4 minute read

Die Krise des Mannes

Deswegen bleiben viele Männer immer noch unbewusst Gefangene kultureller Vorgaben, die die Triebfedern ihrer Identität und ihres Handelns sind. Die Kraft der sozialen Normen, die uns von unserer Kultur ständig vorgegeben werden, ist so groß und beherrschend, dass sie uns ohne jeglichen Druck dazu bringt, das Bild von uns selbst, das sie uns vorhält, als naturgegeben zu betrachten und nicht zu hinterfragen.

Die Tatsache, dass wir unser Verständnis der Welt und unsere Fähigkeit, in ihr zu leben, einer von den Gefühlen losgelösten Vernünftigkeit anvertrauen, hindert uns daran, die totale Kontrolle über unser Leben loszulassen.

Advertisement

Wenn wir unser Verständnis der Welt einem Verstand ohne fühlenden Körper überlassen, dann wird unser Körper nicht mehr gehört werden. Die Worte selbst tragen in sich die Spuren dieser Verdrängung des Körpers: Wenn eine Entscheidung uns nicht vernunftgemäß erscheint, dann nennen wir sie einen « Bauch-Entscheid». Das starke Bild einer Vernunft ohne Körper verortet das, was wir fühlen, « im Bauch» und setzt es mit dem bedrohlichen Stigma der Gefühle und Leidenschaften gleich, die immer unter Kontrolle gehalten werden müssen. Eine auf rationale Überlegungen reduzierte Denkweise kann sich nicht auf die nicht messbare Dimension der Gefühle und Empfindungen einlassen.

Die Krise des Mannes

Trotz dieser uralten kulturellen Vermächtnisse erlauben heute neue Ansätze, Öffnungen zu erkennen, die helfen, über das eigene Menschsein nachzudenken und Nuancen außerhalb der symbolischen Käfige zu entdecken, in denen auch das männliche Verhalten gefangen ist. Wir beginnen zu begreifen, dass aufgrund der biologischen Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern mächtige symbolische Konstruktionen im Laufe der Zeit die Kategorie männlich und die Kategorie weiblich erfunden und zementiert haben; mit anderen Worten, die kulturelle Darstellung der Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Dieser Weg der Bewusstwerdung, der die männliche Identität hinterfragt, ist voller Hindernisse, weil die Kraft der kulturellen Normen immer noch viele Männer daran hindert, dieses Andere, das in ihnen lebt, im eigenen Leben willkommen zu heißen. Und dies trotz der vielen Signale des Unbehagens. In den Gedankengängen der letzten Jahrzehnte hat sich ein Gefühl der Orientierungslosigkeit verbreitet. Gleichzeitig mit der von den Frauen vorangetriebenen Neuorientierung hat auch der männliche Zugang zum Leben schließlich an Sichtbarkeit gewonnen: Mit vielen seiner Werte und Bedeutungen, die universeller Ausdruck der Menschheit sind, ist er aus seinem Versteck herausgekommen. Angesichts dieser Entlarvung fühlen jedoch viele Männer tiefes Unbehagen.

Vor ein paar Jahren hat der Schriftsteller Albert Leiss an einer Tagung zum Thema Frauenbewegungen bedeutsame Worte formuliert, die klarmachten, mit

welchem symbolischen Kraftakt die Frau auf die Seite geschoben wurde, weil sie als Hüterin des weiblichen Prinzips betrachtet wurde:

Ich habe den Verdacht, dass die Autorität der Mutter ( von einer Frau werden wir geboren), die Verdamnis des erotischen Instinktes ( eine Frau begehren wir meistens), die Machtlosigkeit bei der Fortpflanzung ( eine Frau entscheidet, ob wir Vater werden) Wahrheiten sind, die vom Mann als vernichtend empfunden werden. Wenn nicht, warum dann die vielen Jahrhunderte Anstrengungen, sie zu verdrängen, sie zu universellen Abstraktionen herabzusetzen oder mit Gewalt abzustreiten?3

Bewusstsein und gleichzeitig Orientierungslosigkeit; dies bringt in wenigen Worten Günter Grass in seinem Roman Der Butt von 1977 auf den Punkt : Dort antwortet der Butt auf die Frage, was ein Mann sei, sinngemäss, er sei ein Ort bedauernswerten Leidens, ein Geschenk des Himmels, ein Theater der Angst und Verzweiflung.

Diese Orientierungslosigkeit zeigt sich auch in den Worten eines anderen Schriftstellers, Philippe Djian, der 1991 in Lent dehors sinngemäss schreibt, er habe lange Jahre gedacht, dass die Frau das absolute Geheimnis sei. Heute hingegen habe er, als Mann, Mühe zu begreifen, was es bedeute, ein Mann zu sein.

Es sind nur ein paar Beispiele unter vielen anderen, herausgepflückt aus Dokumenten dieser Anfangszeit der Krise des Mannes. Viele Texte der zeitgenössischen Literatur sind Zeugen, dass das Selbstbild der Männer Risse bekommen hat.

Neuere Arbeiten heben hervor, dass Männer und Frauen ihre gegenseitigen identitätsstiftenden Bilder überdenken müssen, im Bewusstsein, dass das Männerbild während zu langer Zeit als das allgemeingültige Bild des Menschseins galt.

In einem kürzlich erschienenen Essay weist Ivan Jablonka, nach nochmaligem Aufrollen der Geschichte des Patriarchats, auf die Dringlichkeit hin, mit welcher neue Formen der Männlichkeit erdacht und gefördert werden müssen, damit endlich das, was er « Gerechtigkeit der Geschlechter» nennt, entstehen kann. Gemäß Jablonka erscheint heute das traditionelle Männlichkeitsmodell, das durch tausendjährige Stereotypen gefestigt ist, als veraltet; und es erscheint dringend nötig, eine neue männliche Moral zu definieren. Denn heute brauchen wir Männer, die dem Patriarchat feindlich gesinnt sind, die nicht die Macht, sondern den Respekt hochhalten.4

Auch wenn die Analyse von Jablonka eine eher juristische Sichtweise in eine fragwürdige Geschlechter-Logik bringt, beobachten wir bei ihm doch eine interessante Wendung zu einer Öffnung hin: «Es gibt viele Arten, ein Mann zu sein», schreibt Jablonka, «aus denen sich der Begriff der Männlichkeit zusammensetzt. Man kann sich einen Mann als Feministen vorstellen, aber auch als einen Mann, der die weibliche Seite in sich annimmt, ein Mann, der Gewalt und Frauenhass

This article is from: