Wie schön leuchtet der Morgenstern

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Wie schön

leuchtet

der Morgenstern Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten Werkeinführungen und Dokumente der Basler Gesamtaufführung

Herausgegeben von Albert Jan Becking, Jörg-Andreas Bötticher und Anselm Hartinger





Wie schön

leuchtet

der Morgenstern Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten Werkeinführungen und Dokumente der Basler Gesamtaufführung

Herausgegeben von Albert Jan Becking, Jörg-Andreas Bötticher und Anselm Hartinger

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel

© 2012 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Federzeichnung von Emanuel Büchel: Thomas Lutz, Schwabe Textredaktion: Anselm Hartinger, Christina Hess Schrift: Adobe Caslon Pro/Meta Plus Book Roman Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2860-6 rights@schwabe.ch www.schwabeverlag.ch


Inhalt

Geleitwort: Herausragende Hörerlebnisse in der Predigerkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 von Guy Morin, Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 von Albert Jan Becking, Jörg-Andreas Bötticher, Anselm Hartinger Zur Aufführungspraxis der Bachkantaten in der Predigerkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 von Jörg-Andreas Bötticher Hinweise zur Lektüre der Werkeinführungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 von Anselm Hartinger, Christina Hess Werkeinführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 von Jörg-Andreas Bötticher, Anselm Hartinger, Dagmar Hoffmann-Axthelm, ­ Martin Kirnbauer, Markus Märkl, Karl Pestalozzi, Meinrad Walter, Helene Werthemann, Jean-Claude Zehnder und Philipp Zimmermann Advent bis Neujahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Epiphaniaszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Septuagesimae bis Karfreitag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Ostern und Pfingsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Trinitatiszeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Einzelne Kirchenjahresfeste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Kantaten für besondere Anlässe und Bearbeitungen fremder Werke . . . . . . . . 533 Fotodokumentation: Bachkantaten in der Predigerkirche 2004–2012 .. . . . . . . . . . . 599 von Albert Jan Becking Anhang Die am Kantatenprojekt beteiligten Musikerinnen und Musiker .. . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Die Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen Werke J. S. Bachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Besprochene Werke nach BWV-Nummern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 Werke anderer Komponisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685



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Geleitwort: Herausragende Hörerlebnisse in der ­Predigerkirche «Alles, was in den Worten des Textes liegt, das Gefühlsmäßige wie das Bildliche, will er mit größtmöglicher Lebendigkeit und Deutlichkeit in dem Material der Töne wiedergeben. Vor allem geht er darauf aus, das Bildliche in Tonlinien zu zeichnen. Er ist mehr Tonmaler als Tondichter. […] Redet der Text von Nebeln, die auf- und niederwogen, von Winden, die einherbrausen, von Flüssen, die dahinrauschen, von Blättern, die vom Baume sinken, von dem zuversichtlichen Glauben, der in festen Schritten einherschreitet, von Stolzen, die erniedrigt werden: so sieht und hört man dies alles in seiner Musik. […] Aus der Art der bachschen Kunst ergibt sich, daß sie, um zu wirken, in lebendiger und vollendeter Plastik vor dem Hörer erstehen muß.»1 Dieses Zitat von Albert Schweitzer skizziert für mich ganz deutlich die Qualität von Bachs Musik. Die Tonkombinationen lassen im Geiste jeder Zuhörerin und jedes Zuhörers Bilder entstehen, in denen man sich tummeln, mit denen man sich auseinandersetzen und darüber philosophieren oder die man einfach mit sich nehmen kann. Bach ist für mich seit vielen Jahren ein treuer Begleiter. Aus diesem Grund bin ich hocherfreut über die lange Tradition der Bachkantaten in der Predigerkirche Basel. Was im Jahr 2004 begonnen hat, findet in diesem Jahr sein Ende: die Aufführung sämtlicher Bachkantaten. Ein wunderbares Projekt, dem ich viel Respekt und Anerkennung entgegenbringe. Rund 300 Musikerinnen und Musiker sowie Sängerinnen und Sänger aus aller Welt sind an diesem grossen Unternehmen beteiligt; sie spielen auf historischen Instrumenten und meistens in kleiner, kammermusikalischer Besetzung. Eine Form, die in dieser Konsequenz sonst nur selten anzutreffen ist. Bach ist zwar einer der universellsten Komponisten überhaupt. Dennoch haben die Bachkantaten in dieser Form auch einen starken Bezug zur Musik- und Bildungsstadt Basel. Denn die Aufführungen der Bachkantaten in der Predigerkirche sind historisch ausgerichtet und daher personell mit vielen Dozenten und Studierenden sowie den Zielen der Schola Cantorum Basiliensis verbunden. Es ist ein grosses Verdienst, dass hier lebendige Musikkultur und Bildung so eng miteinander verknüpft werden. Gerade weil Musik heute immer und überall verfügbar ist, sind die «Live-Momente», das Hörerlebnis im Hier und Jetzt, das uns die Reihe der Bachkantaten 1 Albert Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken (1931), Hamburg 1975, S. 57f.


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Geleitwort: Herausragende Hörerlebnisse in der ­Predigerkirche

schenkt, beeindruckend. Es ist wunderbar, mitzuverfolgen, dass sich die Bachkantaten in der Predigerkirche seit vielen Jahren eine treue Hörerschaft geschaffen und einen festen Platz in der Basler Musiklandschaft gesichert haben. Zu den Aufführungen in der Predigerkirche wurden jeweils auch Einführungstexte verfasst. Diese Texte, geschrieben von namhaften Bachspezialisten, Wissenschaftlern und Musikern, sind nun in der vorliegenden umfangreichen Publikation versammelt. Ihnen, werte Leserin, werter Leser, wünsche ich eine anregende Lektüre. Dr. Guy Morin Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt


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Vorwort I.

«Wie schön leuchtet der Morgenstern»: Über diesen Choral hat Johann Sebastian Bach einen seiner prächtigsten Kantatenchöre geschrieben – ein Stück, mit dem 1851 die Bachausgabe eröffnet wurde und das deshalb die symbolträchtige Nummer eins des Bach-Werke-Verzeichnisses erhielt. Dieser Choral und vor allem seine programmatischen Zeilen «Zwingt die Saiten in Cythara und lasst die süsse Musica ganz freudenreich erschallen» können aber auch als Motto über dem zu Ostern 2004 begonnenen und mit dem Weihnachtsfest 2012 abgeschlossenen Vorhaben stehen, sämtliche geistlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs in der Basler Predigerkirche in zyklischer Weise darzubieten. Hervorgegangen aus einer Initiative Basler Musikerinnen und Musiker, hat dieses Projekt nicht nur über die Jahre hinweg das Musikleben der Stadt und Region um einen bis dahin kaum vertretenen Repertoirebestand bereichert. Durch die Einbeziehung eines international zusammengesetzten Kreises von Alte-Musik-Spezialisten sowie den hohen musikalischen Anspruch und die besondere Atmosphäre der Live-Darbietungen entfaltete die Aufführungsreihe zugleich eine weit über Basel hinausreichende Ausstrahlung.2 Von vornherein war es das Ziel der Initianten, Publikum und Fachwelt gleichermassen anzusprechen und die einzigartige Musik Bachs in möglichst umfassender Weise anzugehen und auszudeuten. Deshalb gehörten ausführliche Werk­ einführungen von Beginn an zum Konzept der Reihe hinzu. Diese Reflexionen über Text und Musik der Bach’schen Kirchenkantaten haben den Spielansatz der ausführenden Musiker und die Rezeption des Publikums dabei wohl ebenso stark beeinflusst wie das Erleben der klingenden Darbietung und die Einbeziehung in den Organisations- und Probenprozess die Wahrnehmung der Schreibenden in einer Weise erweitert hat, die der allein wissenschaftlichen Annäherung normalerweise kaum zugänglich ist. Als glücklicher Umstand erwies sich die Entscheidung, die Einführungen nicht einem einzelnen Wissenschaftler oder Musiker anzuvertrauen, sondern einen Kreis von Autoren einzubeziehen, die in der Auseinandersetzung mit jeweils zwei bis 2 Ins Leben gerufen wurde das Projekt 2004 von Albert Jan Becking, Jörg-Andreas Bötticher, Katharina Bopp, Liane Ehlich, Markus Hünninger, Regula Keller und Fanny Pestalozzi. Später stiessen noch Anselm Hartinger und Christina Hess zu dieser Kerngruppe hinzu. Eine Auflistung aller im Laufe der Jahre beim Projekt mitwirkenden Musikerinnen und Musiker befindet sich auf S. 653–656 ­dieses Buches.


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Vorwort

drei Kantaten Bachs ihre ganz persönlichen Sichtweisen mit stark wechselnden Perspektiven einbrachten. Im Ergebnis dessen konnten nicht nur manche Wiederholungen und stereotype Zugangswege vermieden werden, die angesichts der gigantischen Dimensionen des Bach’schen Kantatenschaffens ansonsten fast unausweichlich scheinen. Anders als bei einem monographischen Zugriff konnten so auch höchst unterschiedliche berufliche Prägungen, Erfahrungshorizonte und Analysemethoden in die Auseinandersetzung mit dem nahezu unerschöpflichen, überaus vielgestaltigen Gegenstand einfliessen. Im Dialog zwischen Musikwissenschaftlern, Liturgieexperten, Aufführungspraktikern, Instrumentenkundlern, Theologen, Psychologen und Literaturwissenschaftlern entstand so eine vielstimmige Anthologie, die anders als die bisher auf dem Markt befindlichen Darstellungen des Kantatenschaffens zugleich die Vielzahl der heute möglichen Zugänge zu Bach wie die in seinem Schaffensprozess konvergierenden Intentionen, Gewerke und Voraussetzungen widerspiegelt. Die grosse Nachfrage des Publikums und der Wunsch, zumindest die geschriebenen Erträge dieser Begegnung von Wissenschaft, Aufführungskultur und Musikpraxis auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben die Initianten nun dazu bewogen, die für die jeweiligen Kantatensonntage geschriebenen Einführungen in erweiterter und umfassend überarbeiteter Form gesammelt vorzulegen. Dabei galt es, die Spontaneität und Verschiedenheit der Zugänge und Schreibweisen zu bewahren, zugleich jedoch eine behutsame Vereinheitlichung sowie wissenschaftliche Vertiefung und Aktualisierung der Texte vorzunehmen. Die Analysen und Sichtweisen des Bandes beanspruchen durchaus eine über die konkrete Aufführungsreihe hinausreichende Gültigkeit. Bilder und ergänzende Dokumente beleuchten jedoch einzelne Facetten und Stadien des Projekts und betten die Werkbetrachtungen damit in ihren Entstehungskontext ein. Bei der redaktionellen Überarbeitung wurde grosser Wert darauf gelegt, dass jeder Text trotz der nicht selten vergleichbaren Entstehungs- und Aufführungskontexte auch ohne beständige Querverweise als für sich abgeschlossene und jeweils eigenständige Betrachtung gelesen werden kann. II.

Johann Sebastian Bachs geistliches Kantatenschaffen ist durch die 2006 abgeschlossene Neue Bach-Ausgabe quellenkritisch umfassend erschlossen und aufbereitet worden; zugleich sind durch die Kritischen Berichte der Ausgabe sowie die wegweisenden Veröffentlichungen u.a. von Alfred Dürr, Hans-Joachim Schulze, Christoph Wolff und Martin Petzoldt die wesentlichen Erkenntnisse zur Quellenüberlieferung, Entstehungsgeschichte und Abgrenzung des Werkbestandes so-


Vorwort

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wie zur bibelbezogenen Herkunft der Texte in zuverlässiger Weise dokumentiert.3 Dennoch ist das Bach’sche Kantatenschaffen in seiner Breite und Vielgestaltigkeit noch immer kaum hinreichend bekannt, besteht hinsichtlich zahlreicher Kompositionen seit langem ein erhebliches Defizit an sowohl tiefgreifenden als auch engagierten Analysen und Deutungen, das durch die vorliegende Publikation zumindest ein Stück weit geschlossen werden soll. Die in diesem Band versammelten Einführungen zu sämtlichen Kirchenkantaten sowie ausgewählten weiteren Komposi­ tionen Johann Sebastian Bachs4 sind deshalb durchgängig an der Einarbeitung des fachlich neuesten Forschungsstandes orientiert, und die Besprechung der einzelnen Stücke beginnt im Interesse einer leichten Benutzbarkeit stets mit einer Zusammenstellung der grundlegenden Daten zu Entstehung und Besetzung der jeweiligen Komposition.5 Die Texte verstehen sich jedoch nicht allein oder in erster Linie als Beitrag zur Forschung; im Mittelpunkt steht vielmehr die vom jeweils eigenen Arbeits- und Interessensschwerpunkt der Beitragenden geprägte Auseinandersetzung mit Text, Musik und Kontext der Bachkantaten. Dieses Buch will ein Lese- und Entdeckungsbuch zu Johann Sebastian Bachs Kirchenmusik sein, das das Bach’sche Œuvre dabei konsequent vor dem Hintergrund der zeitbedingten Strömungen und Rahmenbedingungen in Theologie, Gesellschaft und Musikpraxis behandelt. War es bereits ein Kennzeichen der Aufführungsreihe in der Basler Predigerkirche, Bachs Kirchenkantaten immer wieder einzelnen Kompositionen von Zeitgenossen wie Georg Philipp Telemann, Jan Dismas Zelenka oder Johann Ludwig und Wilhelm Friedemann Bach, aber auch von stilverwandten Tonsetzern wie Felix Mendelssohn Bartholdy gegenüberzustellen, so wurden die Erträge dieser Ausein­ andersetzung ganz bewusst in die Buchfassung übernommen. Eine Besonderheit unserer Werkeinführungen besteht darüber hinaus in der Einbeziehung zahlreicher aufführungsrelevanter Überlegungen und Lösungsvorschläge bis hin zu Rekon­ struktionen und Improvisationen, hinsichtlich derer eine eng mit der praktischen Darbietung verbundene Zugangsweise notwendigerweise über den rein quellenkritisch gesicherten Kenntnisstand hinausgehen musste und konnte. Da für die Aufführungen in der Predigerkirche jeweils zwei bis drei Kantaten in einer nicht strikt liturgisch ausgerichteten, jedoch lose am Kirchenjahr orientierten Folge zusam3 Im französischen Sprachraum steht neuerdings mit Gilles Cantagrels umfangreicher Monographie ebenfalls ein Übersichtswerk zu sämtlichen Bachkantaten zur Verfügung (Cantagrel 2010). 4 Einbezogen wurden zusätzlich zu den Kirchenkantaten die Johannespassion (BWV 245; IV. Fassung, 1749), das Osteroratorium (BWV 249), die lutherischen Messen F-Dur, A-Dur, g-Moll und G-Dur (BWV 233–236), mehrere Motetten sowie etliche Orgel- und Instrumentalwerke Bachs und seines Umfeldes. Aufgrund des monatlichen Aufführungsrhythmus nicht aufgenommen werden konnten die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums (BWV 248). 5 Siehe dazu die Hinweise zur Lektüre, S. 21–23.


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Vorwort

mengestellt wurden, beziehen sich die Einführungstexte häufig zugleich auf die generelle Bedeutung eines Sonn- oder Feiertags und der ihm zukommenden Musik. In der über das jeweilige Einzelwerk hinausgreifenden Diskussion liturgischer, textlicher, besetzungstechnischer, alltagshistorischer und rezeptionsgeschichtlicher Fragen besteht ein besonderer Vorzug dieser Publikation. III.

Ein Buch wie das vorliegende käme ohne die geduldige Hilfe und grosszügige Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen nicht zustande. Zu danken ist zunächst allen Autorinnen und Autoren, die das Projekt von Beginn an mitgeprägt haben und die nun bereit waren, ihre Texte nochmals aufzugreifen und zu überarbeiten. Dank gebührt ferner allen Angehörigen des Organisationskreises der Bachkantaten, die auch dieses Buchprojekt mit nimmermüdem Enthusiasmus begleitet haben, namentlich Christina Hess, die im Redaktionsprozess unschätzbare Hilfe leistete. Unser besonderer Dank geht an die Berta Hess-Cohn Stiftung, die die Herausgabe des Buches in grosszügiger Weise ermöglichte, sowie an den Kirchenrat der Christkatholischen Kirchgemeinde Basel und Herrn Pfarrer Dr. Michael Bangert für die über Jahre hinweg gewährte Gastfreundschaft und Unterstützung. Die GGG Basel, der Swisslos-Fonds, die Stiftung Basler Orchester-Gesellschaft, die Basler Zunft zu Hausgenossen, die Esther Foundation, die Ernst Göhner Stiftung, das Ressort Kultur Basel-Stadt sowie weitere Stiftungen, die nicht namentlich genannt werden wollen, haben die Konzertreihe grosszügig gefördert. Ihnen sei dafür ebenso gedankt wie den Gönnern der Bachkantaten in der Predigerkirche sowie den vielen freiwilligen Helfern vor, bei und nach den Konzerten, namentlich Frau Dr. Julia Pestalozzi und Herrn Bernhard Fleig (Cembalo und Orgelbau, Basel). Die Herren Dr. Ton Koopman und Masato Suzuki waren so freundlich, uns unediertes Notenmaterial zur Verfügung zu stellen. Ganz besonders danken möchten wir dem Schwabe Verlag Basel, vor allem Herrn Prof. Dr. Wolfgang Rother sowie Frau Nana Badenberg, für die Aufnahme in das Verlagsprogramm und die engagierte und zuverlässige Betreuung der Publikation. Das Geleitwort des Regierungspräsidenten des Kantons Basel-Stadt, Herrn Dr. Guy Morin, betrachten wir als Ermutigung und Ehre. Basel, im August 2012 Albert Jan Becking, Jörg-Andreas Bötticher, Anselm Hartinger


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Zur Aufführungspraxis der Bachkantaten in der Predigerkirche Alle Bachkantaten in regelmässiger Folge mit einer Gruppe von Musikerfreunden, aber ohne ein festes Budget aufzuführen: Ist das nicht ein Wagnis? Würde es gelingen, für mehr als einhundert Kantatensonntage nicht nur die Musiker immer wieder zu gewinnen, sondern auch die Einstudierung und Aufführung zu einem solchen Erlebnis zu machen, dass auch das Publikum durch die Jahre hindurch fasziniert bliebe und den Bachkantaten die Treue hielte? Die enorme Publikumsresonanz des ersten Konzertes beflügelte uns Ostern 2004; mit jedem Kantatensonntag wuchs daraufhin die Herausforderung und Verantwortung, den höchsten Ansprüchen der Bach’schen Musik sowie den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden. Im Folgenden sollen diese Ideale und die Erfahrungen mit deren praktischer Umsetzung reflektiert werden. Konzept

Die Wahl eines nichtliturgischen, überkonfessionellen Rahmens, in dem monatlich zwei Kantaten mit Bezug zum Kirchenjahr aufgeführt werden sollten, erwies sich als ein dankbares Gefäss, die Kantaten Johann Sebastian Bachs einem breiten Publikum möglichst ohne konfessionelle und finanzielle Hemmschwellen erlebbar zu machen. Obwohl die Kantaten aus dem Kontext eines mehrere Stunden dauernden lutherischen Sonntagsgottesdienstes der Barockzeit herausgelöst wurden, stellte der lose Bezug zum Kirchenjahr, in dem die Aufführungen standen, wieder eine Bindung an die grosse christliche Tradition her. Im Verlauf der Kantatenreihe ergab sich jedoch die Schwierigkeit, dass bald nicht mehr genügend Kantaten vorhanden waren, die von Bach für den jeweils gleichen Sonntag vorgesehen waren. Deshalb versuchten wir die De-tempore-Praxis etwas zu lockern, indem wir einerseits Kantaten für nahe beieinander liegende Sonn- und Festtage oder Kantaten in ähnlicher Besetzung in einer Aufführung zusammenfassten und andererseits ab und an Kompositionen von Bachs Zeitgenossen hinzunahmen. Dies ermöglichte auch neue und interessante Gegenüberstellungen. Ein weiterer grundlegender Punkt des Konzeptes war die Entscheidung für die solistische Besetzung und die Verwendung historischer Instrumente. Für Letzte­ res war in Basel seit der Gründung der Schola Cantorum Basilensis Anfang der 1930er Jahre eine über 70-jährige Tradition erwachsen. Die solistische Sängerbesetzung hingegen wurde 1986 zum ersten Mal in Basel – übrigens auch in der


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Zur Aufführungspraxis der Bachkantaten in der Predigerkirche

­ redigerkirche – durch eine von Joshua Rifkin geleitete Aufführung der Bach’schen P Johannespassion vorgestellt. Symptomatisch erscheint im Nachhinein das damalige Presseecho der Basler Zeitung, die provozierend titelte: «Bach-Verbot für Gesangvereine?»1 Besetzung

Die Forschungen, die Joshua Rifkin zuerst allein und später zusammen mit Andrew Parrott zur Besetzung der Vokal- und Instrumentalpartien in den Kirchenkantaten J.S. Bachs unternahm, lösten eine kontroverse Diskussion unter Musikwissenschaftlern und Praktikern aus, auf die hier nur mit Literaturangaben verwiesen werden kann.2 Wir fanden Rifkins Thesen derart plausibel und deren klangliche Konsequenzen so überzeugend, dass wir bei den Bachkantaten in der Predigerkirche eine konsequente Einzelbesetzung anstrebten. Das Vokalquartett wird aus einem Pool von Sängern für jeden Kantatensonntag neu zusammengestellt. Abweichend von der Bach’schen Praxis kommen dabei für Sopran und Alt oft auch Frauenstimmen zum Einsatz. Die solistische Besetzung bewährte sich in der Praxis hinsichtlich der Schwierigkeit der Bach’schen Vokalpartien und der geforderten stimmlichen Flexibilität. Je nach Zusammensetzung ergab die Mischung der Stimmen einen wunderbaren und starken Chorklang, was mit vier professionellen Solosängern nicht selbstverständlich ist. Nur in mit drei Trompeten, Oboen und Flöten gross besetzten Eingangschören im motettischen Stil waren die Vokalstimmen etwas im Hintertreffen. Für einige Kantaten setzten wir deshalb vier Ripienosänger ein. Mehrheitlich waren dies Kantaten, für die von Bach selbst ausgeschriebene Ripienostimmen vorliegen wie BWV 21, 23, 29, 71, 110, 195.3 Auch die Instru­ mentalstimmen wurden von uns in der Regel solistisch besetzt, obwohl oft originale Doublettenstimmen vorliegen. Tendenziell folgte unsere Besetzungsweise deshalb einem pragmatischen Herangehen an die Stücke. Dies entspricht unseres Erachtens auch mehrheitlich den barocken kirchenmusikalischen Bedingungen von Schütz bis Telemann und schliesst die Vorstellung eines einheitlichen und konsequent durchgehaltenen Besetzungsideals aus.

1 Peter Hagmann in der Basler Zeitung vom 15.3.1986. 2 Aus der Fülle an Veröffentlichungen zu diesem Thema seien mit Rifkin 1985, Geck 2000, S. 194ff., und Parrott 2003 die wichtigsten genannt. Dagegen argumentieren Schulze 2003b und Glöckner 2004. Neuerdings dazu nochmals: Parrott 2010. Zu Hinweisen einer differenzierten Besetzungspraxis bei Telemann siehe Neubacher 2009, S. 262ff. 3 Vgl. die Liste der vorhandenen Vokalstimmen in Parrott 2003, S. 171–181.


Zur Aufführungspraxis der Bachkantaten in der Predigerkirche

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Probenarbeit

Um den Zeitrahmen für die beteiligten Musiker möglichst kompakt zu halten, entschieden wir uns bei der Planung für einen einzigen vollen Probentag pro Kantatensonntag. Das entspricht durchaus auch der barocken Praxis: Wir müssen davon ausgehen, dass Bach viele Kantaten recht kurzfristig auf einen Sonntag hin fertigstellte und die Stimmen erst in letzter Minute ausgeschrieben wurden, sodass vor allem Gesamtproben mit den Instrumentalisten nur in begrenztem Umfang möglich waren. Als eine Konzession an die heutige Lebenswirklichkeit bekamen unsere Musiker die Noten allerdings einige Wochen im Voraus zugeschickt. Dennoch ergab sich aus diesem Probenkonzept eine Unmittelbarkeit, die uns jedesmal aufs Neue faszinierte. Im Mittelpunkt steht das gemeinschaftliche Musizieren. Gemäss der barocken Praxis koordinieren der Organist und die erste Geige die Einsätze und den musikalischen Verlauf. Durch den Verzicht auf einen herkömmlichen Dirigenten sind alle Musiker in ihrer Eigenverantwortung für die Gestaltung sehr gefordert. Jeder Mitwirkende bringt durch seine Art, die Musik zu erleben und zu gestalten, Impulse ein, die je nach Sensibilität in der Gruppe aufgenommen und zu einer gemeinsamen Gestaltung verschmelzen. So entstehen viele gute musikalische Ideen im Moment des Zusammenspiels. Bisweilen stiessen wir mit diesem Probenkonzept allerdings an gewisse Grenzen, wenn beispielsweise ein Eingangschor durch seine grosse Besetzung und durch komplexe Vokalpartien überraschende Schwierigkeiten aufwarf oder wenn das Abstimmen der Klangbalance zwischen Sängern und Orchester mehr Zeit benötigte. Auch für die zusätzlich gewählten nichtbachschen Werke musste mehr Probezeit einberechnet werden. So konnte es durchaus sein, dass nach einem anstrengenden Probetag manchmal musikalische Details offen blieben oder der Überblick über die Gestaltung der ganzen Kantate noch nicht gelungen war. Dennoch durften wir des Öfteren erleben, dass am nächsten Tag in der Generalprobe manche Probleme wie von selbst gelöst waren. Diese Quantität und Qualität der Probenarbeit war nur möglich, weil alle Musiker sich ohne Kompromisse immer wieder darauf einliessen und sich optimal auf ihre Einsätze vorbereiteten. So konnte sich über die Jahre eine selten zu findende Vertrautheit miteinander und mit der Tonsprache Bachs entwickeln, so wie einst der Thomaskantor selbst trotz der von Schülergeneration zu Schülergeneration wechselnden Chorbesetzung mit einem stabilen Kernensemble im Orchester arbeiten konnte. Musizierhaltung

Abgesehen von den vielseitigen äusseren und technisch notwendigen Vorbereitungen auf einen Kantatensonntag ist die Musizierhaltung des einzelnen Mitwirkenden ganz entscheidend. Gerade wenn eine Kantate aus dem gottesdienstlichen


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Zur Aufführungspraxis der Bachkantaten in der Predigerkirche

Rahmen herausgelöst und konzertant dargeboten wird, besteht die Gefahr, dass auch der innere Bezug verlorengeht. Eine Haltung, die in der geistlichen Musik eine spirituelle Kraft sieht, lässt sich nicht von aussen erzeugen, sie entspringt der Freiheit jedes Musikers. Umso schöner, wenn dieser Geist des Musizierens spürbar wird und auch auf das Publikum übergeht. Erfahrungen mit dem Publikum

Die von Beginn an überwältigende Resonanz des Publikums auf die Kantaten war uns ein ständiger Ansporn, in diese Richtung weiterzugehen. Ohne Zweifel hat sich daraus über die Jahre auch ein Verhältnis zwischen Musikern und Publikum entwickelt, das von beiden Seiten als kreativer Prozess des Gebens und Nehmens wahrgenommen wurde. Es ist berührend zu sehen, mit welcher Treue und Hingabe Zuhörer sich bereits eine Stunde vor Beginn des Konzertes in der Kirche einfinden, die Einführungstexte lesen, sich in die Partituren (oder auch in eigene Lektüre) vertiefen oder in Gesprächen austauschen. Viele Konzertbesucher schienen Monat für Monat auf den Kantatensonntag hinzuleben. Wenn dann nach der ritualisierten Stimmung der Instrumente und der Begrüssung durch den Pfarrer das grosse, erwartungsvolle Schweigen des Publikums eintritt, ist diese verdichtete Spannung besonders gut spürbar. In einem geheimnisvollen Band sind nun Hörer und Spieler, Raum und Musik verbunden. In solchen Momenten wird es unwesentlich zu fragen, wer hier spielt und wer zuhört. Alle sind empfangend und gebend. Insofern sind wir als Vorbereitungsgruppe unserem Publikum zutiefst dankbar, dass es sich mit uns auf dieses Experiment eingelassen hat. Das Bewusstsein, dass jede der Kantatenaufführungen einmalig ist, da sie weder wiederholt noch aufgenommen wird, trug sicher auch dazu bei, dass sie in der Einzigartigkeit des hic et nunc für viele Konzertbesucher und Musiker zu einem Erlebnis wurden. Verwendung der grossen Orgel?

In der Barockzeit und auch an den verschiedenen kirchlichen Wirkungsstätten Bachs war es üblich, dass die Musik «von oben» kam. Damit war nicht nur das Bewusstsein der göttlichen Herkunft der Musik gemeint, sondern rein praktisch der Spielort der Musiker. Die Sänger und Instrumentalisten gruppierten sich rund um die grosse Orgel. Diese Aufstellung haben wir für einige Kantaten in kleinerer Besetzung gewählt – etwa die Kantaten mit obligater Orgel (BWV 170 u.a.). Dadurch konnte das Publikum interessante Hörerfahrungen machen: Zum einen wurde der gesamte Ensembleklang mehr von der Tiefe und Mitte her zusammengehalten,


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zum anderen schien der Klang gleichsam wie ein Tuch von oben herabzuschweben und alle einzuhüllen. Aus Platzgründen mussten wir jedoch auf die permanente Position auf der Orgelempore verzichten. Position der Sänger

Die ideale Aufstellung des Ensembles war im Vorbereitungsteam immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Dabei ging es um Fragen des gegenseitigen Blickkontakts, der Klangmischung und Textverständlichkeit. Gute Ergebnisse mit besonders hoher Präsenz der Sänger und der Textverständlichkeit bis in die hintersten Reihen erzielten wir, wenn sich die Sänger rechts oder links vor dem Instrumental­ ensemble aufstellten, auch wenn dies zu Lasten des allseitigen Blickkontakts ging. Dies entspricht aber zugleich vielen ikonographischen und schriftlichen Zeugnissen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die eine Position der Sänger vor dem Orchester (etwa an der Emporenbrüstung) dokumentieren. Textverständlichkeit

Auch wenn bereits zu Bachs Zeiten quartalsweise Textbücher für die Kantaten und Oratorien gedruckt wurden und wir heute dem Publikum ebenfalls Texthefte abgeben, bleibt es ein hohes Ziel, dass die gesungenen Texte unmittelbar verständlich sein müssen. Das gleiche Ideal gilt für das instrumentale Musizieren, indem alle Artikulation letztlich dem affektbezogenen, sprechenden Ausdruck, der «Klangrede» (Mattheson), dienen soll. Selbstkritisch bleibt anzumerken, dass diesbezüglich in unseren Aufführungen noch nicht das ganze Potential ausgeschöpft wurde. Erfahrungen im Raum

Die spätgotische Architektur der Predigerkirche Basel, ihre hohe Decke und die aufgrund der fehlenden Altäre relative Leere des Raumes würden an sich A-capel­ la-Gesang und Musik vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert begünstigen. Die rhythmisch-bewegte, gemischt vokal-instrumentale und bisweilen feinziselierte Musik der Bachkantaten ist in diesem Raum jedoch nicht einfach wiederzugeben. Dies bedeutet eine gewisse Erschwernis besonders für die Probenarbeit im leeren Raum. Füllt das Publikum die Kirche, so ist auch die Akustik vorteilhafter und die musikalische Struktur lässt sich besser durchhören. Dennoch sind wir uns der akustischen Nachteile bewusst, die allerdings durch die helle und offene Atmosphäre, die Grösse und zentrale Lage der Predigerkirche wieder wettgemacht wurden.


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Zur Aufführungspraxis der Bachkantaten in der Predigerkirche

Auch Bachs Leipziger Stadtkirchen wiesen ja – anders als die Weimarer Schlosskapelle – sehr grosse und hohe Räume auf, die aufgrund der Gottesdienstsituation sehr stark mit Menschen angefüllt waren. Ausführung der Choräle

Bei der Ausführung der von Bach vertonten Choräle standen vor allem die Fragen nach dem Charakter, dem angemessenen Tempo und der Fermatengestaltung im Vordergrund. Im Lauf der Arbeit mit den Bachkantaten wuchs die Überzeugung, dass die Choräle mehrheitlich aus dem dramatischen Geschehen einer Kantate herausgenommen sind und gewissermassen Ruhe- oder Fixpunkte darstellen. In den zumeist bekannten Choralstrophen kann die Gemeinde das in Chören, Arien und Rezitativen Gehörte reflektieren und mit dem eigenen Glaubensvollzug verbinden. Durch die Wahl eines ruhigen Grundtempos und den Verzicht auf eine madrigalische Gestaltung, die jede Zeile oder bisweilen jedes Wort im Tempo differenziert, kann eine objektiviertere Grösse und Kraft erlebt werden. Dies schliesst allerdings nicht aus, dass die Fermaten je nach ihrem inhaltlichen oder grammatikalischen Zusammenhang unterschiedliche Länge haben können. Es gibt viele Hinweise darauf, dass der Gemeindegesang zur Bachzeit sehr langsam praktiziert wurde. Die Gemeinde wurde in der Regel vom Küster angeleitet und von der Orgel begleitet. Die Fermaten wurden ausgehalten und zuweilen bis auf die Dauer eines Taktes oder darüber hinaus verlängert, während die Orgel Zwischenspiele oder Überleitungen einfügte. Der Küster gab dann den Einsatz zum Weitersingen. Erhaltene Beispiele von Bach selbst (Arnstädter Choräle) oder von Georg Friedrich Kauffmann (Harmonische Seelenlust, 1733–1736/40) weisen in diese Richtung. Weitere Forschungen müssen zeigen, ob Bach auch in seinen Kantatenchorälen selbstverständlich mit dieser Praxis rechnete oder ob er sich von der Art, die Gemeindechoräle zu singen, absetzen wollte. In der Predigerkirche haben wir anlässlich der Aufführung der Kantate BWV 140 das Experiment gewagt und die Hörer-Gemeinde vor der Kantate den Choral «Wachet auf, ruft uns die Stimme» singen lassen, in sehr langsamem Tempo, mit virtuosen Zwischenspielen und vollem Orgelklang. Nicht wenige Zuhörer waren zu Tränen gerührt und äusserten tiefe Dankbarkeit für diese innerhalb eines Konzertes aussergewöhnliche Erfahrung. Offene aufführungspraktische Fragen

Trotz über 150 Jahren Bachforschung und 70 Jahren Alter Musik in Basel bleiben in einem Projekt wie der Bachkantatenreihe etliche aufführungspraktische Fragen offen, für die es noch keine eindeutigen musikhistorischen Antworten gibt, und die


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in der Praxis konkret gelöst werden wollen. Dies betrifft insbesondere die Verwendung von Blechblas- und Continuoinstrumenten sowie die Frage des Stimmungssystems. – Blechblasinstrumente: Was sagt die Nomenklatur Bachs genau und welches Instrument ist im Einzelfall gemeint, Tromba, Tromba da tirarsi, Corno, Corno da tirarsi, Corno da Caccia, Cornetto? – Continuo: Wo wollte Bach einen Violone dabei haben? Wo ist eher von einem G-Violone auszugehen und wo von einem tieferen Instrument? Bei welchen Kantaten könnte ausser der Orgel bzw. als deren Ersatz ein Cembalo mitspielen, bei welchen eventuell auch Laute? Welcher Fagotttyp soll wann zum Einsatz kommen (Fagotto, Bassono)? Könnte das Fagott gar bei Rezitativen mitspielen?4 – Wie hat ein Generalbassspieler die komplizierten unbezifferten Bässe in der Praxis realisiert? – Stimmungssysteme: Wie löste Bach in der Leipziger Praxis die Probleme, die sich aus der Differenz zwischen Chorton und Kammerton ergaben? Wie stark ungleichschwebend könnte die Orgelstimmung in Leipzig gewesen sein, wenn Bach den Organisten skrupellos in Des-Dur spielen lässt? Wie verbindet sich die Intonation lochloser Naturtrompetentöne mit möglicherweise hochschwebenden Durterzen auf einer Orgel? – Singstil: Selbst eine solistische Sängerbesetzung ist keine Garantie für die Befolgung barocker Gesangsideale. Wie müsste sich die heutige, weitgehend postromantisch-moderne Gesangsausbildung ändern, um Vorstellungen barocker Ästhetik realisieren zu können? Vier Sänger ergänzen sich nicht selbstverständlich zu einem Chorklang: Worin unterscheiden sich also chorische und solistische Gesangstechniken der Bachzeit und wie könnten heutige Sänger beide Qualitäten vereinigen? – Aussprache: Es gibt viele Hinweise, dass in Mitteldeutschland von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die Zeit Goethes das Meissnerische als bevorzugte Variante der deutschen Aussprache galt, viele Sängerknaben des Thomanerchores und auch Bach selbst stammten jedoch aus anderen Regionen Mitteldeutschlands (Thüringen, Lausitzen). Welche Konsequenzen hätte dies für die Aussprache der Vokalmusik Johann Sebastian Bachs?

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Für all diese Fragen bietet das umfangreiche Standardwerk von Prinz 2005 einen idealen Ausgangspunkt.


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Persönliche Erfahrungen

Als Organist der Predigerkirche und Mitinitiator der Bachkantaten verspüre ich eine grosse Dankbarkeit, dass ich an diesem Projekt teilhaben durfte, in diesen weiten Kosmos eintauchen und mit jeder Kantate Neues entdecken konnte. In der persönlichen Vorbereitung auf die Kantaten war zu sehen, wie sich Bach dem jeweiligen Sonntagstext annähert, und zu erforschen, welche theologischen Positionen hinter bzw. in den Kompositionen verborgen sind. In der gemeinsamen Probenarbeit wurden diese Visionen Gestalt und in der Aufführung war zu bestaunen, was darüber hinaus an Neuem, Nichtgeplantem möglich wird. Wir sind von Bach ausgegangen, aber ich bin gewiss, dass diese Erfahrungen auch in die künftige Arbeit mit anderer Musik einfliessen werden. Jörg-Andreas Bötticher


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