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K WIE KUNST

VON BENJAMIN HERZOG

Vom Pianisten Rudolf Serkin ist der Ausspruch überliefert, Kunst bestehe zu zehn Prozent aus Inspiration und zu neunzig Prozent aus Transpiration. Der Geist also, der in eine Künstlerseele bläst, wozu hier speziell Musiker*innen gerechnet seien, hat meistens Pause. In der Regel dient er bloss als Schweisstuchhalter, wenn es wieder einmal heisst: «üben, üben, üben». Postkarten mit diesem Motto üb rigens finden sich in so manchem Geigen kasten. Wie aber steht’s um die Verduns tungskälte auf Musikerstirnen, wenn es weniger ums Üben geht als vielmehr um die professionelle Vorbereitung auf ein neues Werk im Programm eines Orchesters?

Perlt der Schweiss auf Glatzen auch während einer gemeinsamen Probe, eines Konzerts gar? Oder flügelt er dann doch durch Streich- und Blassektionen, der Geist der Inspiration? Kurz: Ist ein Konzert kunst- oder schweisstreibend? Spricht man mit dem Gros der arbeitenden Restbevölkerung, so sind Orchestermusiker*innen ganz gewiss Künstler*innen . Schliesslich ist deren Metier ja verbunden mit den grossen Namen der Kunst: Komponisten, Dirigentinnen, Solisten, Sängerinnen. Im Orchester selbst sieht man das meist etwas anders. Ja, es komme immer wieder zu ‹Kunst-Momenten›, ist zu hören. Aber planbar sei das nicht, und oft lasse sich ein solcher

Moment (der durchaus auch eine ganze Sternstunde dauern kann) erst rückwirkend als solcher identifizieren.

Und wir, das Publikum? Die meisten von uns würden ein Konzert als Kunsterlebnis bezeichnen. Haben wir doch unseren Walter Benjamin gelesen oder wissen zumindest um die Aura, die so ein Konzert umhüllt im Gegensatz zu einer Reproduktion von Musik mittels Tonträger. Den Begriff «Aura» definierte Benjamin als «einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag». Streicht man «einmalig» aus diesem Satz, so tauchen allerdings doch Zweifel auf, ob eine Brahms-Sinfonie, konzentriert mit Kopfhörern gehört, nicht genauso die romantische Sehnsucht nach Überbrückung dieser «Ferne» auszulösen mag, wie wenn man sie im Konzert hört. Wie dem auch sei. Gemäss Benjamin ist das Abonnements-Konzert Kunst. Punkt. Gemäss Orchestermusiker*innen ist es dann Kunst, wenn der Dirigent, die Dirigentin ‹nicht stört›. Wenn er oder sie die Kunst des Zuhörens beherrscht und dem potenzierten Können der Orchesterschar vertrauensvoll entgegenblickt. Wenn, wie in den meisten Orchestern heute, Kontrolle nicht mehr nötig ist und einem vielleicht am besten als «zauberhaft» bezeichneten Miteinander weicht. Oder gar, wie mir eine Musikerin verriet, wenn «der Dirigent auf uns als Klangkörper reagiert». So tönt Selbst- ermächtigung. Das Orchester schwingt in diesem Spiel den Zauberstab! Man sollte dieser magischen Umverteilung eigentlich nur beipflichten. Dirigent*innen kommen und gehen, die Orchester aber bleiben.

Aus Sicht vieler Orchestermusiker*innen übrigens spielt die Kunst vor allem auch ausserhalb ihres Berufs eine wichtige Rolle. Wer möchte ihnen da nicht beipflichten? Dort also, wo Momente der Versöhnung herbeigeführt werden in unserem vermeintlich so widerspruchsvollen Leben. Wo das Leben, mit Hegel, sich kunstvoll zum Ideal erhebt. Oder eben einfach, wo niemand «stört» und kontrolliert. Solche Freiräume öffnen sich nicht zwingend in der Beschäftigung mit Kunst im engeren Sinne, also beim Museumsbesuch, bei der Lektüre oder im Theater. Das sicher auch. Musiker*innen aber ziehen solchem Kunstgenuss nicht selten Währschafteres vor. Das Kochen zum Beispiel.

Viele Orchestermusiker*innen kochen ausgezeichnet und hingebungsvoll. Das Kartoffelsoufflé, das Kalbskotelett als Ausgleich zum Orchesteralltag. Selbstbestimmung und Individualität, wo man sich sonst oft einordnen muss. Oder der Gang in die Natur. Raus aus dem Konzertsaal! Transpiration beim Wandern auf den Berggipfel. Und, wir wissen das, die so rare Inspiration, wofür auch immer, stellt sich beim Wandern gerne und leicht ein. «An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont folgen oder einem Zweig, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft», so schrieb Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, «das heisst, die Aura dieser Berge, dieser Zweige atmen».

Das nächste Mal: L wie Langeweile

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