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Das von den Männern verdrängte Weibliche
from Kill Venus!
Die westliche Denkweise hat sich auf Distanz gehalten zu dieser beunruhigenden Dimension des Lebens und damit dem Wunsch des Logos nach Ordnung nachgegeben.
Ein langer Prozess der Versachlichung der Welt, der in Kapitel 3 beschrieben wird, hat allmählich die Wahrnehmung unserer Zugehörigkeit zum Kosmos geschwächt. Schritt für Schritt hat sich der Vernunft-Mensch von der Natur verabschiedet. Der Höhepunkt dieser Form der Abkehr des Menschen von der Fülle des Lebens wird mit der modernen Wissenschaft erreicht: die Natur begreifen, verstehen bedeutet auch, ihr Verhalten vorauszusehen, die Ursachen unter Kontrolle zu bringen und sie, soweit möglich, zu beherrschen. Aber die Natur unter Kontrolle zu halten bedeutet, das Leben unter Kontrolle zu halten. Das kann als unerwünschter Nebeneffekt auf dem langen Weg der Zivilisierung betrachtet werden, aber es hat erhebliche Folgen für unser In-der-Welt-Sein. Vielleicht ist es nur ein Abdriften, das ermöglicht, zu neuen Ufern zu gelangen.
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Am Ende unserer Reise, in den Kapiteln 5 und 6, werden wir versuchen, uns mögliche Szenarien vorzustellen, wie die noch nicht benannten Reichtümer empfangen werden können. Wir werden uns im eigenen Leben neu orientieren; wir werden lernen, Körper zu sein, ein Körper, der das Leben tanzt; lernen, uns als Teil eines Kosmos zu fühlen, zu dem wir alle gehören. Denn das Leben zu spüren bedeutet auch, sich in Grenzbereiche zu begeben, in Richtung eines immer möglichen Anderswo.
Das von den Männern verdrängte Weibliche
Ein 100 Kilo schwerer Körper, hingestreckt auf dem Diwan, die Arme nach oben ausgestreckt : So erwartete und empfing unser Vater seine zwei Mädchen nach dem Mittagessen. Dieses unser Familienritual war eine vertraute Geschichte, die sich jeden Tag wiederholte und die einen geheimen Namen hatte: Es war die Geschichte der Umarmung zwischen Mutter Seehund und ihren beiden Seehündchen. Ich erinnere mich an keine Worte mehr, sondern nur an langes Schweigen, an Gerüche und an das Kitzeln seiner haarigen Arme, die uns umfingen; und ich erinnere mich vor allem an die Gefühle, die uns unser gleichmäßig-rhythmisches Atmen als einen einzigen Körper erleben ließen.
Diese Momente waren das erste Kapitel meiner éducation sentimentale: meine erste Begegnung mit dem Lebensgefühl, das wir weiblich nennen. Im engen Kontakt mit dem kräftigen Körper meines Vaters habe ich gelernt, die Stimme dieses Lebensgefühls zu erkennen und sie in meinem Mädchenkörper erklingen zu lassen. Erst später habe ich begriffen, dass ich in diesen Momenten dem Weiblichen begegnet bin, ohne diesen Begriff zu kennen. Ich habe es in seiner Reinheit, seiner Vollständigkeit und seiner Wahrhaftigkeit erlebt. Ich war noch nicht ein Jahr alt, als mein Vater es auf sich nahm, mich auf seinen Schultern die
steilen Kurven des Gotthardpasses hinunterzutragen ( siehe Abbildung auf der Innenklappe). 20 Kilometer Liebe, um mir die Autokrankheit zu ersparen.
Diese innigen Erlebnisse, diese kleinen Zeichen der täglichen Normalität waren außergewöhnliche Geschenke: eine Art Schrein der Intimität, der mir später erlaubte, bei den Männern, denen ich in meinem Leben begegnet bin, ein Aufflackern des Lebendig-Seins wahrzunehmen, das oft unerwartet auftrat und immer in einem Widerspruch zum Bild eines « richtigen Mannes» stand.
Ein solches außergewöhnliches Geschenk wurde mir auch kurz vor dem letzten Weihnachtsfest zuteil, mitten im Lärm einer Autowerkstatt, die für die Festtage geschmückt war. Während die Mechaniker ausgelassen die Pneus meines Autos wechselten, schenkte mir der Werkstattchef, ohne jede Scham und seine Rolle ablegend, das verzweifelte Weinen und die Schwäche eines einsamen Mannes, in statusgemäßer Aufmachung mit Fliege. Gewiss wurde auch ihm als Kind eingetrichtert, dass ein « richtiger Mann» nicht weint, und schon gar nicht vor einer Frau. Und doch hat das weibliche Prinzip, das in jedem von uns steckt, alle kulturellen Barrieren durchbrochen. In dieser Explosion menschlicher Verletzlichkeit hat mir der von sich selbst verratene Mann die ganze Kraft seines verborgenen Antlitzes geschenkt, ohne es in Worte fassen zu können.
Ein anderes Geschenk unerwarteter Vitalität ist mir eines Tages in der Standseilbahn, die zum Bahnhof von Lugano führt, zuteilgeworden. Ein lieber Freund, Professor für Theoretische Physik, den ich auf den Zug begleitete, knallte mir einen heftigen Kuss auf die Lippen. Er war nicht in mich verliebt, nichts konnte unserer langen Freundschaft etwas anhaben, auch nicht seine Nüchternheit des Wissenschaftlers. Und wieder Überraschung und Verlegenheit auf dem Gesicht des von sich selbst übertölpelten Mannes. Für mich aber war es ein Geschenk: der Professor für Theoretische Physik, glücklicher Gefangener seiner Vernunft, schenkte mir das Aufblitzen einer anderen möglichen Erzählung seines Lebens.
Viele Männer haben mir Hinweise gegeben zum engen Zusammenhang zwischen Vernunft und Empfinden; Männer, die die Stimme ihres Körpers, der gehört werden will, haben auftauchen lassen; die Stimme eines feinfühligen Körpers, in welchem das Leben unverwandt seine Gedanken und Gefühle tanzt; Männer, die sich hingeben können, sei es auch nur in einer kleinen Geste.
Aber dieses Aufflackern, welches auf bisher unbekannte Regungen des Lebens hinweist, geschieht meist unbewusst und ist oft unerwünscht. Es überrascht und verweist auf eine andere mögliche Welt, die irgendwo verborgen in uns existiert. Diese Gemütsbewegungen können Verlegenheit, sogar Scham auslösen, denn sie werden als unerwünschter und beunruhigender Störfall wahrgenommen, als Bedrohung durch etwas, das unsere Kultur verdrängt. Diese Zeichen auftauchen und geschehen zu lassen, wird oft als Schwäche verkannt, weil es nicht übereinstimmt mit dem, wie sich ein « wirklicher » Mann zu benehmen hat.