DIE DIFFERENZ IM URSPRUNG
Die Entwicklung des Genealogiebegriffs in Gilles Deleuzes Nietzsche et la philosophie
GABRIEL VALLADÃO SILVA BEITRÄGE ZU FRIEDRICH NIETZSCHEDie Entwicklung des Genealogiebegriffs in Gilles Deleuzes Nietzsche et la philosophie
GABRIEL VALLADÃO SILVA BEITRÄGE ZU FRIEDRICH NIETZSCHEQuellen, Studien und Texte zu Leben, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches
Andreas Urs Sommer (Hg.) Band 24 Gabriel Valladão SilvaDie Entwicklung des Genealogiebegriffs in Gilles Deleuzes Nietzsche et la philosophie Schwabe Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Elisabeth Jenny-Stiftung.
Zugl.:Berlin, Technische Universität, Diss.,2022 u. d. T. Die Differenz im Ursprung. DieErfindung desGenealogiebegriffs in Gilles Deleuzes Nietzsche et la philosophie
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Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert& Co., Göttingen
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ISBN Printausgabe 978-3-7965-4809-3
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4810-9
DOI 10.24894/978-3-7965-4810-9
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Ich bedanke mich zunächst und vor allem bei meinem Betreuer Günter Abel, für das Vertrauen und Verständnis, das er mir seit meiner Ankunft in Deutschland zeigte, sowie für die freigiebige und vielfältige Unterstützung, die er mir im Laufe meiner Promotionsforschung geleistet hat.
Ich bedanke mich ebenfalls herzlich bei Andreas Urs Sommer für die großzügige Freundlichkeit, die er bei jeder Gelegenheit mir und meinerArbeit gegenüber gezeigt hat. Insbesondere bedanke ich mich für die Gelegenheit, einen Teil meiner Arbeit in seinemDoktorandenkolloquium in der Universität Freiburg vorzustellen und zu diskutieren, für die Bereitschaft, meine Arbeit zu begutachten, sowie für die Unterstützung bei der Veröffentlichung derselben.
Vielen Dank auch an Dorothee Brantz, die bei der wissenschaftlichen Aussprache als Vorsitzende fungiert hat.
Ich bedankemich bei Oswaldo Giacoia Jr., der mich seit meinenfrühsten Jahren im Studium der Philosophie betreut hat und mir den Mut und die Gelegenheit gab, in Deutschland zu promovieren. Die erste Anregungzur gegenwärtigen Arbeit stammt von ihm. Ich habe die Freude, ihn heute nicht nur als Lehrer respektieren, sondern auch als Freund schätzen zu dürfen.
Vielen Dank auch an Antonio Florentino Neto und Fábio Mascarenhas Nolasco, die eine frühe Version dieser Arbeit gelesen, begutachtet und mit mir diskutiert haben. Letzterem dankeich auch für die langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft.
Ich bedankemich auch besonders herzlich bei meinem Freund Florian Scherübl, der die endgültige Version des Textes sorgfältig gelesen und korrigiert hat. Durch seine Leistung wurde diese Arbeit nicht nur in der Form, sondern auch inhaltlich wesentlich verbessert.
Vielen Dank an ClausZittel und EmmanuelSalanskis, die mir die Gelegenheit gaben, frühere Versionen meinerArbeit vorzutragen und mit Kollegen zu diskutieren.
Zudem möchteich mich bei all denen bedanken, die mich während meines Aufenthalts in Deutschland auf die verschiedensten Weisen freundlich und großzügig unterstützt haben:Daniel Pucciarelli, William Brewer und Anna Maria, Marc Hiatt, Augusto Atz, Mariana Teixeira, Ferdinand Schmelzer, Henning Teschke, Rainer Adolphi,Carlotta Santini, Luca Guerreschi, Axel Pichler, Enrico Müller, Ernani Chaves, Joseph Imorde, Christoph Asmuth, Gudrun Scholler.
Einen herzlichenDank auch an meine Eltern Claudia und Márcio, an meine Großeltern Edith, Orlando und Sonia, an meine Brüder Matias und Theo, an Virginia und an meine Kinder Chloé und Félix, sowie an meine Partnerin Sali, die mich nach der Abgabe der Dissertation durch den Verteidigungs- und Veröffentlichungsprozess liebevoll begleitet hat.
Zuletzt bedanke ich mich ebenfalls bei der Technischen Universität Berlin, im Rahmen von deren Fakultät I – Geistes- und Bildungswissenschaften, Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- &Technikgeschichte, Fachgebiet theoretische Philosophie – diese Arbeit produziert wurde;dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und dem Nietzsche-Kolleg der Klassik-Stiftung Weimar (insbesondere bei Helmut Heit und Corinna Schubert), ohne deren institutionelle und finanzielle Unterstützung diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre; sowie beim Schwabe Verlag (insbesondere bei Christian Barth und Ruth Vachek) und bei der Elisabeth Jenny-Stiftung, die die Veröffentlichung derselben ermöglicht haben.
Die folgende Arbeit ist einer ausführlichen Analyse und Kontextualisierung von Deleuzes Nietzsche-Rezeption in seinem 1962 erschienenen Werk Nietzsche et la philosophie gewidmet. Diese soll aus der Perspektive der rezeptionsgeschichtlichen Betrachtung geschehen. Eine solcheBetrachtungsweise soll sich hauptsächlich dadurch auszeichnen, dass sie bei der Untersuchung der Rezeption eines Denkers durch einen anderendarauf verzichtet, die Legitimität oder Angemessenheit der Interpretationdes ersteren durch den letzteren zu bewerten, um stattdessen Einsicht in die Besonderheiten derselben zu gewinnen mittels einer Erforschung der Zusammenhänge, in der sie erschienenist.
In einem ersten einführenden Teil wird unser Vorhaben durch eine kritische Betrachtung des heute gängigen Begriffs der Genealogie gerechtfertigt und eingeleitet.Eswird auf die Schwierigkeiten hingewiesen,die die Bereitschaft, Nietzsche einen bestimmten Begriffder Genealogie zuzuschreiben, mit sich bringt. Im zweiten Teil wird eine rezeptionsgeschichtliche Betrachtung der ersten Nietzsche-Interpretation unternommen, in der dieser Begriffüberhaupt eine Rolle spielt – nämlich Deleuzes Nietzsche et la philosophie. Die drei Sektionen dieses Teils behandeln das Werk aus verschiedenen Perspektiven, die jeweils dazu beitragen, die Besonderheiten der darin enthaltenen Nietzsche-Lektüre im Dialog mit dem Zusammenhang, in dem sie erschienen ist, nachvollziehbar zu machen. Es wird (A)Deleuzes Vorstellung der Philosophiegeschichte sowie das Verfahren, das er als Philosophiehistoriker anwendet,rekonstruiert;(B) das Argument von Nietzsche et la philosophie mithilfe der in der vorigen Sektion erlangten Einsicht in Deleuzes Verfahrenals Philosophiehistoriker analysiert und das daraus erfolgende Bild der Philosophie Nietzsches gewonnen;und (C)dem weiteren intellektuellen Zusammenhang nachgegangen, innerhalb dessen Deleuze seine Nietzsche-Interpretation entwickelt hat und deren Aufhellung dazu beitragen kann, die besondere Perspektive,die Deleuze auf Nietzsches Werk hat, verständlich zu machen. Dadurch hoffen wir ein Verständnis für die Eigenartigkeit dieser Interpretation zu gewinnen sowie für ihre Wirksamkeit und ihre Relevanz in der Geschichte der Nietzsche-Rezeption,nicht zuletzt bezüglich der Rolle, die der Genealogiebegriff darin spielt
(I.)Imersten Teil der Arbeit wird zunächst durch den Vergleich mehrerer gegenwärtiger Texte, die sich des Begriffs ‹Genealogie› bedienen, eine konsensuelle Definition desselben skizziert. Diese soll wie eine Art größter gemeinsamer Nenner der verschiedenen Konzeptionen dieses Begriffs fungieren. Es wird festgestellt, dass nahezu überall angenommen wird, dass Nietzsche derjenige war, der diesen Begriffindie Philosophie eingeführthat. Unter dieser Annahme wird der Begriff der Genealogie auf drei verschiedenen Ebenenbestimmt: Hinsichtlichseiner Bedeutsamkeit, seines Sinns und seiner Bedeutung für Nietzsche selbst. Erstere wird überall in der Literatur als sehr hoch eingeschätzt. Was den Sinn des Genealogiebegriffs, d. h. den Modus seiner Aussage betrifft, so wird er stets als ein Methodenbegriff bzw. als der Begrifffür ein Verfahren verstanden, das Nietzsche in seinenSchriften anwendet. Endlich wird der Genealogiebegriff seiner Bedeutung nach der Vielfalt seines Gebrauchs zum Trotz meistens verwendet, um eine kritische philosophische Verfahrensweise zu bezeichnen, die gegenwärtige Selbstverständlichkeiten (Werte, Begriffe, Institutionen u. dgl.) durch die Aufschlüsselung ihrer Entstehungsgeschichte infrage stellt bzw. zu delegitimieren sucht.
(II.)Nachdem diese Definition des Genealogiebegriffs nachgezeichnet wurde, wird die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern ein solcher Begriff tatsächlich Nietzsche zugeschrieben werden kann und zum Verständnis seines Denkens beiträgt.
(II.1.)Eswird hinsichtlich des Genealogiebegriffs nachgewiesen, dass Nietzsches Schriften keinen ausreichenden Grund dafür liefern, seine Bedeutsamkeit als hoch zu veranschlagen.
(II.2.)Zweitens wird gezeigt, dass die Voraussetzung einer Methode für Nietzsches Denken wichtigen Zügenseiner Philosophie widerspricht und Gefahr läuft, sein Denken zu vereinfachen und zu verunstalten.
(II.3.)Zuletztwird die im Konsens stehende Auffassung der Bedeutung des Genealogiebegriffs aus zweierlei Sicht infrage gestellt:einerseitsdurch eine Analyse der Struktur der Schrift Zur Genealogie der Moral,die ihren selbstaufhebenden Charakter hervorhebt (II.3.1.) – andererseits durch eine Erforschung der Semantik, die im philosophischen Kontext vor und um Nietzsche mit dem Ausdruck ‹Genealogie› in Verbindung steht (II.3.2.). Aus Ersterem ergibt sich, dass die Aussagen, auf die man sich üblicherweise beruft, um die Bedeutung des Nietzsche’schen Genealogiebegriffs zu bestimmen (also hauptsächlich die anscheinend programmatischen Aussagen der Vorrede von Zur Genealogie der Moral und der ihrer ersten Abhandlung hinzugefügten Anmerkung), am Ende der letzten Abhandlung selbst unter Verdacht gestellt werden. – Die historisch-philologische Untersuchung der Stellen, in denen der Ausdruck ‹Genealogie› vor Nietzsche in einem philosophischen Kontext gebraucht wird, dient ihrerseits da-
zu, die mögliche Bedeutung klarer herauszustellen, die dieser Ausdruckfür Nietzsche gehabt haben mag. Schon durch die bloße Aufzählung der Belegstellen für den Ausdruck ‹Genealogie› vor Nietzsche wird die allgemeinste Annahme über den Genealogiebegriff – nämlich, dass Nietzsche derjenige gewesen sei, der ihn in die Philosophie eingeführt habe – widerlegt. Zudem legt eine Untersuchung des früheren philosophischen Gebrauchs des Ausdrucks ‹Genealogie› nahe, dass er schon seit dem 18. Jahrhundert(etwa bei Kant, Helvétius, Rousseau) verwendet wird, um empiristische Theorien über die Entstehung der Erfahrung zu bezeichnen und während des 19. Jahrhunderts immer mehr mit spezifisch darwinistischenHypothesen über die Entwicklungder menschlichen Psychologie (z.B.Spencer)inVerbindung gebracht wird. Es wird gezeigt, wie in einigen Schriften aus Nietzsches Zeit (darunter auch manche,die er nachweislich gelesen hat) ‹Genealogie› und andere verwandte Ausdrücke verwendet werden, um sich entweder auf Darwin selbst oder auch auf darwinistische und empiristische Psychologen zu beziehen. Andere Autoren machen Versuche, die Moral aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus zu erklären. Zudemist die Vorstellung einer sogenannten genetischen Methode sowohl in der nachkantischen Philosophie als auch in der Sprachwissenschaft seit der Wende zum 19. Jahrhundert relativ gewöhnlich.
(II.4.)Zum Schluss des zweiten Abschnitts werden die Ergebnisse dieser verschiedenen Betrachtungen zusammengefasst, die insgesamtdarauf hinweisen, dass die heute gängige Vorstellung der Genealogie kaum auf Nietzsche zurückzuführen ist und dem Verständnis seiner Philosophie eher schadet als es fördert. Zudem werden einige Beispiele der neueren Nietzsche-Forschung herangezogen, die darauf hinweisen, dass der am Anfangaufgestellte Konsens über den Genealogiebegriff vielleicht schon jetzt dabei ist, allmählich ins Wanken zu geraten.
(III.)Imdritten Abschnitt des ersten Teils wird zur Vorbereitung auf den nächsten Teil der Fokus der Untersuchung von Nietzsche selbst auf die Rezeption seines Denkens gelenkt. Da es sich ergab, dass keine guten Gründe dafür bestehen, in der Interpretation von Nietzsches Philosophie dem Genealogiebegriff einen besonderenVorrang einzuräumen, wird nun gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass dieser Begrifftrotzdem zu der Prominenz gelangte, die er heute genießt, da er oft als ein wichtiges und gar als das wichtigste Vermächtnis Nietzsches angesehen wird.
(III.1.)Ineinem erstenSchritt erhält das negative Ergebnis des vorigen Abschnitts durch einen Überblick über die gesamte Nietzsche-Rezeption noch eine gleichsam objektive Bestätigung. Sieben Jahrzehnte hindurch ist man nämlich ohne den Genealogiebegriff ausgekommen und noch heute wird oft auf ihn verzichtet, ohne dass größere Schäden für das Verständnis von Nietzsches Philosophie entstehen. Wenn es also einen Grund für die Popularität des Genealogiebegriffs gibt, so muss dieser dem Korpus von Nietzsches eigenen Schriften
äußerlich sein, d. h. er muss in den bestimmten Umständen gesucht werden, unter denen Nietzsche im Zeichen dieses Begriffs rezipiertwurde.
(III.2.)Zum Schluss des ersten Teils wird ein Umriss der Betrachtungsweise präsentiert, die im zweiten Teil verfolgt wird. Diese sogenannte rezeptionsgeschichtliche Betrachtungsweise besteht grundsätzlich darin, die äußerlichen Umstände einer bestimmten Interpretation zu erforschen, unter Ausschluss des ‹Urtexts›,worauf sie sich bezieht. Indem darauf verzichtet wird, eine bestimmte Interpretation an einer wie auch immer begründeten ‹richtigen› Deutung desselben Korpus zu messen, erlaubt dieses Verfahren, Verständnis für die Interpretation zu gewinnen. Anstatt sie zu beurteilen,macht man sie zu einem Mittel des Verständnisses nicht des Urtexts,sondern des Zusammenhangs, der bestimmte Zugänge zu ihm begünstigt, aus dem bestimmte Fragen hervorgehen, mit denen der Interpret sich an den Urtext wendet usw. Anstatt eine Interpretationaus dem eigenen Standpunkt zu beurteilen, zielt die rezeptionsgeschichtliche Betrachtungsweise darauf, die Umstände zu erkennen,unter denen eine Interpretation als sinnvoll erscheinen konnte und erfolgreich bzw. wirksam war.
Der zweite Teil dieser Arbeit ist einer ausführlichen rezeptionsgeschichtlichen Betrachtung desjenigen Werks gewidmet, in dem der Genealogiebegriff zum ersten Mal eine besondere Rolle spielt,nämlich Gilles Deleuzes Nietzsche et la philosophie von 1962. Insofern kann er als ein Beitrag zur Beantwortung der Fragen betrachtet werden, die am Ende des erstenTeils in Bezug auf diesen Begriffaufgeworfen wurden. Dennochleistet er zugleich wenigerund mehr als die Beantwortung dieser besonderenFragen. Er leistet weniger, insofern hier nur der allererste Schritt in einer Aufhellung der inzwischen sehr reichen Geschichte des Genealogiebegriffs getan wird. In dieser Hinsicht ist seine wichtigste Wirkung vielleicht lediglich eine des Befremdens für diejenigen, die an die eine oder andere Variante des im erstenTeil behandelten Genealogiebegriffs gewöhnt sind. Andererseits leistet der zweite Teil mehr als die Beantwortung der Frage nach der Entstehung des aktuellen Konsenses über den Begriff der Genealogie, indem er aus einer breit angelegten Untersuchung des erwähnten Nietzsche-Buchs Deleuzes aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht besteht. D. h., es wird so weit wie möglich die intellektuelle Atmosphäre rekonstruiert, innerhalbderer Deleuzes Interpretation der Philosophie Nietzsches entstandenist. Da einesolche ‹nach außen› gerichtete Betrachtungsweise an sich potentiell grenzenlos ist, wurde außer dem Verzicht, Deleuzes Interpretationaufgrund von Nietzsches eigenen Texten zu beurteilen, noch eine wichtige Einschränkung vorgenommen. Es wurde nämlich ein besondererNachdruck auf die unmittelbare intellektuelle Umgebung gelegt, in der Nietzsche et la philosophie entstanden ist – d. h., es wurde einerseits der intel-
lektuelle Kontext vor anderen möglichen (wie etwa den politischen, den kulturellen, den soziologischen, den individual-psychologischen)bevorzugt;und andererseits nicht nur bei Nietzsche, sondern auch andernorts die vermittelndenFiguren vor den eigentlichen ‹Urquellen› bevorzugt (soz.B.Gueroults MaimonInterpretation vor Maimons eigenen Texten oder Wahls und Hyppolites HegelInterpretation vor Hegelselbst) – und dies aus zweierlei Gründen. Erstens, weil Deleuzes Zugang zur Philosophie und zur Geschichte der Philosophie,wenn nicht geradezuvon dieser Umgebungbedingt, doch wenigstens in direkter Auseinandersetzung mit ihr entstanden ist. Zweitens, weil – zumal in Deutschland –dieser Zusammenhang trotz seiner Relevanz für die ganze spätere französische Philosophie in der Deleuze-Forschung überhaupt bisher wenig beachtet wurde. Somit ergibt sich noch eine weitere, sekundäreLeistung dieses Teils, die darin besteht, den Zugang zu historisch relevanten Texten zu vereinfachen, die heutzutage oft wenig bekannt und schwer zugänglich sind (viele der hier behandelten Schriften wurdennie ins Deutsche übersetzt). Dadurch wird Deleuzes Nietzsche et la philosophie letztendlich zu einem Zugang zum Verständnis einer ganzen intellektuellen Welt, die, obwohl sie uns relativ nahe steht und gewissermaßen sogar in uns – und zumal in den sogenannten ‹Genealogen› unserer Zeit – weiterlebt, bedroht ist, in Vergessenheit zu geraten. Diesen Ansprüchen entsprechend ist der zweite Teil in drei Sektionen eingeteilt, die DeleuzesNietzsche-Interpretation und die Umstände, unter denen sie entstanden ist, aus einem jeweils anderen Gesichtspunkt beleuchten sollen.
(IV.)Die erste Sektion des zweiten Teils behandelt die Vorstellung der Philosophiegeschichte, die Deleuze in Nietzsche et la philosophie geleitet hat. Sie beginnt mit einer Situierung dieses Werks innerhalb der Geschichte der französischen Nietzsche-Rezeption.
Nach einer Zusammenfassung dieser Nietzsche-Rezeption bis in die 1950erJahre (IV.1.)wird gezeigt, wie Deleuzes Nietzsche et la philosophie in diesem Zusammenhang notwendigerweise wie ein Fremdkörper erscheinen musste, der unter mancherlei Hinsicht in keinerleiKontinuität zu den ihm vorausgehenden Interpretationenstand (IV.2.).
(V.)Dadurch drängt sich die Annahme auf, dass Deleuze in seiner Interpretation von einer bestimmten Betrachtungsweise Gebrauch macht, die bis dahin noch nie auf Nietzsche angewendet wurde. Dies heißt aber noch lange nicht, dass diese relative Originalitäteiner schlichten Idiosynkrasie Deleuzes anzurechnen ist. Im folgendenAbschnitt werden die Hauptzüge der Weise gewonnen, wie Deleuze in seinen philosophiehistorischen Werken und insbesondere in Nietzsche et la phi-