Heidi, Pinocchio und der Tod
Die Bilderwelt von Martha Pfannenschmid (1900– 1999)
Schwabe Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel. Die Publikation wurde ausserdem durch die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel, den Swisslos-Fonds Basel-Stadt und die Universitätsbibliothek Basel gefördert. Die Bildrechte für die Werke von Martha Pfannenschmid wurden von der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel zur Verfügung gestellt.
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© 2024 Anna Lehninger, veröffentlicht durch Schwabe Verlag Basel, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Umschlagabbildung: Martha Pfannenschmid, Heidi in der Wiese, UBH, NL 283 : A 1a, 31. Umschlaggestaltung: Kathrin Strohschnieder, Stroh Design, Oldenburg Layout, Satz und Repro: post scriptum, Hüfingen
Druck: Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5169-7
ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-5170-3
DOI 10.24894/978-3-7965-5170-3
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9 Geleitwort von Ruth Ludwig-Hagemann
11 Einleitung – zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos
15 Martha und ihre Puppe – eine Kindheit in Basel um 1900
25 Künstlerische Ausbildung an der Gewerbeschule Basel
29 Zeichnerin für die Basler Rechtsmedizin
39 Illustrationen für die Kinderseite der National-Zeitung
51 Ö lmalerei zwischen Alten Meistern und Vincent van Gogh
63 Heidi – «ein Prachtsbuch für Kinder»
87 Bilder für Pro Infirmis, Kinderheilstätten und den Nationalpark
95 Weitere Illustrationen für Kinder
109 Pinocchios Abenteuer
123 Ein Faible für Masken
131 Die Arche Noah als Verpackung
137 Abschied – späte Jahre und Anerkennung
Anhang 141 Lebenslauf
145 Ausstellungen mit Werken Martha Pfannenschmids 148 Bibliografie
154 Archive und Sammlungen
155 Bildnachweis
156 Register 158 Danksagung
Martha Pfannenschmid […] ist ein Phantast, stickt einmal die Josephlegende in freudigen, bunten Farben auf einen Teppich, malt Miniaturen zur Geschichte des heiligen Franz, oder sie zeichnet ganz zarte Landschaften, und dann wieder in kindlich frommem Realismus etwa Kälber im Stall. In all ihren Werken ist sie merkwürdig suchend und doch wieder ungebunden, humorvoll und doch wieder ernst.
Maria Weese und Doris Wild, 1928
Es ist wirklich ein Prachtsbuch für Kinder und solche, die Kinder lieb haben.
Erziehungsdepartement Graubünden, um 1944
Diese Neigung, sich lange und intensiv mit Erscheinung, Gestalt und Ausdruck des Motivs zu beschäftigen, kennzeichnet die Bilder von Martha Pfannenschmid – ob es sich dabei um Pflanzen, Landschaften, Stadtbilder oder Stilleben handelt, sie kann sich von der Poesie, dem Unheimlichen, der Harmonie eines optischen Erlebnisses fesseln lassen. Dann arbeitet sie, ganz eingesponnen in die Auseinandersetzung mit Form- und Darstellungsgesetzen, lange und voll Akribie an der Bildrealisierung.
Dorothea Christ, 1981
Unzählige Basler Medizinstudenten werden anhand der künstlerisch hochstehenden und detaillierten Schaubilder von Martha Pfannenschmid in die Gerichtsmedizin eingeführt.
Irene Stratenwerth, 2022
Im Jahr 2024 jährt sich der Todestag der Basler Künstlerin Martha Pfannenschmid (1900–1999) zum 25. Mal. Während ihre Kinderbuchillustrationen – vor allem die beiden Heidi-Bände aus dem Silva-Verlag von 1944 und 1946 – bis heute bekannt und beliebt sind, kennen nur mehr wenige den Namen der Malerin. Ihre Darstellung von Johanna Spyris Figur Heidi prägte über Jahrzehnte die Vorstellung vom schweizerischen Alpenkind mit dunklem Kraushaar und roten Backen und inspirierte sogar die japanische Anime-Serie von 1974.
Ich selbst kann mich noch gut an die Silva-Bücher erinnern, die wir Kinder bei unserer Grossmutter mit Bildern beklebt haben. Zuerst kaufte man das bis auf den Text leere Buch. Die Sammelbilder erhielt man gegen eine Anzahl Punkte, die man beim Kauf von Produkten wie Lindt Schokolade, Elmer Citro oder Waschmitteln von Steinfels bekam. Die Bildchen kamen per Post, jeweils als ganze Serie, aufgeteilt auf die einzelnen Kapitel und in transparenten Papiersäckchen. Die verschiedenen Sammelmarken für Bände von Silva, Avanti, N. P C. K. (Chocolats Nestlé, Peter, Cailler, Keller) waren sehr begehrt. Im «Glai Nazi», der Kinderseite der National-Zeitung, gab es in den 1960er-Jahren sogar eine sogenannte «Helgelibörse». Dort konnte man – ebenfalls per Post – Silva-Bons gegen Avanti-Bons usw. tauschen; es herrschte ein reger Handel mit den verschiedenen Sammelmarken. Generationen von Schweizer Kindern sind mit Kinderliteratur in dieser Form aufgewachsen – von Lederstrumpf über Robinson Crusoe bis Heidi.
Über die Arbeiten für Silva hinaus schuf Martha Pfannenschmid zahlreiche weitere wissenschaftliche und literarische Illustrationen, Gemälde und Grafiken, deren Originalität, Feinheit und Exaktheit in der Darstellung immer noch erstaunen. Anatomische Skizzen und rechtsmedizinische Lehrtafeln, Illustrationen für die National-Zeitung und das Schweizerische Jugendschriftenwerk sowie zahlreiche Bilder von der Basler Fasnacht zeugen von Fantasie und Akkura-
tesse gleichermassen. Diesem breiten künstlerischen Schaffen Pfannenschmids, das sich von Heidi-Bildern zum Sammeln bis zur Arche Noah als Verpackung erstreckt und über 60 Jahre illustratorisches Schaffen vor allem für Kinder umspannt, ist der vorliegende Band gewidmet.
Die originalen Buchillustrationen schenkte Martha Pfannenschmid der Universitätsbibliothek Basel, wo sie seither aufbewahrt und durch Erwerbungen ergänzt werden. Für die hier vorliegende Untersuchung wurden zudem Werke und Dokumente aus dem Historischen Museum Basel, dem Rechtsmedizinischen Institut der Universität Basel, den Sammlungen des Basler Kunstkredits und des Bundesamts für Kultur, ausserdem aus der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich, dem Landesmuseum Zürich, dem Schweizerischen Kunstarchiv Zürich sowie aus weiteren Institutionen und aus Privatbesitz freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Martha Pfannenschmid hat die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige in Basel (GGG Basel) als Erbin eingesetzt, diese ist darum Eigentümerin der Nutzungsrechte. Es ist das erklärte Ziel der GGG, dass das Werk dieser vielseitigen, fantasievollen und maltechnisch versierten Künstlerin erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Sie freut sich, diese Publikation zu unterstützen, indem sie die Bildrechte zu diesem Zweck kostenlos zur Verfügung stellt.
Grosser Dank geht an folgende fördernde Institutionen, die sich massgeblich an der Finanzierung der Publikation beteiligt haben: Neben der Berta HessCohn Stiftung, Basel erfuhr sie Unterstützung von der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel, dem Swisslos-Fonds Basel-Stadt und von zwei Stiftungen, die ungenannt bleiben möchten. Der Universitätsbibliothek Basel sei für die Förderung der Open Access-Ausgabe ebenfalls herzlich gedankt.
Ruth Ludwig-Hagemann Ehemalige Delegierte des Vorstands der GGG
Einleitung – zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos
Martha Pfannenschmid sitzt auf einer Wiese, ein Heft auf den Knien und einen Stift in der Hand (Abb. 1). Im Damenkostüm, eine Perlenkette um den Hals, das Haar ordentlich frisiert, blickt sie konzentriert auf das Papier vor sich, wohl nicht ahnend, dass sie fotografiert wird. Hinter der Künstlerin steht ein dichter Wald von grünen Maisstengeln. Fokussiert und sorgfältig arbeitet sie in dieser Kulisse, so wie bei all ihren künstlerischen Arbeiten, sei es für eine Illustration für eine Kinderzeitung, eine wissenschaftliche Zeichnung oder ein grossformatiges Ölbild. Gleichzeitig zeugt die Aufnahme von ihrer Spontaneität, auch einmal schnell im Deuxpièces auf einer Wiese Platz zu nehmen, um ein interessantes Motiv – in einem wohl immer vorsorglich mitgeführten Skizzenblock – mit dem Zeichenstift festzuhalten.
Es ist eine der wenigen Fotografien von Martha Pfannenschmid, so wie auch nur noch wenige persönliche Dokumente der Künstlerin existieren. Nur ein einziges Selbstporträt ist als Abbildung überliefert (Abb. 184). Ihr in verschiedenen Institutionen und in Privatbesitz bewahrtes Werk konzentriert sich vor allem auf Skizzen, Studien und Originalillustrationen sowie wenige meist kleinformatige Gemälde. Ihr künstlerisches Schaffen, das über sechs Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts umspannt und hunderte Illustrationen, dutzende Ölbilder und einige Stickereien umfasst, ist auf verschiedene Schweizer Institutionen verstreut,
vermutlich an einigen Orten (teilweise unerkannt) in Privatbesitz oder verloren.1 Die Werke durch Hinweise aus älteren Publikationen, Ausstellungskatalogen und aus persönlichen Unterlagen ausfindig zu machen, gleicht oftmals einer Schnitzeljagd. Martha Pfannenschmids Gemälde findet man heute nicht in Dauerausstellungen grosser Kunstmuseen, sie gelangen auch nur selten auf Kunstauktionen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Werk hat bisher ebenfalls noch nicht stattgefunden.
Ganz anders noch die Resonanz in den 1920er- und 1930er-Jahren, als Pfannenschmid als junge Künstlerin bei nationalen und internationalen Kunstausstellungen auf sich aufmerksam machte. Institutionen wie der Basler Kunstkredit und das Kunstmuseum Basel begannen ihre Werke anzukaufen, ebenso wie private Kunstsammler. Nach dem Abschluss an der Gewerbeschule war Pfannenschmids erste wichtige Wegmarke im Kunstbetrieb die Teilnahme an der SAFFA 1928: Die «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit» fand vom 26. August bis 30. September 1928 in Bern statt, um den Anteil der Frauenarbeit stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und –auch in Hinblick auf das damals heiss diskutierte Frauenstimmrecht – gesellschaftliche Anerkennung für die Leistung von Frauen in Familie und Beruf einzufordern. Die Gruppe IV der Ausstellung war dem weiblichen Schaffen in der bildenden Kunst und dem Kunstgewerbe gewidmet und gleichzeitig die zehnte
Abb. 1 | Martha Pfannenschmid, 1975, anonyme Fotografie, UBH, NL 283 : F 8 b+c.
Ausstellung der Gesellschaft Schweizer Malerinnen, Bildhauerinnen und Kunstgewerblerinnen (GSMBK), zu der eine begleitende Publikation von Maria Weese und Doris Wild erschien.2 Letztere wies in ihrem Beitrag zur bildenden Kunst auf die junge Basler Künstlerin hin, die sie als Zeichnerin und Stickerin am Anfang eines vielversprechenden künstlerischen Findungsprozesses sah: «Martha Pfannenschmid (geb. 1900 in Basel) drückt sich so originell und doch ungekünstelt aus, daß wir sie hier nicht übersehen möchten. Sie ist ein Phantast, stickt einmal die Josephlegende in freudigen, bunten Farben auf einen Teppich, malt Miniaturen zur Geschichte des heiligen Franz, oder sie zeichnet ganz zarte Landschaften, und dann wieder in kindlich frommem Realismus etwa Kälber im Stall. In all ihren Werken ist sie merkwürdig suchend und doch wieder ungebunden, humorvoll und doch wieder ernst.»3
Gemäss dem Ausstellungs- und Verkaufskatalog war der in Buntstickerei ausgeführte Wandteppich mit selbstbewussten 3000 Schweizer Franken bepreist.4 Laut Pfannenschmids Künstlerdossier im SIK gehörte er später Felix Speiser, 1942 bis 1949 Direktor des Museums für Völkerkunde Basel (heute Museum der Kulturen Basel).5 Weitere Informationen zum Aussehen und Verbleib des Wandteppichs sind heute jedoch nicht bekannt. Hingegen sind die Miniaturen zum Heiligen Franziskus erhalten geblieben, und auch der von Doris Wild als «kindlich frommer Realismus» bezeichnete Malstil, anzusiedeln zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit, ist in zahlreichen Werken Pfannenschmids erkennbar.
Der Startschuss für die Teilnahme am Kunstbetrieb war nun also gegeben. Ab 1930 beteiligte sich Pfannenschmid immer wieder an den Weihnachtsausstellungen in der Kunsthalle Basel sowie an weiteren lokalen und nationalen Gruppenausstellungen. Zwischen 1925 und 1960 war sie jedoch in erster Linie als wissenschaftliche Zeichnerin für die Basler Rechtsmedizin tätig, eine Arbeit, die immer grössere Teile ihrer Zeit und Energie beanspruchte. Malen und Illustrieren waren nun der knapp bemessenen Freizeit zugeordnet. An den arbeitsfreien Tagen, Wochenenden und in den Ferien entstanden so zwischen 1929 und 1951 die Illustrationen für die Kinderseite der National-Zeitung, für den S ilva-Verlag und andere Auftraggeber sowie die Gemälde für Ausstellungen, an denen sie bis in die späten 1970er-Jahre hinein teilnahm. In Basler Galerien fanden auch Einzelausstellungen der Künstlerin statt, die letzte 1990 in der Universitätsbibliothek Basel. Aufgrund dieser Ausstellungstätigkeit scheint sie auch mit einem Eintrag im Künstler-Lexikon der Schweiz XX. Jahrhundert und im Lexikon zeitgenössischer Schweizer Künstler auf.6 Die Angaben daraus basieren auf der ausführlichen Beantwortung zweier Fragebogen, die wesentliche autobiografische Informationen enthalten. Darüber hinaus dokumentieren
sie ihre Selbstwahrnehmung als Zeichnerin und Malerin im Spagat zwischen Brotberuf und künstlerischer Berufung.7
In der breiteren Öffentlichkeit wurde Pfannenschmid trotz ihrer vielen Ausstellungen in Kunstmuseen wohl am stärksten als Illustratorin wahrgenommen, namentlich von Johanna Spyris Heidi. Im Schweizer Bilderbuchlexikon von 1983 blieb sie dennoch unerwähnt, da sie keine klassischen Bilderbücher schuf und in erster Linie mit ihren Illustrationen für den Silva-Verlag identifiziert wurde, die aufgrund ihrer kommerziellen Ausrichtung aus dem Lexikon grundsätzlich ausgeschlossen waren.8 Pfannenschmid entzog sich – mehr oder weniger bewusst – den Zuordnungen, wodurch ihr Werk terminologisch oft schwer zu fassen ist.
Auch wenn ihre Arbeit im Bilderbuchlexikon nicht berücksichtigt wurde, hat Martha Pfannenschmid die Kinderbuchillustration des 20. Jahrhunderts in der Schweiz wesentlich mitgeprägt, indem sie über Jahrzehnte der Kinderseite der National-Zeitung mit ihren markanten schwarz-weissen Illustrationen ihren Stempel aufdrückte, Fortsetzungsgeschichten im Schweizerischen Beobachter illustrierte und für das Schweizerische Jugendschriftenwerk SJW Umschläge und Zeichnungen lieferte. Auf diese Weise wirkten ihre Bilder subtil in den Alltag von Kindern, die auch mit geringen finanziellen Mitteln in den Genuss anspruchsvoller Bildgestaltungen kamen. Am wichtigsten und langfristig erfolgreichsten ist jedoch Pfannenschmids Darstellung von Johanna Spyris Heidi einzuordnen, mit der sie seit 1944 einen grundlegenden Beitrag zur Heidi-Ikonografie geschaffen hat. In den Bildern für die Heidi-Bände im Silva-Verlag kulminieren Pfannenschmids künstlerische Erfahrungen aus über 20 Schaffensjahren und verbinden die Fäden aus wissenschaftlicher Zeichnung, klassischer Maltradition und Kinderbuchillustration zu einem engmaschigen Geflecht. Auch wenn der Erfolg dieser Illustrationen das übrige Schaffen der Künstlerin etwas in den Schatten gestellt hat, so zeigen die aktuellen Reaktionen auf die Silva-Bilder doch, wie anhaltend ihre Heidi-Darstellung im öffentlichen Bewusstsein bis heute nachwirkt.9 Die japanische Rezeption von Pfannenschmids Heidi-Illustrationen führte schliesslich dazu, dass durch die Anime-Serie von 1974 die ganze Welt indirekt Martha Pfannenschmids Bildern schon begegnet ist, ohne dies zu ahnen.
Von Anfang an bildete die Geschichte der Kunst einen wichtigen Referenzrahmen der Künstlerin, die sowohl klassische Bildkompositionsprinzipien beherrschte als auch geschickt Bildzitate aus der Kunstgeschichte in ihre Illustrationen einbaute. Auch die intensive Auseinandersetzung mit früheren Illustrationen ihrer Stoffe wird im Vergleich ersichtlich. So ist in den 20 Jahre nach Heidi entstandenen Illustra-
tionen für Pinocchio eine Verortung in der reichen Illustrationsgeschichte von Carlo Collodis Holzfigur ebenso aufschlussreich wie die Bezugnahme zur europäischen und japanischen Kunstgeschichte. Es erschliessen sich auch Parallelen zu Pinocchio-Verfilmungen des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
Martha Pfannenschmid untersuchte in ihren Bildern das grosse und kleine Sichtbare der Welt. Wissenschaftlich ausgedrückt, unterteilte die Illustratorin die fassbare Realität in Makroskopie – alles, was mit freiem Auge sichtbar ist – und Mikroskopie – alles, was nur unter der Lupe oder dem Mikroskop zu erkennen ist. Durch diesen differenzierten Blick offenbaren sich jene Mikrokosmen von Verfasstheiten der Menschheit und der Welt, die sie in ihren feinen Bildkompositionen von Heidi bis Pinocchio subtil zum Ausdruck brachte.
Pfannenschmid steckte über Jahrzehnte im Zwiespalt zwischen ihrer beruflichen Tätigkeit als Sekretärin und Zeichnerin am Rechtsmedizinischen Institut in Basel und ihrer freien künstlerischen Arbeit. Gleichzeitig ergaben sich zwischen ihrer zeichnerischen Auseinandersetzung mit (gewaltsamen) Todesarten auch Synergien mit der Illustrationsarbeit für Kinder. Der Tod, der sie im Alltag an der Rechtsmedizin so selbstverständlich begleitete, wird in den Kinderbuchillustrationen nicht negiert oder ausgespart, sondern als integraler Bestandteil der Geschichte behandelt und mitunter sogar prominent ins Bild gesetzt. Martha Pfannenschmid hat in ihren gleichzeitig zarten und drastischen, miniaturartigen und plakativen, grafischen und malerischen Illustrationen Licht- und Schattenseiten als gleichberechtige Teile von Kindheit verstanden und festgehalten.
Anmerkungen
1 Im Jahr 1990 schenkte Martha Pfannenschmid nach der Ausstellung zu ihrem 90. Geburtstag der Universitätsbibliothek Basel zahlreiche Illustrationen und einige Dokumente, die in der Nachlassgruppe NL 283 verzeichnet sind. Nach ihrem Tod gelangten durch Schenkungen von Hans Lanz und anderen weitere Werke in die Sammlung. In der Folge wurde und wird der Bestand durch Geschenke und Erwerbungen ergänzt. Weitere Schenkungen Martha Pfannenschmids zu Lebzeiten und Legate nach ihrem Tod gingen an das Historische Museum Basel und das Museum der Kulturen Basel. Einzelne Werke und Werkgruppen befinden sind im Besitz des Kunstkredites Basel-Stadt, im Kunstmuseum Basel, im Bundesamt für Kultur, im Rechtsmedizinischen Institut der Universität Basel, im Landesmuseum Zürich und im SJW-Archiv, Graphische Sammlung und Fotoarchiv, Zentralbibliothek Zürich. Die besitzenden Institutionen werden jeweils bei den betreffenden Abbildungen ausgewiesen. Werke aus dem Nachlass in der Universitätsbibliothek Basel haben im Folgenden immer das Kürzel UBH, NL 283 und die zugehörige Ordnungszahl innerhalb des Nachlasses.
2 Vgl. Die Schweizer Frau in Kunstgewerbe und bildender Kunst (Schriften zur «SAFFA») von Maria Weese und Doris Wild, Zürich: Orell Füssli Verlag, 1928.
3 Doris Wild, «Die Schweizer Frau in der bildenden Kunst», in: ebd., S. 57 –84, hier S. 7 7–78.
4 SAFFA. Kunst und Kunstgewerbe. 10. Ausstellung der Gesellschaft schweizer. Malerinnen und Bildhauerinnen, Kunstgewerbe: Pfannenschmid, Martha, Blumenrain 3A, Basel, S. 52, Nr. 343. Wandteppich, Buntstickerei.
5 Fragebogen von 1978 für das Lexikon der zeitgenössischen Schweizer Künstler, Künstlerdossier von Martha Pfannenschmid, Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft
SIK, Zürich, Schweizerisches Kunstarchiv, DOK 4001238. Das Künstlerdossier Pfannenschmids enthält neben Korrespondenz, Fotografien, Material zu Ausstellungen und Publikationen auch die von Pfannenschmid ausgefüllten Fragebogen von 1962 und 1978. Im Folgenden zitiert als «Fragebogen 1962» und «Fragebogen 1978».
6 «Pfannenschmid, Martha», in: Künstler-Lexikon der Schweiz XX. Jahrhundert, hg. vom Verein zur Herausgabe des schweizerischen Künstler-Lexikons, Frauenfeld: Verlag Huber & Co., 1963–1967, Bd. II, S. 736. «Pfannenschmid, Martha», in: Lexikon der zeitgenössischen Schweizer Künstler / Dictionnaire des artistes suisses contemporains / Catalogo degli artisti svizzeri contemporanei, hg. vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft, Frauenfeld/Stuttgart: Verlag Huber, 1981, S. 277.
7 Fragebogen 1978, S. 2.
8 Im Vorwort ist ein Kriterienkatalog aufgelistet, welcher erläutert, dass unter anderem «Alben mit eingeklebten Bildern (Werbemittel)» im Lexikon nicht berücksichtigt wurden. Da Pfannenschmid neben den Illustrationen für Silva auch sonst keine Bilderbücher im klassischen Format von ca. 32 Seiten und einem Bildanteil von mindestens 50 Prozent für Kinder im Kindergarten- bzw. Primarschulalter schuf, blieb ihr der Eintrag im Lexikon verwehrt. Verena Rutschmann, Einleitung, in: Lexikon Schweizer Bilderbuch-Illustratoren 1900–1980, hg. vom Schweizerischen Jugendbuch-Institut, Zürich/ Disentis: Desertina Verlag, 1983, S. VII–VIII, hier S. VII.
9 Die starke Resonanz auf einen Artikel in der Schweizer Familie im Sommer 2023 belegt, wie beliebt vor allem die Heidi-Bilder noch immer sind, wenn auch die Künstlerin dahinter kaum bekannt ist. Vgl. Susanne Rothenbacher, «Die Frau, die unser Heidi malte», in: Schweizer Familie, Nr. 32, 10. August 2023, S. 28 –32.
Martha und ihre Puppe – eine Kindheit in Basel um 1900
Martha Pfannenschmid wurde am 22. März 1900 in Basel geboren und starb ebendort am 27. März 1999. Ihre Lebensgeschichte umspannt buchstäblich das 20. Jahrhundert. In ihrem Leben ist Pfannenschmid fünfmal umgezogen, innerhalb eines Umkreises von ungefähr eineinhalb Kilometern im Basler Stadtzentrum. Die Einträge im Adressbuch Basels zwischen 1900 und 1999 zeichnen die frühesten Spuren nach: Im Geburtsjahr der Künstlerin lebte Familie Pfannenschmid in der Elisabethenstrasse 31.1 1903 zog die Familie an den Marktplatz 5 und 1905 an den Blumenrain 3 um.2 Spätere Umzüge führten die Künstlerin nur wenige Strassen weiter – sie sollte ihr Leben lang in ihrer Geburtsstadt sesshaft bleiben.
Wie ihre Kindheit genau verlaufen ist, lässt sich heute nur mehr vermuten. Es sind vornehmlich historische Objekte, welche ihre frühen Jahre andeutungsweise nacherzählen. Sie zeugen von einer behüteten Kindheit in einer fördernden Umgebung, die prägende Akzente für ihr weiteres Leben setzte. In den Jahren zwischen 1900 und 1910 wandelte sich Basel zur Grossstadt mit starkem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum. Trotz der rasanten Veränderungen stand Basel in einem wirtschaftlichen und politischen Wechselspiel zwischen Industrialisierung und traditioneller Handwerks- und Handelskultur, zwischen Arm und Reich, zwischen Konservativen und Liberalen.3 Der Ausbau der Frauenarbeitsschule (1894) und der Gewerbeschule (1908) waren Neuerungen, welche über den Zugang zu Bildung sozialen Wandel gewährleisten und später für Pfannenschmids eigenen Ausbildungsweg von Bedeutung werden sollten.4
Für das direkte Umfeld der jungen Martha Pfannenschmid gilt, was Margret Ribbert für Basler Kindheiten in früheren Zeiten festgestellt hat: «Das Kennenlernen der Welt – das bedeutet mehr als geographische Kenntnisse zu erwerben. Was ein Kind von der ‹Welt› im Sinne der harten Wirklichkeit erfuhr, hing stark von persönlichen Erlebnissen und der Gesellschaftsschicht ab, in der es aufwuchs.»5 Die Künstlerin wuchs in einer kleinbürgerlichen Umgebung in geschützten Verhältnissen heran. Davon zeugen über 50 Objekte wie Geschirr, Gemälde, Alltagsgegenstände, historische Kleidung und Spielzeug, die später durch Schenkung und Erbschaft aus ihrem Besitz in das das Historische Museum Basel gelangten. Auch ein gutes Dutzend Kinderbücher gehört zu diesem
Bestand, der die Kindheit einer Basler Künstlerin in Objekten erzählt. Einige dieser Gegenstände gewähren heute Einblick in jene Zeit, in der Martha Pfannenschmid begann, ihre Umgebung und die Welt kennenzulernen, und in die gesellschaftliche Situation, in der sie Kenntnis davon erhielt.
Artige Töchter und heitere Tiere
Für die Lebens- und Sterbedaten der Familie Pfannenschmid markieren die Meldedaten aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt die biografischen Eckpunkte. Ausserdem bildet der Nachruf von Hans Lanz eine wichtige Quelle zum Leben der Künstlerin.6 Lanz war von 1967 bis 1984 Direktor des Historischen Museums Basel und der Künstlerin viele Jahre in Freundschaft verbunden. Er ergänzt mit seiner Kenntnis ihrer Persönlichkeit und Biografie die trockenen Zahlen und Fakten aus den Unterlagen der Einwohnerkontrolle.
Die Eltern Amadeus Rudolf Jakob Pfannenschmid (10. Juli 1854– 8. Mai 1923), wie Hans Lanz später formulierte, aus einem «Altbasler Geschlecht» stammend, und Ida Tschumi (26. März 1878– 2. August 1940) aus Wolfisberg im Kanton Bern, waren seit dem 5. Oktober 1897 verheiratet.7 Das älteste Kind Ida Helene (23. September 1898– 10. September 1905) verstarb mit nicht ganz sieben Jahren an Diphtherie. Obwohl die knapp eineinhalb Jahre jüngere Martha (22. März 1900– 27. März 1999) nur wenige Erinnerungen an die ältere Schwester gehabt haben kann, beschäftigte sie deren früher Tod offenbar lebenslang. Später sollte sie der Verstorbenen in Heidi ein bildliches Denkmal setz en (► S. 75). Auf Martha folgte sechs Jahre später das dritte und letzte Kind Rudolf (1. März 1906– 11. November 1981).8
Hans Lanz weist in seinen Erinnerungen an die Freundin gleich eingangs daraufhin, dass der musikalisch begabte Vater, der als Hausmeister in der Staatskasse tätig war, das zeichnerische Talent seiner zweiten Tochter früh erkannte und förderte.9 Zu dieser Atmosphäre eines künstlerisch interessierten Elternhauses passt ein Büchlein, das nach Martha Pfannenschmids Tod ins Historische Museum Basel gelangte – ein gut erhaltenes, doch deutliche Gebrauchsspuren aufweisendes Bändchen mit Baslerischen Kinder- und Volksreimen, aus der mündlichen Überlieferung gesammelt vom Basler Lehrer Albert Brenner (Abb. 2).10 In der
Abb. 2 | Albert Brenner, Baslerische Kinder- und Volksreime, 1902, HMB, 1999.107.
zweiten Auflage dieser 1857 erstmals erschienenen Sammlung von Wiegenliedern, Nachtgebeten, Spielen, Abzählreimen, Versen und vielem mehr finden sich neben heute noch geläufigen Reimen auch zeit- und ortsspezifische Titel wie «Absalon der Königssohn» oder «Z’Basel uf em Bluemeplatz».
Das Büchlein wurde vom Basler Illustrator Otto Mähly mit einem Titelbild versehen, das im Vordergrund vier Kinder beim Tanzen eines Reigens zeigt und im Hintergrund das Basler Münster. Im Buchinneren hat Martha Pfannenschmid fein säuberlich mit Bleistift notiert: «Unser Värslibuch von Papa. M. Pfannenschmid». Der hier liebevoll verewigte musikalische Vater mit dem klangvollen Namen «Amadeus» war eine prägende Figur für die Kindheitsjahre der Tochter, die sein Andenken über Jahrzehnte in Ehren hielt.
Ein weiteres kleines Buch im Historischen Museum Basel gehörte wohl ebenso der jungen Martha, was allein schon der Titel nahelegt: Martha und ihre Puppe. Ein Lesebuch für kleine artige Töchter, 1861 erschienen mit Illustrationen von Theodor Hosemann (Abb. 3).11 Die Geschichte von dem kleinen Mädchen und seinen Erlebnissen mit der Puppe Röschen bekam Pfannenschmid wohl vor allem aufgrund der Namensgleichheit mit der Protagonistin. Das Büchlein wirft aber auch ein Licht auf die Erwartungshaltung gegenüber einem kleinen Mädchen, das artig, höflich und ordentlich zu sein hatte.
So erzieht die kleine Martha ihr aufmüpfiges Puppenkind zu eben jenen Tugenden; die Kapitel sind durchsetzt mit Gedichten, Gebeten und kleinen Geschichten, um die Abfolge von Belehrungen aufzulockern. Die fast durchscheinend kolorierten Bilder Hosemanns sind einerseits von einer Zartheit und Duftigkeit, die das Bravsein in wohlgeordneter Bürgerlichkeit unterstreichen; andererseits bebildert er auch die fantastischen Einfälle der lebendigen, sprechenden Puppe, die ihrem Puppenmütterchen auch Paroli bietet.
Abb. 3 | T itelblatt und Frontispiz von Martha und ihre Puppe, 1861, HMB, 1999.106.
Abb. 4 | Holzgliederpuppe mit Garderobe, Mitte 19. Jahrhundert, HMB, 1999.103.
Eine Holzgliederpuppe aus dem Grödnertal in Südtirol mitsamt einer aus mehreren Kleidchen bestehenden Garderobe aus dem Nachlass Pfannenschmids findet sich ebenfalls im Bestand des Historischen Museums (Abb. 4). Sie verweist nicht nur ein weiteres Mal auf die geborgene Kindheit und Jugend der Künstlerin, sondern auch auf deren späteren Rückgriff auf Kinderbücher und Spielsachen für ihre Illustrationen, zu deren Gestaltung sie auch Puppen studierte (► S. 78).
Ein Gegengewicht zu dieser Puppen-Artigkeit bildet ein weiteres Buch aus dem Legat Martha Pfannenschmids im Historischen Museum: Heitere Tierbilder, eine Sammlung von fünf Bildergeschichten mit Illustrationen von Emil Reinicke und Otto Bromberger (Abb. 5).12 Von Elefant und Rhinoceros, einer gestohlenen Gans oder dem Affen und der Wespe wird hier in witzigen Bildern erzählt; dabei werden gutbürgerliche Werte humorvoll aufs Korn genommen. Es war also nicht nur alles Bravsein – auch das Absurde und
Abb. 5 | T itelbild von Heitere Tierbilder, um 1900, HMB, 1999.118.
Komische hatte seinen Platz im Bücherschrank der Pfannenschmids.
Es finden sich noch einige andere Spielzeuge in Pfannenschmids Nachlass: Spielzeugautos, Räuchermännchen aus dem Erzgebirge oder – passend zur Tierthematik – Zinnfiguren von Adam und Eva im Paradies mitsamt Tieren (Abb. 6). Kamel, Giraffe, Krokodil, Eisbär, Tiger, Eule, Löwe, Nashorn, Panther, drei Affen und ein Vogel bevölkern diesen kleinen Paradiesgarten. Diese Zeugen der eigenen Kindheit bilden einen Materialfundus, mit dem sich die Künstlerin vermutlich jahrzehntelang umgab und den sie als Inspirationsquelle nutzte, bevor sie ihn dem Museum überliess. Interessanterweise sind in der Sammlung keine Zinnsoldaten, sogenannte «Indianer» oder Abenteurer wie Robinson Crusoe erhalten, die man in einem Haushalt dieser Zeit vermuten würde.13 Andere Gegenstände wie zwei Spielzeugautos mögen hingegen aus dem Besitz von Pfannenschmids jüngerem Bruder Rudolf stammen.
Heiteres Tier- und Menschenleben findet sich ebenfalls in drei Bänden mit Bilderbogen im Nachlass von Martha Pfannenschmid:14 Die lustigen Münchener Bilderbogen aus dem Verlag von Braun & Schneider waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein fixer Bestandteil bürgerlicher Kinderzimmer, ausgestattet von vorwiegend männlichen Künstlern, die zum Teil auch als Karikaturisten für Zeitschriften wie Die fliegenden Blätter tätig waren.15 Deutsche Bilderbogen waren auch in Schweizer Haushalten zu finden, davon zeugen private Fotoaufnahmen von Kindern mit den Büchern ebenso wie Schweizer Kinderzeichnungen, die Motive von Bilderbogen aufnehmen.16 Im bildungsaffinen Heim der Pfannenschmids sind die Bände also absolut vorstellbar.
Ein besonderes Augenmerk sei auf den Bilderbogen Nr. 25 zum «Alpenleben» im zweiten Band der Münchener Bilderbogen gerichtet (Abb. 7).17 Die neun Einzelbilder mit Ansichten der Sennhütte von innen und aussen sowie Darstellungen von Tieren und Menschen auf der Alm in atmosphärischen Farbtönen weisen schon auf Pfannenschmids HeidiIllustrationen voraus. Pfannenschmid bewahrte die Bilderbogen ebenso wie ihren Fundus an historischen Alltagsgegenständen, Gemälden, Spielsachen
und Büchern über Jahrzehnte auf. Ihre späteren Bildfindungen deuten darauf hin, dass sie diesen als eine Art «Bilderlexikon» verwendet hat.
Dem Alpenleben folgen weitere Bilderbogen mit einer Bauernjagd, Bildern aus dem Mittelalter, Sprichwörtern, Geschichtlichem zu Prinz Eugen, lustigen Bildgeschichten wie «Der Schildbürger ergötzliche Stücklein» oder «Jäckle und Hänsle», sowie Märchen wie «Hänsel und Gretel» und ganz am Ende «Der gestiefelte Kater» von Moritz von Schwind.
Ob Martha Pfannenschmid die Bilderbogen tatsächlich seit ihrer Kindheit aufbewahrt und nicht später erworben hat, kann nicht mit vollständiger Sicherheit gesagt werden, es ist aber stark anzunehmen. Tatsache ist, dass Pfannenschmid in Form dieser Bände das Medium Bilderbogen verfügbar hatte und sich daran für ihre Bildfindungen inspirieren konnte. Ein dritter Band mit Bilderbogen stammt von Wilhelm Busch.18 Die Busch Bilderbogen enthalten, wie Gert Ueding zusammengefasst hat, «Kinderstreiche, Tiergeschichten, Moritaten, Schildbürgereien, Krähwinkelgeschichten, Bauernpossen».19 Bei anderen Illustratoren beliebte Themen wie «Märchen und Sagen, Historien- und Kriegsbilder, Soldaten, Landschaften, ferne Länder und Städte, berühmte Gebäude, Kartenund Geschicklichkeitsspiele, Lotto- und Verwechslungsbilder, Ausschneidebogen, Kostümbildnereien, Porträtgalerien oder allegorische Darstellungen»,20 wie sie auch in den Münchener Bilderbogen enthalten sind, fehlen bei Busch. Er lieferte in Form von grotesk-komischen Bildgeschichten wie «Die kleinen Honigdiebe» bereits einen Vorgeschmack auf die 1865 erstmals erschienenen Streiche von Max & Moritz. Busch, auch als Karikaturist für die Wochenschrift Fliegende Blätter tätig, hatte für Pfannenschmid als Illustrator von Bildgeschichten für Kinder und als Karikaturist Vorbildcharakter – wie auch Jean-Jacques Grandville oder Carl Spitzweg.
Bildergeschichten von Heinrich Hoffmann finden sich ebenfalls in Pfannenschmids Bilderbuchnachlass. Zwar ist sein Klassiker Struwwelpeter nicht darin enthalten, dafür aber vier weitere Bücher: König Nussknacker und der arme Reinhold (EA 1851), Bastian der Faulpelz (EA 1854), Prinz Grünewald und Perlenfein mit ihrem lieben Eselein (EA 1871) und Besuch bei Frau
Abb. 7 | «Alpenleben», Münchener Bilderbogen 2, Nr. 25, um 1900, HMB, 1999.122.
Abb. 6 | Zinnfiguren, um 1900, HMB, 1999.109.
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