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BRAHMS, FAMILIENMENSCH OHNE FAMILIE

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IVOR BOLTON

IVOR BOLTON

VON SIGFRIED SCHIBLI

Zugegeben: Eine neue Rubrik über musikalische Familiengeschichten ausgerechnet mit Johannes Brahms zu beginnen, ist verwegen. Denn der norddeutsche Komponist war zeitlebens ehe- und kinderlos. Doch der Wunsch nach Gemeinschaft beflügelte auch ihn. Und auf eine sehr spezielle

Art gelang es ihm, die Einsamkeit zu überwinden.

Seine 2. Sinfonie spielt in diese Thematik hinein.

Dabei fehlte es Brahms nicht an Leidenschaft für Frauen. Mit 25 Jahren verlobte er sich in Göttingen mit der Professorentochter Agathe von Siebold. Eine Ehe wurde nicht daraus, doch erinnert das Streichsextett op. 36 an Agathe. Brahms soll über dieses Werk geäussert haben: «Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht.»

Möglicherweise war Brahms nicht frei für eine feste Beziehung zu einer Frau. Bekannt war seine starke Mutterbindung, erst zur eigenen Mutter Christiana, die 1865 starb, dann zur Stiefmutter Caroline Louise. 1877 schrieb Brahms an den Schweizer Schriftsteller Josef Viktor Widmann: «Habe ich Ihnen nie von meinen schönen Prinzipien gesprochen? Dazu gehört: keine Oper und keine Heirat mehr zu versuchen.»

Im Grunde gab es nur eine Frau in seinem Leben: Clara Schumann. Brahms kannte die Schumanns seit 1853. Damals lernte er sie neben Joseph Joachim, Franz Liszt und Ferdinand Hiller kennen und wurde durch Robert Schumanns Aufsatz Neue Bahnen in den Adelsstand der Komponisten erhoben. Nun trat nicht nur der geniale Robert, sondern auch dessen Ehefrau Clara mitsamt den Kindern in das Leben des Junggesellen Johannes Brahms. Brahms widmete ihr «verehrend» seine Klaviersonate in fisMoll und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Man musizierte und philosophierte und bildete eine eingeschworene Gemeinschaft selbstständiger Künstler.

Als Robert Schumann nach seinem Selbstmordversuch in die Nervenheilanstalt in Endenich eingewiesen worden war (Diagnose: «Melancholie mit Wahn»), hütete Brahms öfter die Kinder des Ehepaars. Das erlaubte Clara Schumann, ihre Karriere als reisende Konzertpia- nistin weiterzuverfolgen. Johannes hatte freien Zugang zur Düsseldorfer Wohnung der Schumanns und verbrachte viel Zeit mit den Kindern. Er muss ihnen ein liebevoller Ersatzvater gewesen sein, der mehr mit ihnen spielte als ihr gesundheitlich angeschlagener Vater. Er zeigte ihnen, wie man auf dem Treppengeländer herunterrutscht und mit einem kühnen Sprung unten an kommt. Brahms war ja erst 21-jährig und vielleicht noch selbst ein wenig kindlich.

Während des fast zweieinhalbjährigen Klinikaufenthalts von Robert Schumann gab Brahms sein Zimmer am Schadowplatz in Düsseldorf auf und zog ganz zu Clara. Er führte das zuvor von Robert verwaltete ‹Haushaltbuch› fort, notierte Ausgaben und Einnahmen. Im Unterschied zu Clara besuchte er Robert öfter in Endenich, schickte ihm Briefund Notenpapier. Robert sandte zum 22. Geburtstag «unsres Geliebten» Johannes innige Frühlingsgrüsse.

Jahrzehnte nach dem Tod von Clara Schumann und Johannes Brahms streute der Enkel Alfred Schumann das Gerücht einer sexuellen Beziehung zwischen den beiden. Alfred sprach diplomatisch von einer «Macht, die keinen Widerstand duldet» und äusserte die Vermutung, Brahms könne der Vater von Clara Schumanns achtem und letztem Kind gewesen sein. Felix wurde am 11. Juni 1854 geboren, und Robert gratulierte Clara aus der Klinik dazu, dass der Himmel ihr «einen prächtigen Knaben geschenkt» habe. Brahms seinerseits brachte dem kleinen Felix, seinem Patensohn, einen «prächtigen Purzelmann», während Clara ihm angeblich nie etwas heimbrachte. Ende Juli 1856 konnte sich Clara endlich dazu durchringen, ihren kranken Mann in der Nervenheilanstalt zu besuchen. Als Robert Schumann am 29. Juli 1856 starb, sass Clara gerade mit Johannes beim Mittagessen.

In Lichtenthal bei Baden-Baden fand Clara Schumann ein Sommerhaus, in dem sie häufiger mit dem Organisten

Theodor Kirchner und seltener mit Johannes Brahms weilte. Dort vollendete Brahms 1877 seine 2. Sinfonie. Das neue Werk sei «ganz elegischen Charakters», wusste Clara Schumann zu berichten. Brahms gab den Kontakt zu Clara und den Kindern nie auf und unterstützte die Familie finanziell, bekannte aber, «vertrauter Umgang mit Frauen» sei schwer. Das Andenken an Felix behielt er wach. «Ich weiss nicht, was ich vor Glück anfinge, wenn ich einen Sohn hätte wie Felix», schrieb er einmal an Clara. Seit 1872 war Felix Schumann von der Tuberkulose befallen. In der Schweiz und in Italien suchte er Heilung, und Brahms besuchte ihn 1878 in Palermo in Begleitung des Arztes Theodor Billroth. Ein Jahr später starb Felix, noch nicht 25-jährig. Zum Gedenken an Felix, der Geige gespielt hatte, komponierte sein ‹Götti› Brahms die Violinsonate in G-Dur. Es ist «ein kleines Requiem für Felix» (Johannes Schild).

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