeitigt mit Sein und Zeit erschienen Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos34 und Helmuth Plessners Der Aufbau des Organischen 30 31 32 33 34

Wilamowitz-Moellendorff 1919. Zu Jaeger vgl. Erler, dieser Band, S.256ff. Vgl. o.S. XIII. Heidegger (1931) 2 1978. Scheler 1928.


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